KOSMOS
Alle Illustrationen von Michael Menzel
Umschlagsgestaltung von Nakischa Scheibe, Fotografie + Design unter
Verwendung einer Illustration von Michael Menzel
Der Erzähltext wurde vermittelt von der Literarischen Agentur
Charlotte Larat rights & audio, Strasbourg
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© 2022, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG,
Pfizerstraße 5–7, 70184 Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-50352-2
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Die Sonne schien, aber der Tag von Thorn, Kram, Chada und Eara lief trotzdem nicht besonders gut: Sie waren umzingelt!
Die Kinder standen Rücken an Rücken. Sie hatten Schwert, Axt, Bogen und Zauberstab im Anschlag – bereit, sich zu verteidigen. Um sie herum lauerten acht kräftige Erwachsene mit Schwertern. Alle waren größer und erfahrener als die jungen Heldinnen und Helden – und alle blickten drohend auf die Gruppe.
„Was machen wir?“, flüsterte Thorn so leise, dass ihn nur die anderen drei hören konnten. Sein blauer Umhang wehte im Wind und mit dem Schwert hielt er die zwei Kämpferinnen vor sich auf Distanz.
„Hat Eara zufällig einen ‚Ich haue alle Gegner um‘-Zauber im Angebot?“, flachste Kram und schwang seine Axt. „Der käme sehr gelegen.“
Die Zauberin sah aus dem Augenwinkel auf den Zwerg hinab. „Du hast immer noch keine Ahnung, wie Zauberei funktioniert, oder?“
„Wie auch? Bei dir funktioniert sie ja nie“, konterte Kram.
Thorn seufzte. „Ihr beide streitet euch echt immer in den blödesten Momenten. Hat jemand eine Idee, wie wir hier rauskommen?“
„Einem könnte ich einen Pfeil ins Bein schießen“, schlug Chada vor. Sie spannte die Sehne ihres Bogens. „Aber eben nur einem.“
„Dann gäbe es immerhin eine Lücke“, meinte Eara. „Ich könnte Nebel zaubern, durch den wir ungesehen entkommen könnten. Thorn, Kram, könnt ihr sie so lange ablenken?“
„Wenn ich irgendwas kann, dann das!“, erklärte Kram überzeugt.
Er trat einen Schritt auf die zwei massigen Kämpfer zu, die vor ihm lauerten. „Na ihr? Wer will zuerst Bekanntschaft mit meiner Axt machen?“ Die Männer sahen ihn verdutzt an, als könnten sie nicht glauben, dass ein so kleiner Kerl eine so große Klappe hatte.
„Chada, jetzt!“, flüsterte Eara.
Chada schoss ihren Pfeil zielsicher auf das Bein einer Gegnerin ab. Als diese fluchend zu Boden ging, streckte Eara ihren Arm nach vorn und bewegte ihn in einem weiten Bogen von links nach rechts. Ein Nebel erschien um die Kinder herum.
„Los, das ist unsere Chance!“, rief Thorn. „Ab durch die Lücke!“
In diesem Moment zeigte sich aber, dass der Plan einen Haken hatte: Earas Nebel sorgte nicht nur dafür, dass die Kinder nicht gesehen werden konnten – er sorgte auch dafür, dass sie selbst nichts sahen! Thorn drehte sich auf der Suche nach der Lücke zwischen den Gegnern hilflos im Kreis, Eara stolperte und fiel, und Kram stieß mit etwas zusammen, das sich als Chada entpuppte.
„Autsch, du bist keine Lücke, oder?“, fragte der Zwerg.
„Nee“, erwiderte Chada. „Und ich hab auch keine Ahnung, wo wir hinmüssen.“
Ein Ruf Earas schreckte alle auf. „Achtung, Leute! Ich kann den Zauber nicht länger aufrechterhalten!“
Kaum hatte sie das gesagt, lichtete sich der Dunst auch schon – und es zeigte sich, dass alle Kinder hilflos auf dem Boden hockten. Umgeben von den Erwachsenen, die langsam auf sie zumarschierten!
„Oje – das ist nicht gut, glaube ich“, sagte Kram.
Doch im selben Moment huschte etwas mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit an den Kindern vorbei! Sofort schrie eine der Kämpferinnen auf und verzog vor Schmerzen ihr Gesicht. Ein weiterer Kerl – ein riesiger Brocken von einem Mann – jaulte laut und packte sich an den Hintern.
Und so ging es ringsum: All die großen Gestalten zuckten plötzlich zusammen, ließen ihre Waffen fallen und begannen, nach einem unsichtbaren Gegner zu schlagen.
Eara lachte auf. „Das ist Merla!“
Und wirklich: Wenn man genau hinschaute, konnte man sehen, wie die kleine graue Wölfin blitzschnell zwischen den Angreifern hin und her flitzte. Merla zwickte hier, knabberte dort und war längst wieder fort, bevor einer von ihnen sich wehren konnte.
Auch Kram lachte jetzt. „Lass gut sein, Merla! Wir üben nur! Das ist doch kein richtiger Kampf!“
„Ich glaube, das reicht für heute!“, rief Waffenmeister Harthalt so laut, dass jeder ihn hören konnte. Er hatte sich die Übung angesehen und klatschte nun in die Hände.
Die Männer und Frauen aus der Leibgarde zogen sich zurück. Sie lachten, blickten aber auch mit reichlich Respekt zu Merla. Eine von ihnen zog sich Chadas Pfeil aus ihrer Schutzausrüstung und gab ihn der jungen Bogenschützin zurück. „Guter Schuss“, lobte sie.
Merla sah das und blickte fragend zu den Kindern. Sie und ihre beiden Brüder hatten den vieren vor einigen Monaten bei ihrem ersten Abenteuer zur Seite gestanden. Jetzt kamen sie regelmäßig zu Besuch auf die Rietburg.
„Alles gut, Merla“, wiederholte Kram und kraulte sie hinterm Ohr. „Wir haben nur geübt. Das war nur ein Spiel!“
„Und ihr wart gar nicht so schlecht“, lobte König Brandur. Er hatte das Geschehen aus ein paar Meter Entfernung verfolgt.
Sein Sohn Prinz Thorald stand neben ihm und war weniger beeindruckt. „Gar nicht schlecht?! Wenn der Wolf nicht aufgetaucht wäre, hätten die Kinder keine Chance gehabt.“
„Diese Kinder haben eine große Übermacht lang auf Distanz gehalten“, widersprach ihm der König. „Und es ist keine Schande, wenn einem Verbündete zu Hilfe kommen. Im Gegenteil: Es spricht für einen, wenn man Freunde hat, auf die man sich verlassen kann.“
Der Prinz machte eine verächtliche Handbewegung. „Pah! In einem richtigen Kampf hätten die Blagen immer noch keine Chance!“
Der König warf ihm einen mahnenden Blick zu. „Ich hoffe, dass du gleich beim Empfang der Abgesandten deine Worte besser wählst.“
Prinz Thorald senkte den Kopf. „Ja, Vater. Natürlich.“
Waffenmeister Harthalt beugte sich zu den Kindern hinab und sagte leise: „Lasst euch von Prinz Thorald nicht ärgern. Das war wirklich schon ganz gut. Bis morgen!“
Harthalt verschwand in Richtung der Ställe und auch der König und sein Sohn gingen wieder hinein.
Thorn sah dem König nachdenklich nach. „Was für einen Empfang hat der König denn gemeint?“, wunderte er sich.
Chada sah ihn überrascht an. „Hast du das nicht mitgekriegt? Wir bekommen hohen Besuch! Eine Diplomatin aus Tulgor reist an.“
„Tul-was?“, fragte Kram.
„Tulgor“, wiederholte Chada. „Das ist das Land hinter dem Fahlen Gebirge, im Westen Andors.“
Kram hob die Augenbrauen. „Da ist noch ein Land?“
„Was dachtest du denn, was da ist?“, wollte Eara von ihm wissen.
„Keine Ahnung. Bin ja noch nie dort gewesen.“
„Das geht den meisten Andori so“, sagte Chada. „Und umgekehrt wohl genauso. Das heute Abend ist der allererste offizielle diplomatische Kontakt zwischen Andor und Tulgor! Ich finde das total spannend!“
„Dürfen wir denn da überhaupt hin?“, wollte Thorn wissen. „Als Kinder, meine ich.“
„Klar! Das ist ja nichts Geheimes. Nur ein offizieller Empfang.“
Kram verzog erst das Gesicht und gähnte dann ausgiebig. „Ganz ehrlich: Das klingt nach endlosem Gequatsche und ewigem Stillsitzen.“
Thorn grinste. „Aber auch nach gutem Essen! Es ist also nicht alles schlecht daran.“
Kram nickte. „Noch besser wäre es, wenn das Essen jetzt gleich anfinge. Ich hätte nichts dagegen, wenn dafür der Unterricht heute ausfiele. Was soll ich denn als Kämpfer mit Mathe anfangen? Meine Gegner zu Tode rechnen?“
„Du weißt nie, wann du es mal brauchst“, warf Chada ein. „Es gibt da eine Sage von einem Brunnengeist, der angeblich jedem, den er in seine Fänge bekommen hat, ganz schwere Rechenaufgaben gestellt hat. Nur wer sie lösen konnte, kam wieder frei.“
Kram streichelte Merla, die zwischen seinen Füßen herumtollte, und verzog nachdenklich das Gesicht. „Ich glaube, ich halte mich ab jetzt lieber von Brunnen fern …“
Der Unterricht wurde von Casimir geleitet, einem schlanken Mann mit dunklen Haaren. Eigentlich war er für die Nachrichtenfalken der Burg zuständig – dressierte Greifvögel, mit denen man pfeilschnell Botschaften verschicken konnte. Aber seit so viele Kinder auf die Rietburg gezogen waren, hatte Casimir auch noch das Amt des Lehrers übernommen. Schließlich war er ein Gelehrter und damit einer der wenigen auf der Burg, die rechnen und schreiben konnten.
Das Klassenzimmer befand sich im Westflügel der Burg, direkt neben der Westmauer. Diese war die steilste und höchste Mauer der Rietburg und galt deswegen als unbezwingbar. Und nur aus den Fenstern des Schulraums konnte man über die Mauer blicken – man hatte einen atemberaubenden Blick über die Landschaft bis hin zum Fahlen Gebirge, hinter dem sich das fremde Land Tulgor verbarg. Das Land, aus dem gleich eine Abgesandte anreisen würde. Die jungen Helden waren alle furchtbar aufgeregt, auch wenn keiner von ihnen es sich anmerken lassen wollte.
Die tolle Aussicht und die Neugierde auf den Abend sorgten dafür, dass die Gedanken aller vier Kinder immer wieder abschweiften, weg von Grammatik und Kopfrechnen. Casimir tat sein Bestes, aber als aus dem Hof Fanfarenklänge in den Klassenraum drangen, gab er lachend auf: „Ich sehe schon – an Unterricht ist bei euch heute nicht zu denken. Also los! Raus mit euch! Eure Hausaufgabe ist es, bis morgen möglichst viel über Tulgor in Erfahrung zu bringen!“
Eara sah erstaunt zu ihrem Lehrer auf. „Aber es wäre doch total unhöflich, wenn wir der Abgesandten einfach so Löcher in den Bauch fragen!“, warf sie ein.
„Der Abgesandten vielleicht nicht“, bestätigte Casimir. „Aber ihrer Tochter.“
„Die hat eine Tochter?!“, rief Kram.
„Ja, natürlich.“ Der Lehrer hob verwundert die Augenbrauen. „Hat euch das niemand gesagt? Sie müsste sogar ungefähr in eurem Alter sein.“
Nach diesen Worten hielten es die Kinder nicht mehr aus und sprangen von ihren Plätzen auf. Ein neues Kind auf der Burg? Das mussten sie sehen – und zwar sofort!
„Ich seh gar nichts!“, beschwerte sich Kram, als sich die Kinder einen Weg durch die Menge bahnten. „Das ist unfair, dass alle anderen so viel größer sind.“
Zur Ankunft der Abgesandten hatten sich furchtbar viele neugierige Menschen aus den umliegenden Dörfern auf der Burg eingefunden. So viele, dass es für die Kinder einfach unmöglich war, einen Blick auf die Neuankömmlinge zu erhaschen.
„Kommt, wir gehen schon mal in die große Halle“, schlug Thorn vor. „Da ist gleich das Festessen – und dann haben wir sowieso einen der besten Plätze und können sie ganz in Ruhe anschauen!“
Die Kinder hatten bei allen Mahlzeiten einen eigenen Tisch, der ganz in der Nähe des Tischs stand, an dem König Brandur und Prinz Thorald saßen. Sie würden also die Abgesandte und ihre Tochter sicherlich gut sehen.
Als die vier Kinder die Halle betraten, war diese bereits festlich geschmückt: Fahnen hingen von der Decke, Blumengirlanden ringelten sich um die Geländer, und die Flammen zahlloser Kerzen verbreiteten ein warmes Licht.
Die Kinder waren die Ersten, die die Halle betraten. Doch innerhalb weniger Minuten füllte sie sich, als die Leute vom Burghof hereinströmten. Endlich kam auch König Brandur hinzu. Links von ihm ging Prinz Thorald und rechts von ihm eine Frau in einem dunklen Umhang.
Eine große, dunkelgraue Kapuze verdeckte ihr Gesicht vollständig. Sie sagte etwas zum König, der daraufhin sehr ernst schaute.
„Wer ist denn das?!“, wunderte sich Thorn.