Von irdischen Utopien zu Weltraumkolonien. Eine Reise in die Zukunft unserer Gesellschaft
Ullstein
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Dieses Buch ist allen gewidmet, deren Odyssee noch bevorsteht. Mögen sie an ihrem Sehnsuchtsort ankommen.
»So fassten sie den Plan, sich auf eine unberührte Welt zurückzuziehen, abseits von allem, um dort noch einmal von vorne zu beginnen. Sie wollten eine neue Welt erschließen und darauf eine neue Gesellschaft errichten,
die von dem Wissen der Vergangenheit profitieren,
aber zugleich so beschaffen sein sollte, dass die Fehler
der alten vermieden würden.«
Andreas Eschbach:
Eines Menschen Flügel
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, einen Astronauten im Aufzug zu treffen? Immerhin lieferte mir folgende Begegnung die zündende Idee für dieses Buch: Im Fahrstuhl zur Abflugebene des internationalen Flugplatzes von Houston in Texas stand mir ein Mann gegenüber, dessen Poloshirt das Logo der amerikanischen Weltraumbehörde NASA zierte. Ich selbst trug ein T-Shirt, das ich ein paar Tage zuvor in der Ausstellung The Future Starts Here1 in London gekauft hatte. Darauf war in Sperrschrift zu lesen: IF MARS IS THE ANSWER, WHAT IS THE QUESTION? Etwas am Poloshirt des Mannes mit Schnurrbart und mexikanischem Aussehen irritierte mich, während er still in der gegenüberliegenden Ecke stand. Mein Blick fiel auf den Schriftzug »STS 128« unterhalb des NASA-Logos. STS steht für »Space Transport System«, besser bekannt als »Space Shuttle«, die ehemalige US-amerikanische Weltraumfähre. Auf das Logo deutend, fragte ich den Mann scherzhaft, ob er denn im Shuttle mitgeflogen sei. »Ja«, antwortete er trocken, »in der Discovery.« Ich staunte. Dieser unscheinbare Mann war tatsächlich Astronaut! Die »Discovery« war eines der Raumschiffe der NASA, benannt nach dem Segelschiff, mit dem James Cook 1778 Hawaii entdeckte. Auch wenn sich seither die Grenzen immer weiter ausgedehnt haben, sind Menschen noch immer auf der Suche nach der letzten, der ultimativen Grenze.
Belustigt las mir der Astronaut den Spruch auf meinem T-Shirt vor. Was folgte, klang wie eine Art Predigt im Schnellduchlauf: »Wir werden das Weltall besiedeln. Ein neues Zeitalter wird beginnen.« Sicher, im All wurden bislang unzählige wissenschaftliche Experimente durchgeführt. Doch eignet sich das All tatsächlich auch als neuer Lebensraum? Als könne er meine Gedanken lesen, wischte der Astronaut jeden Zweifel fort. »Auf Mond und Mars werden wir unter kontrollierten Bedingungen beobachten, wie Gesellschaft entsteht.« Auf der Stelle neugierig geworden, hörte ich gebannt zu. Fast hätte ich ihm geglaubt. Gleichwohl regte sich Widerstand. Menschen lassen sich nicht unter »kontrollierten Bedingungen« beobachten, dachte der Soziologe in mir. Menschen lassen sich nicht herumschubsen wie Moleküle, sie sind kein formbares Material. Soziale Systeme funktionieren anders als technische. »Waren Sie wirklich im Weltall?«, fragte ich, nur um sicherzugehen. »Haben Sie die Frage zur Antwort?«, kam es selbstbewusst zurück.
Eine passende Frage fiel mir in diesem Moment nicht ein. Dafür erinnerte ich mich grob an eine Aussage von Kurt Tucholsky (die ich später wortgetreu nachschlug): »Da leben die Leute in ihren Vierzimmerwohnungen«, sinnierte der Schriftsteller bereits 1928, »aber ›eigentlich‹ sind sie ganz etwas anderes, (…) eigentlich sind wir überhaupt ganz anders, als man glauben könnte, wenn man uns so leben sieht. (…) Es ist ein schöner und gefährlicher (…) Traum, die Realität zu ignorieren, und im Wunschland zu leben, wo es nichts kostet und wo alles glatt und hemmungsfrei zugeht. So fliehen sie – und bleiben auf derselben Stelle.«2
Die Suche nach dem Wunschland – ich fing an zu grübeln! Vielleicht lag darin eine Antwort auf die Frage des Astronauten? Vielleicht ist die Menschheit – sind wir alle – ständig auf der Suche nach einem imaginären Wunschland? Diese Frage ließ sich noch weiterdenken: Wie wäre es, in einer perfekten Welt zu leben? Egal, ob in fernen Siedlungen auf dem Mars, in extravaganten Unterwasserstädten, hocheffizienten Smart Cities oder anarchistischen Reformkommunen. Und überhaupt: Gelang es Menschen auf ihrer Reise durch Raum und Zeit nur ein einziges Mal, eine ideale Welt zu erschaffen und dort gemeinsam zufrieden zu leben?
Abflugebene. Die Aufzugtür öffnete sich, der Astronaut trat hinaus ins Freie. Für einen kurzen Moment drehte er sich noch einmal um. »Denken Sie über die Frage nach!«, rief er mir zu. Worte, die wie ein Auftrag klangen. Dieses Buch ist das Ergebnis meiner Odyssee als wissenschaftlicher Grenzgänger.
Spätestens im Sommer 2021 wurde uns deutlich vor Augen geführt, wie vielschichtig die Sehnsucht nach einer zeitgenössischen Version von Utopia sein kann. Zwei Weltraummilliardäre – Richard Branson und Jeff Bezos – lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den ersten privaten Weltraumflug. Einem weiteren Weltraummilliardär, Elon Musk, gelang es, vier Zivilisten in einer automatisch gesteuerten Kapsel in eine fast 600 Kilometer hohe Umlaufbahn und sicher zurück zur Erde zu bringen. Inzwischen erforschten chinesische Sonden die Rückseite des Mondes, und die chinesische Raumfahrtagentur begann mit dem Bau einer eigenen Raumstation. Vordergründig mag das alles nach aufgeblasenen Ego-Projekten und groß angelegten nationalen Technikoffensiven aussehen. Doch auf der Hinterbühne wird tatsächlich gerade unsere Zukunft neu verhandelt. Diese Projekte markieren als weitere Meilensteine die Odyssee der Menschheit, an deren Ende die Kultur einer neuen Zivilisation stehen wird. Hierbei gilt folgende Grundregel: Nicht moderne Technologien sind die Mangelware des 21. Jahrhunderts, sondern Antworten auf Sinnfragen. Wer möchten wir sein? Was ist uns wichtig? Und wann werden wir endlich lernen, mit einer Stimme zu sprechen, wenn es um die Zukunft der Menschheit zwischen erzwungenem Überlebenskampf und freiwilliger zivilisatorischer Transformation geht?
So stehen wir also am Beginn einer aufregenden kollektiven Reise. Erst wenn immer mehr Menschen utopische Lebensformen ausprobieren, wenn immer mehr Lebensräume auf und unter Wasser erschlossen und Weltraumflüge nach und nach demokratisiert werden, wird die Chance steigen, gerade noch rechtzeitig einen distanzierten Blick auf uns einzunehmen. Dieser neue archimedische Punkt ist aber dringend notwendig, um richtungweisende und verantwortungsvolle Entscheidungen treffen zu können. Pioniere real-utopischer Projekte verwandelten die Welt durch mehrere Jahhrhunderte hindurch in ein Labor, in dem Zukunft immer wieder getestet wurde. Astronauten und Kosmonauten überschritten die vorläufig letzte Grenze. Zusammen könnten sie uns helfen, den Blick für neues Terrain zu schärfen – für ein Wunschland, das Vertrautes infrage stellt und den hochwillkommenen Neustart einer planetarischen Gesellschaft möglich macht.
Genau darum geht es in diesem Buch.
Jede neue Welt beginnt mit riskanten Gedanken. Bislang brachte keine Branche mehr Utopielust hervor als die Raumfahrt, nirgends ist die Suche nach dem Wunschland aufregender: Sehnsuchtsvolles Streben, unermüdliche Experimente, gelegentliches Scheitern, aber auch kollektives Lernen – das ist der Spannungsbogen, der bisher den Aufbruch ins All prägte. Vor allem eine Mission verkörpert diese Eigenschaften in Reinform.
Apollo 13 ist die aufregendste Beinahe-Katastrophe der Raumfahrt. Auf dem Weg zur dritten Mondlandung bestanden die Astronauten Jim Lovell, Fred Haise und Jack Swigert das ultimative Abenteuer. Am dritten Tag ihrer Mission im Frühjahr 1970 explodierte 328.000 Kilometer von der Erde entfernt ein Tank mit Flüssigsauerstoff im hinteren Versorgungsteil des Raumschiffs. Die Kommandokapsel verfügte lediglich über Strom und Sauerstoff für eine weitere Viertelstunde. Der Ausfall der lebenserhaltenden Systeme war unmittelbar existenzbedrohend. Jack Swigerts coole Durchsage an Mission Control – »Houston, we have a problem« – wurde zum ikonischen Funkspruch. Mit viel Improvisation überlebten die Astronauten. Sie umrundeten den Mond in dem Teil des Raumschiffes, das eigentlich für die Mondlandung vorgesehen war, sie streckten die vorhandenen Vorräte an Sauerstoff, bastelten einen Adapter und hielten sich so weitere 90 Stunden am Leben. Die ganze Welt verfolgte das Drama. Der amerikanische Präsident Richard Nixon telefonierte vorsorglich mit den Partnerinnen der Astronauten. Millionen sahen live dabei zu, wie die Kapsel schließlich am Fallschirm im Pazifik landete. Nur 45 Minuten später betraten die drei Astronauten erleichert den roten Teppich auf einem Flugzeugträger. Der Name ihres Raumschiffs: »Odyssey«.
Mit Apollo 13 hatte die NASA bewiesen, dass sie komplexe Probleme in den Griff bekommt. »Die Mission war nicht im eigentlichen Sinne erfolgreich«, erinnert sich der ehemalige Kommandant Jim Lovell 2020 anlässlich des 50. Jahrestags dieses besonderen Weltraumfluges, »aber sie zeigte, wie Menschen, die gemeinsam an einer Sache arbeiten, ein komplettes Desaster in etwas Positives umdrehen können.«3 Genau diese Denkart veranlasste Menschen immer wieder dazu, utopische Experimente zu starten und auf das Beste zu hoffen. Wer auch immer sich in Zukunft für eine bessere Welt engagieren wird, in dieser Mentalität findet sich eine der Grundlagen für Erfolg. Raumfahrt kann als Paradebeispiel für Utopielust dienen, denn dahinter verbirgt sich weit mehr als bloß ein technologisches Megaprojekt. Vielmehr ist Raumfahrt eine kulturelle Aufgabe, weil der Aufbruch ins All dazu zwingt, die richtigen Fragen über unsere Zukunft zu stellen.
Bislang hielten sich knapp 600 Menschen im All auf. Einer von ihnen ist José Moreno Hernández, der Astronaut, den ich in Houston im Aufzug traf. Seine Geschichte steht exemplarisch für die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Als Kind von Wanderarbeitern pendelte Hernández jahrelang zwischen Mexiko und den USA, erst spät lernte er Englisch. Als er mit zehn Jahren den beiden Apollo-17-Astronauten beim bislang letzten Mondspaziergang zusah – zwei Jahre nach der Explosion auf der »Odyssey« –, beschloss er, später selbst Astronaut zu werden. Hernández verfolgte sein Ziel mit Ausdauer, erst mit seiner zwölften Bewerbung berief ihn die NASA 2003 als Missionsspezialist für den 37. Flug der Weltraumfähre »Discovery«. Sechs Jahre später war es endlich so weit: Hernández flog ins All.
Bemannte Raumfahrt war zu dieser Zeit schon recht hemdsärmelig geworden, etwas zwischen Paketdienst im Orbit und Wissenschaft mit Aussicht. Für Hernández blieb die Mission »STS-128« der einzige Raumflug. Genau 13 Tage, 20 Stunden und 54 Minuten durfte er im All verbringen. Damit rangiert er irgendwo zwischen den mutigen Pionieren, die kurze Abstecher in die Erdumlaufbahn machten, damit aber in die Geschichtsbücher eingingen, und den Langzeit-WG-Bewohnern der internationalen Raumstation ISS. Inzwischen ist Hernández Präsident und CEO von zwei Beratungsunternehmen, spezialisiert auf kosteneffiziente Weltraumtechnologien, PT Strategies4 und Tierra Luna Engineering.5 Damit ist er Teil einer Bewegung, die sich »New Space« nennt und die Privatisierung der Weltraumfahrt vorantreibt.6 New Space wird von privaten Investoren und Weltraummilliardären wie Richard Branson, Jeff Bezos und Elon Musk angeführt, die entweder von Weltraumhotels im Orbit, Massentourismus im All oder gar von Marssiedlungen träumen. Die neuen Weltraum-Gurus wollen nicht weniger als eine Zivilisationswende. Seit Branson und Bezos 2021 sogar persönlich in den Weltraum flogen, kennt die Begeisterung kaum noch Grenzen. Symbolik und Timing passen. Endlich gibt es wieder authentische Vorbilder und große Pläne. Millionen junger Menschen begeistern sich für eine Zukunft im All. Weltweit verfolgen Space-Enthusiasten die Vorbereitungen weiterer Missionen. Freiwillige treten an, um in Isolationsexperimenten Fernreisen zum Mars zu simulieren. Start-ups konkurrieren um Erfindungen, Zuwendungen und Investoren.
Alle zusammen sind sie Teil einer kollektiven Heldenreise, bei der es weniger darum geht, dass Einzelne ihr Ziel erreichen, sondern im Idealfall die ganze Menschheit. Auch wenn Raumfahrt von privilegierten Nationen und Personen betrieben wird, geht es am Ende doch immer darum, das Leben auf dem »Raumschiff Erde« zu verbessern. Letztlich sind wir daher alle – direkt oder indirekt – Teil eines groß angelegten Zivilisationsexperiments, dessen Ausgang noch ungewiss ist. Denn Missionen, die sich auf die Suche nach besseren Welten begeben, zeichnen sich durch ein wiederkehrendes Muster aus. Was als planvolle Suche nach dem Wunschland beginnt, endet allzu oft in einer »Quest« (von altfranzösisch: »queste«), einer »Irrfahrt«.7 Genau in diesem Sinne lässt sich die Menschheit als Gemeinschaft von Sinnsuchenden verstehen, die sich auf einer ständigen Pilgerfahrt zur Vollkommenheit befindet.
Auf der Suche nach dem neuen Leben wird die Reiseroute durch Wünsche und Erwartungen, Erfolge und Enttäuschungen sowie immer wieder durch die Hoffnung auf Neubeginn bestimmt. Denn so einfach ist es ja nicht, eine bessere Welt zu schaffen. »Auswandern und irgendwo einen Klub oder einen Minimalstaat auftun, der nach dem utopischen Rezept lebt«, so der wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus umstrittene Philosoph Hans Freyer hellsichtig, mache allein noch keinen Zivilisationswandel. Selbst utopisch grundierte Idealvorstellungen lösen sich nur selten vom Bekannten. Fast immer bestimmt die Herkunft der Utopisten auch die Vorstellung vom Wunschland. Wer also zukünftig von Weltraumkolonien, Marsstädten oder Unterwassersiedlungen träumt, muss nicht nur geografische oder technologische Grenzen überwinden, sondern zunächst einmal kulturelle und biografische Barrieren.
Leider gelingt das nur äußerst selten. Es ist auffallend, dass bislang so gut wie alle historischen Realexperimente mit gelebten Utopien »kläglich gescheitert« sind, so Freyer.8 Aus dem permanenten Zerfall utopischer Experimente leitet der Philosoph eine fundamentale Kritik an Utopien ab. Etwas mehr Entspannung wäre allerdings angebracht. Denn selbst in jämmerlichen Komödien und furchtbaren konzeptionellen Missgebilden real-utopischer Experimente lässt sich noch ein produktiver Beitrag zur Zukunft der Menschheit erkennen, wenn ihnen das Gift der Schwärmerei entzogen wird.
Bislang besteht die Odyssee der Menschheit aus vielen Etappen. Wer historische, konzeptionelle und geografische Perspektiven miteinander verbindet, erkennt nach und nach das faszinierende Bild zentraler Menschheitsexperimente und deren Langzeitfolgen. In diesem Buch geht es darum, diese Traditionslinie anhand ausgewählter Projekte nachzuzeichnen, bei denen sich Träume und innere Bilder in konkrete Orte und greifbare Lebensmodelle verwandelten. Zum Glück gibt es reichlich Anschauungsmaterial zu derartigen utopischen Versuchsanordnungen. Utopische Orte wurden und werden zu Lande, zu Wasser, unter Wasser sowie im Weltall geplant. Da ist die Lebensreformkolonie »Monte Verità« bei Ascona, um 1900 gegründet von Henri Oedenkoven und Ida Hofmann; Henry Fords Stadtstaat »Fordlândia« mitten im Amazonasbecken, eine ideale Company-Town, die in den 1930er-Jahren nach US-amerikanischem Vorbild errichtet wurde; »Levittown«, nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet von Abraham, Alfred und Bill Levitt – märchenhafter Prototyp amerikanischer Vorstädte; die spirituelle Weltuniversität und kosmopolitische Experimentalanordnung »Auroville« in Indien, die zeitgleich zum Space Age in den 1960er-Jahren entstand; oder »Celebration«, eine von Walt Disney ersonnene und schließlich in den 1990er-Jahren verwirklichte Zukunftsstadt.
Wer verstehen möchte, wie Utopien praktisch werden und was dabei alles passieren kann, kommt an diesen Fallbeispielen nicht vorbei. Aber wie genau hat sich die Erkenntnismelodie seit den ersten Versuchen geändert? Was könnten wir inzwischen alles besser machen? Diese Frage ist deshalb so zentral, weil selbst futuristische Utopien auf frühe Entwürfe zurückgreifen – allerdings ohne deren Schattenseiten anzuerkennen. Gegenwärtig entstehen Bunkerstädte als Rückzugsorte für die post-apokalyptische Gemeinschaft der Superreichen. Libertäre Vordenker wie Peter Thiel planen in Form von »Seasteads« schwimmende Mikronationen in internationalen Gewässern. Techno-Utopien wie »Neom« (Saudi-Arabien) oder das »Venus Project« (USA) verdeutlichen, wie die Suche nach besseren Welten zunehmend auch die Verschmelzung menschlicher und künstlicher Intelligenz erforderlich macht. Unterwasserstädte wie »Ocean Spiral City« (Japan), erst recht aber die von Elon Musk projektierte Weltraumkolonie »Mars City« verschieben möglicherweise die Selbstverständlichkeiten unserer Zivilisation.
Auf der Suche nach dem neuen Wunschland rüstet sich die Menschheit dafür, ihr angestammtes Terrain auszuweiten, neue Habitate zu erschließen und teils wilde soziale Experimente zuzulassen. Hierbei gilt die goldene Regel, dass Zivilisationsmüden – meist priviligierten Menschen aus westlichen Kulturen – keine Mühe zu groß ist. Die Besiedlung des Mars wird kein Wochenendausflug sein. Unterwasserstädte sind keine Bastler- und Baumarktprojekte. Schwimmende Staaten benötigen komplexe Lösungen für rechtliche, ökologische und ökonomische Herausforderungen. Sind wir alle bereit für diese Zukunft? Oder werden es am Ende doch wieder nur Eliten und Auserwählte sein, die profitieren?
Immer wieder fühlten sich Menschen von ihrer zeitgenössischen Mehrheitsgesellschaft, von kapitalistischen Unterdrückern, politisch Unfähigen oder kulturell Unterbelichteten entfremdet. Utopische Projekte sind daher wiederkehrende und greifbare Versuche, die damit verbundenen Störungen zu beheben. Es sind explorative Versuchsanordnungen, zeit- und ortsgebundene Reservate des Möglichkeitssinns. Soziale Experimente mit dem Potenzial, die Welt zu verändern. Die Magie des Wunschlands besteht darin, dabei immer wieder an den eigenen Ansprüchen zu scheitern und dennoch weiterzumachen. Warum wollen Menschen immer nur das Beste, erschaffen dann aber Chaos und Leid? Genau diesem Kreislauf spüren die im Buch versammelten Fallgeschichten nach – von der Sehnsucht nach dem Besseren über die Planung und Ankunft im Wunschland, die vielfältigen Experimente im Labor des Alltags bis hin zu Zweifeln oder gar Konflikten, dem finalen Scheitern sowie neu aufkeimender Hoffnung auf Neubeginn.
In utopischen Projekten verstecken sich Dramen. Zusammengenommen stehen sie für die Suche nach einer verborgenen Reset-Taste, für die Idee des Neubeginns. Und so bilden die Geschichten dieses Buches das ganze Spektrum zwischen »Optimismus der Vorstellungskraft« und »Pessismus des Intellekts« ab.9
Utopisten sind Menschen, die die Realität als ungemütlich empfinden und sich an der Möglichkeit berauschen, die Probleme der Zeit abzustreifen und fortan im Wunschland zu leben. Diese Sehnsucht nach idealen Welten ist uralt. Einige dieser Utopien gehören zum literarischen Fundament westlicher Gesellschaftskonzepte, wie etwa »Civitas Veri« (Stadt der Wahrheit) von Bartolomeu del Bene (1515–1595), »Civitas Solis« (Der Sonnenstaat) von Tommaso Campanella (1568–1639) oder »Nova Atlantis« von Francis Bacon (1561–1626). Sie alle bezeugen die Idee des Neustarts. In der philosophischen Komödie »Die beste aller Welten« von Steven Lukes reist Professor Caritat gar durch die Geschichte der Utopien, weil er ergründen möchte, für welche es sich zu kämpfen lohnt.10 Auch der zeitgenössische Science-Fiction-Roman »Weißer Mars« von Brian W. Aldiss und Roger Penrose (Letzterer seit 2020 Nobelpreisträger für Physik) erzählt eine utopische Explorationsgeschichte: Eine Katastrophe schneidet 6000 Siedler und Wissenschaftler von der Erde ab, sie stranden auf dem Mars. Rettung ist unmöglich. Ihre einzige Chance besteht darin, eine neue Gesellschaft auf dem roten Planeten aufzubauen. Und so beschäftigen sich die Überlebenden ganz praktisch mit den Idealen einer gerechten Gesellschaft.11 Unterm Strich gleichen sich die meisten dieser Fiktionen. Jede Utopie »will eine geschlossene, in sich stimmige, überzeugende und (…) lebensfähige Welt sein«, so der Philosoph Hans Freyer.12 Allerdings geht es in diesem Buch nicht um Literatur, sondern um gelebte Utopien. Im Mittelpunkt stehen projekthafte Experimente oder »reale Utopien«, wie der Soziologe Erik Olin Wright sie nennt.13
Vielleicht ist gerade die Raumfahrt die realste aller Utopien? Satelliten bestimmen schon jetzt unsere Datenströme und damit unser Leben. In Zukunft werden Weltraumexplorationen zudem neue Kulturtechniken hervorbringen. Vor allem aber halten sie den Wunsch nach Neubeginn lebendig. Erinnern wir uns an den Astronauten im Aufzug. Wenn »Mars« die Antwort ist, dann passt dazu eigentlich nur eine Ausgangsfrage: Wie wäre es, wenn wir noch mal ganz von vorne anfangen könnten? Utopisten sehen auch in der lebensfeindlichen Umwelt auf dem roten Planeten die einzigartige Chance, Gesellschaft neu zu erfinden. Doch selbst auf der Erde – im Hier und Jetzt – stellt sich immer wieder die Frage, ob es Alternativen zum ewigen Durchwursteln gibt. Können wir es nicht besser? Wie wäre es eigentlich, in einer idealen Welt zu leben? Einer ohne verwirrende Komplexität, dafür mit klaren Regeln, die das allgegenwärtige Durcheinander bändigen? Gegenentwürfe zu einer als Enttäuschung erlebten Gegenwart ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. »Die Welt neu und besser erfinden. Nichts Geringeres«: Im europäischen Schmelztiegel der 1920er-Jahre repräsentierte dieser revolutionär angehauchte Leitspruch (aufgeschnappt in der in dieser Zeit spielenden TV-Serie »Babylon Berlin«) das fundamentale Bedürfnis nach Neuanfang. Doch während die einen bloß vom Schlaraffenland träumen, brechen andere tatsächlich auf. Um ihr Wunschland zu erreichen, nutzten sie, was die jeweilige Epoche hergab, also Pferde, Segelschiffe oder Flugzeuge. Und nun eben auch Raumschiffe. Tatsächlich sind jedoch die technischen Transportmittel viel weniger interessant als die Motivgeschichten, die hinter jedem einzelnen Aufbruch stehen. Allesamt angetrieben von etwas, das die Philosophin Hannah Arendt »Natalität« nannte: die Fähigkeit, Neues oder sogar Unvorhergesehenes zu erschaffen.
Trotz aller Bemühungen blieb das wirklich perfekte Wunschland bislang unentdeckt. Und so wird sich unsere Odyssee immer weiter fortsetzen. Auf der Suche nach der idealen Welt oder zumindest nach neuen Lebensräumen dringen Menschen bis heute immer wieder ins Unbekannte vor, besetzen Territorien, gründen Kolonien. Es sind Neuanfänge, die das Potenzial haben, alte Fehler gleich mit zu überwinden. Wohl deshalb sind die Geschichten der utopischen Experimente in diesem Buch voller Träume, Visionen, Experimente und Neuanfänge. Aber eben auch immer neu aufkeimender Hoffnung. Genau diese Fortsetzungsgeschichte steht im Mittelpunkt des Buches.
Der Schritt vom Vertrauten ins Unbekannte ist der Treibstoff aller Utopien. Wer dabei an den Grenzposten zur Utopie patroulliert, lernt, demütig zu staunen. Kurz nach dem Ausstieg zum ersten Außenbordeinsatz aus seiner Voskhod-Kapsel 1965 funkte der humorbegabte Kosmonaut Alexej Leonow die Meldung zur Bodenstation, dass die Erde tatsächlich absolut rund sei. Nur durch ein dünnes Kabel mit dem Mutterschiff verbunden, schwebte er für zwölf Minuten schwerelos im All. »Du kannst es kaum fassen«, jubilierte Leonow 500 Kilometer über dem Erdboden, »nur hier draußen können wir die Erhabenheit spüren von allem, was uns umgibt.«14 Kurze Zeit später kämpfte er wegen einer Panne ums Überleben und gelangte nur durch Nervenstärke wieder zurück ins Raumschiff. Genau ein Jahrzehnt nach diesem Erlebnis war Leonow an Bord der sowjetischen Sojus-19-Kapsel, die an ein amerikanisches Apollo-Raumschiff ankoppelte: Es war das allererste Mal in der Geschichte der bemannten Raumfahrt, dass Menschen aus der damaligen Sowjetunion und den USA im All jenseits aller irdischen Differenzen erfolgreich zusammenarbeiteten. Noch dazu mitten im Kalten Krieg. »Zwischen Astronauten haben niemals Grenzen existiert«, erinnert sich Leonow. »Der Tag, an dem auch Politiker dies begreifen, wird unseren Planeten für immer verändern.«15
Wer aus einem Raumschiff blickt, sieht keine Grenzen. Auch deshalb entwickeln viele Astronauten eine Vorliebe für »Earthgazing«, das schauende Bestaunen der Erde aus dem All. Gleichzeitig macht die Abwesenheit von Grenzen sprachlos. Leider gab es bislang keinen Dichter im All, der dazu fähig gewesen wäre, das Erlebte in angemessene Worte zu kleiden. Der Apollo-11-Astronaut Michael Collins merkte einmal an, dass die beste Mannschaft für eine Raumfahrtmission aus »einem Philosophen, einem Priester und einem Poeten« bestehen würde. »Unglücklicherweise«, so fügte er hinzu, »hätten sie sich beim Versuch, das Raumschiff zu fliegen, selbst umgebracht.«16 Dennoch wirkt es fast so, als würde gerade diese wertvolle Sprachlosigkeit die Astronauten und Kosmonauten zu inoffiziellen Botschaftern der Vereinten Nationen machen, denn ihre Plädoyers sind eindeutig: »Wir beten, dass die gesamte Menschheit sich eine grenzenlose Welt vorstellen kann«, so etwa William McCool, Pilot der Space-Shuttle-Mission »STS-107«, nachdem er und seine Crew am 29. Januar 2003 mit John Lennons Song »Imagine« geweckt worden waren.17 Am ersten Tag im All, erklärte der saudi-arabische Astronaut Prinz Sultan Bin Salman al-Saud, habe das Team noch auf die einzelnen Länder gezeigt, dann auf die Kontinente später nur noch auf den Planeten Erde. »Von hier oben sehen alle Schwierigkeiten, nicht nur die im Nahen Osten, seltsam aus, weil die Grenzlinien einfach verschwinden.«18 Und auch Politiker, die mit dem Space Shuttle ins All flogen, staunten über die Grenzenlosigkeit. »Man kommt mit großer Sicherheit zu der Einsicht, dass es dort unten nicht wirklich politische Grenzen gibt«, erklärte der republikanische Senator Edwin Garn. »Man sieht den Planeten plötzlich als ›eine Welt‹ an.«19 Und der demokratische Kongressabgeordnete Bill Nelson schlug nach seinem Ausflug ein ›Gipfeltreffen‹ internationaler Spitzenpolitiker im Weltall vor: »Es hätte einen positiven Effekt auf ihre Entscheidungsfindung.«20
Seit wir die Erde aus der Weltraumperspektive kennen, werden Grenzen immer absurder. Ländergrenzen zu überwinden und mit ihnen die Machstsysteme, die sie symbolisieren, kann also eine starke Motivation für Utopien darstellen. »Länder und Grenzen sind nicht nur Blödsinn, sie sind eine Sauerei«, so der argentinische Essayist Martín Capparós, der sich mit seinem Werk für mehr globale Gerechtigkeit einsetzt. Sie sind ein Mechanismus, der dafür sorgt, dass es Ungleichheit gibt und dass diese Ungleichheit immer wieder gerechtfertigt wird. ›Wir‹ und die ›Anderen‹ heißt dieses Spiel seit Beginn der Menschheit. »Es gibt nichts Traurigeres, Resignierteres, als sich die Welt als eine Ansammlung von Ländern vorzustellen«, findet daher Capparós. »Es gibt keinerlei Grund anzunehmen, dass sie wirklich die Form sind, in der die Welt organisiert sein muss.«21 Auch Joel Friedman, mein Guide im Cradle of Aviation Museum in Long Island bei New York, erklärt mir eine ähnliche Vision einer besseren Welt. »Ich hoffe sehr, dass bald wieder Menschen zum Mond fliegen. Diesmal sollten es aber nicht nur Angehörige einer einzigen Nation sein«, so Friedman. »Es sollte keinen Kampf der Systeme mehr geben, sondern eine Kooperation auf globaler Ebene. Wir brauchen nicht unbedingt eine ›Weltgesellschaft‹. Was wir brauchen, ist eine weltweite Gemeinschaft von Enthusiasten. Nichts verbindet mehr als eine Idee, die alle verstehen, und etwas, nach dem sich alle sehnen.«22
In der Tat kann die Aussicht auf eine grenzenlose Zukunft euphorisieren. »Die uralten Träume von Fortschritt, Wandel, größerer menschlicher Freiheit sind für mich die ergreifendsten überhaupt«, schreibt der amerikanische Raumfahrtpionier Gerard O’Neill in seinem Klassiker »The High Frontier« über Kolonien im Weltraum. »Und die deprimierendste Aussicht für eine auf einen Planeten beschränkte Menschheit ist die, dass viele dieser Träume für immer unerfüllt bleiben werden.«23 O’Neill veröffentlichte bereits 1974 den Beitrag »The Colonization of Space« und gründete wenig später das »Space Studies Institute«, das bis heute daran arbeitet, dauerhafte Kolonien im Weltall zu ermöglichen. Auch wenn Träume dieser Größenordnung noch unerfüllt blieben, nehmen die Optionen für menschliches Dasein stetig zu. Einerseits werden neue geografische Lebensräume – über und unter Wasser, unter der Erde und vor allem im All – erschlossen. Andererseits versprechen diese Projekte längst überfällige Gegenentwürfe zur Standardwelt und eine sinnvolle Alternative zur ewigen »transzendentalen Obdachlosigkeit«24 des Menschen, die der Philosoph Georg Lukács kritisierte. Kurz: Die Arbeit an Utopien verschafft endlich Sinn.
Weltraum-Utopien repräsentieren ultimatives Grenzland und werden zugleich mit Argumenten beworben, die gegenwärtig auch in der »Fridays for Future«-Bewegung zirkulieren. »Das All wird als Eigentum der Menschheit betrachtet«, so der australische Umweltethiker Nikki Coleman. »Es gehört uns allen auf diesem Planeten, also auch den folgenden Generationen. Alles, was dort passiert, ähnelt dem, was auf der Erde passiert.«25 Die neuen Utopien mögen zeitlich und geografisch weit entfernt sein, dennoch faszinieren sie immer mehr Menschen. Darunter gerade solche, die im Sommer 1969 noch zu jung waren, um die erste Mondlandung live mitzuerleben. Er fühle sich um diese Erfahrung regelrecht »betrogen«, erklärt der ESA-Weltraumexperte Markus Landgraf, der auch Vorsitzender der deutschen Mars Society war.26 Der Wunsch, »neue Welten zu erkunden, erzeugt immer wieder Gänsehautgefühl«, stellt der ESA-Astronaut Thomas Reiter fest.27 Und der Internet-Milliardär Elon Musk erlaubte sich nur vordergründig einen Scherz, als er mit seiner Falcon-9-Rakete ein rotes Tesla-Cabriolet in den Weltraum schoss. Im Auto, das seitdem durch das Weltall schwebt, sitzt die Attrappe eines Astronauten mit dem Namen »Starman«. Solange die Batterie Strom lieferte, hallte der Bowie-Klassiker »Space Oddity« in Endlosschleife durch das All (wenngleich dort nichts zu hören ist). Im Navigationsdisplay des Wagens erschien der Spruch ›Don’t panic!‹. Inzwischen ist wegen der hohen Strahlung im All wohl nur noch ein Gerippe des Autos übrig. Schräger Humor oder plumpe PR? Vielleicht eher grenzenlose Neugier. Gerade so wie bei Homers Odysseus, dem es darum ging, »zu streben, zu suchen, zu finden und nicht zu ruhen«, wie der Schriftsteller Alberto Manguel in seiner »Geschichte der Neugier« schreibt.28 Ein unabschließbarer Prozess, denn an jedem Ziel beginnt eine neue Sinnsuche, und »so leben wir in einem Zustand des ewigen Fragens und mitreißenden Unbehagens«.
Fest steht, dass sich im 21. Jahrhundert keine neuen Kontinente mehr entdecken lassen. Doch die Begeisterung für das Unbekannte kennt viele Metamorphosen. Im Kennedy Space Center in Florida hat sich die NASA darauf spezialisiert, das Utopische zum Event zu machen. »Wie immer werden es wenige Mutige sein, die aufbrechen«, erzählt ein Film über zukünftige Marskolonien. Doch liegt es wirklich in der DNA der Menschheit, wieder und wieder zu neuen Welten aufzubrechen? »Die Entwicklungsmöglichkeiten sind dabei so grenzenlos wie das Universum selbst«, behauptet die NASA. »It’s not enough!« – anhand dieser Formel werden die Zuschauer dramaturgisch durch die Menschheitsgeschichte getrieben: Wer sind wir? Woher kommen wir? Sind wir allein? Aber wo genau beginnt das neue Leben? Wo endet unsere kosmische Wanderschaft?
Jedenfalls nicht in der Tristesse der Gegenwart, sondern stets in einer noch unerschlossenen Welt. Deshalb erzähle ich von Pionieren, Sinnsuchenden, Träumern, Eigenbrötlern und Kolonisten. Deren Ideen wirken auf den ersten Blick sehr verschieden. Doch sie alle überwanden ihre Panik vor dem Neuen und machten sich auf den Weg ins Unbekannte, um geografische, technologische, soziale und kulturelle Grenzen zu überwinden. Jede reale Form des Wunschlandes – Lebensreformkolonie, Modell- und Idealstadt, spirituelle und intentionale Gemeinschaft, post-apokalyptisches Reservat für Eliten oder gar post-nationaler Ersatzstaat – begann als Fantasie eines Utopisten. Um uns als Mensch in der Welt zu behaupten, sind also nicht nur Heldentum und Neugier zentrale Überlebenstechniken. Sondern zuallererst: unsere Einbildungskraft.
Vor einem Neuanfang steht immer eine Suche: Wer mehr zu gewinnen als zu verlieren hat, macht sich auf. In seinem Roman »Drop City« beschreibt T. C. Boyle, wie eine Hippie-Kommune von Kalifornien nach Alaska aufbricht, um ihr eigenes Wunschland zu finden. »Die Leute versuchten, sich diesen neuen Traum anzueignen, diesen Traum des neuen Anfangs, etwas ganz von vorn und aus dem Nichts aufzubauen«, lässt Boyle einen der Hippies erklären.29 So gut wie alle utopischen Planer gingen bei ihrem Traum davon aus, dass sich Äußeres und Inneres zwangsläufig gegenseitig bedingen: Umwelt, Architektur, Habitat außen – soziales Verhalten, Rituale und Gemeinschaftskultur innen. In gelebten Utopien geht es daher um die materielle Verbindung zur Umwelt sowie die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit: Hardware und Software einer Utopie beeinflussen sich gegenseitig. Leider wird diese Wechselwirkung bei der Planung »smarter« Welten allzu häufig übersehen. Gleichwohl lässt sich Zukunft nur unzureichend mit Computerprogrammen simulieren. Gesellschaft lässt sich nur praktisch realisieren – als ständige Reproduktion sozialer Beziehungen. Gerade deshalb gibt es immer wieder neue Optionen. »Es gehört zur Kultur des Menschen, sich zu fragen, wo er noch leben kann – außer an dem Ort, an dem er schon ist«, erklärt die ESA-Astronautin Insa Thiele-Eich. »Es ist die Neugier, unser Entdeckergeist, der uns ins All treibt.«30
In der Tat macht die Idee von Weltraumkolonien auf besonders anschauliche Weise den menschlichen Willen deutlich, wirklich überall leben zu können. »Es gibt keinen Zweifel, der Weltraum ist eine fabelhafte Grenze«, so der Astronaut Scott Carpenter. »Wir werden ein paar der Geheimnisse lüften.«31 Pläne – ob für Unterwasserstädte, Inselhabitate oder Marskolonien – sind zunächst emotional stark aufgeladene Metaphern. Ihr Sinn besteht darin, Raum für essenzielle Fragen zu eröffnen: Wo ist unser Ort im Kosmos? Wie sieht dort gutes Leben aus? Wie können Menschen dauerhaft in Frieden zusammenleben? Wer diese und weitere Fragen zur Zukunft unserer Zivilisation zulässt, macht sich zum demütigen Lernenden. Der Wert utopischer Projekte liegt also gerade nicht darin, abschließende oder eindeutige Antworten zu liefern, sondern an Fragen zu erinnern, die wir gern verdrängen. Es ist erstaunlich, wie deutlich vielen Pionieren diese Fragen vor Augen standen. Warum lassen sich Menschen auf ein Experiment ein, wo es doch so viele Orte auf diesem Planeten gibt, an denen das Leben bequemer wäre? Ohne Ausnahme waren die realen Utopisten Menschen, die sich nicht länger mit dem Offensichtlichen abspeisen lassen wollten. »Wir alle waren Besucher mit Fragen«, erinnert sich einer der Pioniere des utopischen Lebenslabors »Auroville« in Indien. »Und viele der Fragen sind noch immer unbeantwortet.«32 Das könnte sich nun langsam, aber sicher ändern. Denn die Zeit drängt, die nächste Generation erwartet nicht nur Sinnstiftung, sondern auch konkretes Handeln im Sinne des Planeten.
Utopische Projekte zeichnen sich durch ihren experimentellen Charakter aus. Die Kolonie »Monte Verità«, von Lebensreformern um die Jahrhundertwende in Ascona gegründet, gilt als das erste »kosmopolitische Reformlabor« der westlichen Welt. Henry Ford erkor in den 1930er-Jahren seine Arbeiterstadt »Fordlândia« im Amazonasgebiet sogar zum »Meta-Labor der Zivilisation«. Die spirituelle Utopie »Auroville«, die in den 1960er-Jahren in Südindien entstand, wurde von Anfang an als subtropische »Weltuniversität« geplant. »Es ist ein unglaubliches Privileg«, so einer der Pioniere »Aurovilles«, »Teil dieses herzzerreißenden sublimen Experiments für die Menschheit zu sein.«33 Walt Disneys Modellstadt »Celebration« aus den 1990er-Jahren sollte hingegen ein modernes »Living Lab« werden, um das aufziehende Digitalzeitalter zu erproben. Sobald Menschen in der schnelllebigen Zeit eine Atempause einlegen, die ein wenig von den Zumutungen des Alltags befreit, fangen sie innerhalb kürzester Zeit an, über Utopien nachzudenken. Oder sie gleich umzusetzen. Nicht jedes Projekt, das dabei herauskommt, ist ein verallgemeinerungswürdiges Modell für besseres Zusammenleben. Aber aus allen Experimenten lässt sich etwas lernen – und dieses Buch will zeigen, welche dieser Facetten taugen, um zeitgemäße Utopien zu entwickeln, ohne immer wieder die gleichen Fehler zu begehen.
Experimentelle Utopien waren und sind sogenannte Reallabore. Während der Corona-Pandemie waren wir plötzlich alle Probanden eines ungeplanten Experiments. Noch dazu eines, dessen Ausgang (bislang) unerträglich offen ist. In dieser Hinsicht unterscheiden sich gesellschaftliche Reallabore radikal von der naturwissenschaftlichen Vorstellung eines Labors. Während Experimente in Laboren kontrolliert oder keimfrei ablaufen – es also keinerlei äußere Störfaktoren geben darf –, ist Gesellschaft nur als ein »Labor ohne Wände« denkbar, weder keimfrei noch kontrollierbar. Störendes, Spannungen, Konflikte und Unglücke gehören zwingend mit zur Versuchsanordnung. Mehr noch: Erst Scheitern sorgt für Lernprozesse. Deshalb sind die realen Utopien, die dieses Buch vorstellt, temporäre Versuchsanordnungen, die gesellschaftliches Leben unter direkter Beobachtung zeigen. Die Vielfalt dieser Experimente ist beeindruckend – sie fanden und finden an verschiedenen Orten auf der Erde statt, in schwimmenden Habitaten, in Unterwassserstädten und sogar im All.
Offene Labore funktionieren nach dem immer gleichen Prinzip: Menschen erkennen ein gemeinsames Problem. Also verhandeln sie Zielvorstellungen und Standpunkte, sie erleben Interessenkonflikte und ringen um tragfähige Lösungen. Der Kern dieses groß angelegten Experiments liegt jedoch stets im Tun: Es gilt, abstrakte wissenschaftliche, politische, zivilgesellschaftliche oder auch private Idealvorstellungen so lange in praktisches Handeln zu übersetzen, bis sich ein möglicher Lösungsweg für das identitätsstiftende Problem herauskristallisiert. In offenen Laboren laufen Zukunftstests so ab, als »würde eine Bühne lebendig«, schreibt der französische Philosoph Bruno Latour, »und versuchte, am dramatischen Geschehen mitzuwirken«.34 Auf diese Weise erlauben die »Labore ohne Wände« konkrete Rückschlüsse auf den Zustand unserer Zivilisation.
Das Zeitalter der Aufklärung mit seiner »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« im Paris des Revolutionsjahrs 1789 war eine zentrale Etappe auf dem Weg zum Selbst-Bewusstsein von Menschheit als einer großen Familie. Fast ließe sich sagen: die Idee der Verschmelzung von »somewhere« und »anywhere«. Allerdings macht allein der Blick auf die weltweit unterschiedlich interpretierten Menschenrechte deutlich, wie schwierig es ist, sich eine soziale Einheit und Gleichheit wirklich aller auf diesem Planeten vorzustellen. Noch dazu als Gruppe, die auch nur annähernd Interessen, Werte oder Zukunftsvorstellungen teilt.
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Weil jedoch erneut meist männliche Träumer, Visionäre und Utopisten stellvertretend für alle anderen festlegen, was richtig und falsch ist, schleicht sich in jedes einzelne dieser utopischen Projekte zugleich eine dystopische Komponente ein. Erleuchtete Besserwisser nehmen für sich in Anspruch, den Weg in die Zukunft zu ebnen. »Es ist erstaunlich, wie gut diese Projekte funktionieren, wenn ein Guru da ist, der vorgibt, was richtig und falsch ist und was zu tun ist«, erzählt ein Bewohner von »Auroville«. »Bis man erwacht und merkt, dass der Guru doch nicht allmächtig ist.«46 Damit repräsentieren utopische Projekte dialektische Versuchsanordnungen zwischen Entlastung und Entmündigung. Wird dabei die Ideologie der Effizienz zu stark in den Mittelpunkt gerückt, wie bei den Techno-Utopien »Neom« in Saudi-Arabien oder beim »Venus Project« in Florida, mündet selbst utopischer Alltag in Entfremdung – genauso wie im Zeitalter der Industrialisierung, nur hübscher verpackt. »Wenn wir aber wirklich eine neue Welt bauen wollen«, warnt der Journalist Bob Holmes in einem Beitrag über den »Reboot« unserer Zivilisation im 21. Jahrhundert, »dann sollten wir aufpassen, diese Welt nicht zu effizient zu machen.«47
Ist die Suche nach dem Wunschland deshalb sogar gefährlich? Das hängt davon ab, mit welcher Haltung die Reise ins Unbekannte angetreten wird. Der Glaube an ein perfektes Leben, so der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer, ist »höchst destruktiv und langfristig zum Scheitern verurteilt«.48 Denn erst wenn Utopien gelebt und nicht nur geträumt werden, kommt es zum Perspektivwechsel. Aus diesem Grund stehen real-utopische Projekte und Experimentalanordnungen im Mittelpunkt dieses Buches. Immer dann, wenn Menschen die Zukunft selbst in die Hand nehmen, entstehen spannende Geschichten von Aufstieg und Fall der Menschheit – und der Odyssee dazwischen.
Um sinnvolle Aussagen über unsere Zukunft treffen zu können, sollten wir daher nicht nur über die Machbarkeit smarter Technologien nachdenken, sondern auch über die versteckten kulturellen Kosten idealer Welten. Utopien, die lediglich auf aufsehenserregende Bauwerke oder digitale Infrastrukturen reduziert werden, stehen am Ende ärmlich da. Der Mensch ist dort im Weg und nicht im Mittelpunkt. Vielen zeitgenössischen Utopien liegt zudem ein Menschenbild zugrunde, das noch nicht einmal im Ansatz realistisch ist. Menschen funktionieren nicht wie Maschinen, rational und effizient. Was Menschen einzigartig macht, ist vor allem ihre Irrationalität, wie der Wiener Philosoph Franz Wuketits in seiner kurzen Geschichte der Unvernunft betont.49 Leben ist mehr als Zellteilung und pünktliches Erscheinen am Arbeitsplatz. »Im Laufe meines Lebens habe ich gemerkt, dass viele dieser Projekte auf den ersten Blick schön aussehen«, erinnert sich auch ein Bewohner »Aurovilles«, »aber dann wird es in der Realität wieder von den üblichen Egoismen bestimmt. Trotz großspuriger Visionen kommt schließlich das Kleingeistige an die Oberfläche.«50 Utopien wie »Neom«, »Venus Project«, »Seastads« oder »Ocean Spiral City« setzen fast ausschließlich auf hochtechnologische Lösungen. Paradoxerweise verhindert die Flucht ins Technische gerade diejenigen kulturellen Innovationen, die das Leben wirklich verbessern könnten.
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Inzwischen ist Weltraum allerdings wieder in. Auch in der Werbung: Der Autohersteller BMW ist mit seinem Modell X3 »On a Mission. Exploring Mars«.53 Ford probt den »Neuanfang« und setzt eines seiner Modelle mit einem Astronauten in Szene. Und die Gattung des Weltraumsongs reicht von »Space Oddity« (David Bowie) und »Walking on the Moon« (Police) bis hin zu »O Astronauta« (Vinícius de Moraes) oder dem Quatschlied »Ich liebte ein Mädchen auf dem Mars« (Ingo Insterburg).
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Die utopische Komponente sollte kein Privileg von wenigen Träumern bleiben, sondern Allgemeingut werden, an Schulen gelehrt, in der Politik hoch verehrt. Im Dezember 2005 gründete der Astronaut José Hernández – der Astronaut, den ich im Aufzug traf – die »José Hernández Reaching for the Stars Foundation«, eine Stiftung, die Stipendien an begabte Nachwuchswissenschaftler vergibt – das ist eine vorbildliche Art, utopisches Denken zu fördern. Der Amazon-Gründer und Weltraum-Guru Jeff Bezos zog mit »Kids for Futures« nach. Immerhin zwei ältere Männer, die erkannt haben, wem die Zukunft gehört.
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