Von Kathy Reichs erschienen:

Aus der Temperance-Brennan-Reihe
Knochenjagd
Fahr zur Hölle
Blut vergisst nicht
Das Grab ist erst der Anfang
Der Tod kommt wie gerufen
Knochen zu Asche
Hals über Kopf
Totgeglaubte leben länger
Totenmontag
Mit Haut und Haar
Knochenlese
Durch Mark und Bein
Lasst Knochen sprechen
Knochenarbeit
Tote lügen nicht

Aus der Virals-Reihe mit Brendan Reichs

Jeder Tote hütet ein Geheimnis
Nur die Tote kennt die Wahrheit
Tote können nicht mehr reden

Kathy Reichs

Totengeld

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Klaus Berr

Karl Blessing Verlag

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Titel der Originalausgabe: Bones of the Lost
Originalverlag: Scribner, New York
Copyright © der Originalausgabe 2013 by Temperance Brennan, L. P.
Published by arrangement with the original publisher,
Scribner, an imprint of Simon & Schuster, Inc.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013
by Karl Blessing Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-09333-4
V003
www.blessing-verlag.de

GEWIDMET

Susan Moldow

Weise Lektorin, Katzenliebhaberin
und hoch geschätzte Freundin

PROLOG

Mit hämmerndem Herzen kroch ich auf den Ziegel zu, der aus dem oberen Rand der Nische ragte. Streckte den Kopf hinaus.

Wieder Schritte. Dann tauchten schwere Stiefel oben auf der Treppe auf, daneben ein paar kleine Füße, einer nackt, der andere in einem hochhackigen Schuh.

Die Füße stiegen herunter, die kleinen wackelig, als wäre ihre Besitzerin irgendwie beeinträchtigt. Die Unterschenkel waren merkwürdig ausgestellt, was darauf hindeutete, dass die Knie wenig Gewicht trugen.

Die Wut brannte mir in der Brust. Die Frau stand unter Drogen. Der Mistkerl schleifte sie mit sich.

Vier Stufen weiter unten durchquerten der Mann und die Frau einen Streifen Mondlicht. Keine Frau, ein Mädchen. Die Haare waren lang, die Arme und Beine klapperdürr. Unter dem Kinn des Mannes sah ich ein Dreieck aus weißem T-Shirt-Stoff. Einen Pistolengriff, der aus seinem Hosenbund ragte.

Das Paar tauchte wieder in die Dunkelheit. Die eng aneinandergepressten Körper bildeten eine zweiköpfige Silhouette.

Nach dem letzten Schritt von der untersten Stufe packte der Mann das Mädchen mit einer Hand im Nacken und schob sie brutal auf die Tür zur Laderampe zu. Sie stolperte. Er riss sie wieder hoch. Ihr Kopf schwankte hin und her wie der eines Wackeldackels.

Die junge Frau machte noch ein paar taumelnde Schritte. Dann hob sie das Kinn, und ihr Körper sackte zusammen. Ein Schrei zerriss die Stille.

Der Arm des Mannes schoss hervor. Die Silhouette verschmolz wieder. Ich hörte einen Schmerzensschrei, dann kippte das Mädchen nach vorne auf den Beton.

Der Mann stützte sich auf ein Knie. Sein Ellbogen pumpte, als er auf den leblosen, kleinen Körper einschlug.

»Willst du gegen mich kämpfen, du kleine Schlampe?«

Der Mann schlug und schlug, bis sein Atem abgehackt ging.

Meine Wut loderte jetzt weißglühend in meinem Hirn und vertrieb jeden Gedanken an meine eigene Sicherheit.

Ich kroch nach hinten und schnappte mir die Waffe. Kontrollierte die Sicherung und war in diesem Augenblick dankbar für das Training auf dem Schießplatz.

Froh um die Waffe, griff ich nach meinem Handy. Es war nicht in der Tasche bei der Taschenlampe.

Ich suchte in der anderen Tasche. Kein Handy.

Hatte ich es fallen gelassen? Hatte ich es bei meinem überstürzten Aufbruch zu Hause vergessen?

Die Panik war fast überwältigend. Ich konnte niemanden erreichen. Was sollte ich tun?

Eine winzige Stimme riet mir zur Vorsicht. Bleib in deinem Versteck. Warte. Slidell weiß, wo du bist.

»Du bist ja so was von tot.« Die Stimme dröhnte, grausam und böswillig.

Ich wirbelte herum.

Der Mann zerrte das Mädchen an den Haaren hoch.

Die Beretta in beiden Händen, stürmte ich aus der Nische. Der Mann erstarrte, als er die Bewegung hörte. Fünf Meter von ihm entfernt blieb ich stehen. Eine Säule als Deckung nutzend, spreizte ich die Füße und richtete die Waffe auf ihn.

»Lassen Sie sie gehen.« Mein Schrei wurde von Ziegeln und Beton zurückgeworfen.

Der Mann hielt weiter die Haare des Mädchens fest umklammert. Er stand mit dem Rücken zu mir.

»Hände hoch.«

Endlich ließ der Mann das Mädchen los und richtete sich auf. Seine Hände hoben sich bis zur Höhe seiner Ohren.

»Umdrehen.«

Als der Mann sich umdrehte, traf ihn wieder ein Lichtstreifen. Einen Augenblick lang sah ich sein Gesicht in völliger Klarheit.

Beim Anblick seiner Widersacherin ließ er die Hände leicht herabsinken. Da ich spürte, dass er mich besser sehen konnte als ich ihn, drückte ich mich weiter hinter die Säule.

»Die verdammte Schlampe lebt.«

Du stirbst auch, du verdammte Schlampe.

»Man braucht Mut, um Droh-Mails zu schicken!« Meine Stimme klang viel selbstbewusster, als ich mich fühlte. »Um hilflose kleine Mädchen herumzuschubsen.«

»Schulden eintreiben? Sie kennen die Regeln.«

»Für dich ist Schluss mit Schuldeneintreiben, du kranker Widerling.«

»Sagt wer?«

»Sagt ein Dutzend Polizisten, das jeden Augenblick hier sein wird.«

Der Mann hielt sich eine Hand ans Ohr. »Ich höre keine Sirenen.«

»Gehen Sie von dem Mädchen weg!«, befahl ich.

Er machte einen rein symbolischen Schritt.

»Los«, knurrte ich. Die Arroganz des Kerls machte mich so wütend, dass ich ihm am liebsten die Beretta über den Kopf gezogen hätte.

»Sonst was? Erschießen Sie mich?«

»Ja.« Kalt wie Stahl. »Ich erschieße Sie.«

Würde ich es tun? Ich hatte noch nie auf einen Menschen geschossen.

Wo zum Teufel war Slidell? Ich wusste, dass mein Bluff genährt war von Koffein und Adrenalin. Und dass beides irgendwann nachlassen würde.

Das Mädchen stöhnte.

In diesem Sekundenbruchteil verlor ich den Vorteil, der dem Mann vielleicht das Leben gerettet hätte.

Ich schaute nach unten.

Er machte einen Satz auf mich zu.

Frisches Adrenalin schoss durch meinen Körper.

Ich hob die Waffe.

Er kam näher.

Ich zielte auf das weiße Dreieck.

Schoss.

Die Explosion war brutal laut. Der Rückstoß riss mir die Hände nach oben, aber ich blieb sicher stehen.

Der Mann sackte zu Boden.

Im Dämmerlicht sah ich das Dreieck dunkel werden. Wusste, dass Rot sich darüber ausbreitete. Ein perfekter Treffer. Das Dreieck des Todes.

Stille bis auf mein eigenes, heiseres Atmen.

Dann übernahm mein Verstand die Kontrolle über das Stammhirn.

Ich hatte einen Mann getötet.

Meine Hände zitterten. Galle stieg mir in die Kehle.

Ich schluckte. Richtete die Waffe wieder aus und ging langsam vorwärts.

Das Mädchen lag reglos da. Ich kauerte mich hin und drückte ihr zitternde Finger an die Kehle. Spürte einen Puls, schwach, aber regelmäßig.

Ich drehte mich um. Schaute in die stummen, böswilligen Augen des Mannes.

Plötzlich fühlte ich mich erschöpft. Und war entsetzt von dem, was ich eben getan hatte.

Ich überlegte. Konnte ich in meinem Zustand gute Entscheidungen treffen? Sie auch umsetzen? Mein Handy lag zu Hause.

Ich wollte mich hinsetzen, den Kopf in die Hände stützen und den Tränen freien Lauf lassen.

Stattdessen atmete ich ein paarmal tief durch, stand auf und ging durch Dunkelheit, die mir wie tausend Meilen vorkam, zur Treppe. Mit Beinen weich wie Gummi stieg ich hinauf.

Vom Treppenabsatz bog ein Gang nach rechts ab. Ich folgte ihm zu der einzigen geschlossenen Tür.

Die Waffe fest in einer feuchten Hand, streckte ich die andere aus und drehte den Knauf.

Die Tür schwang nach innen.

Ich starrte in nacktes Grauen.

ERSTER TEIL

1

Man hat mich schon öfter gefangen gehalten. In einem Keller, im Kühlraum einer Leichenhalle, in einer Gruft unter der Erde. Es ist immer furchterregend und intensiv. Aber diese Gefangenschaft übertraf alles, was ich je an körperlichem Schmerz erlebt hatte.

Der Jurorenbereich im Gerichtsgebäude des Mecklenburg County ist so gut, wie solche Einrichtungen eben sein können – WLAN, Computer, Billardtische, Popcorn. Ich hätte eine Freistellung beantragen können. Habe ich aber nicht. Die Justiz rief, und ich kam. Brennan, die gute Staatsbürgerin. Außerdem wusste ich, dass man mich aufgrund meines Arbeitsbereichs sowieso ausschließen würde. Als ich den heutigen Tag plante, hatte ich sechzig, maximal neunzig Minuten eingerechnet, in denen ich mir wahrscheinlich Plattfüße holen würde.

Von wegen Plattfüße. Beachten Sie meinen Gedankensprung. Zu meiner aufregenden beruflichen Fußbekleidung gehören atmungsaktive Goretex-Wanderschuhe und vielleicht Gummistiefel, damit man nicht im Matsch landet. Dass ich jemals mörderische High Heels kaufe, geschweige denn trage, ist so wahrscheinlich wie die Entdeckung von Gigantosaurus-Knochen hinter einem Bad Daddy’s Burger.

Meine Schwester Harry hatte mich zu zehn Zentimeter hohen Pumps von Christian Louboutin überredet. Harry aus Texas, dem Land der großen Frisuren und meilenhohen Stilettos. Damit du professionell aussiehst, hatte sie gesagt. In verantwortlicher Position. Außerdem sind sie sechzig Prozent reduziert.

Ich muss zugeben, das glänzende Leder und die schicken Ziernähte sahen an meinen Füßen toll aus. Aber fühlte ich mich auch toll? Nicht nach drei Stunden Warten. Als der Gerichtsdiener unsere Gruppe schließlich aufrief, torkelte ich fast in den Gerichtssaal, und dann, als meine Nummer aufgerufen wurde, in den Zeugenstand.

»Bitte nennen Sie Ihren vollen Namen.« Chelsea Jett, gefühlte sechs Minuten nach ihrem Juradiplom, 400-Dollar-Kostüm, teure Perlenhalskette und Stilettos, die meine alt aussehen ließen. Die frischgebackene Staatsanwältin Jett versteckte ihre Nervosität hinter einem barschen Auftreten.

»Temperance Daessee Brennan.« Mach’s für uns beide leichter. Lass mich ruck, zuck wieder gehen.

»Bitten nennen Sie Ihre Adresse.«

Ich tat es. »Das ist auf Sharon Hall«, fügte ich leutselig hinzu. Ein Herrenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert, roter Backstein, weiße Säulen, Magnolien. Mein Häuschen ist der Anbau zur Remise, der Annex. Mehr Old South geht nicht. Doch das sagte ich alles nicht.

»Wie lange wohnen Sie schon in Charlotte?«

»Seit meinem achten Lebensjahr.«

»Wohnt unter dieser Adresse jemand bei Ihnen?«

»Manchmal meine erwachsene Tochter, aber nicht im Augenblick.« Das Armband, das Katy mir geschenkt hatte, hing lose an meinem Handgelenk, ein zartes Silberband mit der Gravur Mom rocks.

»Ihr Familienstand?«

»Getrennt.« Kompliziert. Auch das sagte ich nicht.

»Sind Sie in einem festen Arbeitsverhältnis?«

»Ja.«

»Bitte nennen Sie Ihren Arbeitgeber.«

»Der Staat North Carolina.« Immer schön kurz und bündig.

»Ihr Beruf?«

»Forensische Anthropologin.«

»Welche Ausbildung verlangt der Beruf?« Steif.

»Ich habe einen Doktortitel und eine Zulassung durch das American Board of Forensic Anthropology

»Dann führen Sie also Autopsien durch?«

»Sie denken, ich bin forensische Pathologin. Ein häufiger Fehler.«

Jett wurde noch steifer.

Ich schenkte ihr ein Lächeln. Das die Staatsanwältin nicht erwiderte.

»Forensische Anthropologen arbeiten mit Toten, bei denen Autopsien unmöglich sind, also mit Skelettierten, Mumifizierten, Verwesten, Zerstückelten, Verbrannten oder Verstümmelten. Wir werden hinsichtlich vieler Fragen konsultiert, die alle mittels einer Untersuchung der Knochen beantwortet werden. Zum Beispiel, ob die fraglichen Überreste menschlich oder tierisch sind.«

»Dazu ist ein Experte nötig?« Kaum beherrschte Skepsis.

»Einige menschliche und tierische Knochen sind sich täuschend ähnlich.« Ich dachte an die mumifizierten Exemplare, die mich im MCME erwarteten. »Vor allem fragmentierte Überreste sind sehr schwer zu beurteilen. Stammen Sie von einem Individuum, von mehreren, von Menschen, Tieren oder beidem?« Die Bündel, die ich gerade nicht untersuchte, weil ich, mit Füßen so aufgedunsen wie Wasserleichen, hier festhing.

Jett bedeutete mir mit einer ungeduldigen Geste ihrer manikürten Hand weiterzureden.

»Wenn die Überreste menschlich sind, suche ich nach Indikatoren auf Alter, Geschlecht, Abstammung, Größe, Krankheiten, Missbildungen oder Anomalien – nach allem, was zur Identifikation von Nutzen sein kann. Ich untersuche Verletzungen, um die Todesart zu bestimmen. Ich schätze, wie lange das Opfer schon tot ist. Ich betrachte etwaige postmortale Leichenbehandlung.«

Jett hob fragend eine Augenbraue.

»Köpfen, zerstückeln, eingraben, ins Wasser werfen.«

»Ich denke, das genügt.«

Jett schaute auf die Liste ihrer Fragen. Eine sehr lange Liste.

Mein Blick wanderte zu meiner Uhr, dann zu den Unglücklichen, die noch auf ihre Befragung warteten. Ich hatte mich angezogen, um respektvoll auszusehen, dem Bild zu entsprechen, das man von einer Vertreterin des Mecklenburg County Medical Examiner’s Office erwartete. Hellbrauner Hosenanzug, seidenes Rollkragenoberteil. Das traf nicht auf alle meine Mitgefangenen zu. Mein Favorit war das junge Mädchen in engem, ärmellosem Oberteil, Jeans und Sandalen.

Keine Haute Couture, aber ich vermutete, dass ihre Füße sich besser anfühlten als meine. Ich versuchte, in meinen Mörderpumps die Zehen zu bewegen. Keine Chance.

Ms. Jett atmete einmal tief durch. Worauf wollte sie hinaus? Ich zögerte nicht lange, es herauszufinden.

»Als forensische Anthropologin für den Staat stehe ich sowohl bei der UNC Charlotte – ich unterrichte dort ein Hauptseminar –, beim Office of the Chief Medical Examiner in Chapel Hill und beim Mecklenburg County Medical Examiner hier in Charlotte unter Vertrag. Außerdem bin ich konsultierende Expertin für das Laboratoire de sciences judiciaires et de médecine légale in Montreal.« Soll heißen: Ich habe sehr viel zu tun. Ich berate Polizeieinheiten, das FBI, das Militär, Coroner und Leichenbeschauer. Sie wissen genau, dass der Verteidiger mich entlassen wird, wenn Sie es nicht tun.

»Verstehe ich das richtig? Sie arbeiten regelmäßig in zwei Ländern?«

»Das ist nicht so merkwürdig, wie es klingt. In den meisten Rechtssystemen fungieren forensische Anthropologen als spezialisierte Berater. Wie bereits gesagt, werden meine Kollegen und ich nur zu Fällen gerufen, bei denen nicht genügend Fleisch für eine Autopsie vorhanden ist oder die Überreste –«

»Richtig.«

Jett fuhr die endlose Liste auf ihrem gelben Block mit dem Finger ab.

Ich streckte meine unglücklichen Zehen – oder versuchte es zumindest.

»Im Verlauf Ihrer Arbeit für den Medical Examiner, kommen Sie da in Kontakt mit Polizeibeamten?«

Endlich. Vielen Dank.

»Ja. Sehr oft.«

»Mit Staatsanwälten oder Strafverteidigern?«

»Mit beiden. Außerdem ist mein Exgatte Anwalt.« Eine Art Ex.

»Kennen Sie persönlich jemanden, der mit diesem Verfahren zu tun hat, den Angeklagten, seine Familie, die Polizeiermittler, die Anwälte, den Richter?«

»Ja.«

Und damit war ich entlassen.

Ohne Rücksicht auf meine protestierenden Zehen stürzte ich humpelnd aus dem Gerichtssaal, durch die Lobby und zu den Doppelglastüren hinaus. Mein Mazda stand am hintersten Ende des Parkdecks. Da ich erst um zehn nach acht, der in der Vorladung genannten Zeit, eingetroffen war, hatte ich die erste Lücke genommen, die ich fand, und die lag etwa auf dem halben Weg nach Kansas.

Nach einem schnellen Humpeln über die Fahrspur ging ich an einer Reihe von Fahrzeugen entlang und fand meinen Mazda, dicht flankiert von einem riesigen, blauen SUV auf der Fahrerseite und noch stärker bedrängt auf der Beifahrerseite. Schwitzend drückte ich mich zwischen den beiden Türgriffen und dem Außenspiegel hindurch und streifte dabei mit Brust und Hintern die schmuddeligen Türen und Seitenbleche, die meinen Oberkörper einklemmten. Danach sah mein toller, hellbrauner Leinenanzug aus, als hätte ich mich im Dreck gewälzt.

Als ich die Tür aufzog und mich hinters Lenkrad klemmte, klimperte etwas zu meinen Füßen. Ein vernünftiger Staatsbürger – also ein Staatsbürger in vernünftigem Schuhwerk – hätte sich gebückt, um nachzusehen, welcher bewegliche Schmuck sich da gelöst hatte. Doch ich konzentrierte mich auf meine Flucht und tastete mit den Fingern nach dem Schlüssel im Reißverschlussfach meiner Handtasche.

Mit brennenden Füßen rammte ich den Schlüssel in die Zündung und bückte mich seitlich, um an meinem rechten Schuh zu zerren. Das Ding klebte so fest, als wäre es mir aufs Fleisch verpflanzt.

Ich zerrte noch fester.

Mein Fuß explodierte aus seiner Umhüllung. Mit viel Verbiegen und Verdrehen wiederholte ich die Prozedur am linken.

Ich drückte mich in die Lehne und betrachtete zwei spektakuläre Blasen. Dann die verhassten Louboutins in meiner Hand.

Meine Hand.

Mein Handgelenk.

Mein nacktes Handgelenk.

Katy.

Ich spürte einen vertrauten Stich der Angst in meiner Brust.

Ich verdrängte ihn.

Konzentrier dich. Das Armband war im Jurorenzimmer und im Zeugenstand an Ort und Stelle gewesen.

Das Klimpern. Anscheinend hatte sich das zarte Silberarmband an irgendetwas verfangen, als ich mich an dem SUV vorbeigedrückt hatte.

Fluchend zwängte ich mich wieder hinaus und warf die Autotür zu.

Das menschliche Hirn ist eine Schaltstation, die auf zwei Ebenen funktioniert. Während ein Reflexbefehl noch an meine Hand ging, kam es in meinem Kleinhirn bereits zu einer neuralen Verbindung. Bevor die Tür ins Schloss fiel, wusste ich, dass ich in der Patsche saß. Ich riss am Griff, obwohl es nichts brachte, und kontrollierte dann die Stellung aller vier Schließknöpfe.

Noch bildhafter fluchend, griff ich nach meiner Handtasche. Die auf dem Beifahrersitz lag.

Scheiße.

Und der Schlüssel? Steckte in der Zündung.

Einen Augenblick stand ich nur da, die Hosenbeine fielen mir über die nackten Füße, der Hosenanzug war schmutzig, die Achseln schweißnass. Und überlegte.

Konnte dieser Tag noch schlimmer werden?

Eine gedämpfte Stimme drang aus dem Auto. Andy Grammer, der mit Keep Your Head Up einen Anruf auf meinem iPhone ankündigte. Fast hätte ich gelacht. Nur fast.

Meinem Chef Tim Larabee hatte ich gesagt, dass ich noch vor Mittag im Institut sein würde. Vom Jurorenzimmer aus hatte ich angerufen, um meine geschätzte Ankunftszeit auf 13 Uhr nachzudatieren. Auf meiner Uhr war es jetzt 14 Uhr. Larabee machte sich sicher Gedanken über die mumifizierten Überreste, die auf meine Untersuchung warteten.

Vielleicht war es gar nicht Larabee.

Ach, was soll’s. Dass ich barfuß und aus meinem Auto ausgesperrt auf einem Parkdeck stand, wollte ich sowieso niemandem erzählen.

But you gotta keep your head up …

Genau.

Ich schaute mich auf dem Parkdeck um. Überall Autos. Nirgends Leute.

Die Scheibe einschlagen? Womit? Frustriert starrte ich das Glas an. Es warf mir das Bild einer wütenden Frau mit einer wirklich üblen Frisur zurück. Clever.

Das war es tatsächlich. Mein Blick wanderte über das Glas, das oben nicht mehr bündig mit dem Rahmen abschloss. Ein abgenutzter oder abgebrochener Zahn im Hebemechanismus, hatte Jimmy, mein Mechaniker, gesagt. Gefährlich. Die Lücke war so groß, dass ein Kerl einen Draht hindurchschieben und auf halbem Weg nach Georgia sein konnte, bevor man überhaupt merkt, dass das Auto geklaut ist.

Ernsthaft?, hatte ich gesagt. Einen zehn Jahre alten Mazda?

Ersatzteile, hatte er feierlich erwidert.

War ein Kleiderbügel zu viel verlangt? Ich ließ meinen Blick über den Abfall schweifen, der sich angesammelt hatte, wo der Betonboden des Parkdecks an die Rückwand stieß. Steinchen, Plastikverpackungen, Aluminiumdosen. Nichts, was mich in mein Auto bringen konnte.

Vorsichtig auftretend ging ich an der Wand entlang. Obwohl die Blasen inzwischen aussahen wie Hackfleisch, stapfte ich, die Hosenränder über den dreckigen Beton schleifend, voran.

Im Institut mumifizierte Knochen, die minütlich älter wurden.

Bei all diesen Verzögerungen würde ich bis weit in den Abend im Institut des ME sein. Dann nach Hause zu einer gereizten Katze. Und in der Mikrowelle aufwärmen, was ich noch im Gefrierfach hatte.

But you gotta keep your …

Vergiss es.

Dann bemerkte ich zwei Meter vor mir ein Funkeln im Unrat. Hoffnungsvoll ging ich darauf zu.

Meine Beute war ein etwa sechzig Zentimeter langes Drahtstück, früher vielleicht wirklich einmal Teil eines zusammengebastelten Instruments, wie mir eins vorschwebte.

Nachdem ich schnell zum Mazda zurückgehumpelt war, bog ich das eine Ende zu einer kleinen Öse und schob den Draht durch Jimmys Lücke.

Mit beiden Händen, das Gesicht flach an die Scheibe gedrückt, versuchte ich, die Öse über den Knopf zu schieben. Jedes Mal wenn mir das Ding an der richtigen Position schien, zog ich den Draht scharf nach oben.

Ich war bei meinem zigtausendsten Versuch, als hinter mir eine Stimme dröhnte.

»Treten Sie von dem Fahrzeug zurück.«

Scheiße.

Den Draht fest mit einer Hand umklammernd, drehte ich mich um.

Ein uniformierter Parkwächter stand gut drei Meter von mir entfernt, die Füße gespreizt, die Handflächen erhoben und in meine Richtung gedreht. Sein Ausdruck wirkte nervös und angespannt.

Ich zeigte ihm ein, wie ich hoffte, entwaffnendes Lächeln. Oder wenigstens ein beruhigendes.

Der Wachmann erwiderte das Lächeln nicht.

»Treten Sie vom Fahrzeug zurück.« Der Kerl hatte blonde Haare und ein Gesicht, das fast so rot war wie meine Blasen. Ich schätzte ihn auf etwa achtzehn.

Jetzt hieß mein Lächeln: Ich bin ja auch zu blöd. »Ich habe mich aus meinem eigenen Auto ausgesperrt.«

»Ich muss Ihren Ausweis und die Zulassung sehen.«

»Meine Handtasche ist da drin. Der Schlüssel steckt in der Zündung.«

»Treten Sie vom Fahrzeug zurück.«

»Wenn ich das Schloss aufbekomme, kann ich Ihnen alles zeigen.«

»Treten Sie vom Fahrzeug zurück.« Was für ein enormes sprachliches Repertoire.

Ich tat, was er verlangte, ließ jedoch den Draht nicht los. Blondie bedeutete mir, noch weiter zurückzutreten.

Ich verdrehte die Augen und vergrößerte die Distanz. Ließ los. Der Draht fiel innen auf den Fahrersitz.

Ärger verdrängte meinen Entschluss, höflich zu bleiben.

»Hören Sie, das hier ist mein Wagen. Ich habe eben eine Jurorenanhörung hinter mir. Meine Zulassung und der Führerschein sind da drin. Ich muss dringend zur Arbeit. Ins Institut des Medical Examiner.«

Wenn ich gehofft hatte, dass der letzte Hinweis etwas bewirken würde, hatte ich mich getäuscht. Blondies Miene sagte, schmutzige, barfüßige Frau mit einem Einbruchswerkzeug. Gefährlich?

»Rufen Sie im Büro des ME an«, blaffte ich.

Ein kurzes Zögern. Dann: »Sie warten hier.«

Als würde bei mir ohne Schuhe und ohne Fahrzeug Fluchtgefahr bestehen.

Blondie eilte davon.

Wütend lehnte ich mich gegen den Mazda, trat von einem verletzten Fuß auf den anderen und blickte abwechselnd auf die Uhr und auf den Beton, in der Hoffnung, irgendwo mein Armband zu entdecken. Ich fing an, auf dem Parkdeck hin und her zu gehen. Schließlich hörte ich ein Motorengeräusch.

Sekunden später rollte ein weißer Ford Taurus die Auffahrt hoch.

Konnte dieser Tag noch schlimmer werden?

Er war es soeben geworden.

2

Erskine »Skinny« Slidell bremste neben mir, nahm seine nachgemachte Ray-Ban ab, ließ sein Fenster herunter und begaffte meine flatternden Hosenbeine, die verwüsteten Füße und die zerzauste Frisur. Ein Grinsen schob einen seiner Mundwinkel nach oben. Obwohl das Dezernat für Mord und Schwerverbrechen von Charlotte-Mecklenburg mehr als zwei Dutzend Detectives hat, lande ich immer bei Skinny. Und die Begegnungen sind immer Prüfungen meiner inneren Stärke.

Dabei ist Skinny kein schlechter Ermittler. Ganz im Gegenteil. Aber Skinny betrachtet sich selbst als »alte Schule«. In seiner Vorstellung bedeutet das Dirty Harry Callahan, Popeye Doyle und Sergeant Friday. Ich habe Skinny Zeugen befragen sehen. Man erwartet da immer: »Nur die Fakten, Ma’am.« Aber Skinny ist keiner, dem jemals ein »Sir« oder »Ma’am« über die Lippen kommt.

Vor einigen Jahren war Eddie Rinaldi, Slidells Partner, bei einer Schießerei auf einem Bürgersteig ums Leben gekommen. Kein Mensch hatte Slidell die Schuld dafür gegeben. Bis auf Slidell selbst. Da man im Dezernat der Meinung war, Slidell könnte ein bisschen mehr kulturelle Aufgeschlossenheit vertragen, hatte man ihm eine hispanische Lesbe namens Theresa Madrid als Partnerin zugeteilt. Zur Überraschung aller kamen die beiden gut miteinander aus.

Erst kürzlich hatten Madrid und ihre Partnerin ein koreanisches Kleinkind adoptiert, und Madrid war in Mutterschutz gegangen. Vorübergehend arbeitete Slidell also allein. Was ihm gefiel.

»Aber holla.« Der Trottel sagte das tatsächlich.

»Detective –«

»Haben Sie jemanden sauer gemacht?«

Später kann ich vielleicht über diese Episode lachen. In diesem Augenblick sah ich nur unerfreuliche Alternativen vor mir. Mit dem Parkhaustrottel streiten. Zu einem Telefon latschen und dann auf den Automobilclub warten. Mich mit Slidell herumschlagen.

»Woher wussten Sie, dass ich hier bin?« Cool.

»Ich war bei Doc Larabee, als er einen Anruf erhielt.« Slidell beugte sich zur Seite und öffnete die Beifahrertür. »Steigen Sie ein.«

Ich nahm noch eine Lunge voll frischer Luft, bevor ich mich auf den Sitz gleiten ließ.

»Gütiger Himmel. Doc. Ich weiß nicht, ob ich in den letzten Jahren irgendjemanden in so verlottertem Zustand gesehen habe.«

»Sie sollten mehr unter die Leute gehen.«

»Was zum Teufel haben Sie denn –«

»Schlamm-Catchen. Fahren Sie da rüber.« Ich deutete zu meinem Wagen.

»Den Gegner möchte ich lieber nicht sehen.«

»Ich werd ein Video auf YouTube hochladen.« Ungeduldig deutete ich mit dem Finger auf den SUV.

Slidell fuhr in die Richtung.

»Stopp!« Ich hob die Hand. »Nein, hinter diesen Geländewagen.«

»Ich weiß, was passiert ist. Jemand hat Sie sich vorgenommen, weil Sie sein Auto aufbrechen wollten.«

»Wenn ich ein Auto aufbrechen könnte, wäre ich nicht hier.« Ich stieg aus. Die Blasen sahen aus wie zwei rote Augen, die mir ins Gesicht starrten.

Wenn das Armband nicht ein Geschenk von Katy gewesen wäre, hätte ich es als verloren abgeschrieben und mich aus dem Staub gemacht. Irgendwann werde ich es ihr wohl erzählen. Dann lachen wir. Vielleicht.

Ich zwängte mich zwischen mein Auto und das blaue Monster und suchte den Beton ab. Bingo. Das Armband lag in der Mitte unter den beiden beinahe aneinanderstoßenden Außenspiegeln, genau an der am wenigsten zugänglichen Stelle.

Ich zog den Bauch ein, drückte mich zwischen den Türgriffen nach unten und kauerte mich hin. Die Schulter so weit seitlich verdreht, wie es ging, streckte ich die Hand aus und bekam das Armband zu fassen. Dann richtete ich mich vorsichtig, um keine Alarmanlage auszulösen, wieder auf und ging auf den Taurus zu.

Slidell beobachtete meine Darbietung kommentarlos. Anscheinend hatte ich die Grenze zwischen amüsant und bemitleidenswert überschritten.

Ich stieg ein und knallte die Tür zu.

»Wohin?«

»Ins Institut des ME.« Ich befestigte mir das Kettchen wieder am Handgelenk.

»Ich fahre aber auch gerne bei Ihnen zu Hause vorbei.«

»Mein Hausschlüssel ist in meiner Handtasche. In meinem Auto.«

»Schuhgeschäft?«

»Nein, vielen Dank.« Kurz angebunden.

»Kein Problem. Ich muss sowieso wieder dorthin zurück.«

Ich hätte fragen können, warum. Stattdessen saß ich da, starrte zum Seitenfenster hinaus und konzentrierte mich darauf, die olfaktorischen Hinterlassenschaften von Slidells Vorliebe für Frittiertes mit zu viel Fett zu ignorieren. Von Kaffee, auf dem weiße Schimmelkolonien prangten. Von verschwitzten Turnschuhen und ölfleckigen Kappen. Von schalem Zigarettenrauch. Von Skinny selbst.

Aber ich selbst war ja auch nicht gerade wohlriechend.

Slidell verließ das Parkdeck, fuhr auf die East Trade und wechselte auf die linke Spur.

Ein paar Minuten vergingen schweigend. Dann:

»Wer hat Wuschel um die Ecke gebracht, hm?«

Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete.

»Wer hat den Köter gekillt?«

Klasse. Slidell wusste also über meine Mumienbündel Bescheid. Frisches Wasser auf die Witzmühle.

»Wer hat den …«

»Ich wurde gebeten, vier eingewickelte, mumifizierte Körper zu untersuchen, um nachzuweisen, dass sie nicht menschlich sind. Sollte das der Fall sein, werden Archäologen das Material datieren, authentifizieren und dann weiterschicken nach … irgendwohin.«

»Warum ist dieser Wurf toter Chihuahuas –«

»Die Bündel kommen aus Peru, nicht Mexiko.«

»Ja, klar. Also, wie kommt’s, dass die Köter eine ME-Behandlung kriegen?«

»Zollbeamte haben sie am Flughafen beschlagnahmt. Irgendeinem Holzkopf wird vorgeworfen, sie ins Land geschmuggelt zu haben. Der illegale Import von Antiquitäten ist ein Verbrechen, müssen Sie wissen.«

»Jaja.« Und nach einer Weile beiderseitigem Schweigen: »Der alte Dom Rockett wurde vom FBI eingebuchtet.«

Obwohl ich neugierig geworden war, wartete ich, weil ich wusste, dass Slidell weiterreden würde.

»Dom Rockett, Folkore-Schnickschnack aus der ganzen Welt.«

»Aus der ganzen Welt?« Ich konnte nicht anders.

»Vorwiegend Südamerika. Unsere Amigos da unten haben genug Schnickschnack für die ganze Welt.«

Offensichtlich hatte Slidell etwas gegen fairen Handel.

»Wertlose Armbänder, Ringe und jede Menge Kram, den man sich um den Hals hängen kann. Wollschals von der Lama-Mama, Wandteppiche. Flöhe aus Übersee.«

»Sie sind ein Poet, Detective.«

»Angeblich glaubt das ICE, dass Rockett seinen Horizont erweitern, sich vielleicht auf wirkliche Antiquitäten verlegen will.« ICE hieß United States Immigration and Customs Enforcement und war die Behörde zur Durchsetzung von Einwanderungs- und Zollbestimmungen der Homeland Security, also des Heimatschutzministeriums. »Nicht angemeldete Antiquitäten.«

Ich sagte nichts.

»Würde mich nicht überraschen. Der Kerl ist Abschaum.«

»Sie kennen ihn?«

»Ich weiß einiges über ihn. Abschaum erkennt Abschaum.«

Ich fragte nicht, was er damit meinte.

»Können Sie die Frischluft höher drehen?«

»Bekommen Sie dann keine kalten Füße?« Ohne die Miene zu verziehen.

Ich warf Slidell noch einen warnenden Blick zu. Was nichts brachte, weil seine Ray-Ban auf die Straße gerichtet war.

Slidell streckte die Hand aus, legte einen Schalter um und schlug dann mit den Handballen gegen das Armaturenbrett. Ein blaues Lämpchen sprang flackernd an, und laue Luft strömte aus den Lüftungsschlitzen.

»Wenn das stimmt, was Sie sagen, dann könnte Rockett ja mit dem Gedanken gespielt haben, die Mumienbündel an ein Museum zu verkaufen«, sagte ich. »Oder an einen privaten Sammler.«

»Ich bin mir sicher, das ICE wird sich eingehend mit seinen Ambitionen beschäftigen. Scheiße bleibt an jedem hängen, der sich mit ihm einlässt.«

Hinter der I-77 schwenkte die West Trade zuerst nach Westen, dann wieder nach Osten. Slidell nahm die Kurve so schnell, dass im Fond Papiertüten und Fast-Food-Kartons über den Boden schlitterten. Ich stellte mir längst verschlungene Fressalien vor. Panierte Hähnchen? Grillfleisch? Überfahrene Tiere?

Schließlich setzte sich meine Neugier durch.

»Was hatten Sie bei Larabee zu tun?«, fragte ich.

»Heute Morgen kam ein Fahrerfluchtopfer herein. Weiblich. Kein Ausweis.«

»Alter?«

»Alt genug.«

»Soll heißen?« Mein Ton schärfer als beabsichtigt.

»Mittlerer bis älterer Teenager.«

»Abstammung?«

»Illegale Latina. Da können Sie Gift drauf nehmen.«

»Kein Ausweis, aber Sie wissen wie aus Zauberhand, dass das Mädchen Latina ist und deshalb nicht registriert?«

»Sie war ohne Ausweis und ohne Schlüssel unterwegs.« So wie ich, dachte ich, sagte es aber nicht.

Sekunden vergingen.

»Wo wurde sie gefunden?«

»An der Kreuzung Rountree und Old Pineville Road, südlich von Woodland. Doc Larabee schätzt den Todeszeitpunkt auf irgendwann zwischen Mitternacht und Morgengrauen.«

»Was wollte sie da draußen?« Ich dachte laut.

»Was denken Sie?«

Ich dachte, dass die Old Pineville Road schon bei Tag eine verlassene Gegend war, von nachts ganz zu schweigen. Es gab einige kleine Geschäfte, aber keins, das für ein Teenagermädchen interessant sein könnte.

»Irgendwelche Zeugen?«

Slidell schüttelte den Kopf. »Ich werde mich ein bisschen in der Gegend umhören, sobald ich bei Doc Larabee fertig bin. Ich vermute, sie war da anschaffen.«

»Wirklich?«

Slidell hob eine fleischige Schulter.

»Eine nicht identifizierte Teenagerin, mehr wissen Sie nicht. Aber für Sie ist sie sofort eine Illegale, die auf den Strich geht. Ist das Detektivarbeit im Schnelldurchgang?«

Er murmelte irgendwas.

Ich verdrängte ihn aus meinen Gedanken. Nach all den Jahren habe ich inzwischen einige Übung darin.

Meine grauen Zellen lieferten eine Collage von Bildern. Ein junges Mädchen alleine im Dunkeln auf einer leeren zweispurigen Straße. Scheinwerfer. Der Aufprall einer Stoßstange.

»… Story?«

»Was?«

»Erinnern Sie sich an John-Henry Story?«

Der Themenwechsel verblüffte mich. »Das Flammenopfer im letzten April?«

Vor sechs Monaten hatte ich nach einer Explosion auf einem Flohmarkt mit anschließendem Brand fragmentarische Überreste untersucht. Ich war zu dem Schluss gelangt, dass das Opfer weiß, männlich und zwischen fünfundvierzig und sechzig Jahre alt war. Das Bioprofil passte auf John-Henry Story, den Besitzer des Marktes. Story hatte Zeugen erzählt, dass er dorthin wollte, und war seitdem nicht mehr gesehen worden. Bei den Knochen wurde auch persönlicher Kram gefunden. Ein Handy? Brieftasche? Uhr? Ich konnte mich an die Details nicht mehr erinnern.

Obwohl die Identifizierung ausschließlich auf Indizien beruhte, hatte der ME entschieden, dass sie ausreichend war. Brandermittler hatten Proben genommen und untersucht, aber die Scheune war so alt und die Zerstörung so total, dass eine Brandursache nicht mehr eindeutig festgestellt werden konnte.

Storys Tod hatte Schlagzeilen gemacht. Ein prominenter Geschäftsmann, verbrannt in einem Gebäude mit ungenügendem Alarm- und Sprinklersystem. Die Medien hatten sich auf das Thema öffentliche Sicherheit auf nicht genügend reglementierten Märkten und Waffenmessen gestürzt. Doch schließlich wandte sich die Presse etwas anderem zu, der Aufschrei verklang, und Storys Flohmarkt wurde woanders wiedereröffnet.

»Jaja.« Slidells Lieblingsäußerung. Sie machte mich wahnsinnig.

Jahrelang war der Mecklenburg County Medical Examiner an der Ecke 10th und College untergebracht, in einem Backsteingebäude, das früher ein Sears-Gartencenter war. Jahrelang hatten die Stadtväter von einem Standortwechsel gesprochen. Jahrelang war nichts passiert. Doch dann kam, wie durch ein Wunder, Bewegung in das Vorhaben.

Zu Kosten von acht Millionen Dollar wurde auf einem Regierungsgrundstück in einem Industriegebiet nordwestlich des Zentrums ein Ersatzbau errichtet. Mit einer Nutzfläche von fast 1600 Quadratmetern ist das neue Gebäude viermal so groß wie das alte. Epoxy-Böden, Corian-Wände, Edelstahl, wohin man blickt. Anstatt nur zwei können die Pathologen jetzt simultan vier Autopsien durchführen. Zur neuen Ausstattung gehören auch zwei Räume für Untersuchungen, bei denen aufgrund von Verwesung oder potenzieller Kontamination eine spezielle Behandlung notwendig ist.

Die Stinker. Meine Art von Fällen.

Und das Funkelnagelneue ist konsequent ökologisch. Hochkomplexe Energieerhaltungssysteme. Topmoderne Klima- und Heizanlage mit bis zu einen Meter breiten Luftschächten. Obwohl alle Arbeit im Erdgeschoss stattfindet, erhielt ein Teil des Gebäudes ein Obergeschoss, um die ganze Technik unterzubringen.

Und doch ist die Atmosphäre einigermaßen friedlich. Die Büros und die öffentlichen Bereiche sind in sanften Blau- und Erdtönen gehalten. Die Fenster sind groß und haben Sonnenblenden und intelligente Lichtführung, um eine maximale Tageslichtaufnahme und minimale Blendung zu gewährleisten.

Mit anderen Worten, unser neuer Laden ist der Hammer.

Ich wartete, während Slidell durch das schwarze Sicherheitstor fuhr, die Fahnenmasten umrundete und eine Parklücke gefunden hatte. Er stellte den Motor ab und legte den Arm über die Rückenlehne, was eine Woge Geruch in meine Richtung schickte. Dann wandte er sich mir zu.

»John-Henry Story hat diverse Unternehmungen überall in den Countys Mecklenburg und Gaston. Story Motors. Story Storage –«

J.-H. Story – Wir haben für jeden ein sicheres Lager. Der grässliche Slogan kam mir unverlangt wieder in den Sinn. Es war eine nervtötende, aber sehr effektive Werbekampagne gewesen.

»– John-Henry’s Tavern. Die Liste ist länger als der Schwanz meines Hundes.«

»Sie haben einen Hund?«

»Wollen Sie die Geschichte hören?«

»Storys Tod wurde als Unfall eingestuft. Wieso kommen Sie jetzt auf ihn?«

Slidell fixierte mich mit einem theatralischen Blick, während er in sein Sakko griff. Das senffarben und braun war. Mit einer schnellen Bewegung zog er einen Ziploc-Beutel aus der Brusttasche seines Hemds. Das einen Orangeton hatte, den man wahrscheinlich Melone nannte.

Ich verkniff es mir, die Augen zu verdrehen, während ich mich zur Seite beugte, um mir den Inhalt des Beutels anzusehen.

Und spürte, wie meine Augenbrauen vor Überraschung in die Höhe gingen.