Götz Berberich (Hrsg.)
Soziale Ängste bei jungen Erwachsenen
Ein Praxisbuch zur multimodalen Therapie
Mit Beiträgen von
Götz Berberich
Heribert Gampel
Stefanie Hoffmann
Gabriele Ludwig-Wallach
Michael Maidl
Katrin Müller-Franken
Michaela Nafzger-Streicher
Christine Rath
Genia Rusch
Wolfgang Schwarzkopf
Heidi Unger
Miriam Willibald
Dr. med. Götz Berberich
g.berberich@klinik-windach.de
http://www.klinik-windach.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Die Medizin unterliegt einem fortwährenden Entwicklungsprozess, sodass alle Angaben, insbesondere zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren, immer nur dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Drucklegung des Buches entsprechen können. Hinsichtlich der angegebenen Empfehlungen zur Therapie und der Auswahl sowie Dosierung von Medikamenten wurde die größtmögliche Sorgfalt beachtet. Gleichwohl werden die Benutzer aufgefordert, die Beipackzettel und Fachinformationen der Hersteller zur Kontrolle heranzuziehen und im Zweifelsfall einen Spezialisten zu konsultieren. Fragliche Unstimmigkeiten sollten bitte im allgemeinen Interesse dem Verlag mitgeteilt werden. Der Benutzer selbst bleibt verantwortlich für jede diagnostische oder therapeutische Applikation, Medikation und Dosierung.
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Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe
Schattauer
www.schattauer.de
© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Jutta Herden, Stuttgart
unter Verwendung einer Abbildung von © Andrew Alexander (Unsplash)
Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Altusried-Krugzell
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-40071-7
E-Book ISBN 978-3-608-11695-3
PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20534-3
Soziale Ängste sind gewiss kein neues Problem für die Psychotherapie. Soziale Phobien und ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörungen zählen sozusagen zum Standardrepertoire der psychosomatischen Behandlung. Warum dann ein neues Buch über diese Krankheitsbilder?
In den letzten zehn bis zwanzig Jahren stellten viele Fachleute in psychosomatischen Kliniken die bedenkliche Tendenz fest, dass immer mehr junge Erwachsene (etwa zwischen 18 und 25 Jahren) die Hilfe einer Klinik in Anspruch nehmen mussten. Neue Behandlungsprogramme wurden landauf landab installiert. Viele dieser Patientinnen und Patienten leiden unter der klinischen Problematik sozialer Ängste. Die besondere Ausgestaltung der Symptomatik in einer computer- und internetaffinen Generation stellt die Behandler vor besondere Herausforderungen. Die Möglichkeiten und Versuchungen von sozialen Netzwerken und Onlinespielen verschleiern und verstärken die Symptomatik, sind gleichwohl Teil der heutzutage nicht mehr wegzudenkenden Realität dieser jungen Menschen. Dementsprechend müssen sie in der Therapie mit berücksichtigt werden, können aber auch als Ressource utilisiert werden.
Die Autoren dieses Buches, allesamt gegenwärtige oder ehemalige Psycho-, Co- und Spezialtherapeuten der Klinik Windach, entwickelten daher unser etabliertes Therapieprogramm für Patienten mit sozialen Ängsten weiter und adaptierten es an die neuen Herausforderungen dieser speziellen Altersgruppe.
Dabei werden die soziale Phobie und die ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung in einem dimensionalen Modell unter dem zusammenfassenden Begriff der sozialen Ängste konzeptualisiert (▶ Kap. 2). Das Therapiekonzept fußt auf der kognitiv-behavioralen Therapie, integriert jedoch zahlreiche weitere, aus den jeweiligen Kapiteln ersichtliche Therapieströmungen und -methoden.
Das vorliegende Werk versteht sich bewusst als Werkstattbuch. Es ist von Praktikern für Praktiker geschrieben. Kurze Übersichtskapitel ermöglichen die Orientierung in einer Vielzahl von veröffentlichten Erklärungs- und Behandlungskonzepten. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt in der praxisnahen Schilderung unseres therapeutischen Vorgehens, illustriert durch zahlreiche Fallbeispiele.
Dieses Buch entstand auf Anregung des Schattauer-Verlags. Unser besonderer Dank gilt Dr. Annegret Boll für die Förderung des Projekts und Ulrike Albrecht für ihr umsichtiges und geduldiges Lektorat. Nicht zuletzt danken wir aber auch den betroffenen Menschen, die wir auf ihrem Weg ein Stück weit begleiten durften und die uns – nicht nur über elektronische Medien – vieles gelehrt haben.
Dr. Götz Berberich
im Herbst 2021
Götz Berberich
Junge Erwachsene, also Menschen in der Phase des Übergangs in ein selbstbestimmtes und -verantwortetes Leben, des Eingehens stabiler partnerschaftlicher Beziehungen oder der Entscheidung für einen über viele Jahre, wenn nicht lebenslang ausgeübten Beruf, also Menschen etwa im Alter zwischen 18 und 25 Jahren, tauchen zunehmend häufig in den Praxen und Kliniken für Psychotherapie als Patientinnen und Patienten auf. Neben depressiven Zustandsbildern, Anzeichen für eine beginnende Persönlichkeitsstörung und Suchterkrankungen stehen häufig Angsterkrankungen, und hier v. a. soziale Ängste im Vordergrund der Symptomatik.
Soziale Ängste werden in den Klassifikationssystemen entweder als soziale Phobie oder als ängstliche bzw. vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung beschrieben. Neben der Borderline-Störung ist die vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung (nach DSM-5®, Falkai & Wittchen 2018) oder ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung (nach ICD-10, Dilling et al. 2013) eine der häufigsten und klinisch relevantesten Persönlichkeitsstörungen. Trotzdem ist die Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten über diesen Komplex – vor allem im Vergleich mit der Borderline- oder der antisozialen Persönlichkeitsstörung – überschaubar, zumal die Einstufung dieses Krankheitsbildes als eigenständige Diagnose mit der Sicht als (bloße) Extremvariante der sozialen Phobie konkurriert (▶ Kap. 2).
Wurden soziale Ängste früher als leicht und unkompliziert zu behandeln beurteilt, stellten sich im Laufe der letzten Jahre doch zunehmend die Komplexität und weite Bandbreite der Symptomatik sowie der zugrunde liegenden Bedingungsfaktoren bzw. Psychodynamik heraus. Auch schwerste Verläufe mit erheblicher struktureller Einschränkung, psychosenaher Symptomatik und katastrophalen psychosozialen Folgen sind keine Seltenheit. Dies wiegt umso schwerer, wenn die Krankheit Menschen trifft, die in einer besonders vulnerablen Phase ihres Lebens stehen, in der wichtige Erfahrungen gemacht und Entscheidungen getroffen werden sollten.
Die Zusammensetzung der Patientinnen und Patienten mit sozialen Ängsten in der Psychosomatischen Klinik Windach, in der alle Autorinnen und Autoren dieses Buches arbeiten oder gearbeitet haben, hat sich im Verlauf der letzten Jahre deutlich verändert: Über 90 % sind mittlerweile zwischen 18 und 30 Jahren (Schwarzkopf & Unger 2019), sie befinden sich im Prozess der Ablösung von den Eltern, der Identitätsfindung. Sie sind auf der Suche nach einer Partnerschaft und einem Beruf. Das Leitthema ist durchgängig: seinen Platz im Leben und in der Gesellschaft finden. Kennzeichnend für diese Gruppe sind Ablöse- und Identitätsfindungsprozesse in der frühen oder späten Adoleszenz. Vorausgegangen sind Hänseleien, »Mobbing«, starke Abwertung, Überbehütung, ambivalent-ängstlicher Erziehungsstil der Eltern oder erlebte Isolation und emotionale Vernachlässigung – häufig bereits über Jahre. Die strukturgebende Funktion der Schule ist zum Zeitpunkt der Aufnahme schon weggefallen oder störungsbedingt nicht mehr möglich einzuhalten. Hierdurch beschleunigen sich die soziale Angst, der Rückzug und die Isolation dieser Patienten.
Das führte in unserer Klinik im Jahr 2016 zur Entscheidung, die Behandlung sozialer Ängste in einer altershomogenen Gruppe für junge Patientinnen und Patienten zwischen 18 und 25 (und in Ausnahmen bis 30) Jahren zu organisieren.
In zunehmendem Maße wurden beeinflussende Faktoren durch die schnell wachsenden Möglichkeiten – und Versuchungen – der sozialen Medien und interaktiven PC-Spiele deutlich: Die oft sehr zurückgezogen lebenden Patienten haben dadurch mehr Gelegenheiten einer für sie »sicheren« Kontaktaufnahme ohne direkten (analogen, also körperlichen) Kontakt und häufig unter dem Schutz der Anonymität oder Pseudonymisierung im Netz. Auch im Klinikbereich spielen die elektronischen Medien eine bedeutsame Rolle: die Gruppenmitglieder richten sich oft rasch eine eigene Gruppe bei WhatsApp oder einer ähnlichen Plattform ein. Für den ungelösten Konflikt zwischen Bindungswunsch und Bindungsangst der ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung (Fiedler & Marwitz 2016), der meist zugunsten der Bindungsangst entschieden wird, stellen die sozialen Medien die zunächst optimale Form dar, beide Motive zu bedienen. Hier haben die Betroffenen die Möglichkeit, anonym zu bleiben, sich nicht real zeigen zu müssen oder in Form eines Avatars eine Figur zu erschaffen, die spielend interaktiv agieren kann.
Gleichzeitig werden durch das Sicherheits- und Vermeidungsverhalten die sozialen Ängste negativ verstärkt. Allmählich baut sich eine »Als-ob«-Realität auf, das Netz wird zum »eigentlichen Leben«. So können Partnerschaften in über einjährigen Kontakten rein über soziale Medien bestehen, ohne dass sich die Partner je »real«, »analog« getroffen haben. (An dieser Stelle wird deutlich, dass selbst unsere Sprache mit dieser Situation überfordert ist: Was ist denn real? Und wie soll man eine Beziehung ohne den Umweg über die elektronischen Medien bezeichnen, die ja deswegen noch nicht »körperlich« zu sein braucht?) Über den Aufbau des eigenen Avatars und dessen Interaktionsmöglichkeiten im Internet können soziale Bedürfnisse »gefahrlos« erfüllt werden, ohne das befürchtete Risiko der Beschämung, Enttäuschung und Zurückweisung, das den sozialen Ängsten zugrunde liegt. Eine auch hier mögliche Zurückweisung kann auf den Avatar attribuiert werden, was als weniger kränkend erlebt wird, als wenn direkt die eigene Person adressiert wird. Die eigene Persönlichkeit kann als »unsichtbar und nicht greifbar« geschützt werden, allerdings auf diese Weise auch bestimmte Entwicklungsschritte nicht leisten. Der Patient kann sich auch zu einer Kunstfigur stilisieren und durch bestimmte Kleidung und einen bestimmten Stil zur Kopie eines Idols oder einer Comicfigur werden. Der Vorteil für den Patienten liegt darin, dass die positiven und negativen Reaktionen kalkulierbar sind, das eigene Selbst aber nicht betreffen.
Die Möglichkeiten der Beschämung und Abwertung werden durch die Schnelligkeit und große Reichweite dieser Medien allerdings auch intensiviert. Die zweite Komponente der sozialen Angststörung besteht häufig darin, als Kompensation für das defizitäre Selbstbild ein unbewusstes Größenselbst zu entwickeln und auf die Außenwelt zu projizieren (Brückner et al. 2019). Durch ständige Selbstoptimierung und -darstellung im Netz versuchen die Betroffenen dieses Größenselbst immer wieder zu bestätigen. Dadurch kann die Nutzung sozialer Medien schnell einen suchtartigen Charakter annehmen. Zudem sind Personen mit einer sozialen Angststörung gefährdet, eine Computerspielsucht zu entwickeln, da sie in den Spielen eine ungefährliche Ersatzwelt, häufig mit virtuellen »Ersatzbeziehungen«, und Erfolgserlebnisse suchen. Immer wichtiger wird es daher, von therapeutischer Seite nach dem Umgang mit den sozialen Medien und interaktiven Spielen zu fragen und diesen in die Therapie miteinzubeziehen.
Die Adoleszenz ist eine Zeit der Übergänge, der Schwellen. Eine besonders prägende Veränderung ist der Wegfall des Pflichtrahmens Schule als Kontakt- und Kommunikationsplattform, mit dem es sich zu arrangieren galt. Hierdurch verringert sich die Interaktion mit der realen Welt, sie verschiebt sich bei vielen Betroffenen in Richtung der virtuellen Welt, zumal der Benutzung sozialer Medien und elektronischer Möglichkeiten (Spiele!) heute zum festen Verhaltensrepertoire von Schülerinnen und Schülern gehört, also quasi schon eingeübt war. Die virtuelle Welt erlaubt, sich neu zu erfinden, ein Ideal- und Wunschbild des eigenen Selbst zu entwerfen und zu präsentieren, ohne sich mit dem als unzulänglich erlebten eigenen Ich auseinandersetzen zu müssen.
Wie das Interaktions- und Kontaktbedürfnis in der virtuellen Welt ausgelebt wird, kann sich dabei ganz unterschiedlich gestalten. Manch eine Patientin bewegt sich geschickt in den sozialen Medien, entwickelt und pflegt dort durch entsprechend designte und aufbereitete Posts ein Image, das ihrem imaginierten Größenselbst nahekommt, mit den äußerlichen Attributen von Schönheit, Makellosigkeit, Coolness, Weltgewandtheit und Sexappeal. Ein anderer Patient taucht nicht einmal als geschöntes Abbild auf, sondern benutzt einen Avatar, eine Kunstfigur, etwa als Tier oder Comicfigur. Diese Menschen posten Memes und nicht-personale Bilder oder betreiben sogar einen eigenen Video-Channel. Ihre Darstellungen und Veröffentlichungen kennzeichnen eine Fantasie- oder Wunschwelt, der sie mit ihren oft umfangreichen IT-Kenntnissen Bewegung, Sprache und »Leben« verleihen und die es ihnen erlaubt, aus ihrer realen Welt zu entkommen – ohne ihr Zimmer verlassen zu müssen.
Der Umgang mit diesen virtuellen Aktivitäten während der Behandlung bedeutet eine besondere Herausforderung für Therapeutinnen und Therapeuten, aber durchaus auch eine Chance eines raschen Zugangs zum inneren Erleben der Betroffenen. Viele Patientinnen und Patienten legen ihre Online-Aktivitäten und -identitäten nicht von Beginn an offen, sondern gewähren erst im Verlauf der Therapie einen Einblick in ihre »zweite Welt«. Die Online-Aktivitäten sind jedoch sehr prägend für die Betroffenen und aufschlussreich für die Therapeutinnen und Therapeuten. Sie ergänzen das durch Anamnese und Exploration entstandene Bild, ihre Thematisierung stellt einen wesentlichen Fortschritt in der Therapie dar. Der erlaubte Blick ins Innere kann massive Schamgefühle dem Therapeuten gegenüber mobilisieren, ist aber auch ein erster Test, wie wertschätzend er oder sie mit diesem durchaus delikaten Bereich umgeht. Wird der Therapeut diese Welt als unwichtig, »Kinderkram« oder unverständlich abtun, zumal wenn er oder sie doch ein Stück (oder deutlich) älter ist und sich vielleicht ohnehin schwer tut mit Computern, Smartphones und sozialen Medien? Ist dieses Geheimnis bei ihm/ihr gut aufgehoben?
Deutlich gezeigtes Interesse einer Therapeutin, Offenheit und auch gezieltes Nachfragen nach diesem Bereich sind also essenziell, um den Patienten »abzuholen«. Dabei kann er vielleicht auch besondere Fähigkeiten und Kenntnisse vorweisen und erleben, dass er der Therapeutin gegenüber einen Vorsprung hat, den diese auch anerkennt und wertschätzt. Dabei lernt er die Therapeutin als Modell kennen, die mit Schwächen oder Wissenslücken umgehen kann, sie aushält und zugibt, ohne deswegen in Scham zu versinken oder sich zurückzuziehen.
Schließlich kann das Gespräch über die Online-Aktivitäten auch ein höchst individuelles Vokabular zur Verfügung stellen, das in der Therapie leitmotivische Arbeit ermöglicht, wenn etwa unterschiedliche Avatare oder Posts zu Chiffren für unterschiedliche Persönlichkeitsanteile werden (▶ Kap. 2.1, Fallbeispiel Herr M.). Der Umgang mit den Reaktionen im Netz kann Material für die Beziehungsarbeit liefern. Und gelegentlich mag es natürlich auch nötig sein, therapeutische Verträge zur Begrenzung dysfunktionalen Internetgebrauchs auszuhandeln. Eine völlige Abstinenz sollte aber nicht angestrebt werden, da dies realitätsfern ist und nur unnötigen Widerstand provoziert. Das Ziel muss vielmehr das Einüben eines funktionalen und selbstwertförderlichen Umgangs mit sozialen Medien und den heutigen Kommunikationsmöglichkeiten sein.
Die erschreckende Zunahme psychischer Störungen bei jungen Erwachsenen und die besonderen Ausprägungsformen der sozialen Ängste gerade in dieser Altersgruppe durch die Möglichkeiten und Versuchungen einer digitalisierten Welt erfordern therapeutische Antworten. Diagnostische und therapeutische Konzepte müssen angepasst werden, Therapeutinnen und Therapeuten sollten sich wenigstens in Ansätzen auf die »Welt im Netz« einlassen und die häufig verborgenen dysfunktionalen Verhaltensweisen ihrer Patientinnen und Patienten kennen. Gelingt dann aber der »Sprung« in die unmittelbar erfahrbare therapeutische Beziehung, kann die Behandlung für beide Seiten befriedigend sein und zeigt gute Erfolgsaussichten.
Götz Berberich
Der 21-jährige ledige Herr M. wirkt bei Aufnahme in die Psychosomatische Klinik gedrückt und verschlossen. Er kann kaum Blickkontakt halten, spricht leise und stockend. Erst langsam kann er sich auf den Kontakt mit der Therapeutin einlassen, behält aber lange eine distanzierte und misstrauische Haltung. Während des Berichts über seine Beschwerden und seine Vorgeschichte fühlt sich die Therapeutin immer wieder genötigt, ihn zu ermuntern und ihm viel Raum und Zeit zu gewähren.
Er lebe noch bei den Eltern, habe vor drei Jahren das Fachabitur abgelegt, danach aber »nichts mehr auf die Reihe gebracht«.
Zunehmend flüssig schildert er seine Symptomatik mit massivem Herzrasen, Schwitzen, Kopfschmerzen, Zittern, »Atemproblemen« und der Sorge, zu sterben oder verrückt zu werden. Er befürchte, im Gesicht zu erröten, sodass dies andere Menschen sofort bemerken würden. Diese Symptomatik sei bei Treffen mit Bekannten, Partys oder gesellschaftlichen Anlässen in immer häufigerer Frequenz aufgetreten. Er erfahre solche Situationen als unvorhersehbar, unkalkulierbar und unspezifisch. Er befürchte, die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu ziehen, beobachtet zu werden, im Mittelpunkt zu stehen, negativ bewertet zu werden und vor allem Ablehnung zu erfahren. Daher habe er diese Situationen zunehmend vermieden, vernachlässige aushäusige Hobbys wie das Fußballspielen und Kontakte. Er gehe insgesamt nur noch selten aus dem Haus. Reisen seien ihm praktisch unmöglich gewesen, selbst Aufenthalte außer Haus nach 23 Uhr (wenn Freunde zu Partys aufbrechen würden) seien ihm unmöglich. In größeren Menschengruppen könne er sich nicht mehr aufhalten, aus Sorge, nicht schnell genug fliehen zu können.
Als Sohn eines Restaurantbesitzers habe er häufig als Kellner aushelfen müssen. Dies habe er geschafft, indem er sich »hinter seiner Rolle« versteckt habe. Er sei dabei aber eher wortkarg geblieben, persönliche Gespräche oder eine lockere Unterhaltung seien ihm nicht möglich gewesen.
Nach frühem Probierkonsum von Cannabis mit ca. 15 Jahren habe er bald gemerkt, dass das »Kiffen« seine Ängste und Unruhe dämpfe, sodass er in zunehmendem Maß, zuletzt täglich Cannabis konsumiert habe. Vor ca. einem halben Jahr habe er dies aber aus Vernunftgründen aufgegeben, danach seien die Ängste noch einmal verstärkt aufgetreten.
Wenn er zur Ruhe komme, träten vermehrt Ängste auf: teils im Sinne von Panikattacken, teils Sorgen, nie mehr Freunde und soziale Kontakte finden zu können, die er sich eigentlich schon wünsche. Auch eine Partnerschaft sei zurzeit undenkbar. In der Schulzeit habe er einmal eine Ablehnung von einem Mädchen erfahren, die er angeschwärmt habe. Seitdem traue er sich nicht mehr, eine junge Frau anzusprechen, obwohl er sich eine Partnerschaft wünsche und sich auch seiner heterosexuellen Orientierung sicher sei.
Aus der Schulzeit habe er ein bis zwei gute Freunde, das genüge ihm auch. Auf nähere Nachfrage gibt er jedoch an, dass er die Freunde im letzten Jahr höchstens dreimal gesehen habe, gelegentlich würden sie telefonieren oder chatten. Bereits in der Schulzeit sei er sehr zurückgezogen gewesen, schüchtern und ängstlich. Er habe nur wenige Freunde gehabt und sei von den meisten Klassenkameraden »links liegen gelassen« worden. Sein intensivster Kontakt sei der zu seiner Mutter, die besorgt und fürsorglich reagiere. Der Vater dagegen arbeite meist im eigenen Restaurant und wirke auf ihn streng und ungeduldig.