Das Buch

Die Zwillinge Mia und Zach Farraday sind das Ein und Alles ihrer Mutter Jude und so unterschiedlich, wie Geschwister nur sein können: Zach ist selbstbewusst und der beliebteste Junge der Schule, Mia hingegen schüchtern und unauffällig. Als Lexi Baill auf die Highschool in Pine Island kommt, findet Mia in ihr endlich eine Freundin. Die beiden Mädchen sind unzertrennlich, und ihre Freundschaft kann auch nicht dadurch erschüttert werden, dass sich Zach und Lexi ineinander verlieben. Doch als Mia bei einem tragischen Autounfall ums Leben kommt, ändert sich alles: Lexi, die am Steuer saß, nimmt alle Schuld auf sich und bringt das größte Opfer, zu dem eine Frau fähig ist.

Jahre später: Das Band zwischen Zach und Lexi ist nicht zerrissen. Wird es gegen alle Widrigkeiten für sie ein gemeinsames Glück geben können?

Die Autorin

Kristin Hannah, Jahrgang 1960, hat zahlreiche Bestseller veröffentlicht und wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in einer kleinen Stadt in der Nähe von Seattle, Washington.

Von Kristin Hannah sind in unserem Hause bereits erschienen:

An fernen Küsten

Ein Garten im Winter

Das Geheimnis der Schwestern

Immer für dich da

Was wir aus Liebe tun

Wer dem Glück vertraut

Wer zu lieben wagt

Wohin das Herz uns trägt

Kristin Hannah

Wie Blüten im Wind

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Marie Rahn

Besuchen Sie uns im Internet:
www.ullstein-taschenbuch.de

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Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Januar 2013
© für die deutsche Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013
© 2011 by Kristin Hannah
Published by Arrangement with Kristin Hannah
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Night Road (St. Martin’s Press, New York)
Das Zitat aus William Wordsworth: Ode. Hinweis auf die
Unsterblichkeit, aus Erinnerungen an die frühe Kindheit
wurde übersetzt von Dietrich H. Fischer.
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung:
© Irene Lamprakou/Trevillion Images (Frau),
© Lee Avison/Trevillion Images (Baum),
© Joan Kocak/Trevillion Images (Feld)
Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

ISBN 978-3-8437-0370-3

Ich muss zugeben, ich war eine Übermutter. Ich ging zu jedem Elternabend, jeder Klassenfeier, jedem Ausflug, bis mein Sohn mich anflehte, doch bitte, bitte zu Hause zu bleiben. Nun, da er erwachsen ist und seinen College-Abschluss hat, kann ich mit der Weisheit der Rückschau auf unsere gemeinsame Highschool-Zeit zurück­blicken. Sein letztes Jahr dort war zweifellos eins der stressigsten, aber auch lohnendsten Jahre meines Lebens. Wenn ich daran zurückdenke, kommen mir zahlreiche Höhen und Tiefen in Erin­nerung – und diese Erinnerungen inspirierten mich zu diesem ­Roman. Mir ist vor allem bewusst, wie glücklich ich mich schätzen konnte, in einem kleinen Ort zu leben, wo man einander noch kennt und hilft. Daher widme ich dieses Buch meinem Sohn ­Tucker und allen Kindern, die uns besuchten und unser Haus mit ihrem Lachen erfüllten. Ryan, Kris, Erik, Gabe, Andy, Marci, Whitney, Willie, Lauren, Angela und Anne – um nur ein paar von ihnen zu nennen. Außerdem widme ich es den anderen Müttern, denn ich weiß wirklich nicht, wie ich ohne sie überlebt hätte. Für Julie, Andy, Jill, Megan, Ann und Barbara: Danke, dass ihr immer für mich da wart und genau wusstet, wann Hilfe, wann eine Mar­garita und wann eine unbequeme Wahrheit angebracht war. Last but not least danke ich meinem Mann Ben, der mir immer zur Seite stand und mir auf vielerlei Weise zeigte, dass wir beim Aufziehen unseres Kindes genau wie bei allem anderen ein Team sind.

Ich danke euch allen.

Prolog

2010

Sie steht an der Haarnadelkurve der Night Road.

Hier im Wald ist es dunkel, selbst am helllichten Tag. Riesige, uralte Nadelbäume ragen zu beiden Seiten der Straße dicht an dicht in die Höhe, und ihre mit Moos bewachsenen, geraden Stämme lassen keinen Sonnenstrahl bis nach unten dringen. Der brüchige Asphalt der Straße liegt in tiefem Schatten. Alles ist reglos und still. Als hielte es den Atem an und wartete.

Früher war diese Straße einfach nur ein Heimweg. Man war sorglos über die zahlreichen Schlaglöcher gefahren und hatte nur selten – wenn überhaupt – zur Kenntnis genommen, wie der Asphalt auf beiden Seiten bröckelte. Damals war man mit den Gedanken nur bei der Alltagsroutine. Pflichten. Besorgungen. Termine.

Natürlich ist sie diese Straße seit Jahren nicht gefahren. Schon wenn sie das verblichene Schild aus der Ferne sah, schlug sie das Lenkrad scharf ein. Lieber riskierte sie, von der Straße abzukommen, als hier zu landen. So dachte sie zumindest bis heute.

Bei den Einwohnern der Insel ist der Vorfall im Sommer 2004 bis heute ein Thema.

Sie sitzen in der Bar oder auf ihrer Veranda und verbreiten Meinungen, Halbwahrheiten und Urteile über etwas, was sie nichts angeht. Sie glauben, die dürftigen Fakten aus der Zeitung reichten dazu aus. Dabei sind die Fakten doch unwichtig.

Wenn jemand sehen würde, wie sie hier im Schatten an der leeren Straße steht, so würde alles wieder neu aufkommen. Sie würden sich an die Nacht vor langer Zeit erinnern, als der Regen zu Asche wurde …

Teil Eins

Ich fand auf unseres Lebensweges Mitte

In eines Waldes Dunkel mich verschlagen,

Weil sich vom rechten Pfad verirrt die Schritte.

Dante, Inferno

Eins

2000

Lexi Baill studierte eine Karte des Staates Washington, bis ihr die winzige rote Schrift vor den müden Augen verschwamm. Die Ortsangaben hatten etwas Magisches an sich. Sie verwiesen auf eine Landschaft, die sie sich kaum vorstellen konnte: auf schneebedeckte Berge, die sich bis zum Ufer erstreckten, auf Bäume, so hoch und gerade wie Kirchtürme, auf endlosen, strahlend blauen Himmel. Sie stellte sich Adler vor, die auf Telefonmasten saßen, und Sterne, die zum Greifen nahe schienen. Wahrscheinlich tappten nachts Bären durch die stillen Siedlungen und suchten nach Plätzen, die vor nicht allzu langer Zeit noch ihnen gehört hatten.

Dies war ihre neue Heimat.

Wie gern wollte sie daran glauben, dass es diesmal anders würde. Aber wie sollte sie? Mit vierzehn wusste sie vielleicht nicht viel, aber eins war gewiss: In diesem System konnte man Kinder zurückgeben wie Altglas oder wie Schuhe, die drückten.

Am Tag zuvor hatte ihre Betreuerin sie früh geweckt und angewiesen, ihre Sachen zu packen. Wieder einmal.

»Ich habe gute Neuigkeiten«, hatte Miss Watters gesagt.

Selbst im Halbschlaf war Lexi klar, was das bedeutete. »Eine neue Familie. Großartig. Danke, Miss Watters.«

»Nicht nur eine neue Familie. Deine Familie.«

»Ja. Natürlich. Meine neue Familie. Das wird toll.«

Miss Watters atmete geräuschvoll aus, ein Seufzer war es nicht, aber fast. »Du warst so lange stark, Lexi.«

Lexi zwang sich zu einem Lächeln. »Sie müssen sich keine Sorgen machen, Miss W. Ich weiß, wie schwer es ist, ältere Kinder unterzubringen. Und die Rexlers waren cool. Wenn meine Mom nicht zurückgekommen wäre, hätte es da bestimmt funktioniert.«

»Es war nie deine Schuld, das weißt du ja.«

»Ja«, erwiderte Lexi. An guten Tagen konnte sie sich einreden, dass sie zurückgegeben worden war, weil die jeweilige Familie ihre eigenen Probleme hatte. An schlechten Tagen jedoch – und die gab es in letzter Zeit häufiger – fragte sie sich, was mit ihr nicht stimmte. Warum man sie überall loswerden wollte.

»Du hast Angehörige, Lexi. Ich habe eine Großtante von dir ausfindig gemacht. Ihr Name ist Eva Lange. Sie ist sechsundsechzig und wohnt in Port George, im Staat Washington.«

Lexi setzte sich auf. »Was? Meine Mom hat behauptet, ich hätte keine Angehörigen.«

»Da … hat sie sich geirrt. Du hast eine Familie.«

Ihr ganzes Leben lang hatte Lexi auf diese wenigen kostbaren Worte gewartet. Seit jeher war ihr Dasein gefährdet und ungewiss gewesen, wie ein Schiff, das auf Klippen zusteuert. Sie war praktisch allein aufgewachsen, inmitten von Fremden, wie ein modernes Wolfskind, das um Nahrung und Aufmerksamkeit kämpfen musste und niemals genug bekam. Das meiste davon hatte sie verdrängt, doch wenn sie sich bemühte – wenn einer der staatlichen Seelenklempner sie dazu zwang –, konnte sie sich an Hunger und Kälte erinnern, an Sehnsucht nach einer Mutter, die entweder zugedröhnt oder zu erschöpft war, um sich um sie zu kümmern. Sie wusste noch, wie sie tagelang in einem schmutzigen Laufstall gesessen und weinend darauf gewartet hatte, dass sich jemand an sie erinnerte.

Jetzt starrte sie aus dem verschmierten Fenster des Überlandbusses. Neben ihr saß ihre Betreuerin und las einen Roman.

Nach über sechsundzwanzig Stunden Fahrt waren sie endlich fast am Ziel. Draußen lastete eine stahlgraue Wolkendecke auf den Baumwipfeln. Der Regen malte schnörkelige Muster auf die Fensterscheiben und ließ die Sicht verschwimmen. Hier in Washington fühlte man sich wie auf einem anderen Planeten: Verschwunden waren die sonnenverbrannten, karstigen Hügel von Südkalifornien und das graue Zickzackmuster der verstopften Freeways. Die Bäume hier waren überdimensional, genau wie die Berge. Alles wirkte wild und zugewuchert.

Der Bus fuhr an einem niedrigen Betonbahnhof vor und kam quietschend und ruckend zum Stehen. Eine schwarze Rauchwolke zog an ihrem Fenster vorbei und hüllte kurz den Parkplatz ein, dann zerstob sie im prasselnden Regen. Die Türen des Greyhound-Busses gingen zischend auf.

»Lexi?«

Sie hörte Miss Watters’ Stimme und dachte: Los, Lexi, beweg dich, aber sie konnte nicht. Sie blickte auf zu der Frau, die in den vergangenen sechs Jahren ihre einzige verlässliche Bezugsperson gewesen war. Jedes Mal, wenn eine Pflegefamilie kapituliert und Lexi wie verdorbenes Obst zurückgegeben hatte, war Miss Watters da gewesen und hatte sie mit einem traurigen Lächeln in Empfang genommen. Es war vielleicht kein richtiger Bezugspunkt, aber mehr kannte Lexi nicht, und plötzlich hatte sie Angst, diesen noch so dürftigen Halt zu verlieren.

»Und was ist, wenn sie nicht kommt?«, fragte Lexi.

Miss Watters streckte Lexi ihre Hand mit den knotigen, dick geäderten Fingern entgegen. »Sie wird kommen.«

Lexi holte tief Luft. Sie schaffte das. Natürlich schaffte sie das. Sie hatte in den letzten fünf Jahren sieben verschiedene Pflegefamilien gehabt und sechs verschiedene Schulen besucht. Sie würde es überleben.

Sie nahm Miss Watters’ Hand, dann zwängten sie sich hintereinander zwischen den Sitzen des Busses hindurch zum Ausstieg.

Draußen nahm Lexi ihren abgewetzten roten Koffer, der fast zu schwer war, weil größtenteils Bücher darin waren – das Einzige, das Lexi etwas bedeutete. Sie zerrte ihn zum Rand des Bürgersteigs und blieb dort stehen, direkt am Bordstein. Der schmale Betonstreifen kam ihr vor wie eine gefährliche Klippe. Ein falscher Schritt, und sie konnte kopfüber auf die befahrene Straße fallen oder sich etwas brechen.

Miss Watters stellte sich zu Lexi und spannte einen Schirm auf. Der Regen prasselte dröhnend auf den Stoff.

Die anderen Fahrgäste stiegen nacheinander aus und verschwanden.

Lexi blickte sich auf dem leeren Parkplatz um und spürte, wie ihr die Tränen kamen. Wie oft schon war sie in genau dieser Lage gewesen? Jedes Mal, wenn Momma entgiftet hatte, war sie ihre Tochter holen gekommen. Gib mir noch eine Chance, Kleine. Sag dem netten Richter hier, dass du mich liebhast. Diesmal mach ich’s besser … ich werde dich nie mehr vergessen. Und jedes Mal hatte Lexi gewartet. »Wahrscheinlich hat sie es sich anders überlegt.«

»Auf keinen Fall, Lexi.«

»Könnte doch sein.«

»Du hast eine Familie, Lexi.« Als Miss Watters diese ominösen Worte wiederholte, gab Lexi auf. Hoffnung beschlich sie.

»Familie«, sagte sie langsam und vorsichtig. Das Wort war unvertraut und zerging süß wie ein Bonbon auf ihrer Zunge.

Da näherte sich ein alter blauer Ford Fairlane und hielt vor ihnen. Der Wagen war rostig und hatte eine verbeulte Stoßstange. Ein gesprungenes Fenster wurde mit Klebeband zusammengehalten.

Langsam ging die Fahrertür auf, und eine Frau stieg aus. Sie war klein, hatte graue Haare, wässrig braune Augen und fahle Haut, so als wäre sie Kettenraucherin. Erstaunlicherweise kam sie Lexi vertraut vor – wie eine alte, faltige Version von Momma. Lexi fuhr wieder das Unwort durch den Sinn, doch diesmal hatte es Bedeutung: Familie.

»Alexa?«, fragte die Frau mit leicht heiserer Stimme.

Lexi brachte keinen Ton heraus. Diese Frau hätte lächeln sollen, oder sie gar umarmen, aber Eva Lange stand einfach nur da und musterte sie mit tiefzerfurchter Miene.

»Ich bin deine Großtante. Die Schwester deiner Großmutter.«

»Ich hab meine Großmutter nie kennengelernt«, erwiderte Lexi. Etwas anderes fiel ihr nicht ein.

»Ich dachte die ganze Zeit, du würdest bei der Familie deines Daddys leben.«

»Ich hab keinen Dad. Das heißt, ich kenne ihn nicht. Momma wusste nicht, wer mein Vater ist.«

Tante Eva seufzte. »Das weiß ich jetzt auch, dank Miss Watters hier. Sind das all deine Sachen?«

Lexi spürte, wie Scham sie überkam. »Ja.«

Sanft nahm Miss Watters ihr den Koffer ab und stellte ihn auf den Rücksitz des Wagens. »Los, Lexi. Steig ein. Deine Tante möchte, dass du bei ihr bleibst.«

Ja, jetzt noch.

Miss Watters drückte Lexi heftig an sich und flüsterte: »Keine Angst.«

Lexi klammerte sich fast zu lange an sie. In der letzten ­Sekunde, kurz bevor es peinlich wurde, löste sie sich von ihr und taumelte einen Schritt zurück. Sie ging zu dem alten Wagen und riss an der Tür. Klappernd und quietschend schwang sie auf.

Die Sitzbänke im Wagen waren aus braunem Kunststoff, aus dem schon die graue Füllung quoll. Es roch nach kaltem Rauch und Pfefferminz, so als wären schon eine Million Mentholzigaretten hier drinnen geraucht worden.

Lexi rückte so weit wie möglich an die Tür. Sie winkte Miss Watters durch die gesprungene Fensterscheibe, und als sie losfuhren, sah sie zu, wie ihre Betreuerin immer mehr im grauen Dunst verschwand. Sie legte die Fingerspitzen auf das kalte Glas, als könnte die Berührung sie mit der Frau, die sie nicht mehr sah, in Verbindung halten.

»Es tat mir leid, als ich vom Tod deiner Mutter hörte«, sagte Tante Eva nach langem, unbehaglichem Schweigen. »Aber sie ist jetzt an einem besseren Ort. Das ist dir bestimmt ein Trost.«

Darauf hatte Lexi noch nie eine passende Antwort gewusst. Es war die übliche mitleidige Bemerkung aller Fremden, die sie aufgenommen hatten: die arme Lexi mit ihrer toten drogensüchtigen Mutter. Aber keiner von ihnen hatte wirklich gewusst, wie Mommas Leben war – die Männer, das Heroin, die Schmerzen, die Brechattacken. Oder wie schrecklich das Ende war. Nur Lexi wusste es, alles.

Sie starrte aus dem Fenster auf ihre neue Heimat. Sie wirkte abenteuerlich, grün und düster, selbst am helllichten Tag. Nach ein paar Meilen hieß sie ein Schild im Port George Reservat willkommen. Hier sah man überall die Hinweise auf amerikanische Ureinwohner. Orkawale, die auf Ladenschilder geschnitzt waren. Selbstgebaute Blockhütten auf zugewucherten Grundstücken, viele von ihnen mit rostigen Autos oder Gerätschaften im Vorgarten. An diesem Augustnachmittag zeugten überall leere Feuerwerksständer vom Unabhängigkeitstag, und auf einem Hügel mit Blick auf den Puget Sound blinkten die bunten Lichter eines Casinos.

Schilder leiteten sie zum Wohnwagenpark. Tante Eva fuhr durch den Chief Sealth Mobile Home Park und hielt vor einem gelbweißen Doppelwohnwagen. Im Nieselregen wirkte er irgendwie verschwommen und gedrückt. Traurig. Ein paar verwelkte Geranien in grauen Plastiktöpfen bewachten die Vordertür, die ostereierblau gestrichen war. Die karierten Vorhänge am Fenster wurden mit einer ausgefransten gelben Schnur zurückgehalten und bildeten durch ihre Aussparung eine Sanduhr.

»Es ist nichts Großartiges«, erklärte Tante Eva mit verlegener Miene. »Ich hab’s vom Stamm gemietet.«

Lexi wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Wenn ihre Tante gewusst hätte, wo Lexi schon gewohnt hatte, hätte sie sich für den hübschen kleinen Wohnwagen nicht entschuldigt. »Ist doch schön.«

»Komm«, sagte ihre Tante und machte den Motor aus.

Lexi folgte ihr über einen Kiesweg hoch zur Vordertür. Im Wohnwagen war alles peinlich sauber. Eine kleine, L-förmige Küche lag neben einem Essbereich mit einem gelb gesprenkelten Resopaltisch und vier Stühlen. Im Wohnraum waren ein kariertes Sofa und zwei Fernsehsessel aus blauem Kunstleder vor einem Fernsehgerät auf einem Metalltisch gruppiert. Auf einem Beistelltischchen standen zwei Fotos: Eins zeigte eine alte Frau mit Hornbrille, das andere Elvis. Es roch nach Zigarettenrauch und künstlichem Blumenduft. An fast jedem Knauf in der Küche hingen lilafarbene Raumdeos.

»Tut mir leid, wenn’s hier riecht. Ich hab letzte Woche erst aufgehört zu rauchen – als ich von dir erfahren habe«, entschuldigte sich Tante Eva und wandte sich zu Lexi um. »Passivrauchen ist gefährlich für Kinder.«

Lexi überkam ein seltsames Gefühl: flattrig wie ein kleiner Vogel und so fremdartig, dass sie es nicht gleich erkannte.

Hoffnung.

Diese Fremde, die ihre Tante war, hatte für sie aufgehört zu rauchen. Sie hatte Lexi aufgenommen, obwohl sie offensichtlich kaum Geld hatte. Sie sah die Frau an und wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus vor lauter Angst, damit etwas zu verderben.

»Ich kenn mich in diesen Dingen nicht aus, Lexi«, sagte Tante Eva schließlich. »Oscar – das war mein Mann – und ich hatten keine Kinder. Wir wollten zwar, kriegten aber keine. Also weiß ich nicht, wie man Kinder großzieht. Wenn du lieber …«

»Es wird schön werden. Versprochen.« Überleg es dir bloß nicht anders, bitte. »Wenn du mich behältst, wirst du es nicht bereuen.«

»Wenn ich dich behalte?« Tante Eva schürzte ihre dünnen Lippen und runzelte leicht die Stirn. »Da hat dir deine Momma aber was angetan. Kann nicht behaupten, dass mich das überrascht. Meiner Schwester hat sie auch das Herz gebrochen.«

»Das konnte sie gut«, pflichtete Lexi ihr leise bei.

»Wir sind eine Familie«, erklärte Eva.

»Ich weiß eigentlich nicht, was das bedeutet.«

Tante Eva lächelte, aber es war ein trauriges Lächeln, das Lexi schmerzhaft daran erinnerte, dass auch ihr Herz nicht unversehrt war. Das Leben mit Momma hatte seine Spuren hinterlassen. »Es bedeutet, dass du hier bei mir bleibst. Außerdem nennst du mich wohl besser ›Eva‹, denn mit ›Tante‹ fühle ich mich alt.« Sie wollte sich abwenden, aber Lexi fasste ihr dünnes Handgelenk und spürte, wie die samtweiche Haut bei ihrer Berührung zusammengedrückt wurde. Das hatte sie nicht gewollt, sie hätte es nicht tun sollen, aber jetzt war es zu spät.

»Was ist denn, Lexi?«

Lexi konnte das Wort kaum herausbringen, es steckte wie ein Stein in ihrer Kehle fest. Aber sie musste es aussprechen. Unbedingt. »Danke«, sagte sie schließlich mit brennenden Augen. »Ich mache dir keinen Ärger. Ich schwöre es.«

»Das würde ich nicht tun«, erwiderte Eva, und plötzlich lächelte sie, endlich. »Schließlich bist du ein Teenager. Aber das ist schon in Ordnung, Lexi. Wirklich. Ich bin schon so lange allein, da freue ich mich, dass du hier bist.«

Lexi konnte nur noch nicken. Auch sie war schon lange allein.

Jude Farraday hatte die letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen. Kurz vor Tagesanbruch gab sie es endlich auf, schlug die leichte Sommerdecke zurück, stand auf und verließ das Zimmer, wobei sie darauf achtete, ihren Mann nicht zu wecken. Sie öffnete die Tür zum Garten und ging hinaus.

Der Garten glitzerte in der Morgendämmerung vom Tau. Die sattgrüne Rasenfläche fiel sanft bis zum Sund ab. Kohlrabenschwarze flache Wellen mit orangeroten Spitzen leckten am Ufer aus Sand und grauem Kies. Auf der ­gegenüberliegenden Seite zeigte die Olympic-Mountains-Gebirgskette ihre gezackte Silhouette in Pink und Lavendel.

Jude schlüpfte in ihre Gartenclogs, die immer an der Tür standen, und ging in den Garten.

Dieses Fleckchen Erde war nicht nur ihr ganzer Stolz, sondern auch ihr persönlicher Tempel. Hier hockte sie sich auf die satte schwarze Erde und grub, pflanzte und zupfte. Innerhalb der niedrigen Einfriedung aus Steinen hatte sie eine Welt erschaffen, die nur von Ordnung und Schönheit zeugte. Was sie hier gepflanzt hatte, blieb, wo es sein sollte, und trieb tiefe Wurzeln ins Erdreich. Ihre geliebten Pflanzen trotzten grimmiger Kälte und schweren Unwettern und erwachten jedes Frühjahr zu neuem Leben.

»Du bist früh auf.«

Jude drehte sich um. Ihr Mann stand auf der Terrasse, ­direkt an der Schlafzimmertür. Mit seinen schwarzen Boxer­shorts und den zu langen Haaren, deren Blond allmählich in Grau überging, sah er aus wie ein sexy Professor oder ein Rockstar, der gerade seinen Zenit überschritten hatte. Kein Wunder, dass sie sich vor fast fünfundzwanzig Jahren auf den ersten Blick in ihn verliebt hatte.

Sie streifte sich die Clogs von den Füßen und lief über den Steinpfad zur Terrasse. »Ich konnte nicht schlafen«, gestand sie.

Er nahm sie in den Arm. »Der erste Schultag.«

Das war es, was sich wie ein Einbrecher in ihre Gedanken geschlichen und ihr den Schlaf geraubt hatte. »Ich kann einfach nicht glauben, dass sie schon auf die Highschool kommen. Vor einer Sekunde waren sie doch noch im Kindergarten.«

»Es wird bestimmt spannend zuzusehen, wie sie sich in den nächsten vier Jahren entwickeln.«

»Für dich vielleicht«, erwiderte sie. »Du kannst dir das Ganze ja von der Tribüne aus ansehen. Aber ich bin unten auf dem Spielfeld und muss die Schläge parieren. Ich habe eine Todesangst, dass was schiefgeht.«

»Was soll denn schon schiefgehen? Die beiden sind wissbegierig, schlau und aufgeschlossen. Es spricht alles zu ihren Gunsten.«

»Was schiefgehen kann? Soll das ein Witz sein? Es ist … gefährlich da draußen, Miles. Bis jetzt haben wir sie beschützen können, aber die Highschool ist was ganz anderes.«

»Du solltest langsam anfangen loszulassen, das weißt du.«

So was sagte er ständig zu ihr. Und nicht nur er: Viele andere gaben ihr denselben Rat, und das schon seit Jahren. Man hatte ihr gesagt, sie hielte die Zügel zu fest in der Hand und würde ihre Kinder zu stark kontrollieren, aber sie wusste einfach nicht, wie sie sie loslassen sollte. Es war von Anfang an, seit sie entschieden hatte, Mutter zu werden, ein ewiger Kampf gewesen. Vor den Zwillingen hatte sie drei Fehlgeburten gehabt. Monat für Monat hatte ihre einsetzende Periode sie in tiefste Depressionen gestürzt. Dann geschah das Wunder, und sie war noch einmal schwanger geworden. Die Schwangerschaft war schwierig gewesen, ständig gefährdet, und ihr war fast sechs Monate Bettruhe verordnet worden. Jeder Tag, den sie im Bett verbracht und an ihre Babys gedacht hatte, war ein Kampf gewesen, den sie nur mit purer Willenskraft gewann. Mit ganzem Herzen hatte sie diese Schlacht ausgefochten. »Noch nicht. Sie sind doch erst vierzehn«, sagte Jude.

»Jude«, setzte er seufzend an. »Nur ein bisschen. Mehr will ich gar nicht. Du überprüfst jeden Tag ihre Hausaufgaben, bist bei jedem Schulereignis, bei jedem Ausflug, bei jeder ihrer Aufführungen dabei. Du machst ihnen Frühstück und fährst sie überallhin. Du räumst ihre Zimmer auf und wäschst ihre Wäsche. Wenn sie ihre Pflichten vernachlässigen, entschuldigst du sie und übernimmst sie selbst. Du behandelst sie wie eine aussterbende Spezies. Lass es doch einfach mal ein bisschen lockerer angehen.«

»Wieso sollte ich? Wenn ich die Hausaufgaben nicht kon­trolliere, wird Mia sie gar nicht mehr machen. Oder sollte ich vielleicht nicht mehr die Eltern ihrer Freunde anrufen, um mich zu vergewissern, dass sie wirklich dort sind, wo sie sein sollten? Zu meiner Zeit gab es in der Highschool jedes Wochenende Besäufnisse, und zwei meiner Freundinnen wurden schwanger. Von nun an muss ich noch besser aufpassen, das kannst du mir glauben. In den nächsten vier Jahren kann so vieles schiefgehen. Ich muss sie beschützen. Wenn sie erst mal aufs College gehen, lass ich es lockerer angehen. Versprochen.«

»Aber aufs richtige College«, sagte er in scherzhaftem Tonfall, dabei wussten beide, dass es kein Witz war. Obwohl die Zwillinge gerade erst mit der Highschool anfingen, prüfte Jude schon die ersten Colleges.

Sie sah zu ihm auf, weil sie wollte, dass er sie verstand. Er meinte, sie würde es mit ihrer Bemutterung übertreiben, und sie verstand seine Sorge, doch sie war nun mal Mutter und wusste nicht, wie man das nebenbei erledigen sollte. Sie ertrug einfach die Vorstellung nicht, dass ihre Kinder sich ebenso ungeliebt fühlen konnten wie sie einst.

»Du bist nicht wie sie, Jude«, sagte er leise, und sie war ihm dankbar dafür. Sie lehnte sich an ihn. Gemeinsam betrachteten sie den Sonnenaufgang, bis Miles schließlich erklärte: »Ich gehe jetzt besser. Um zehn muss ich operieren.«

Sie küsste ihn leidenschaftlich und folgte ihm ins Haus. Dort duschte sie rasch, fönte sich ihr schulterlanges blondes Haar und zog sich ausgeblichene Jeans und einen Kaschmirpullover mit U-Boot-Ausschnitt an. Dann holte sie aus einer Schublade ihrer Kommode zwei Päckchen, eins für jedes Kind. Damit ging sie aus dem Schlafzimmer und dann den breiten Flur mit dem Schieferboden hinunter. Die Sonne schien durch die vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster, so dass ihr aus Glas, Stein und Tropenhölzern erbautes Haus von innen zu glühen schien. Der große Hauptgang war mit erlesenen Objekten dekoriert. Jude hatte jahrelang mit Architekten und Designern an der Ausgestaltung des Hauses gearbeitet, und es war so spektakulär geworden, wie sie es sich erträumt hatte.

Die obere Etage allerdings war nur den Kindern vorbehalten. Eine geschwungene Treppe aus Stein und Kupfer führte in ihr Reich. Ein großer Raum mit riesigem Fernseher und Billardtisch nahm die gesamte Ostseite des Hauses ein. Dazu gab es noch zwei große Schlafzimmer mit angeschlossenem Bad.

An Mias Zimmer angekommen, klopfte Jude pflichtschuldigst und ging hinein.

Wie erwartet, lag ihre vierzehnjährige Tochter noch in ihrem Himmelbett und schlief. Im ganzen Zimmer verteilt sah man Kleider in Stapeln und Haufen, wie die Überreste einer bizarren Explosion. Mia steckte mitten in der Suche nach ihrer Identität, und jeder Rollenwechsel erforderte einen radikalen Kleiderwechsel.

Jude setzte sich auf den Rand ihres Bettes und strich Mia das weiche blonde Haar aus dem Gesicht. Einen Augenblick lang war die Zeit aufgehoben. Plötzlich war sie wieder eine junge Mutter, die ihr pummliges kleines Mädchen mit dem Flachshaar und dem verschmierten Gesicht betrachtete, das ihrem Zwillingsbruder wie ein Schatten folgte. Sie waren wie kleine Hundewelpen gewesen, die im ausgelassenen Spiel übereinandergepurzelt waren, unablässig in ihrer Geheimsprache geplappert hatten und lachend vom Sofa, von der Treppe, vom Schoß gefallen waren. Von Anfang an war Zach der Anführer gewesen. Er hatte als Erster zu sprechen angefangen und dann nicht mehr aufgehört. Mia hatte erst nach ihrem vierten Geburtstag ihr erstes Wort gesagt. Vorher hatte ihr Bruder das Sprechen für sie übernommen. Eigentlich tat er das immer noch.

Jetzt rollte Mia sich schläfrig herum und öffnete blinzelnd die Augen. Ihr blasses herzförmiges Gesicht – ihre Gesichtszüge waren ein Erbe ihres Vaters – wurde von einer Akne verunstaltet, derer man seit Jahren nicht Herr werden konnte. Dazu kam ihre – wenn auch modisch bunte – Zahnspange. »Hola, madre

»Es ist euer erster Tag in der Highschool.«

Mia verzog das Gesicht. »Erschieß mich! Bitte.«

»Du wirst sehen, es ist besser als in der Mittelschule.«

»Das sagst du. Kannst du mich nicht unterrichten?«

»Hast du schon vergessen, wie es war, als ich dir in der sechsten Klasse bei Mathe helfen wollte?«

»Ein Desaster«, erwiderte Mia düster. »Aber jetzt würde es besser. Ich würde dich nicht mehr so anschreien.«

Jude strich ihrer Tochter über das weiche Haar. »Du kannst dich nicht vor dem Leben verstecken, mein Schatz.«

»Das will ich auch gar nicht. Nur vor der Highschool. Dort geht es zu wie im Haifischbecken, Mom. Ehrlich. Ich könnte Gliedmaßen verlieren.«

Jude musste unwillkürlich lächeln. »Siehst du? Du hast viel Sinn für Humor.«

»Das ist doch die übliche Vertröstung, wenn man hässlich ist. Vielen Dank, madre. Aber was soll’s! Ich hab ja sowieso keine Freunde.«

»Doch, hast du.«

»Nein. Zach hat Freunde, die sich bemühen, nett zu seiner Versagerschwester zu sein. Das ist was anderes.«

Jahrelang hatte Jude Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihre Kinder glücklich zu machen, aber diese eine Schlacht konnte sie nicht ausfechten. Es war nicht leicht, die schüchterne Schwester des beliebtesten Jungen in der Schule zu sein. »Ich hab ein Geschenk für dich.«

»Echt?« Mia setzte sich auf. »Was denn?«

»Pack’s aus.« Jude gab ihr das Päckchen.

Mia riss das Geschenkpapier auf, und ein dünnes Tagebuch mit pinkfarbenem Ledereinband und schimmerndem Messingschloss kam zum Vorschein.

»Als ich so alt war wie du, hatte ich auch ein Tagebuch, in das ich alles schrieb, was mir passierte. Es kann ziemlich hilfreich sein, alles aufzuschreiben. Du weißt doch, dass ich auch ziemlich schüchtern war.«

»Aber du warst hübsch.«

»Du bist auch hübsch, Mia. Ich wünschte, du könntest das sehen.«

»Ja, genau. Pickel und Spange sind jetzt der letzte Schrei.«

»Sei den anderen gegenüber einfach aufgeschlossen, Mia, ja? Es ist eine neue Schule, da werden die Karten neu gemischt, okay?«

»Mom, seit dem Kindergarten begegne ich nur denselben Kindern, daran wird auch eine neue Adresse nichts ändern. Außerdem hab ich versucht, aufgeschlossen zu sein … bei Haley, schon vergessen?«

»Das war vor über einem Jahr, Mia. Es ist nicht gut, wenn man sich an schlechte Erfahrungen hängt. Heute ist dein erster Tag auf der Highschool. Ein Neuanfang.«

»Ist gut.« Mia zwang sich zu lächeln.

»Gut. Und jetzt steh auf. Ich möchte früh in der Schule sein, um mit euch eure Schließfächer und dann eure Klassen zu suchen. Ihr habt Mr Davies in Geometrie. Ich möchte ihm noch sagen, wie gut du darin warst.«

»Du wirst auf keinen Fall mit in die Klasse kommen. Und mein Schließfach kann ich auch alleine finden.«

Jude wusste natürlich, dass Mia recht hatte, dennoch wollte sie nicht nachgeben. Noch nicht. Es konnte zu viel schiefgehen. Mia war zerbrechlich, ließ sich zu leicht aus dem Gleichgewicht bringen. Was, wenn sich jemand über sie lustig machte?

Es war die Aufgabe einer Mutter, ihre Kinder zu schützen – ob sie es nun wollten oder nicht. Sie stand auf. »Ich werde praktisch unsichtbar sein. Wart’s nur ab. Niemandem wird auffallen, dass ich überhaupt da bin.«

Mia stöhnte.