Zeitenwende in der Weltpolitik:
Was für Deutschland auf dem Spiel steht

In einer Welt des rapiden machtpolitischen und technologischen Wandels müssen sich Deutschland und Europa strategisch neu orientieren: Im Wettkampf zwischen den USA und China gerät Europa bereits zwischen die Fronten. Und dies wird auch unser Verhältnis zu Russland verändern müssen. Jetzt ist ein nüchterner, illusionsloser Blick auf die neuen Realitäten notwendig, wie Klaus von Dohnanyi zeigt: Auf »Wertegemeinschaften« oder »Freundschaften« können wir nicht vertrauen, Deutschland und Europa müssen vielmehr offen ihre eigenen, wohlverstandenen Interessen formulieren und mit Realismus verfolgen. So fordert Dohnanyi in seinem Buch grundsätzliche Kurskorrekturen – im Bereich der äußeren Sicherheit ebenso wie in der Industriepolitik, weg von einseitigen Abhängigkeiten, hin zu einer Politik der Eigenverantwortung. Ein ebenso provokantes wie anregendes Buch – von einer der herausragenden politischen Persönlichkeiten unserer Gegenwart.

Zum Autor:

Klaus von Dohnanyi, geboren 1928, gehört seit 1957 der SPD an. Der in Deutschland und in den USA ausgebildete Jurist arbeitete viele Jahre in der Wirtschaft, hatte zahlreiche politische Ämter inne, u.a. als Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft, als Bundeswissenschaftsminister, Staatsminister im Auswärtigen Amt und Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg. Bis heute nimmt er zahlreiche ehrenamtliche Aufgaben wahr und greift mit seinen differenzierten Ansichten und Meinungen immer wieder in die intellektuellen Debatten Deutschlands ein.

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KLAUS VON DOHNANYI

NATIONALE INTERESSEN

Orientierung für
deutsche und europäische Politik
in Zeiten globaler Umbrüche

Siedler

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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: © Ingo Menhard/shutterstock (Europa);
Andrei Minsk/Shutterstock

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

ISBN 978-3-641-28557-9
V002

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Erkenne die Lage.
Rechne mit deinen Defekten,
gehe von deinen Beständen aus,
nicht von deinen Parolen.

GOTTFRIED BENN
Der Glasbläser

Für meine Frau Ulla Hahn,
die Fortsetzung eines langen Gesprächs

Inhalt

Vorwort

I.
Worum es jetzt geht

II.
Deutschland und Europa zwischen den Interessen der Großmächte

Der Nationalstaat bleibt das Fundament

Die USA als Supermacht des Westens

China und Europa: Eine gefährliche Partnerschaft?

Russland als Nachbar Europas

Vom »Colt« zum Wirtschaftskrieg – eine transatlantische »Wertegemeinschaft«?

III.
Kein Frieden für Europa?

Die USA haben nach 1945 den Frieden in Westeuropa ermöglicht

Der militärische Schutz durch die Nato

Die Fortsetzung der Nato-Erweiterung als Gefahr für Europa

Kann Europa als militärische Macht souverän werden?

IV.
Die Europäische Union als deutsche Aufgabe

Europa kann nur als Wirtschaftsmacht bestehen

Die EU ist ein Staatenbund und kein Bundesstaat

Warum offene Märkte eine politische Integration erschweren

Nationale Interessen in Europa sind kein Nationalismus

V.
Europa auf dem Wege zu einer Wirtschaftsmacht?

Die EU-Kommission behindert die Wettbewerbsfähigkeit Europas

Deutschlands nationales Interesse in Europa ist der wettbewerbsfähige Sozialstaat

Was heißt »mehr« Europa im deutschen Interesse?

VI.
Was jetzt zu tun ist

Nachwort

Dank

Anmerkungen

Personenregister

Vorwort

Zeiten des Umbruchs verschütten oft gewohnte Wege und verlangen neue Orientierung. Wohin ein Land dann zu führen ist, darüber wird es immer verschiedene Meinungen geben. In diesem Buch habe ich versucht, meine Überlegungen zu umreißen. Dass auch diese streitig sein werden, ist nicht nur meine Erwartung, ja mein Wunsch. Denn es sind Überlegungen zu wichtigen Themen, die aber in der politischen Debatte heute nicht immer die Aufmerksamkeit genießen, die sie aus meiner Sicht verdienen.

Es geht zunächst darum, was für unser Land jetzt wichtig und was weniger wichtig ist, denn unser aller Möglichkeiten, unsere Arbeitszeit, unsere demokratische Überzeugungskraft, aber auch unsere finanziellen Mittel sind begrenzt. Sicherheit muss im Vordergrund stehen, äußere, wirtschaftliche, soziale und demokratische. Und um diese auch zukünftig zu bewahren, wird die deutsche Politik nach meiner Überzeugung eine Reihe außenpolitischer Richtungsentscheidungen zu treffen haben. Denn andere Völker, andere Nationen haben andere Interessen, die wir verstehen müssen. Nur um diese Fragen geht es hier, denn die vielversprechende neue Bundesregierung hat sich ein breites Feld der politischen Erneuerung vorgenommen, das ich hier nur berühren werde, wenn dabei auch die Interessen anderer Nationen unmittelbar betroffen sind. Es gilt dann, unsere Lage, unsere Kräfte und unsere Möglichkeiten realistisch einzuschätzen.

Die Gefahren des Klimawandels sind unübersehbar geworden und verlangen gemeinschaftliches Handeln aller Staaten der Welt. In Europa erfahren wir aber gegenwärtig zugleich hässliche Auseinandersetzungen zwischen traditionell freiheitlich gesinnten Mitgliedsstaaten und den Institutionen der Europäischen Union. Das gefährdet den europäischen Zusammenhalt, den wir aber in dieser Welt der wechselnden Gefahren dringend brauchen. Geschlossenheit muss wieder hergestellt werden.

Deutschland und Europa sind heute in Fragen der Sicherheit und der Außenpolitik nicht souverän. Es sind die USA, die hier in Europa die Richtung vorgeben. Verfolgen sie dabei auch unsere Interessen? Führen sie Europa außen- und sicherheitspolitisch in eine friedlichere Zukunft? Ich habe Zweifel daran, denn wie wir Europäer täglich erfahren: Amerika bleibt Amerika, auch unter Präsident Biden. Einerseits ruft er zu einem Kampf des Westens gegen Autokratien auf und beginnt damit eine gefährliche Konfrontation mit China, andererseits spricht er von einem zukünftigen Zeitalter der Diplomatie. Aber »relentless«, gnadenlos, soll diese Diplomatie sein.

Was kann das bedeuten? Nachdem die USA seit dem Ende des Kalten Krieges 1990 Russland an die Seite Chinas gedrängt haben, steht nun ein neuer Kalter Krieg mit China bevor? Ein Raunen über Krieg in Asien geht um die Welt; Vergleiche zu den Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg werden gezogen. Die USA spielen dabei eine zentrale Rolle. Es ist unser nationales Interesse als Deutsche und als Europäer, hier, um der Sicherheit Europas willen, auf die gefährliche Politik der USA in Asien einen mäßigenden Einfluss zu nehmen und so weit wie möglich Europa aus den amerikanischen Konflikten herauszuhalten.

Ich schrieb dieses Buch auch als enger Freund und Bewunderer der Vereinigten Staaten von Amerika, denen ich seit 70 Jahren unserer Bekanntschaft und Freundschaft viel zu verdanken habe. Aber gerade deswegen enthält dieses Buch eine besorgte und kritische Grundhaltung. So schreibe ich hier mit einer gewissen Traurigkeit über Entwicklungen in den USA, die diesem Lande großen Schaden antun könnten. Hier wären wir Europäer dann nicht nur Beobachter, es wären auch wir selbst, die von Entscheidungen der USA mitgerissen werden könnten. Aber zugleich halte ich nichts von einem billigen Antiamerikanismus. Jede Nation hat ihre Stärken und ihre Schwächen, und die USA haben auch sehr viel Positives für Deutschland und Europa getan.

Über Chancen und Gefahren der transatlantischen Partnerschaft müssen wir dennoch offener miteinander reden, im Interesse Deutschlands, Europas und, nach meiner Überzeugung, auch der USA. Auch das gehört heute zu den vielen Bereichen der Politik, in denen wir die Folgen unseres Handelns oft nicht ehrlich genug debattieren. Ein Grund für mich, ein Buch ohne Schnörkel zu schreiben.

Ich begann dieses Buch Ende Juni 2021. Dass eine neue Regierung angesichts dreier so verschiedener Parteien nicht immer mit meinen Überlegungen übereinstimmen würde, kann nicht überraschen. So ist dieses Buch am Ende auch zu einer Streitschrift geworden. Als ein Buch, das Debatten eröffnen soll.

Bereits Ende November 2021 schrieb ich, dass die Aufnahme der Ukraine in die Nato erhebliche Gefahren mit sich bringen würde. Nun hat sich diese Gefahrenlage schon Ende Januar 2022 konkretisiert, obwohl doch Wolfgang Ischinger, wie auf Seite 105 zitiert, schon 2018 feststellte, eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine sei »im Bündnis bereits negativ entschieden«. Nun schreibt auch Samuel Charap, der leitende Politikwissenschaftler der einflussreichen US-Denkfabrik RAND Corporation, dass im Nato-Stab hinter »verschlossenen Türen« jeder sage, es bestehe nicht die Absicht, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Charap verlangt »Nato-Ehrlichkeit«. Aber warum darf Nato-Generalsekretär Stoltenberg das nicht sagen? Ist Präsident Biden im Vorwahlkampf der USA entscheidungsunfähig?

Klaus von Dohnanyi

Januar 2022

I.
Worum es jetzt geht

DAS JAHR 2021 WAR EIN JAHR DER UMBRÜCHE. Seuchen, Klimagefahren, ein außenpolitisches Desaster in Afghanistan, die Welt wirft Fragen auf, für die wir in Deutschland noch nach Antworten suchen. Es sind nicht militärische Gefahren, die uns in erster Linie bedrohen – es sind wir selbst, und es ist auch unser Zögern, den Wahrheiten ins Gesicht zu schauen. Diese Erkenntnis muss unsere Prioritäten ändern, unsere Aufmerksamkeiten verschieben.

Die Welt versucht seit dem Beginn des Jahres 2020, sich mit Disziplin und Impfen gegen die Corona-Pandemie zu stemmen. Kein Land war ausreichend auf solche Gefahren vorbereitet. Auch Deutschland nicht, obwohl der Katastrophenschutzbericht der Bundesregierung vom Januar 2013 die Gefahr einer Pandemie in allen Einzelheiten vorgezeichnet hatte. Die Covid-19-Pandemie kehrt nun mit immer neuen Mutationen zurück, die Welt im Ganzen steht ihr noch immer fast hilflos gegenüber. Die bleibenden Schäden sind nicht absehbar.

Und dann machte sich der Klimawandel dramatisch bemerkbar. Bei uns Überschwemmungen, Tote, Sachschäden in Milliardenhöhe, Beschädigung von Infrastrukturen, deren Reparatur oder Erneuerung vermutlich Jahre dauern wird. Es gab offenbar keine ausreichende Vorbereitung, keine angemessenen Warn- und Schutzmaßnahmen, auch nicht auf europäischer Ebene. Im südlichen Europa nahm die Trockenheit zu, Wälder und Ortschaften brannten, aber der Ruf nach Löschflugzeugen und anderen Hilfen blieb oft unbeantwortet. Die Menschen standen zusammen, doch die Natur gab ihre unerbittliche Antwort. Wir arbeiten am Klimaschutz, vergessen aber darüber oft, die notwendigen Vorkehrungen gegen die schon spürbaren Folgen des Klimawandels zu treffen. Diese wirken sich meist auf mehrere Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gleichzeitig aus und bedürfen daher auch gemeinsamer europäischer Planungen.

»Cyber War« flackerte überall auf, es gab Erpressungen von Unternehmen und Stilllegungen von Verwaltungen, Angriffe auf Krankenhäuser und anderes. Neue Medien und weltweite Vernetzungen machen uns immer verletzbarer, selbst Wahlen sind nicht mehr sicher, und die Folgen der Digitalisierung für Arbeitsmarkt und Lieferketten bleiben in ihren globalen Konsequenzen noch immer unüberschaubar. Auch hier muss sich Europa im Rahmen seiner internationalen Möglichkeiten sorgfältiger vorbereiten.

Wir haben während der letzten Jahre auch beobachten können, dass weltweit eine Re-Nationalisierung der Politik stattfindet. Dass in internationalen Beziehungen die nationalen Interessen im Vordergrund stehen, ist eine selbstverständliche Erfahrung. Aber nationale Interessen drängen nun auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft in den Vordergrund. So problematisch dies für die internationale und europäische Kooperation auch ist, es ist offenbar weltweit eine unausweichliche Entwicklung, die auch eine demokratische Reaktion auf Globalisierung, Internationalisierung und Europäisierung darstellt und die es zu verstehen gilt, wenn wir die Zusammenarbeit der Weltgemeinschaft und die europäische Integration fortentwickeln wollen. Die Renationalisierung von Politik wird deswegen auch ein wichtiges Thema dieses Buches sein.

Achten wir denn in der europäischen Gemeinschaft auf die Erhaltung des Zusammenhalts der Mitglieder unseres Staatenbundes? Politisch begann das Jahr mit einem tiefen Einschnitt, dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Zugleich zeigte sich die Union in wesentlichen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik tief gespalten. Sollte man mit Putin reden, mit ihm einen Interessenausgleich suchen? Deutschland und Frankreich waren in der EU bei diesem Vorschlag in der Minderheit. Europa fehlt es an Handlungsfähigkeit für wichtige Entscheidungen, und das gilt auch für das existenzielle Thema der Migration.

Um uns herum entsteht eine neue Welt. Vor 20 Jahren, als die Nato sich in Afghanistan engagierte, war Russland noch ein Staat mit vergleichsweise geringem weltpolitischem Einfluss. Die USA versuchten, ihre geopolitische Position auch im Nahen Osten militärisch zu stärken, scheiterten jedoch überall. Heute ist Russland auf dem besten Wege, für das von den USA zurückgelassene Chaos im Nahen Osten eine politische Ordnungsmacht zu werden. Das wird auch für Afghanistan gelten, wo sich Russland und China heute um einen dauerhaften Einfluss bemühen.

Die Debatte über den unvorbereiteten und beschämenden Abzug klingt noch in unseren Ohren. Was jedoch auch zu erinnern lohnt, das ist der Streit im Deutschen Bundestag am 22. 12. 2001, als es um die Beteiligung der Nato und Deutschlands an einem Krieg gegen den Staat Afghanistan ging, von dessen Boden ein schwerwiegender Terroranschlag auf die USA ausgeübt worden war. Die Autorisierung durch die UN war gesichert. Dennoch konnte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder der Mehrheit seiner Koalition im Parlament nicht sicher sein und bemühte noch vor der Abstimmung über den Einsatz, etwas gedrechselt, die Vertrauensfrage, um die Seinen zu disziplinieren. Ein Satz aus der Debatte klingt bis heute warnend nach: »Man kann Terrorismus nicht militärisch besiegen.« Nicht nur den Rückzug aus Afghanistan gilt es heute zu überdenken, auch der Grund, warum wir überhaupt dort hineingeraten sind, erscheint nicht erst aus heutiger Sicht fragwürdig.

In den USA beunruhigte im Januar 2021 ein Sturm des Pöbels auf das politische Herz Amerikas, das Kapitol; Europa musste sich fragen, wie es um die politische Stabilität der westlichen Führungsmacht bestellt sei. Die USA verschieben nun ihre Aufmerksamkeit nach Asien, auf den großen Konkurrenten China, und lassen die zuvor mit Kriegen überzogenen Staaten des Nahen Ostens kalt im Stich. Die Politik des Westens nach dem Ende des Kalten Krieges vor mehr als dreißig Jahren hat inzwischen dazu geführt, dass heute sogar das christlich-europäische Russland aus seinen europäischen Interessen vertrieben und an die Seite seines früher eher feindlichen Nachbarn China gedrängt wurde. Als ich im Jahre 1973 als zweiter Bundesminister nach Außenminister Walter Scheel einer Einladung nach China folgte, war Deng Xiaoping mein Gastgeber. Ich werde nie vergessen, wie dieser eindrucksvolle Mann mir die unmittelbaren Gefahren eines Krieges der Sowjetunion gegen China schilderte und auf die unzulänglichen Vorbereitungen in Peking verwies. Warum sind Russland und China heute Verbündete?

Könnten nun Konflikte zwischen den Vereinigten Staaten und China auch zu einer Bedrohung für Europa werden, weil Russland inzwischen ein Alliierter Chinas geworden ist? Nüchterne Kommentare haben bereits begonnen, die heutige Lage mit der vor 1914 zu vergleichen, jener »Urkatastrophe«, wie George F. Kennan den Ersten Weltkrieg einst charakterisierte. In der Tat, ein Vergleich mit der damaligen Situation ist beunruhigend. Ist sich die Führung der Nato heute überhaupt dieser Gefahren bewusst?

Angesichts der globalen Risiken des Klimawandels und des Friedens wäre eine intensivere Zusammenarbeit der Großmächte - der USA, Chinas und Russlands – heute dringender denn je. Wir wissen doch, dass der bereits eingetretene Klimawandel nicht nur erhebliche Schäden an der Bewohnbarkeit unseres Globus verursacht, sondern auch der Migration eine neue Dynamik verleiht. Europa ist hier angesichts seiner geografischen Lage und der vielen Wassergrenzen besonders herausgefordert. Aber die Europäische Union zeigt sich hier wie so oft nicht handlungsfähig. Wir widmen der Lösung dieser für unseren Kontinent existenziellen Frage nicht annähernd die Aufmerksamkeit, die unsere deutschen Medien täglich den innenpolitischen Entwicklungen in Russland und China angedeihen lassen, doch dort werden wir kaum Einfluss haben. Stimmen unsere Prioritäten noch mit den Entwicklungen der Welt überein? Finden die wirklich wichtigen politischen Debatten überhaupt noch statt?

Im nationalen Interesse und mit den Institutionen des Nationalstaates muss Deutschland auf die Umbrüche der weltweiten Entwicklung realistisch antworten; manches wird sehr schmerzhaft sein. Der Volksmund spricht kluge Worte: Es hat ihm »die Augen geöffnet«, so heißt es, wenn jemand lange sah, ohne zu sehen, immer schon wusste, ohne zu verstehen – bis dann ein Augenblick ihm die Augen öffnete. Solche Augenblicke gibt es nicht nur im Leben von uns allen, es gibt sie auch im Leben der Völker. Und ein solcher Augenblick war das Jahr 2021 auch für Deutschland: Es hat uns die Augen geöffnet für eine Wirklichkeit, die wir schon lange vor uns sahen, ohne zu verstehen, was diese neue Welt für unsere Zukunft bedeuten werde. Jetzt haben wir gesehen, was ist, und haben erkennen müssen, was sein wird, wenn wir nicht handeln. Und jetzt sollten wir auch verstanden haben, was wichtig und was unwichtig ist und worum es in den kommenden Jahren gehen wird. Dass wir dann auch liebgewonnene Überzeugungen infrage stellen müssen, wird uns nicht erspart bleiben.

Innenpolitische Kraft für diese schwierigen Entscheidungen zu schaffen, ist heute oft eine wichtigere Aufgabe als der Ausbau militärischer Stärke. In den Emotionen der Völker brodeln viele Vorurteile. Politik darf sich davon nicht treiben lassen. Das gilt nicht nur für Europa, das gilt insbesondere für unseren Partner die USA. Den Zusammenhang demokratischer Entschlossenheit auch in Zeiten tiefgreifender Umbrüche und notwendiger Neuorientierung zu bewahren, ist deswegen eine zentrale Aufgabe der politischen Klassen aller Länder. Nur eine offene, sachliche und klare Debatte über den zukünftigen Weg deutscher Politik kann uns voranbringen. Es gehörte schon immer politischer Mut dazu, eine Debatte über neue Einsichten zu eröffnen. Diesen Mut brauchen wir jetzt.

Alles hat seine Geschichte, jeder neue Anfang ist zugleich auch ein Ende. Was geschah, ist immer auch Voraussetzung für ein neues Beginnen, und so ist auch eine Welt im Umbruch immer zugleich Vergangenheit und Zukunft, immer Risiko und Chance, Verlust und auch Gewinn. Politik muss auch die Vergangenheit kennen, um der Zukunft gewachsen zu sein. Eine Welt im Umbruch zu verstehen, kann ohne einen Blick in die Geschichte nicht gelingen, denn Nationen folgen gerne ausgetretenen Pfaden, doch diese führen immer weniger in eine erfolgreiche Zukunft. Wir betreten Neuland und stehen doch auf dem gewachsenen Fundament der Vergangenheit. Mut und Bedachtsamkeit müssen ein Paar sein und bleiben.

II.
Deutschland und Europa zwischen den Interessen der Großmächte