WIR
SIND
WÖLFE
Mit Illustrationen von
Martina Heiduczek
Übersetzt von
Bettina Obrecht
Katrina Nannestad
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Copyright Text © Katrina Nannestad 2020
Copyright Illustrationen © Martina Heiduczek 2020
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »We Are Wolves«
bei HarperCollins Publishers Australia Pty Limited, Syndey, Australia.
Die deutschsprachige Ausgabe erscheint mit freundlicher Genehmigung
von HarperCollins Publishers Australia Pty Limited.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2022 cbj Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Bettina Obrecht
Lektorat: Almut Schmidt
Covergestaltung: Suse Kopp, Hamburg,
unter Verwendung einer Illustration von Martina Heiduczek
aw · Herstellung: BO
Satz und E-Book-Konvertierung GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-28585-2
V002
www.cbj-verlag.de
Für meine geliebten Söhne
Finn und Klaus
Dies ist eine erfundene Geschichte. Die Menschen, von denen ich erzähle, gab es nicht wirklich. Aber »Wolfskinder« gab es.
Wolfskinder waren deutsche Kinder, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Ostpreußen zurückblieben. Manche waren Waisen, andere waren von ihren Eltern getrennt worden. Zu Tausenden kämpften sie allein in den Wäldern ums Überleben und ernährten sich von dem wenigen, was sie auf Bauernhöfen, in alten Häusern und auf den Äckern auftreiben konnten. Viele schlugen sich ins nördlich gelegene Litauen durch. Auch dort war das Leben schwer, aber es gab immerhin mehr zu essen. Einige wurden heimlich von litauischen Familien adoptiert, mussten dafür aber ihre deutsche Identität vollkommen aufgeben. Andere arbeiteten wie Sklaven für Nahrung und Unterkunft.
Die Wolfskinder waren Opfer des Krieges.
»Hitler ist eine Kröte.«
Unsere gesamte Familie hat sich anlässlich des großen Moments im Salon versammelt – Mama, Papa, Oma, Opa, Otto, Mia und ich – und gerade jetzt muss Otto mal wieder durchdrehen.
»Hitler ist eine Kröte!«, schreit er noch einmal.
Mama springt vor und presst die Hand auf Ottos Mund, aber Otto stößt sie weg und brüllt noch lauter: »Hitler ist eine Kröte! Eine dicke, fette Kröte voller Warzen!«
Jetzt presst sich Mama selbst die Hand auf den Mund.
Papa steht in seiner Uniform mitten zwischen uns. Er ist immer noch Papa, aber von heute an ist er auch Soldat Erich Wolf. Er ist einberufen worden und muss jetzt in der deutschen Wehrmacht dienen. Das kann Otto einfach nicht ertragen.
Wir können es alle nicht ertragen. Aber Otto ist erst sieben und er versteht nicht, warum wir Opfer bringen müssen. Für Deutschland. Für unseren geliebten Führer Adolf Hitler. Und er weiß noch nicht, wie man seine Wut, seine Trauer und seine Angst in sich verschließt.
»Hitler ist eine Kröte!«, schreit er noch einmal.
Papa lässt seinen Rucksack auf den Boden fallen. »Otto!«, schimpft er. »Du darfst Hitler nicht beschimpfen. Niemals!«
»Es ist gefährlich!«, flüstert Mama.
»Schrecklich gefährlich«, zischt Oma.
»Und falsch«, füge ich hinzu. »Wir lieben Adolf Hitler.«
Papa runzelt die Stirn.
Mamas Hand rutscht von ihrem Mund auf ihre Brust.
Opa grunzt verächtlich. In letzter Zeit grunzt er immer öfter so. Vielleicht hat er auch nur eine Erkältung, die nicht weggehen will.
Mia kichert und sagt: »Bu! Bu!« Sie ist erst anderthalb und »Bu« sagt sie im Moment am liebsten. Sie versucht »Bumm! Bumm!« zu sagen – das ist nämlich das Wort, das Otto im Moment am häufigsten benutzt.
Otto spielt andauernd Krieg und tut so, als würde er irgendetwas in die Luft sprengen. Das tun alle Jungs. Otto findet den Krieg und Schlachten und Panzer und Flugzeuge und Soldaten toll. Nur jetzt im Moment nicht. Nicht, wenn unser eigener Papa derjenige ist, der Soldat wird und von zu Hause wegmuss.
Otto stemmt die Hände in die Hüften und funkelt uns an.
»Wenn Hitler so toll ist, warum hängt denn dann sein Foto mit dem Gesicht zur Wand?«
Ich werfe einen Blick auf die Stelle an der Wand über dem Esstisch, an der Hitlers Foto hängt. Otto hat recht! Unser geliebter Führer sieht die Tapete an! Er sollte doch voller Güte und Liebe in unseren Salon blicken, wie bei allen anderen Familien auch. Tut er aber nicht. Er ist zur Wand gedreht. Wer macht denn so etwas?
Otto und ich sehen Papa an. Papa sieht Opa an.
Opa zuckt mit seinen mageren alten Schultern und gesteht: »Ich habe Hitlers Porträt zur Wand gedreht.«
»Aber warum?«, frage ich.
»Weil …«, fängt Opa an.
Mama und Oma funkeln ihn an.
»Weil …«, Opa kratzt sich im Nacken, »weil ihr Kinder die schlechtesten Tischmanieren in ganz Ostpreußen habt!«
Otto runzelt die Stirn.
»Otto!«, ruft Opa. »Du lässt beim Kauen den Mund so weit offen stehen, dass ich deinem Essen nachschauen kann, bis es dir in den Magen gerutscht ist. Ein grauenvoller Anblick! Ich möchte nicht, dass unser geliebter Führer Adolf Hitler das erdulden muss. Schlimm genug, dass deine Mama und deine Oma es aushalten müssen.«
»Das stimmt«, sagt Oma. »Dein Papa war genauso, als er ein kleiner Junge war.«
Otto errötet, aber seine Mundwinkel zucken.
»Und Mia!«, seufzt Opa. »Meine Güte! Ich habe noch nie ein Baby gesehen, das sich so viel Haferbrei und Kartoffelpüree in die Haare geschmiert hat. Adolf Hitler sollte nicht zusehen müssen, wie sich ein wunderhübsches kleines Mädchen in etwas verwandelt, das so aussieht, als käme es aus dem Schweinetrog!«
Mia sieht auf, als sie ihren Namen hört: »Mia!«
»Und Liesl!«, grollt Opa. Er verdreht die Augen und schlägt sich mit der Hand auf die Stirn. »Wenn du dein Essen schneidest, spreizt du die Arme ab und wedelst so heftig mit den Ellbogen, dass du wie ein Huhn aussiehst. Ich fürchte jedes Mal, du könntest losfliegen. Eine Elfjährige, die sich wie ein albernes Huhn benimmt. Sollen wir unserem geliebten Führer wirklich einen so unschönen Anblick zumuten?«
Jetzt kichern Otto und ich.
Mama nickt Opa zu. Opa geht zu dem Bild und dreht es wieder nach vorn. Jetzt blickt Adolf Hitler wieder auf uns herunter.
»Also, Kinder«, sagt Papa mit ernster Miene. »Vorbildliches Benehmen, solange ich weg bin. Achtet auf eure Manieren. Wascht euch hinter den Ohren. Und keine unhöflichen Bemerkungen mehr über den Führer.«
Opa grunzt wieder.
»Papa«, gurrt Mia.
Papas Strenge schmilzt sofort dahin. Er sinkt in die Knie und breitet die Arme aus. Otto und ich laufen auf ihn zu. Mia taumelt hinterher. Selbst Mama schließt sich an. Papa legt die Arme um uns, bis wir ein Papa-Liesl-Otto-Mia-Mama-Knäuel sind. Das sind wir am allerliebsten: ein einziges Knäuel.
Ich presse meine Nase in Papas Mantel und atme tief ein. Ich liebe Papas Geruch. Er riecht nach Seife und Schnaps und Muskatnuss. Aber jetzt, in diesem Moment, mischt sich etwas Neues in den Geruch, etwas Bitteres, wie Essigzwiebeln. Papa riecht nach Kummer.
»Wir kommen zurecht, Papa«, murmle ich gegen seine Brust. »Wir werden uns vorbildlich benehmen.«
»Ja, Papa«, flüstert Otto. »Ich werde Hitler nicht beschimpfen und ich werde von jetzt an beim Kauen den Mund zulassen.«
Mia kichert – ein blubberndes Babykichern, in das ich gerne einstimmen würde.
Aber Papa riecht noch immer nach Essigzwiebeln.
»Bitte, Papa«, flehe ich, »sei nicht traurig. Bald ist der Krieg zu Ende und dann kommst du nach Hause und wir feiern ein riesiges Fest.«
»Ja. Ja!«, stimmt Papa zu.
Das Knäuel zerfällt. Papa küsst Mama auf beide Augenlider. Sein Mund streift Omas Stirn. Und zuletzt schüttelt er seinem Vater die Hand.
Opa reicht das offenbar nicht, denn er zieht Papa an der Hand näher heran, bis sie sich in den Armen liegen und ihre Wangen aneinanderschmiegen, sodass ihre Tränen sich vermischen.
Und dann ist Papa weg.
Otto und ich rennen ans Fenster und ich schlüpfe hinter den Vorhang. Wir stützen uns auf den Fenstersims und sehen zu, wie Papa die Straße hinuntergeht. Sein frisch geschnittenes Haar sträubt sich unter der Soldatenmütze. Der rechte Fuß, den er hinter sich herzieht, bleibt immer wieder an einem Pflasterstein hängen. Schuld ist Papas kaputtes Bein – er ist damit unter ein Pferd geraten, als er noch ein kleiner Junge war. Wegen dieses Beins ist er nicht Soldat geworden. Jedenfalls bis heute: Oktober 1944. Nach so vielen Kriegsjahren.
Otto lehnt sich an mich, wie er es immer tut, wenn er traurig ist. Ich lege meinen Arm um ihn und drücke ihn an mich.
Wir beobachten, dass Papa mitten auf der Straße stehen bleibt. Andere Dorfbewohner schließen sich ihm an – all diejenigen, die jetzt doch noch einberufen wurden und der glorreichen deutschen Wehrmacht dienen sollen: Es sind Herr Wagner, dem an einer Hand drei Finger fehlen, Herr Schmidt mit dem Glasauge und Jakob, der drei Häuser weiter wohnt. Jakobs Uniform ist zu groß. Sie ist für einen erwachsenen Mann angefertigt, aber Jakob ist ein magerer Sechzehnjähriger. Mit seinen flatternden Ärmeln, die ihm bis über die Fingerspitzen reichen, sieht er aus wie eine Vogelscheuche.
»Vier neue Soldaten«, sage ich. »Schau!«
»Nein, fünf!«, ruft Otto. »Sieh mal, Hitler möchte sogar Herrn Beck in seiner Armee haben!« Otto wendet sich mir mit weit aufgerissenen blauen Augen zu. »Herr Beck ist uralt, Liesl – fast so alt wie Opa! Und stocktaub!«
Otto hat recht. Herr Beck ist Uhrmacher und ich vermute, all das Ticken und Läuten hat sein Trommelfell abgenutzt. Vor ein paar Tagen habe ich ihn gegrüßt, als ich an seinem Laden vorbeigekommen bin, und er hat erwidert: »Ja, ja, das Geschäft läuft schlecht.«
Wir sehen zu, wie Herr Beck Papa keuchend und schnaufend einholt. Papa stützt den alten Mann, bis er wieder Luft bekommt. Und dann verschwinden Hitlers fünf neue Soldaten am Ende der Straße – drei alte Männer, ein Junge und ein humpelnder Papa. Bald werden sie alle Helden sein – wenn Deutschland den Krieg erst einmal gewonnen hat.
»Hans und Wolfgang spielen draußen«, ruft Otto. Er schlüpft durch die flatternden Vorhänge hindurch wieder ins Schlafzimmer. »Mama! Mama! Darf ich draußen spielen?« Ottos Traurigkeit kann so schnell in Fröhlichkeit umschlagen.
Mama blinzelt, als müsste sie sich erst daran erinnern, wo sie überhaupt ist. »Natürlich«, sagt sie mit belegter Stimme. »Nimm Mia mit. Ihr Wagen steht neben der Tür. Ein bisschen frische Luft wird euch beiden guttun.«
Otto reißt Mia vom Boden hoch und rennt mit ihr in den Flur. Mia quiekt vor Freude und vor Schreck, als er sie in ihren Wagen stopft und mit ihr die Treppen zur Straße hinunterpoltert. Ich bleibe am Fenster stehen und sehe zu, wie er zu Hans und Wolfgang hinüberläuft und dabei den Kinderwagen vor sich herschiebt und Panzergeräusche macht.
»Tschack, tschack, tschack!«, schreit er. »Bumm! Bumm! Bumm!«
Mia kichert und kreischt: »Bu! Bu! Bu!«
Ich trete hinter dem Vorhang hervor. Mama und Oma sind in der Küche verschwunden. Sie machen Mittagessen. Opa ist in den Keller gegangen, um unsere Stiefel zu flicken. Ich bin ganz allein.
Ich betrachte die Papa-förmige Kuhle in seinem Sessel. Dann lasse ich mich hineinsinken, schließe die Augen und atme tief ein. Seife. Schnaps. Muskatnuss.
»Bald«, flüstere ich. »Bald kommt Papa wieder nach Hause.«
»Opa«, rufe ich von der obersten Stufe der Kellertreppe aus. »Es gibt Mittagessen.«
»Komm runter zu mir, Liesl«, antwortet Opa. »Ich habe eine Überraschung für dich.«
Ich taste mich die Treppenstufen hinunter, darauf bedacht, nicht zu stürzen. Keine Ahnung, wie Opa in dieser Dunkelheit überhaupt etwas sehen kann. Aber als ich mich der Werkbank nähere, dreht er die Öllampe heller.
»Ta-daa!« Opa präsentiert mit gespreizten Händen seine Kreation. »Nagelneue Stiefel für meine Liesl!«
Ich schnappe nach Luft und weiche einen Schritt zurück. Aus zwei Paar Stiefeln, die so alt und abgenutzt sind, dass man sie nicht mehr tragen kann, hat Opa ein neues Paar gemacht. Es ist eine schlaue Idee, wenn man davon absieht, dass einer der Stiefel braun, der andere schwarz ist. Auch die Stiefelspitzen und die Schnürlöcher sind ein bisschen unterschiedlich.
»Die sind … die sind …«, stammle ich.
»… genau wie die Stiefel im Märchen von den Elfen und dem Schuster«, ergänzt Opa. »Die schönsten im ganzen Land.«
Das entspricht nicht ganz meinen Gedanken. »Sie sind …« Ich beiße mir auf die Unterlippe.
»Einzigartig!«, ruft Opa. »Und sie haben keine Löcher und werden deine Füße warm und trocken halten, wenn Schnee liegt!«
Ich erröte. Er hat natürlich recht. Ich müsste dankbar sein. Warme, wasserdichte Stiefel sind ein Luxus und mehr, als viele Leute heutzutage besitzen. Alle neuen Stiefel in Ostpreußen – und in den anderen Teilen Deutschlands – gehen an die Soldaten. Das ist auch richtig so, denn sie kämpfen, damit dieses Land mächtig und stark wird. Und wenn der Krieg erst einmal vorbei ist, dann bekommen wir alle prächtige neue Stiefel, jederzeit. Da bin ich mir sicher.
»Danke, Opa«, sage ich. »Sie sind sehr schön.«
»Und einzigartig, vergiss das nicht«, sagt Opa und seine Augen funkeln schelmisch.
Ich lache. »Ja, das sind sie.«
Oma hat den Tisch mit unserem besten Porzellan und vornehmen Leinenservietten gedeckt. Es gibt Suppe aus Kartoffeln und Möhren. Ich kann Möhren nicht ausstehen. Aber dann gibt es Kuchen. Einen richtigen Kuchen mit Kirschen in der Mitte und Sahne obendrauf. Mama ist von einem Bauernhof zum anderen gelaufen, bis sie genügend Eier, Butter und Sahne hatte, weil sie etwas wirklich Besonderes backen wollte.
»Um uns alle ein bisschen aufzumuntern«, sagt sie.
Und eine Weile wirkt das. Mia grinst, als sie ihre erste Faustvoll von der buttrig süßen Köstlichkeit probiert, und bald hat sie sich die Sahne zu den zermatschten Kartoffeln in die Haare geschmiert.
Opa tut so, als wäre er entsetzt. »Widerlich! Widerlich!«, dröhnt er und fuchtelt mit den Händen in der Luft herum.
Aber seine albernen Grimassen und die gespielten Entsetzensrufe feuern Mia noch mehr an. Sie kichert und gurgelt und schmiert sich eine angekaute Kirsche in die goldenen Locken.
»An meinem Geburtstag«, sagt Otto, »will ich genau den gleichen Kuchen … nur mit Schokolade … mit Nüssen obendrauf … und keine Kirschen in der Mitte … und Schokoglasur anstatt Sahne.«
»Also einen völlig anderen Kuchen«, sagt Mama.
»Genau!«, ruft Otto und alle müssen lachen.
»Ich weiß noch, wie ich meinen allerersten Kuchen für Opa gebacken habe«, sagt Oma. »Es war drei Tage nach unserer Hochzeit und ich habe gedacht, es wäre romantisch, für meinen jungen Ehemann etwas Köstliches zu backen.«
»War er gut, Opa?«, frage ich. »Hast du es auch romantisch gefunden? Hast du Oma einen Dankeschönkuss gegeben?«
»Nein«, sagt Opa. »Ich habe einmal abgebissen und dann alles in die Spüle gespuckt.«
Oma lacht. »Ich habe aus Versehen Salz anstatt Zucker genommen. Offenbar hat das auf die Qualität eines Kuchens erhebliche Auswirkungen.«
»Und auf die Qualität einer Ehe!«, fügt Opa hinzu.
Oma streckt die Hand aus und nimmt Opas Hand. »Ach, wir haben aber eine lange und glückliche Ehe geführt, obwohl ich eine so schlechte Köchin bin, oder, Friedrich?«
»Jaja, haben wir«, seufzt Opa.
Ich schlucke meinen letzten Kuchenbissen, aber er bleibt mir in der Kehle stecken. Etwas an Opas Worten tut mir weh. Er redet so, als seien diese langen, glücklichen Jahre jetzt zu Ende.
Als es Schlafenszeit ist, legt Mama Mia in ihr Bettchen und wir singen für sie ihr Lieblingslied: »Alle meine Entchen«. Mia plappert mit und formt mit den kleinen Händen die Schnäbel der Entchen und Täubchen, Hühner und Gänschen. Dann singen wir ihr Lieder vor, in denen es vor Sternen und Engeln, Rosen und Schafen wimmelt, bis sie eingeschlafen ist.
Mama bringt Otto und mich in unser großes Bett und erzählt uns eine Geschichte. »Es war einmal ein König, der hatte zwölf Töchter …«
»Nein, nein!«, schreit Otto. »Es war einmal ein Soldat. Ein deutscher Soldat. Und er hieß Otto.«
Der Krieg hat unsere Gutenachtgeschichten genauso für sich erobert wie Ottos Spiele. Bei Ausbruch des Krieges war er erst zwei – zu klein, um sich noch an ein anderes Leben zu erinnern.
Mama nickt und unternimmt einen neuen Versuch. »Es war einmal ein Soldat namens Otto und ein wunderschönes, unglückliches Mädchen namens Aschenputtel …«
»Nein, nein, nein!«, schreit Otto. »Das Mädchen heißt Liesl!«
Es ist jeden Abend das Gleiche. Mama erzählt die Geschichte und Otto unterbricht sie immer und immer wieder. Otto ist jeden Abend der tapfere deutsche Soldat, der aus dem Kampf gegen Bären, tückische Raben, verzauberte Fische, böse Hexen, die britische Airforce, die amerikanische Marine und die Rote Armee als Sieger hervorgeht. Manchmal taucht nur ein einziger Feind auf, aber in der Regel ist es eine Kombination aus verschiedenen Feinden – wilde Bären arbeiten mit den Russen zusammen, Raben fliegen mit der Airforce über den Himmel und picken deutschen Soldaten die Augen aus, hungrige Fische warten darauf, dass amerikanische Schlachtschiffe ein deutsches Schiff versenken, damit sie alle Soldaten fressen können, die auf Wrackteilen dahintreiben.
Jeden Abend gerät auch ein hilfloses Mädchen namens Liesl in Bedrängnis, und jedes Mal weint sie und dankt dem Soldaten Otto dafür, dass er ihr das Leben gerettet hat. Es ist ermüdend, aber immerhin endet die Geschichte immer damit, dass Liesl und Otto in eine Hütte zurückkehren, wo ein wärmendes Feuer und ein festliches Abendessen auf sie warten. Und dann leben sie für alle Ewigkeit glücklich und in Frieden. Alle Geschichten müssen damit enden, dass alle für immer glücklich und in Frieden leben.
Mama beendet ihre heutige Geschichte mit der Schilderung von Schweinebraten und Kartoffelbrei – mit Rücksicht auf mich lässt sie die Möhren weg – und zieht uns das Federbett bis unters Kinn. Mia schnarcht leise und wir kichern alle. Wie sie schlafen kann, während Mama ihre Geschichte erzählt und Otto diese mit Geräuschen untermalt und immer wieder dazwischenschreit, das ist ein Rätsel.
»Papa liebt Mia dafür, dass sie so niedlich schnarcht«, flüstere ich.
Mama setzt sich noch einmal auf die Bettkante. »Ja, und er liebt Otto dafür, dass er mit seinem Modellflugzeug unter dem Kopfkissen schläft. Und er liebt dich dafür, dass du zu allen freundlich bist, Liesl. Papa liebt alles an euch allen drei.«
»Mama«, frage ich. »Stimmt es, dass der Krieg fast vorbei ist?«
Sie schiebt mir eine wirre Haarsträhne hinters Ohr, bevor sie antwortet: »Ja, Liesl. Der Krieg wird bald ein Ende haben.«
Ich lächle, aber Mama nicht. Sie beugt sich vor und küsst meine Stirn, lässt ihre Lippen dabei lang auf meiner Haut liegen. Als sie sich von mir löst, schimmern Tränen in ihren Augen.
Mama verlässt den Raum, aber ihr Kummer hängt noch in der Luft und ich bleibe ratlos zurück.
Der kalte Herbstwind peitscht meine Wangen und lässt meine Finger erstarren. Ich habe einen meiner roten Handschuhe verloren. Meine rechte Hand ist wohlig warm, aber meine linke Hand fühlt sich hundeelend an. Ich fürchte, sie wird schon ganz blau.
In der Schule wird es auch kalt sein, denn es gibt keine Kohle mehr für den Ofen. Holz gibt es, aber nicht genug, und meine Lehrerin, Fräulein Hofmann, will den Ofen erst anzünden, wenn es richtig Winter ist.
Ich sehe hinunter auf meine seltsamen neuen Stiefel – einer braun, einer schwarz. Wenigstens bleiben meine Füße warm – das habe ich Opas Künsten zu verdanken.
Otto kreist um mich herum, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt. Er spielt Flugzeug und wirft über der ganzen Straße unsichtbare Bomben ab. »Bumm! Bumm! Bumm!«
Gerade als wir um die Ecke biegen und vor der Schule ankommen, muss ich niesen. Ich niese immer und immer wieder. Fräulein Hofmann, die auf der Eingangstreppe steht, fragt mich, ob ich krank bin.
»Mir geht es gut, danke«, antworte ich. »Das sind nur der Staub und die Asche von Königsberg. Der Wind weht so viel davon hierher, wenn er aus Westen kommt.«
»Liesl Wolf, das ist lächerlich!«, blafft mich Fräulein Hofmann an. »Königsberg ist weit, weit weg. Außerdem ist es zwei Monate her, dass es bombardiert wurde, und diese albernen englischen Piloten haben ihr Ziel vollkommen verfehlt. Sie haben nur ein paar verlassene Lagerhallen am Stadtrand getroffen.«
Otto saust heran und landet zwischen mir und meiner Lehrerin. »Wir haben vom Schlafzimmerfenster aus zugesehen«, ruft er. »Wir haben die Explosionen gespürt und das rote Feuer gesehen. Und dann, drei Tage später, sind die englischen Bomber zurückgekommen und haben die Stadt noch einmal bombardiert.«
»Nur Lagerhallen!«, schnauzt Fräulein Hofmann. »Die Engländer haben uns einen Gefallen damit getan, dass sie uns diese rattenverseuchten alten Schuppen abgenommen haben.«
»Ratten!«, ruft Otto. Er fliegt los, über den Schulhof, mit weit ausgestreckten Armen. Jetzt bombardiert er alle Ratten Ostpreußens. »Bumm! Bumm! Bumm!«
Ich lächle Fräulein Hofmann zu. Es ist gut zu wissen, dass in Königsberg nichts Wichtiges zerstört worden ist, und noch besser, dass niemand verletzt wurde. Bis auf die Ratten.
Ich niese noch einmal. »Vielleicht ist es ja doch eine Erkältung«, sage ich.
Fräulein Hofmann nickt lächelnd. »Natürlich ist es eine Erkältung. In Königsberg ist alles in Ordnung, Liesl. In Ostpreußen ist alles in Ordnung. Deutschland ist stark.« Sie drückt die Brust heraus. »Wir werden diesen Krieg nicht verlieren.«
Ich starre sie an. Wer hat denn gesagt, dass Deutschland den Krieg verlieren wird?
In unserem Klassenzimmer drängen sich dreiundsechzig Schüler: zwei Klassen sind zusammengelegt worden, weil alle männlichen Lehrer im Krieg sind. Ottos Lehrerin, Fräulein Rothschild, ist einfach verschwunden. Lehrer sind ein knappes Gut – ebenso wie Stiefel, Fleisch und Väter.
Fräulein Hofmann hat offenbar kein Problem damit. Sie hat Freude daran, unsere Stunden wie eine militärische Operation ablaufen zu lassen. Sie schreit wie ein Offizier, der seine Soldaten herumkommandiert.
»Aufstehen!«
»Singen! Das Deutschlandlied!«
»Setzen!«
»Bücher auf den Tisch!«
»Die Neunertabelle aufschreiben!«
»Liesl, was macht achtzig mal siebzig?«
Ich gehe gern zur Schule. Ich lerne gern. Es gefällt mir, dass Fräulein Hofmann sich in ihren Stunden an einen genauen Plan hält. Und besonders mag ich den Unterricht über Deutschland und darüber, dass wir immer mehr Ländern auf der Welt Zivilisation und Freude bringen. Ich mag sogar das vollgestopfte Klassenzimmer. Mehr Menschen bedeutet mehr Wärme.
Auf dem Heimweg fliegt Otto wieder herum und bombardiert die Ratten in Königsberg. Plötzlich bleibt er stehen.
»Liesl!«, ruft er und packt meine Hand, sodass auch ich stehen bleiben muss. »Hörst du das?«
Über den heulenden Wind hinweg höre ich die Schritte von Stiefeln. Schwere Stiefel, die über das Kopfsteinpflaster marschieren.
Otto zieht mich zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind, bis wir wieder vor der Schule stehen und zusehen, wie Hunderte und Aberhunderte von Soldaten vorbeimarschieren. Sie sind jung und gut aussehend und haben die Köpfe hoch erhoben.
»Hurra! Hurra!«, schreit Otto. »Viel Glück! Viel Glück gegen diese dreckigen Russen und die Ratten!«
Einer der Soldaten wendet den Kopf und zwinkert uns zu. »Wir brauchen kein Glück«, ruft er. »Wir haben die Macht und das Recht und Adolf Hitler auf unserer Seite!«
Wir lächeln, winken und jubeln den vorbeimarschierenden Soldaten zu. Manche beachten uns gar nicht, andere salutieren und stecken uns Leckereien zu – drei Schokoriegel und eine Dose Kondensmilch. Schätze!
»Heil Hitler!«, rufe ich, als die Soldaten davonmarschieren.
Wie ein Mann heben sie die rechten Arme und antworten: »Heil Hitler!«
Mein Herz bläht sich auf vor Stolz und ich spüre, wie mich eine Gänsehaut überläuft. Es ist wirklich aufregend, in einer solchen Zeit Deutsche zu sein!
Wir verspeisen die Schokoriegel auf dem Heimweg, schweigend. Jedes Quadrat lassen wir uns langsam auf der Zunge zergehen. Wir hätten sie eigentlich mit Mia, Mama, Oma und Opa teilen müssen, aber wir können uns nicht beherrschen. Es ist so lange her, dass wir richtige Schokolade gegessen haben!
Ottos Grinsen ist breit und seine Mundwinkel kleben. »Ich finde den Krieg großartig!«, ruft er. »Außer dass Papa weg ist.«
»Wenn du schon denkst, das hier ist so großartig«, sage ich und reiche ihm den letzten Rest Schokolade, »dann warte ab, bis der Krieg vorbei ist.«
Es ist der dreiundzwanzigste Dezember. Mama und ich machen Weihnachtseinkäufe. Es geht nicht um Geschenke, sondern um Essen, und es ist ein besonderes Ereignis: nur wir beide.
Normalerweise wäre ich samstags in der Schule, aber nicht nach diesem heftigen Wintereinbruch. Der Unterricht ist verkürzt und samstags fällt er ganz aus, das spart Feuerholz. Wenn wir montags in die Schule kommen und das Klassenzimmer übers Wochenende leer gestanden hat, ist es dort so kalt, dass die Fenster vereist sind – von außen wie von innen – und unsere Finger und Zehen sich wie versteinert anfühlen.
Gestern hat Otto versucht, Eis von der Fensterscheibe zu lecken, und seine Zunge ist angefroren. Fräulein Hofmann musste das Glas anhauchen, bis das Eis so weit getaut war, dass Otto und seine alberne Zunge sich befreien konnten. Ich habe gedacht, Fräulein Hofmann würde vor Zorn platzen, würde herumbrüllen wie ein General. Aber als Otto wieder frei war, nahm sie ihn in den Arm und redete leise und freundlich auf ihn ein.
»Denk nach, bevor du handelst, mein Junge. Das ist wichtig, Otto … jetzt mehr als je zuvor. Sei vernünftig. Bring dich nicht in Gefahr. Bitte, Otto …«
Das war nett und ich habe mich gefreut, dass Otto nicht ausgeschimpft wurde, aber danach hatte ich so ein seltsames Gefühl. Mir war ein bisschen flau im Magen. Voller Angst, ohne zu wissen, wovor.
Aber das war gestern. Heute geht es mir gut. Ich gehe mit Mama die Straßen entlang und halte ihre Hand, springe über gefrorene Pfützen. Wir singen Weihnachtslieder und lachen. Mamas Lachen habe ich schon so lange nicht mehr gehört.
Wir gehen am Rande unseres Dorfs von einem Bauernhof zum anderen und kaufen alles, was zu unserem Festmahl morgen Abend beitragen könnte. Was für ein Glück, dass wir in einem Land leben, wo es Vieh gibt und die Felder so fruchtbar sind, dass Gemüse und Korn wachsen. Ostpreußen wird oft »Kornkammer Deutschlands« genannt. Vielleicht sollte es gleich auch »die Milchkanne« und »der Suppentopf« heißen! Aber egal, wie man es nennt, wir haben Glück. Umso mehr, als Mama die geheime Kunst der Essensbeschaffung beherrscht.
»Frage nie nach zu viel auf einmal, Liesl«, erklärt sie. »Nur hier ein Ei, dort eine kleine Zwiebel, am nächsten Haus ein wurmiger Kohlkopf. Und bezahl immer gut. Geld können wir nicht essen, aber wenn wir uns etwas Herzhaftes kochen, bleiben wir wenigstens noch ein paar Tage so fett und fröhlich.« Sie tätschelt ihren mageren Bauch und wir lachen beide.
Nach zwei Stunden schwappt fette, leckere Milch in unserer Milchkanne und unser Korb ist voll: vier Kartoffeln, eine riesige Steckrübe, vier Eier, ein winziger Kohlkopf (mit Wurmlöchern, wie Mama erwartet hat) und eine halbe Wurst. Eine echte Schweinswurst, die nach Fleisch und Gewürzen riecht!
»Das wird ein fantastischer Heiligabend!«, rufe ich. »Jetzt muss nur noch Papa heimkommen und mitfeiern.«
Mama bleibt stehen. »Liesl, Papa ist jetzt Soldat. Das weißt du. Er kann nicht einfach nach Hause kommen, wenn er möchte.«
»Aber es ist Weihnachten, Mama, und manchmal kriegen die Soldaten Urlaub, damit sie bei ihren Familien sein können. Letzte Weihnachten war Ruths Vater eine ganze Woche zu Hause.« Ich sehe sie lächelnd an. »Also warum nicht unser Papa? Das wäre so wunderbar!«
Ich tanze um Mama herum und gleite auf dem Eis aus. Mama hilft mir auf die Füße.
»Ja«, stimmt sie zu, »das wäre wunderbar. Nur … nur mach dir nicht allzu viele Hoffnungen, Liesl.«
Gerade eben war die Luft noch voller Freude und Hoffnung, jetzt ist sie plötzlich kalt und schwer.
Aber Mamas Lächeln kehrt zurück und sie sagt: »Eine Sache müssen wir noch erledigen, bevor wir nach Hause gehen.«
Sie marschiert voraus und ich muss rennen, um sie einzuholen. Wir gehen rasch und schweigend weiter, bis wir den Bauernhof der Krügers erreichen. Frau Krüger erwartet uns am Tor, eine tote Gans in der Hand, die kopfunter an ihren Füßen baumelt. Ihre Augen sind geschlossen und sie wirkt vollkommen unangetastet, als würde sie nur schlafen.
»Guten Tag und ich wünsche Ihnen morgen ein frohes Fest«, sagte Mama freundlich.
Frau Krüger nickt, sagt aber nichts. Sie starrt Mama an, ihre Augen sind weit aufgerissen, ihr Mund steht offen.
Mama greift in ihre Tasche und zieht ein weißes Taschentuch hervor, das sie zu einem Bündel zusammengeknotet hat. Sie zieht den Knoten auf. Ihre wunderschöne Perlenkette kommt zum Vorschein und ich frage mich, warum sie die zum Bauernhof mitgebracht hat.
Aber da schnappt Frau Krüger die Perlen mit ihren dicken Fingern und reicht mir die Gans. Mama hat die Gans für ihre wertvollen Perlen gekauft! Das ist viel zu teuer!
Die tote Gans schwingt in meiner Hand hin und her, während ich darauf warte, dass Mama protestiert.
Aber sie sagt nur: »Danke, Frau Krüger.«
Die Bauersfrau antwortet nicht. Sie starrt gierig auf die Perlen.
Dumme Kuh, denke ich. Mamas wunderschöne Perlen sehen zu deiner Melkerschürze und deinen lehmigen Holzschuhen einfach nur albern aus.
Ein bitteres Gefühl steigt in mir auf, aber es verfliegt ganz schnell, denn mein Magen knurrt. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen, als ich mir die saftige gebratene Gans vorstelle, die sich morgen Abend auf unserem weihnachtlichen Esstisch breitmachen wird.
Auf dem Rückweg durchqueren wir wieder das ganze Dorf. Ein eisiger Wind weht, aber weil wir so schwer an unseren Schätzen schleppen und gleichzeitig an das vor uns liegende köstliche Festmahl denken, ist uns warm.
»Zwiebeln und Weckmehl und Mandeln«, seufzt Mama. Sie hat die Augen fast ganz geschlossen, während sie die Füllung beschreibt, mit der sie die Gans zubereiten wird.
»Was ist mit Rosinen?«, frage ich hoffnungsvoll. »Oder Sultaninen?«
»Ja, ja! Beides!«, sagte Mama. »Wenn ich welche finde. Und Muskatnuss. Jede Menge Muskatnuss. Das wird die beste Füllung, die ich je gemacht habe.«
»Die beste Füllung, die ich jemals gegessen habe!« Ich drücke die schwere Gans an meine Brust.
Wir biegen um die Ecke und sehen einen Trupp Soldaten die Straße entlangmarschieren.
Nein. Sie marschieren nicht. Sie schleppen sich die Straße entlang. Einige werden auf Bahren mitgetragen.
Mama stößt einen Schrei aus. Sie lässt den Korb zu Boden fallen und schlägt sich die Hand vor den Mund.
Ganz langsam gehen wir weiter. Wir stehen so nah vor den Soldaten, dass wir sie riechen können: saurer Schweiß, verbranntes Metall, Angst. Köpfe, Hände und Knie verbunden. Nicht mit sauberen, weißen Verbänden wie diejenigen, die wir in der Schule in unserem Erste-Hilfe-Kurs verwendet haben, sondern schmutzige, fleckige Lumpen. Das Licht in den Augen der Männer ist erloschen.
»Ihr armen Jungs«, murmelt Mama. »Was haben wir euch angetan?«
Wir?, denke ich. Was haben sie euch angetan!
Ein Mann, der auf einer Trage vorbeigeschleppt wird, streckt die Hand aus und klammert sich an Mamas Rock fest. Seine Hand ist schmutzig, unter seinen Fingernägeln klebt Blut. Ich möchte ihm sagen, dass er meine Mama loslassen soll. Aber Mama tritt vor und legt ihm sanft die Hand auf die Wange.
»Frau«, flüstert er. »Es ist schlimm. Viel schlimmer, als sie euch sagen.« Er wird davongetragen, bevor er weiterreden kann.
»Was meint er damit?«, frage ich.
Aber Mama schweigt.
Wir stehen stumm da und sehen zu, wie die Soldaten vorüberhumpeln. Einer oder zwei nicken in unsere Richtung, aber die meisten sehen starr geradeaus oder auf ihre Stiefel hinunter. Sie sind so vollkommen anders als diejenigen, die Otto und mir die Schokolade geschenkt haben.
Ich wünschte, ich könnte etwas tun. Etwas, um sie sauber zu machen. Etwas, um sie aufzumuntern. Um sie daran zu erinnern, dass der Krieg beinahe vorbei ist und danach alle glücklich sein werden. Dass es eine Welt voller Gänsebraten und Siegesparaden sein wird.
Dann fällt mir plötzlich ein, was ich tun könnte. Ich reiche Mama die Gans, renne den Soldaten nach, strecke die Hand in die Luft und rufe: »Heil Hitler!«
Aber keiner hebt die Hand.
Keiner sagt ein Wort.
Opa, Otto und ich sind im Bad. Ich putze mir die Zähne. Otto putzt Opas Zähne.
Otto liebt Opas Gebiss. Er hält es in der Hand und bürstet es so vorsichtig, als würde er eine Maus oder ein Eichhörnchenbaby putzen.
»Opa«, sagt Otto. »Wenn ich dein Gebiss fertig geputzt habe, darf ich dann damit spielen?«
Opa schmunzelt, aber er schüttelt den Kopf. »Nein, nein! Dann wird es Zeit, dass du dir deine eigenen Zähne putzt.« Er spricht undeutlich, weil es schwierig ist, mit einem zahnlosen Gaumen zu reden.
»Biiiiitte!« Otto blinzelt zu Opa hoch, seine blauen Augen sind so groß wie Mamas Kuchenteller.
»Auf gar keinen Fall!«, ruft Opa. »Mir ist schon klar, was du damit vorhast. Du lässt sie über den Boden im Salon fahren und machst Panzergeräusche dazu, und von da an werde ich immer denken, meine Zähne sind eine Kriegswaffe. Wenn die Russen kommen, werde ich mich womöglich verpflichtet fühlen, sie ihnen auszuhändigen.«
Otto kichert, aber mir wird ganz schlecht. Warum sollten die Russen deutschen Boden betreten?
Ich denke an die Soldaten, die wir heute Nachmittag gesehen haben. Und ich denke an die Worte dieses einen Soldaten: »Es ist schlimm. Viel schlimmer, als sie euch sagen.« Ich schaudere.
Als unsere Zähne sauber sind, bringt Opa Otto ins Bett und ich gehe nach unten, um Mama zu sagen, dass wir fertig sind und auf die Gutenachtgeschichte warten.
Mama und Oma flüstern in der Küche. Ich weiß, ich sollte nicht lauschen, aber ich bin mir sicher, dass sie sich über unsere Weihnachtsgeschenke unterhalten, und ich platze fast vor Neugier. Ich möchte so gern wissen, was Oma und Mama in den letzten vier Wochen für mich gemacht haben. Ich trete an den Türspalt und halte die Luft an.
»Perlen!«, zischt Oma. »Perlen für eine Gans, Anna. Wie konntest du nur?«
»Anders ging es nicht«, sagt Mama. »Für weniger wollte uns Frau Krüger die Gans nicht überlassen.«
»Überlassen?«, schnaubt Oma. »Sie hat sie euch nicht überlassen. Die Gans hatte einen hohen Preis.«
Mama seufzt. »Ja. Aber es ist vielleicht für lange Zeit das letzte richtige Weihnachtsfest für die Kinder. Wenn der Krieg zu Ende ist …«
»Wenn der Krieg zu Ende ist, werden wir alle unsere Perlen und Schmuckstücke und unser Silber und Gold brauchen, um zu überleben«, faucht Oma. »Ein Kanten Brot wird schon einen Diamanten kosten. Du warst in Ottos Alter, als der letzte Krieg zu Ende ging; du musst doch noch wissen, wie das damals war – der Hunger, die Kälte, die Krankheiten. An einer Gans haben die Kinder vielleicht ein, zwei Tage Freude, aber zu welchem Preis?«
Danach ist es lange still und kalte Luft scheint durch den Türspalt aus der Küche in meinen Körper zu kriechen. Ich zittere wieder.
Ich gehe nicht in die Küche, um nach der Geschichte zu fragen, sondern schleiche mich wieder nach oben, krieche zurück zu Otto ins Bett und warte.
Als Mama endlich kommt, singen wir für Mia ein Kinderlied: Backe, backe Kuchen. Der Bäcker braucht Eier und Schmalz, Butter und Salz, Milch und Mehl und Safran. Bei der gesungenen Aufzählung der Zutaten versagt zuerst meine Stimme, dann auch die von Mama. Otto muss das Lied allein zu Ende singen.
Nachdem Mia eingeschlafen ist, fängt Mama mit ihrer Gutenachtgeschichte an, aber heute Abend ist sie öde und langweilig. Mama ist nicht mit dem Herzen dabei. Otto versucht ihr die richtigen Stichworte zu liefern, aber am Ende gibt Mama doch auf.
»Es tut mir leid, Kinder«, seufzt sie. »Ich bin erschöpft und es gibt noch so viel für Weihnachten vorzubereiten.«
Sie küsst uns auf die Stirn, dann geht sie.
Otto ist unzufrieden. »Ohne richtige Gutenachtgeschichte kann ich nicht einschlafen. Liesl, erzähl du mir eine Geschichte darüber, wie es nach dem Krieg sein wird.«
Ich denke an das, was Oma gesagt hat: Der Hunger sei so groß, dass man einen Diamanten für einen Brotkanten bezahlen müsste. Mir wird ganz schlecht, wenn ich mir vorstelle, wie viel man bezahlen müsste, um den Kuchen aus Mias Kinderlied zu backen.
»Ich kann nicht, Otto«, flüstere ich. »Ich bin zu müde.«
Was ich eigentlich meine, ist: Ich bin zu ängstlich. Zu verwirrt.
Aber Otto bleibt beharrlich. Er knurrt und grummelt und zappelt und tritt, bis ich einsehe, dass es einfacher ist, ihm nachzugeben. Ich schließe die Augen und grabe mich durch die erschreckenden neuen Eindrücke hindurch, bis ich auf die darunterliegenden goldenen Bilder stoße, die Adolf Hitler und Fräulein Hofmann seit Schulbeginn für mich gemalt haben: