Rund um seinen 60. Geburtstag stellt sich Bernd Stelter dem Älterwerden – das gar nicht so schlecht ist, wie er findet, vor allem, wenn man die Alternative bedenkt. Aber: Jetzt geht’s ums letzte Drittel, Zeit für eine Bestandsaufnahme, um barrierefrei Neunzig zu werden. Stelter beginnt zu gehen, 10.000 Schritte täglich, und seine Muskeln so lange zu triezen, bis sie brennen. Aber der Mensch ist ja nicht nur Körper, da ist auch ein Geist, der nicht verkalken soll. Was könnte da besser geeignet sein, als jetzt, nach zwanzig Jahren Holland-Urlaub auf Deutsch endlich mal die Landessprache unserer Nachbarn zu lernen? Krach-Unfälle und Versprecher sind garantiert. Vor allem aber widmet sich Stelter voller Humor seinem eigentlich Herzensthema: der Freundlichkeit, mit uns selbst und mit unseren lieben Mitmenschen. Denn da gibt es einiges zu entdecken …
Bernd Stelter, Jahrgang 1961, ist einer der bekanntesten deutschen Kabarettisten. Zehn Jahre lang war er Teil der 7 Köpfe auf RTL, ebenso lang moderierte er die beliebte WDR-Spielshow NRWDuell. Außerdem tourt er mit seinen Kabarettprogrammen durch Deutschland. Für Bastei Lübbe schrieb er mehrere Sachbücher und Romane, u. a. seine Camping- Krimis »Der Tod hat eine Anhängerkupplung« und »Der Killer kommt auf leisen Klompen«. Bernd Stelter lebt mit seiner Frau in der Nähe von Köln, ist aber so oft wie möglich in Holland und liebt Camping.
LÜBBE
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Jan Wielpütz, Bergisch Gladbach
Zitate Seite 83, 90, 103, 109, 147, 174 mit freundlicher Genehmigung
Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille
unter Verwendung eines Fotos von © Olivier Favre, Odenthal
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-1866-0
luebbe.de
lesejury.de
Man wird nicht älter, sondern besser!
Theodor Fontane
Ein Schauspieler stellt sich auf eine Bühne oder vor eine Kamera und spielt. Sein Spiel ist vorgegeben durch ein Theaterstück oder ein Drehbuch. Ein Schriftsteller, ein Dramaturg, hat die Dialoge erdacht. Der Schauspieler erfüllt sie mit Leben. Das ist eine großartige Leistung. Der Schauspieler spielt nicht sich selbst, er schlüpft in Rollen, stellt Charaktere dar, er interpretiert. Was für ein faszinierender Beruf.
In der Corona-Zeit war ich sehr dankbar dafür, dass ich kein Schauspieler bin. Ich stehe ebenfalls auf der Bühne oder vor einer Kamera, ich spiele auch, aber ich schreibe mein Drehbuch selbst. Als im Lockdown alle Theater geschlossen, alle Spielstätten dichtgemacht wurden, als die Kultur vor sich hin siechte, war ich froh, dass mein Beruf zwei Teile hat. Ich schreibe Bücher, und ich erfinde Geschichten, die ich auf Bühnen erzähle. Als die Bühnen geschlossen waren, blieb mir das Schreiben.
Für das Jahr 2020 standen einhundertsieben Kabarettabende in ganz Deutschland in meinem Kalender. Die Wühlmäuse in Berlin, das Schmitz-Tivoli in Hamburg, das Kultur-Festival in Vellmar, die Stadthallen in Unna und Soest, das Lustspielhaus in München, die Comödie in Dresden … Ich glaube, es wurden am Ende insgesamt acht Auftritte.
Ich konnte nicht auf den Bühnen stehen. Stattdessen saß ich in Zeeland vor meinem Mobilheim und schrieb meinen Krimi Mieses Spiel um schwarze Muscheln zu Ende. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ohne diese Zwangspause pünktlich fertig geworden wäre.
Moment, ich muss mich korrigieren, um keinen falschen Eindruck zu erwecken. Wenn ich sage, ich schreibe meine Drehbücher selbst, dann stimmt das zu zwei Dritteln. Die meisten Stücke entstammen meiner Feder, aber es gibt auch Ausnahmen. Markus Stöckl und Martin Bussmann haben immer wieder Stücke beigesteuert. Das ist sehr wichtig, man kocht nicht nur im eigenen Saft. Markus war immer für meine bissigere Variante zuständig. Bei seinen Texten blieb dem Publikum oft das Lachen im Hals stecken. Martin hat zum Beispiel die Kunstfigur des jugendlichen Rappers entworfen, der so manchen Zuschauer – im übertragenen Sinne – vom Stuhl geworfen hat. Auf die Idee mit der Jugendsprache wäre ich allein wohl nie gekommen.
Die meisten Liedtexte habe ich selbst geschrieben, die Melodien selbst komponiert. Natürlich bin ich sehr stolz auf Liebelein, da war die wunderbare Pe Werner für Text und Musik zuständig, und Das Gute ist das Produkt eines tollen Abends mit Heinz-Rudolf Kunze in einer Hotelbar in Iserlohn. Und es gibt vor allem auch den Kollegen Ulli Winters, der schon mal eine Mail rüberschickt, die da lautet: »Hi Alter, neues Lied, hör mal rein!«
Dann ist da im Anhang der Mail oft so eine hellgraue Leiste. Ich erinnere mich noch an dieses eine Mal: Hinten stand 2:59, also ein relativ kurzes Lied, und vorne war das nach rechts zeigende Dreieck abgebildet, das jeder Mensch meines Alters sofort als das Zeichen für die Play-Taste auf dem Kassettenrekorder identifiziert. Ich klickte drauf und lauschte: »Mahatma Glück, mahatma Pech, mahatma Gandhi, ma weiß im Leben vorher nie jenau, wat kann die …«
Da brauchte ich nicht lange zu überlegen. Da hatte ich das Handy schon in der Hand: »Alter, das Stück brauche ich!« Und dann freuten wir uns beide! Teamwork!
Im vergangenen Jahr lag wieder eine Mail von Ulli im Postfach. Und es war wieder dieses Gefühl »Heiligabend nach dem Krippenspiel, das Glöckchen hat geläutet, Tür auf, Bescherung«.
Ich setzte mich bequem in meinen Sessel, klickte auf die Play-Taste und lauschte:
»Endlich alt, die Kerze brennt nicht mehr von beiden Seiten,
endlich alt, jetzt kommen sie, die ruhigeren Zeiten,
wenn du nicht mehr tausend Bäume siehst, sondern endlich den Wald,
dann hast du’s geschafft, und du bist endlich alt!«
Coole Strophen, tolle Melodie. Ich ging in den Keller, öffnete den Kühlschrank und entschied mich, es war 11.15 Uhr, für ein Piccolofläschchen Champagner. Die Melodie hatte sich mir schon tief in den Hörkortex meines durchaus auf Gassenhauer ansprechenden Hirns eingegraben. Meine Frau Anke sah mich auf der Kellertreppe und zeigte irritiert auf den Piccolo in meiner Hand. »Champagner um …« Sie sah auf die Armbanduhr. »… 11.15 Uhr?«
Ich deutete auf mein Büro und sagte: »Komm mal mit!«
Anke folgte mir, und ich klickte wieder auf die Play-Taste:
»Hand in Hand mit dir geh ich um den Block.
Ich seh’ hektische Jungs auf der Jagd nach dem Rock.
Sie baggern und flirten, als würd’ es bezahlt,
Und ich denke bei mir, boah, was bin ich schön alt.«
Anke grinste, nickte, schnappte sich meinen Champagner und sagte: »Hol dir doch auch einen.«
Wir waren uns einig. Tolles Lied.
Nachdem die beiden Piccolos geleert waren, schickte ich die Aufnahme an meine Plattenfirma und an meine Agentur und rechnete mit schnellen Reaktionen wie: »Boah, was ein Lied!«, »Super Idee«, »Mensch, das kann ein Knaller werden«.
Es kam gar keine Reaktion.
Am späten Nachmittag war ich es dann leid und fragte mal nach. Christoph von der Plattenfirma sagte: »Nee, spricht mich nicht so an. Das ist ja eher negativ. Wer will schon älter werden.« Michael aus meiner Agentur war auch eher abgeneigt: »Mit dem Lied ziehst du die Stimmung runter.«
Lag ich denn so daneben?
Ich wurde unsicher und ließ mich am Ende überzeugen. Wir nahmen ein anderes Lied auf. Doch mein Bauchgefühl blieb sich treu, und immer, wenn ich an die Zeilen dachte, hatte ich schon wieder diesen Rhythmus in den Fingern, und dieses leichte Grinsen zog meine Mundwinkel wieder ein paar Millimeter nach oben, vor allem den rechten Mundwinkel.
»Wenn du nicht mehr einfach umfällst, weil es irgendwo knallt,
dann hast du’s geschafft, und du bist … endlich alt!«
Was hatte Christoph gesagt: »Wer will schon alt werden?«
Na, ich! Ich würde bald sechzig.
Hatte ich damit ein Problem? Eigentlich nicht – zumindest bis jetzt. Warum wollen Leute nicht alt werden. Da müsste man mal drüber nachdenken.
Am 19. April 1991 wurde ich dreißig. Es war eine Katastrophe!
Dreißig, vorne keine zwei mehr, schrecklich! Früher gab es lustige englische Fachtermini für das Lebensalter junger Menschen. Wenn man über zwölf war, also ab thirteen, fourteen, war man ein Teen. Heute klingt Teenager ziemlich abgeschmackt, in den 70ern war das knorke. Da können Sie Dr. Sommer fragen, das war so! Und wenn diese Phase zu Ende ging, wenn sich die Pickel ganz langsam verzogen hatten, wenn man seine Entschuldigungen selber unterschreiben durfte und endlich den Führerschein in der Tasche hatte, wenn man zu jeder Tages- und Nachtzeit in jede Disco durfte, dann war man Twen! Wow, Twen, klingt noch bescheuerter als Teen, war aber geil. Fragen Sie Dr. Sommer.
Warum gab es nach Teen und Twen keine neuen Anglizismen mehr, um die nächste erstrebenswerte Altersstufe zu bezeichnen? Nun, weil die nächste Altersstufe eben nicht mehr erstrebenswert war. Dreißig, vorne keine zwei mehr. In der Disco hieß es: »Lass den Oppa mal vorbei.« Du warst für alles, was cool war, zu alt, und für die Mädels, die auf ältere Männer standen, entschieden zu jung. Dreißig war eine Katastrophe!
Vierzig war wieder okay. Am 19. April 2001 wurde ich vierzig. Das Millennium war geschafft. Völlig wider Erwarten waren nicht alle Computer auf allen Finanzmärkten zusammengebrochen. Ich hatte eine Frau, zwei Kinder, keinen Hund und ein Reihenhaus. Freitags saß ich immer an einem Tisch, und niemand saß mir gegenüber. Wir saßen alle nebeneinander. Rudi Carrell, Kalle Pohl, dann ich, Jochen Busse, Gaby Köster, der Gast der Woche und Mike Krüger.
Bei meiner Geburtstagsfeier waren sie alle da. Wir feierten in Bonn im Apfel. Eine Kneipe, in der ich schon als Student, oder als Twen, einige wilde Nächte verbracht hatte. Meine Frau war da, meine Kinder, meine Eltern, meine Schwester, meine Freunde, die sieben Köpfe, und ich war mir sicher: »Vierzig, super!«
Fünfzig war entsetzlich! Ich hatte mich eigentlich gut vorbereitet. Mein Kabarettprogramm hieß damals Mittendrin – Männer in den Wechseljahren!. Ich hatte es sorgfältig recherchiert. Der Mann verliert zwischen dem vierzigsten und dem sechzigsten Lebensjahr die Hälfte seiner Testosteronproduktion, und das bedeutet, der Mann kann plötzlich mit dem Kopf denken, und das kennt der nicht! Einfach würde es nicht, aber mich konnte nichts mehr überraschen.
Dann produzierte der WDR eine Überraschungs-Geburtstagssendung zu meinem Fünfzigsten. Ich betrat wie gewohnt das Studio, um mein NRW-Duell zu moderieren. Und als ich meinen ersten Kandidaten ankündigen wollte, stand da plötzlich Frank Elstner und meinte, du bist heute selber Kandidat. Was für ein Tag! Alte Klassenkameraden, Weggefährten, Freunde waren da. Eine Super-Show, große Sause, tolle Party! Aber die Aufnahme fand auch einige Wochen vor meinem Fünfzigsten statt.
Am Geburtstag selbst saß ich mit einem Glas Wein im Sessel und dachte: »So fühlt sich das also an, wenn man die Halbzeit erreicht hat.«
Genau in diesem Moment meldete sich auf meiner linken Schulter ein kleines Teufelchen mit einem feisten Grinsen und sagte: »Ich will dir ja an deinem Geburtstag keinen Stress machen, aber du hast dich da gerade ziemlich verrechnet. Das Statistische Bundesamt sagt nämlich, die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes in der Bundesrepublik Deutschland liegt bei 79,6 …« Da wurde er unterbrochen von einer weichen melodischen Stimme, die in mein rechtes Ohr drang. Blitzartig drehte ich den Kopf und erblickte leicht verschwommen – ich bin ein bisschen weitsichtig – ein Engelchen, das ganz lieb lächelnd auf meiner rechten Schulter saß. Es sagte in beruhigendem Tonfall: »Himmlische Grüße zum Geburtstag, mein Lieber, ich wünsche dir viel Glück im neuen Lebensjahr und dass du noch viele, viele Jahre …«
»Genau darum geht es«, unterbrach es das Teufelchen. »Viele, viele Jahre. Dass ich nicht lache. Ich hab da mal was vorbereitet. Sieh mal, das ist ein Zollstock. Hier haben wir die Achtzig-Zentimeter-Marke, und da stellen wir uns mal vor, das sind die achtzig Jahre, und du hast ja rein statistisch nur 79,6 …«
Leicht erbost fuhr das Engelchen ihn an: »Nun sei doch nicht immer so kleinlich. Außerdem ist das nur Statistik. Wenn der Jäger einmal links am Hasen vorbeischießt und einmal rechts am Hasen vorbeischießt, ist der Hase statistisch tot.«
Das Teufelchen ließ sich nicht beirren. »Das ist die Achtzig-Zentimeter-Marke, und wenn wir den Zollstock genau in der Mitte zusammenklappen, dann sind wir bei?«
Ich schaute auf den Zollstock. »Wir sind bei vierzig.«
Hilfesuchend schaute ich schnell nach rechts, aber da saß kein Engelchen mehr auf der Schulter. Auch das Teufelchen links war plötzlich verschwunden. Was blieb, war das Bild vom Zollstock in meinem Kopf. Vierzig ist die Hälfte, nicht fünfzig.
Mit fünfzig denkt man, man hätte die Hälfte rum. Dann rechnet man nach und denkt sich: Ach du Scheiße!
Nun werde ich sechzig. Und sechzig ist wieder okay. Man hat schon eine ganze Menge erlebt, viele Schlachten geschlagen, unglaublich viele Erfahrungen gesammelt. Viele Stürme liegen hinter einem. Die See wird etwas ruhiger.
Meine Kinder sind erwachsen. Sie haben beide eine gute Berufsausbildung. Mein Sohn Tim hat eine Ausbildung als Winzer und eine als Weintechnologe, jetzt ist er Weinküfermeister. Sein Meisterstück war ein Rosé. Ich saß im Sommer 2019 an unserem Gartenteich, die Füße im Wasser und das erste Glas von diesem Rosé in der Hand. Er war ein bisschen dunkler, nicht dieser helle Lachston, den man üblicherweise erwartet, und er roch nach Erdbeeren. Beim ersten Schluck schmeckte ich diese Erdbeeren tatsächlich, ich war komplett begeistert.
Meine Tochter ist Referendarin, wenn dieses Buch erscheint, ist sie wahrscheinlich schon Lehrerin. Ich hatte mal ein Lied geschrieben mit dem Titel »Werde niemals Lehrer!«. Ich glaube, ich wäre ziemlich enttäuscht, wenn meine Kinder ihr Leben nach meinen Liedern ausrichten würden. Ich bin sicher, Judith wird eine dieser Lehrerinnen, die nicht aufgeben werden, die, egal was kommt, ihren Schülern einen Weg weisen werden. Sie unterrichtet Englisch und Deutsch. Da geht es um Bücher, es geht um Literatur, es geht um Jane Austen und Max Frisch. Es geht darum, jungen Menschen Bücher nicht zu verleiden, sondern zu zeigen, dass zwischen zwei Buchdeckeln Welten stecken, die man in Computerspielen vergebens suchen wird.
Ich werde sechzig, und ich habe den Sinn dieses Satzes verstanden, den ich so oft gehört habe: »Die Kinder sind aus dem Gröbsten raus!« Ja, das sind sie. Sie sind selbständig. Ich freue mich, wenn sie kommen. Ich freue mich noch mehr, wenn sie unseren Rat suchen, aber sie brauchen uns nicht mehr. Ruhige See.
Ich habe in meinem Leben viel gearbeitet. Zehn Jahre lang war ich bei 7 Tage, 7 Köpfe. Eine großartige Zeit. Ich bin oft gefragt worden, ob ich nicht traurig bin, dass es diese Sendung nicht mehr gibt. Nein, das bin ich nicht. Ich bin dankbar, dass ich sie hatte. Ich empfinde auch ein bisschen Demut. Manchmal liege ich abends im Bett, sehe nach oben und sage Danke schön. Ich habe zehn Jahre das NRW-Duell moderiert, Bücher geschrieben, auf der Kabarett- und der Karnevalsbühne gestanden. Ich muss niemandem mehr etwas beweisen, nicht einmal mir.
Ich werde ganz sicher noch ein paar Jahre arbeiten. Es darf jetzt gerne ein bisschen ruhiger werden, aber Rente ist für mich wirklich kein Thema. In die Rente geht man nach dem Berufsleben. Da habe ich gegenüber den meisten Altersgenossen einen gewaltigen Vorteil. Ich habe keinen Beruf. Ich gehe auf der Bühne meinem Hobby nach. Mein ganz großes Vorbild in beruflichen Dingen ist Dieter Hildebrandt. Er war Mitbegründer der Münchener Lach- und Schießgesellschaft, er war über Jahrzehnte haspelnd, aber nie verhaspelnd im Fernsehen zu sehen, aber vor allem hat er auf Bühnen gestanden. Dieter Hildebrand starb am 20. November 2013 im Alter von sechsundachtzig Jahren, und er hätte in der Woche darauf noch Auftritte gehabt. Für mich ist das die schönste Form von Optimismus. Ich will nie ganz aufhören zu arbeiten, aber die Pausen dürfen länger werden.
Es gibt noch einen dritten Grund, warum ich fröhlich ins dritte Drittel starten kann. Ich werde nicht allein alt. Ich bin seit über dreißig Jahren sehr glücklich mit meiner Frau Anke verheiratet. Das vergangene Jahr, 2020, wurde von Corona bestimmt. Die Theater hatten geschlossen, und ich war zuhause. Normalerweise bin ich als Tourneekünstler meist fünf Tage unterwegs, oft von Mittwoch bis Sonntag. Montag und Dienstag sind dann »unser Wochenende«. Wir freuen uns darauf, den Partner endlich wieder in den Arm zu nehmen. Wir feiern das ein bisschen. Vielleicht gehen wir in ein schönes Restaurant, oder wir machen eine gute Flasche Wein auf. Wir genießen unser Zusammensein, und bevor wir uns auf die Nerven gehen können, bin ich schon wieder weg.
Im vergangenen Jahr war ich gar nicht unterwegs, wir haben uns ein Jahr lang »auf der Pelle gehockt«. Und wir haben das toll hingekriegt, ich möchte sagen, wir haben das »gemeistert«. Vielleicht sind wir uns gerade in diesem Corona-Jahr noch näher gekommen, vielleicht haben wir uns noch besser kennengelernt als in den dreißig Jahren zuvor.
Anke ist vierundfünfzig. Sie ist sechs Jahre jünger als ich. Das ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Es bedeutet, dass ich nicht nachts durch Bars und Kneipen ziehen muss, um eine jüngere Frau kennenzulernen. Meine Frau ist jünger.
Die Kinder sind aus dem Gröbsten raus. Ich muss im Beruf niemandem mehr irgendwas beweisen. Ich bin seit dreißig Jahren glücklich verheiratet. In dieser perfekten Situation stehe ich gerade mal am Anfang des letzten Drittels. Ich bin sechzig. Ist das nicht toll? Das kann ein Riesenspaß werden.
Ich habe neulich ein Fernsehinterview mit dem britischen Schauspieler Michael Caine gesehen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme war er achtundachtzig Jahre alt (äußerlich wirkte er wie achtundsechzig, das ist bei großen britischen Schauspielern immer so). In dem Interview wurde er gefragt: »How do you feel about growing old?«
Er antwortete: »Considering the alternative, fantastic!«
Das Publikum lachte sehr.
Ich glaube, darum geht es. Es geht um Humor. Wer älter wird, braucht Spaß am Leben. Das ist meine feste Überzeugung, mit der stehe ich jeden Morgen auf und lege mich abends damit schlafen. Und falls ich es zwischendurch mal vergessen sollte, erinnern mich meine Frau, mein Handy oder meine Bäckerei-Fachverkäuferin daran.
Vielleicht fragen Sie sich jetzt: Wie soll ich das denn hinkriegen?
Sehen Sie, genau darum geht es in diesem Buch.
Der Elefant erreicht anderthalb Meter Körpergröße und (die Bullen) fünfeinhalb Tonnen Gewicht. Er kann ganze Brote verschlucken, er ist jederzeit in der Lage, sich in der Schlange bei McDonald’s sehr effektiv vorzudrängeln, und er hat unglaublichen Spaß in Porzellanläden. So gesehen hat der Elefant uns Menschen einiges voraus.
Aber der Elefant hat auch einen entscheidenden Nachteil, dachte ich zumindest. Der Elefant zieht sich, wenn seine Kinder selbständig sind, wenn sie ihn nicht mehr brauchen, freiwillig auf den Elefantenfriedhof zurück. Da muss der alte Elefant nicht sehr lange suchen, diesen Friedhof erkennt er sehr leicht, denn da liegen jede Menge Elefantenknochen herum. Das habe ich sehr genau gesehen, es war an einem Sonntag in meinem Elternhaus in Unna. Sonntags nachmittags stand auf dem Tisch meistens Frankfurter Kranz, Pflaumenkuchen oder Erdbeersahnetorte, je nach Jahreszeit. Im Farbfernseher wurde die Farbe ausgeschaltet, sonntagnachmittags waren die Filme schwarzweiß. Da nippte Heinz Rühmann an der Feuerzangenbowle, da fragte sich James Stewart, ob das Leben nicht schön sei, und Johnny Weissmüller schwang sich an der Liane durch den Urwald. In seinem ersten Film Tarzan, der Affenmensch von 1932 genügte ihm ein einziger Satz, um Weltruhm zu erlangen.
Jane: »Jane.«
Tarzan: »Jane.«
Jane: »And you? You?«
Tarzan: »Tarzan! Tarzan!«
Jane: »Tarzan!«
Tarzan: »Jane. Tarzan. Jane. Tarzan.«
Das war der Dialog. Und schon im zweiten Film Tarzans Vergeltung von 1934 sehen wir, oder besser, sah ich auf der Breitcordcouch vor dem Grundig-Farbfernseher in Schwarzweiß den Elefantenfriedhof.
Auch in meinem Lieblingsfilm König der Löwen, bei dem Elton John für seinen Song Can you feel the love tonight den Oscar gewonnen hat, taucht wieder der Elefantenfriedhof auf.
Wem glauben wir mehr, der schnöden Biologie oder Hollywood? Okay, klar, natürlich der Biologie, aber wie geht es Ihnen? (Ich kriege Can you feel the love tonight schon wieder nicht mehr aus dem Kopf.) Ich hatte immer geglaubt, die Geschichte vom Elefantenfriedhof sei wahr. Der Elefant kann sechsmal im Leben sein Gebiss austauschen, und wenn der siebte Backenzahn ausfällt, wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind, dann zieht sich der Elefant in diesen besonderen Teil des Dschungels zurück, und dann stirbt der da.
Das stimmt aber so nicht, es ist Mythos. Ich habe es recherchiert. Aber ist das wirklich wichtig? Ich bin von Beruf Geschichtenerzähler, und die Geschichte von dem Elefanten, der sich zum Sterben in den Dschungel zurückzieht, die gefällt mir. Bei Hänsel und Gretel fragt ja auch niemand nach dem Wahrheitsgehalt. Entscheidend ist doch nur die eine Frage: »Ist das nicht toll, dass wir keine Elefanten sind?«
Ich war neulich bei Dr. Dr. Profitlich, das ist mein Kieferchirurg, und der hat mir glaubhaft versichert, dass er meine Backenzähne auch in fünfzehn Jahren noch hinkriegt.
Ich habe also keine Probleme mit den Backenzähnen, und meine Kinder leben sehr, sehr selbständig. Ich könnte jetzt eigentlich in den Dschungel gehen. (RTL hat auch schon mal vorsichtig nachgefragt.) Mache ich aber nicht.
Ich rede hier nicht über ein Ende. Wenn man das Ganze ein bisschen optimistisch betrachtet, und Sachen optimistisch betrachten ist ja geradezu meine Passion, dann rede ich hier über einen Anfang. Ich beginne jetzt das dritte Drittel. Und in diesem dritten Drittel fallen einige Probleme weg.
Das erste Drittel gehörte den Eltern, der Tanzschule, der Universität und der Sexschule. Das zweite Drittel gehörte der Familie, dem Reihenhaus, der Karriere und der Midlife-Crisis. Das dritte Drittel gehört mir!
Am 19. April 2021 wagte sich der Frühling zaghaft nach Deutschland vor. Wir leben in Bornheim im Rheinland, das liegt bekanntlich nördlich der Linie Saarland – Berlin, was an diesem Tag sehr vorteilhaft war, denn in diesem Bereich gab es einige Sonnenstunden, die Temperaturen lagen tagsüber zwischen zwölf und fünfzehn Grad. Der Wind kam schwach aus unterschiedlichen Richtungen.
Sie merken schon, die Wetterlage am 19. April des Jahres 2021 habe ich im Internet recherchiert. Ich weiß nämlich nicht mehr genau, wie das Wetter war. Ich bin sogar ziemlich zufrieden, dass ich mich überhaupt noch an diesen Tag erinnern kann. Beinahe wäre mir mein sechzigster Geburtstag coronabedingt durchgegangen.
Wenn es die Pandemie nicht gegeben hätte, hätte ich Freunde und Verwandte nach Holland eingeladen. Ich hatte mit der Chefin unseres Lieblingsrestaurants in Domburg schon alles besprochen. Bis zu einhundertzwanzig Personen hätte ich zur Feier einladen können. Zeeländische Muscheln hätten auf dem Buffet gestanden, es hätte Saté-Spieße gegeben, vielleicht hätte auch das eine oder andere Krustentier dran glauben müssen. Zeekraal und Lamsoren sind mein Holland-Gemüse, und ich fürchte, ich hätte mir »Frikandel speciaal, Frites Mayo« auf keinen Fall verkneifen können. Ein rauschendes Fest wäre das gewesen.
Aber nein, wir hatten den Lockdown. Anke hatte, um eine Erinnerung an meine Jugend heraufzubeschwören, eine Erdbeersahnetorte gebacken, fast genauso, wie sie damals in Unna-Stockum bei Geburtstagen auf dem Ausziehtisch im Wohnzimmer stand. Meine Tochter Judith wohnte mittlerweile mit ihrem damaligen Freund und heutigen Ehemann in einem schönen Dorf auf der anderen Rheinseite, aber zu meinem Geburtstag kamen sie natürlich zu Besuch. Sie hatte eine Schwarzwälder Kirschtorte gebacken: »Du hast ja immer erzählt, dass es die früher bei Oma immer bei Geburtstagen gab.« Tim kam etwas früher als sonst aus dem Weingut zurück, der Chef hatte ihn früher gehen lassen, weil der alte Papa ja sechzig wurde. Seine Freundin Kristina kam fast zeitgleich mit ihm an. Sie hatte eine Käsesahnetorte gebacken: »Tim hat mir erzählt, die gab es früher oft bei euch zuhause.«
Eigentlich verlief der Tag nicht sehr spektakulär für einen sechzigsten Geburtstag, aber es waren wirklich fantastische Torten. Und es war ein großartiger Tag. Jede Kalorienzählerei blieb außen vor. Am Abend kamen Ankes Eltern dazu. Wir unterstützten noch die von der Pandemie gebeutelte Gastronomie in Form einer umfangreichen Pizzabestellung, und trotzdem blieb der Tag vom Materialeinsatz her klar preiswerter als die Domburger Partyvariante.
Wir stießen noch einige Male auf meinen Geburtstag an mit einem Kräuterberg vom Weingut Meyer-Näkel und mit einem Gras im Ofen von Dr. Heger, und am nächsten Morgen wurde ich zum ersten Mal als Sechzigjähriger wach, und ich wusste nicht mehr so genau, wie am Tag vorher das Wetter war.
Sechzig, das ist schon eine ziemlich große Zahl. Als Curd Jürgens damals mit seinem sonoren Bariton 60 Jahre und kein bisschen weise aus dem Lautsprecher des Grundig-Farbfernsehers direkt in das Herz meiner Mutter schmachtete, war ich vierzehn, und weil man mit vierzehn noch kein Mofa fahren durfte, saß ich auf der dunkelbraunen Breitcordcouch vor dem Grundig-Farbfernseher, und wir guckten irgendeine »Große Show für die ganze Familie«. Vielleicht war es die Starparade mit Rainer Holbe, vielleicht war es Musik ist Trumpf mit Peter Frankenfeld, oder war es die Peter-Alexander-Show? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, da stand Curd Jürgens mit diesen weißen, nach hinten gekämmten Haaren. Meine Mutter fand ihn schön, und ich fand ihn unglaublich alt. Sechzig Jahre!
Aber heute Morgen, wo ich nun mal selber sechzig bin, da liege ich so in diesem warmen, weichen Ehebett und denke bei mir: »Och, eigentlich bist du noch ziemlich jung.« Und dann höre ich mich aufstehen. Was sind denn das für Geräusche? Wenn ich früher aufgestanden bin, zack, dann stand ich einfach. Wenn ich heute aufstehe, dann ist das von Geräuschen umgeben – wenn die weißen Kalkschlegel im Kniegelenk so übereinanderreiben. Kennen Sie noch das Geräusch früher an der Schultafel, wenn die Kreide so ganz langsam weniger wurde und man mit dem Daumennagel weiterschrieb? Dieses Geräusch habe ich jeden Morgen beim Aufstehen.
Dann cremt meine Frau mich ein. Wenn meine Frau mich früher eingecremt hat, dann war das erotisch. Wenn meine Frau mich heute eincremt, dann ist das rheumatisch. Ich werde also doch alt.
Der nächste Tagesordnungspunkt ist das Bad. Ich stehe verschlafen da, gucke in den Spiegel, und ja, das sieht nicht mehr so aus wie vor zwanzig Jahren. Nachdem ich mittlerweile gute fünfundzwanzig Kilo weniger auf die Waage bringe, passt mein Abbild wieder ganz in den Spiegel. Das ist schön. Die Figur ist wieder ganz okay, aber straffe Haut ist schon was anderes. Sie kennen die Ellenbogenhaut, die sich so faltig schrumpelig zusammenzieht, wenn man den Arm streckt. Sehen Sie, morgens im Bad vor dem Spiegel finde ich diese Ellenbogenhaut an Stellen, wo definitiv kein Ellenbogen ist. Obwohl ich niemals ein Mitglied irgendeines akademischen Wiener Zirkels war, werden meine oberen Stirnkanten mittlerweile von Geheimratsecken geziert, und das da einsetzende Haupthaar wechselte in den vergangenen Jahren von Blond zu Melatenblond, eine Haarfarbenbezeichnung, die sich einem vielleicht erst erschließt, wenn man weiß, dass Melaten der Zentralfriedhof von Köln ist. Das Haupthaar ist also ergraut. Na und? Ich habe mir jedes graue Haar einzeln verdient.
Klar, ein englischer Schauspieler sieht als Alternative zu »älter werden« natürlich »nicht älter werden«, also Tod. Das ist halt typisch britisch. Das ist deren schwarzer Humor, aber nicht die einzig mögliche Sichtweise. Nehmen wir als Gegenbeispiel einen Vertreter des rheinischen »goldenen« Humors, Willi Schneider. Hätte man den gefragt: »Wie fühlt man sich, wenn man älter wird?«, dann hätte der geantwortet: »Man müsste nochmal zwanzig sein, und so verliebt wie damals.« Hätte man ihn daraufhin mit all dem Liebeskummer konfrontiert, den er durch diesen Entschluss ein zweites Mal durchleben müsste, hätte er wohl geantwortet: »Schütt deine Sorgen in ein Gläschen Wein!«
Der alte Engländer hat faktisch natürlich recht. Die Alternative zu »älter werden« ist tatsächlich »nicht älter werden«. Eine Möglichkeit, noch einmal von vorne zu beginnen, existiert nämlich nicht. Aber ich möchte mir ja selbst begründen, warum ich guten Gewissens sagen kann: Sechzig ist o. k.! Und da kann man sich ja mal, rein fiktiv, fragen: »Würde ich denn überhaupt nochmal von vorne anfangen wollen?«
Gehen wir die Geschichte doch einfach mal ganz von vorne durch. Wir würden heutzutage wohl in der Health-and-Parenting-Abteilung der Uniklinik von unserer durch monatelange Schwangerschaftsgymnastik gestählten alkohol- und nikotinabstinenten Mutter unter Wasser zur Welt und anschließend mit einem veganen Muttermilch-Surrogat stressfrei durch die ersten drei Monate gebracht.
Ich bin noch ganz normal mit allen dreizehn Pfund Lebendgewicht bei einer Hausgeburt hervorgezaubert worden, und meine Schwester hat den Storch noch gesehen.
Ein paar Jahre später, so mit vier, also zwei Jahre nach unserem ersten Kita-Tag, würden wir Fahrrad fahren lernen, mit Integralhelm, Ellenbogen- und Knieschonern, während unsere Mutter die Aktion mit einem Helikopter überwacht und die am Lenker befestigte Dashcam meine Fortbewegungsversuche via Bluetooth auf das Display von Papas Handy überträgt. Wenn wir uns dann schon richtig gut mit dem Fahrrad fortbewegen können, dann werden die ersten zwei der zwölf titanverstärkten Stützräder abgeschraubt, und schwups, mit vierzehn können wir Fahrrad fahren. Immerhin, denn mit dem Schwimmen hat das nicht geklappt, weil sämtliche kommunalen Hallenbäder geschlossen wurden.
ApfelKerzeGrunerts
Ich bin mit dem, was ich hatte und habe, mehr als zufrieden. Ich habe soeben beschlossen, ich will nicht mehr von vorne anfangen. Das ist keine besondere intellektuelle Leistung, weil der liebe Gott beim »Kassettenrekorder Mensch« die Taste für das Zurückspulen ohnehin nicht vorgesehen hat. Aber selbst wenn es die Möglichkeit gäbe, habe ich beschlossen: Nein, ich will nicht von vorne anfangen.
Dieser Beschluss ist das eine, dabei zufrieden sein das andere. Ich bin sechzig und will das dritte Drittel vom Kuchen mit einem guten Gefühl starten. Das gute Gefühl ist wichtig. Die Frage »Wer will schon älter werden?« will ich mit einem eindeutigen, frisch herausgerufenen »Na, ich!« beantworten. Was brauche ich dafür, welche Zutaten muss ich besorgen, welche Rosinen und wie viel Zuckerguss, und vor allem: Wer hat das Rezept?