Ulrich Walter
Astronaut Ulrich Walter erklärt fast alles
Originalausgabe
1. Auflage 2022
Verlag Komplett-Media GmbH
2022, München
www.komplett-media.de
E-Book ISBN: 978-3-8312-7113-9
Lektorat: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg
Korrektorat: Anya Lothrop
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
Satz und Layout: Buch-Werkstadt GmbH, Bad Aibling
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim www.brocom.de
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Unsere Welt – einfach verrückt!
FASZINATION WISSENSCHAFT
Wir haben aufgehört zu träumen
Mythos »Halbwertszeit des Wissens«
Fällt er oder fällt er nicht? Ein Bleistift auf dem Mond
Wer fliegt schneller – Dicke oder Dünne?
Flug zum Mittelpunkt der Erde
VERRÜCKTE PHYSIK IM KLEINEN
Das »göttliche« Higgs-Teilchen
Stringtheorie für Anfänger
Von Tachyonen und dem restlichen Teilchenzoo
So funktionieren Tachyonen
Gibt es Tachyonen?
Manches geht schneller als Licht!
Kann es ein Perpetuum mobile geben?
AUCH UNSERE NATUR KANN VERRÜCKT SEIN
Warum der Mond zwei Fluten macht, statt nur eine
Bye bye, Mond!
Warum ist die Erde blau?
Das Geheimnis des grünen Blitzes
Trotzen Hummeln der Physik?
Was ist Epigenetik?
VERRÜCKTE PHYSIK IM GROSSEN
Außerirdisches Leben im Sonnensystem?
Was passiert bei Supermond und Mondtäuschung wirklich?
Einsteins spukhafte Fernwirkung
Die Dunkle Materie bleibt dunkel
Vielleicht doch ein Durchbruch bei der Dunklen Materie?
TECHNIK IM ALLTAG
Was eine Brennstoffzelle kann – und was nicht
Das Heizkostenspar-Paradox
Das sollte man über LED-Lampen wissen
Was Fahrverbote gegen Feinstaub wirklich bringen
StratEx Alan schlägt Stratos Felix
WISSENSCHAFT IM ALLTAG
Warum Eis glatt ist
Warum heißes Wasser schneller gefriert als kaltes
Warum Flugzeuge fliegen – Auftrieb durch Abwind
Warum Flugzeuge fliegen – Die Physik des Auftriebs
Was Sie garantiert noch nicht über Strom wussten
Spieglein, Spieglein an der Wand
Warum man vor Mikrowellen keine Angst haben muss
Harte Wellenstrahlung – jetzt wird’s gefährlich
Achtung Strahlung? – Teilchenstrahlung
Warum wir alle falsch zählen
So berechnet man Fußballergebnisse
Die Grenzen der Wissenschaft
Autorenvita
»Unsere Sehnsucht nach Verstehen ist ewig.«
Diese Worte Albert Einsteins (1879–1955) teilen wir alle. Und wir glauben, wenn die Menschheit nur lange genug nachforscht, werden wir irgendwann alles verstehen. Dem wird nie so sein, aus mehreren Gründen.
Bereits 1931 bewies der österreichische Mathematiker Kurt Gödel (1906–1978) mit seinem Gödelschen Unvollständigkeitssatz, dass wir die Welt nie vollständig verstehen werden. Des Pudels Kern liegt darin, dass es wissenschaftliche Aussagen geben kann, die weder beweisbar noch widerlegbar sind. Wir werden also auf gewisse Fragen an die Natur (einfache wie auch knifflige) nie eine wahre Antwort finden können. Eine dieser Fragen behandle ich im letzten Kapitel dieses Buches, Die Grenzen der Wissenschaft (siehe Seite 263 ff.).
Unser Verstehenkönnen ist geprägt von unserer Erfahrung der Welt. Wir können intuitiv verstehen, warum man mit dem Schlag eines Hammers eine Glasscheibe zerschmettern kann – er ist hart und schwer, und Glas ist brüchig –, und wir haben es oft genug gesehen. Wenn wir uns fragen, warum ein gleich schwerer Gummiball, mit derselben Kraft gegen die Glasscheibe geworfen, sie nicht zertrümmert, ist uns das auch klar: Weil er weich ist.
Aber warum macht weich und hart den entscheidenden Unterschied? Die wissenschaftliche Antwort lautet: Weil F = m · Δv/Δt. Dies ist das zweite Newtonsche Gesetz. Hier verliert sich das Verständnis eines Nicht-Wissenschaftlers. Es ist meine Aufgabe, dem Leser dieses Buches das physikalische Verständnis auf dieser Ebene näherzubringen. Die Erklärung ist: Wenn ein Gegenstand durch das Auftreffen auf die Glasscheibe abgebremst wird, ändert sich seine Geschwindigkeit v sehr schnell und drastisch. Durch den Aufprall wird in kürzester Zeit aus einer Bewegung nach vorn eine Bewegung zurück. Dies drückt man mathematisch mit der Geschwindigkeitsänderung Δv aus. »Hart« bedeutet, die Geschwindigkeitsänderung passiert in sehr kurzer Zeit, typischerweise in einigen Mikrosekunden, also Δt ≈ 1/100.000 s. Ein weicher Ball hingegen wird weiter eingedrückt, was länger dauert, und springt daher »erst« nach einigen Millisekunden wieder zurück: Δt ≈ 1/100 s. Das zweite Newtonsche Gesetzt besagt nun, dass die Kraft F, die bei ansonsten gleichen Rückprallereignissen erzeugt wird, umso größer ist, je kleiner die Rückprallzeit ist.
Daraus folgt: Harte Gegenstände erzeugen beim Aufschlag eine größere Kraft als weiche. Wenn diese Kraft auf eine Glasscheibe die Bindungskraft zwischen den Atomen überschreitet, dann zerspringt sie. Aus demselben Grund zerbricht ein Trinkglas, wenn es auf eine Steinfliese fällt und bleibt unversehrt, wenn es auf ein Polster fällt.
Die nächste Verständnisebene wäre: Warum gilt das zweite Newtonsche Gesetz? Der Grund ist die Trägheit aller Dinge in unserer Welt. Was ist Trägheit, und woher kommt sie? Durch das Higgsfeld (siehe Kapitel Das »göttliche« Higgs-Teilchen Seite 47 ff.). Was ist das Higgsfeld? Das weiß bis heute kein Mensch. Offensichtlich wird mit jeder tieferen Verständnisebene die Erklärung komplizierter, bis keiner mehr eine Erklärung hat. Dann helfen nur noch mathematische Formeln weiter, die zwar von Experimenten bestätigt werden, die man aber als Mensch nicht mehr versteht.
So wissen wir heute, dass zwei Lichtteilchen über beliebig große Entfernung – etwa zwischen weit voneinander entfernten Sternen – miteinander gekoppelt sein können (man sagt »verschränkt« sind), sodass eine Änderung eines Lichtteilchens das andere instantan (also ohne zeitlichen Verzug!) entsprechend ändert. Das widerspricht unserer intuitiven Erfahrung, weshalb wir es nicht verstehen – nie wirklich verstehen können. Aber wir haben mit der Quantenmechanik das mathematische Werkzeug, diese seltsame Verschränkung zu beschreiben, und wir haben sie experimentell bestätigt. Selbst Einstein sprach hier von spukhafter Fernwirkung und wollte sie sein Leben lang nicht wahrhaben. Aber wir wissen heute, so funktioniert unsere Welt. Sie ist wirklich verrückt!
Wissenschaft ist also wie der Turmbau zu Babel. Wir wollen mit jedem weiteren Stein, den wir dem Turm der Wissenschaften hinzufügen, den ewigen Wahrheiten des Universums dort oben näherkommen, aber wir werden nie ein Ende erreichen.
Bei einem Turmbau ist es wichtig, die richtigen Fachleute ranzulassen, sonst fällt er irgendwann um. Es gibt immer Schlauberger, die glauben, komplizierte Dinge einfach erklären zu können. Bei einem guten Vergleich, der auch analogisch stimmt, ist das manchmal sogar möglich. Aber, obwohl die meisten Analogien intuitiv richtig erscheinen, weshalb sie gern benutzt werden, sind sie oft falsch.
Daher gilt: In unserer komplizierten Welt ist eine Erklärung, die zwar schwer zu verstehen ist, aber zumindest irgendwie logisch erscheint, wahrscheinlich näher an der Wahrheit als jede einfache naive Erklärung. Oder umgekehrt: Jede einfache Erklärung unserer komplizierten Welt kann nicht richtig sein. So gibt es zwar eine allseits bekannte, einfache Erklärung, wie unsere Welt in sieben Tagen entstand, trotzdem ist die sehr komplizierte wissenschaftliche Theorie des Urknalls mit all ihren schwer verständlichen Inflationsszenarien sicherlich näher an der Wahrheit. Diese grundlegende Erfahrung spiegelt sich im Aphorismus des amerikanischen Publizisten Henry Louis Mencken (1880–1956) wider: »Für jedes komplexe Problem gibt es eine Lösung, die einfach, bestechend – und falsch ist.«
Egal, wie genau ich in diesem Buch versuche, Ihnen die verrückte Physik zu erklären, es gibt immer eine Grenze. Zunächst die, jenseits der Sie nicht mehr verstehen, und dann die, wo selbst Wissenschaftler sich an den Kopf schlagen. Beide Grenzen sind individuell, aber es gibt sie immer. Wir alle müssen lernen, mit diesem Nichtverstehen leben zu können.
Meine Lektorin meinte an verschiedenen Stellen in diesem Buch, ich würde Ihnen bei manchen Erklärungen eine harte Kost zumuten. Sie hat sicherlich recht. Dieses Buch ist der Versuch, die sehr kompliziertere Physik so weit zu vereinfachen, dass der Leser wenigstens einen Schimmer davon versteht und sich mit seinem beschränkten Wissen wie alle nicht vollständig verstehenden Physiker vor der trotzdem großartigen Physik unseres Universums verneigt.
Dieses Buch setzt Physik-Schulwissen voraus. Die Physik, die darüber hinaus geht und nur randständig ist, kann durch Artikel, auf die in Fußnoten hingewiesen wird, nachgelesen werden. Fachliche Begriffe, die in diesem Buch unerklärt bleiben, können wortwörtlich im deutschen Wikipedia nachgeschlagen werden.
»Wir sind hier in diesem ganz und gar fantastischen Universum und haben kaum eine Ahnung davon, ob unser Dasein eine wirkliche Bedeutung hat.«
Fred Hoyle (1915–2001)
Britischer Astronom
»I have a dream …«
So begann Martin Luther King (1929–1968) im Jahr 1963 in Washington seine berühmt gewordene Rede um mehr Bürgerrechte für Afroamerikaner.
Wir alle haben Träume. Träume und Neugier sind die entscheidenden Antriebe unseres Tuns. Als Mr. Spock gefragt wurde, warum die Menschen trotz aller Gefahren in den Weltraum fliegen, antwortete er schlicht: »Neugier, nichts als schiere Neugier.«
Die 1960er- und 1970er-Jahre waren voller Träume und Neugier. Unsere Gesellschaft wurde damals auf den Kopf gestellt. Wir taten Dinge, die so ganz anders waren. Wir waren diejenigen, vor denen uns unsere Eltern gewarnt hatten: Rockmusik, lange Haare, Leben in Kommunen. Wir träumten und hatten damit die Zukunft in unseren Händen. Aber das betraf nicht nur die Jugend. Nach und nach wurde die ganze Gesellschaft von diesem Traum, mehr zu erreichen, indem man Dinge eben einfach anders macht, infiziert.
Der Aufbruch in den Weltraum und der Flug zum Mond waren Massenereignisse aller Weltbürger. Herztransplantationen, Autos als Zeichen von Lebensfreude, Telefon, Fernsehübertragungen durch Fernsehsatelliten, Video- und Telekonferenzen usw. Zudem schmolz die Welt damals zusammen. Es gab eine globale Aufbruchstimmung mit dem gemeinsamen Traum einer besseren Zukunft durch Gleichheit und technischen Fortschritt. Das bewegte die Menschen bis in die Mitte der 1980er-Jahre.
Seitdem sind wir ängstlicher um unsere Zukunft geworden. Ich wage eine Erklärung: Wir sind alt und satt. »Besitzstandswahrung« (welch ein gestelztes Wort, das es nur im Deutschen gibt) hat um sich gegriffen. Um Gottes willen, bitte keine Veränderungen! Alles soll so bleiben, wie es ist. Wir träumen nicht mehr von einer besseren Zukunft, sondern ergötzen uns an unserer angeblich großartigen Vergangenheit und identifizieren uns mit ihr. Deutschland, das Land von Bach, Bier und Beethoven. Museen schießen in Deutschland wie Pilze aus dem Boden. Ihre Zahl hat sich seit den 1980er-Jahren auf etwa 6000 verdoppelt. Unser wohlgemeinter Humanismus, basierend auf alten griechischen Wertvorstellungen, lässt uns nur noch zurückschauen und nicht nach vorn.
Hermann Oberth (1894–1989), der Vater der deutschen Raumfahrt, drückte es einmal so aus: »Meine humanistische Ausbildung erinnert mich an einen Autofahrer, der nach vorn nur ganz schwache Lichter hat, der dafür aber den Weg hinter sich mit Schweinwerfern taghell beleuchtet.« Unterricht in Physik und Biologie (Unterricht in Technik und Handwerk findet sowieso nicht statt, weil seit den Griechen vom Humanismus geächtet) wird geopfert für Latein. Latein! Wer zum Teufel braucht heute noch Latein?
Wir, und insbesondere unsere Jugend, sollten uns um unsere Zukunft sorgen, denn wir werden den Rest unseres Lebens darin verbringen. Und »Die Antworten zu unseren Problemen kommen aus der Zukunft und nicht von gestern«, so Frederic Vester (1925–2003), Biochemiker und Mitglied des Club of Rome.
Wir können unsere Welt verbessern. Die entscheidenden Mittel dazu waren und sind Wissenschaft und Technik. Der Wohlstand unserer heutigen Gesellschaft basiert ganz entscheidend auf dem Fortschritt von Wissenschaft und Technik. Wie sähe unser Leben aus ohne Handys, Flugzeuge, Fernsehsatelliten, Autos … you name it? Der Traum von einer besseren Zukunft ist der Traum, die heutigen Grenzen zu überschreiten und bessere Verhältnisse zu schaffen, indem wir Dinge wieder anders tun.
»Fortschritt ist nur möglich, wenn man intelligent gegen die Regeln verstößt« (Boleslaw Barlog, 1906–1999, Regisseur und Intendant). Aber in unserer gänzlich verregelten Welt, wer erlaubt sich da noch, intelligent (und dies ist der zentrale Punkt) gegen Regeln zu verstoßen? Gerade wir Deutschen! Andere Nationen können nur über uns schmunzeln, wenn wir sonntagnachts eine leer gefegte Straße überqueren wollen und geduldig warten, bis die Fußgängerampel nach Minuten auf Grün schaltet.
In diesem Buch geht es darum, in Ihnen wieder die Freude zu erwecken, hinter die Dinge zu sehen, sie verstehen zu wollen – und damit vielleicht anders zu machen, für eine bessere Zukunft.
Ich habe versucht, die Erklärungen so einfach wie möglich zu halten. Es gibt da aber eine untere Grenze der Einfachheit. Einstein hat dies in seinem unnachahmlichen Humor einmal so formuliert: »Eine Theorie sollte so einfach wie möglich sein, jedoch nicht einfacher.«
Wer verstehen will, muss neugierig sein und träumen können. Das sind im Wesentlichen die Triebfedern für den Fortschritt unserer Zivilisation. Lassen Sie uns wieder neugierig sein und träumen!
»Wenn ich weiter gesehen habe als andere, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Giganten stand.«
Isaac Newton (1643–1727)
Englischer Physiker, Astronom und Mathematiker
Der Mythos der Halbwertszeit unseres Wissens durchzieht unsere Gesellschaft. Was heute gilt, kann morgen schon falsch sein. Je mehr Erkenntnisse, desto schneller verlieren sie ihre Gültigkeit.
Weniger die Wissenschaftler selbst als vielmehr die Geisteswissenschaftler proklamieren diesen Verfall des Wissens.
So hieß es im Feuilleton der Wochenzeitung Die Zeit im August 2001: »Angesichts der rapide sinkenden Halbwertszeit des Wissens in einer sich immer rascher transformierenden Welt steht jeder Großentwurf [philosophischer Theorien] vor der Notwendigkeit und zugleich Unmöglichkeit, sein morgiges Schicksal als intellektuelle Mode von gestern ins eigene Theoriedesign einzubauen.«
Hier werden modische Schlagworte ungeprüft auf Sinn und Bedeutung durch den Fleischwolf gedreht und zur gefälligen Bratwurst verarbeitet. Das Ganze mit einem Anstrich von intellektuellem Ketchup. Unsere Welt ändert sich rasend, warum nicht auch unser Wissen? Klingt logisch, also wird es auch wahr sein.
Ein gravierender Irrtum! Wissenschaftliche Erkenntnisse vergehen nicht und werden nicht alle paar Jahre über den Haufen geworfen. Sie sind – von gelegentlichen Irrtümern einmal abgesehen – gewissermaßen ewige Wahrheiten, grundlegende Erkenntnisse über unsere Welt. Newtons Gravitationstheorie ist selbst in den modernen Zeiten der Relativitätstheorie noch gültig und wird es für immer bleiben. Auch das Periodensystem der Elemente hat seit Jahrhunderten nicht im Geringsten an seiner breiten Gültigkeit verloren, und mathematische Beweise gelten seit Pythagoras (570–510 v. Chr.) und Platon (428–348 v. Chr.) als Spiegel ewiger metaphysischer Wahrheiten.
Richtig ist, dass sich die Menge wissenschaftlicher Erkenntnis etwa alle fünf bis zehn Jahre verdoppelt. Aber das hinzugewonnene Wissen stellt gesichertes Wissen nicht infrage, sondern weitet es auf Grenzgebiete aus, die bisher nicht betrachtet wurden. Dabei ergeben sich oft übergeordnete Theorien, die die alte Theorie miteinschließen. So schließt die Allgemeine Relativitätstheorie die Newtonsche Theorie im klassischen Grenzfall ein, und bereits heute wissen wir, dass es eine Quantengravitationstheorie geben muss, die die Allgemeine Relativitätstheorie übersteigt und diese wiederum als Grenzfall des Makrokosmos einschließt. Erst dann werden wir verstehen, warum es Überlichtgeschwindigkeit im Mikrokosmos (quantenmechanischer Tunneleffekt) geben kann, wo sie doch in der Speziellen Relativitätstheorie kategorisch ausgeschlossen wird.
Bei genauer Betrachtung entpuppt sich also gestriges Wissen als solides Fundament, auf dem erweiterte Theorien der Moderne erst aufbauen können. Nicht Verfall, sondern ewige Wahrheit ist das Kennzeichen wissenschaftlichen Wissens, und genau darin setzt es sich von den Fluten nichtwissenschaftlicher Erkenntnisse ab. In diesem Sinne ist wissenschaftlicher Fortschritt eine kulturelle Errungenschaft der Menschheit ersten Grades.
Die Gewissheit wissenschaftlicher Erkenntnis ist jedoch relativ jung. Erst seit dem großen Wissenschaftsphilosophen Karl Popper (1902–1994) wissen wir, was eine gute wissenschaftliche Theorie ausmacht: Sie macht falsifizierbare Aussagen über unsere Welt, die jeglicher experimentellen Nachprüfung standhalten. »Falsifizierbar« bedeutet Nachprüfbarkeit einer wissenschaftlichen Theorie und, dass dies nicht durch eine verordnete Doktrin verhindert wird, woran viele Theorien bereits scheitern. Was sich wie selbstverständlich anhört, wurde leider in der Vergangenheit oft missachtet. Die antike Doktrin, die bis in die Neuzeit galt, lautete: Alles, was Platon und Aristoteles (384–322 v. Chr.) behaupten, ist unantastbare Erkenntnis. Daraus resultierte leider viel Erkenntnismüll (man kann es aus dem heutigen Rückblick leider kaum anders formulieren), der bis ins 19. Jahrhundert, teilweise sogar bis heute anhält. Galilei (1564–1642) war in diesem Sinne der erste gute Wissenschaftler, der seine neuen Ideen mit Experimenten falsifizierte und damit viel Erfolg hatte.
Aber der Mythos liegt natürlich voll im Trend: Das, was gestern war, ist überholt, heute wissen wir es besser. Und morgen? Dann sind logischerweise die heutigen Besserwisser überholt und dann gilt wieder was ganz Neues. Hier ein Beispiel, gefunden in der Zeitschrift Welt der Wunder:
»Albert Einstein hätte der Crew der Enterprise den Vogel gezeigt: ›Leute vergesst es!‹ Nach seiner Speziellen Relativitätstheorie ist Überlichtgeschwindigkeit nicht möglich. Jetzt sagt die Forschung: Ist es doch. Mit Schlupflöchern im Universum könnten gigantische Entfernungen zurückgelegt werden. Der Warp-Drive kommt auf Umwegen.«
Der Vorwurf logisch aufgedröselt lautet: »Die moderne Wissenschaft kennt Wurmlöcher. Dies sind Schlupflöcher im Universum, die es erlauben, gigantische Entfernungen in Überlichtgeschwindigkeit zurückzulegen. Dies widerspricht der Speziellen Relativitätstheorie Einsteins. Also, Einstein ade.«
Wo liegt der Fehler? Nun, Wurmlöcher leiten sich aus der Allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins ab und sind besonders gekrümmte Bereiche unseres Universums. Das Verbot der Überlichtgeschwindigkeit hingegen folgt aus Einsteins Spezieller Relativitätstheorie und dem Kausalitätsgesetz in unserem Universum (Hawkings chronology protection conjecture): Erst kommt die Ursache und dann ihre Wirkung und nicht umgekehrt. Diese beiden Aussagen sind zueinander widerspruchsfrei. Das Problem liegt also nicht in Einsteins Relativitätstheorien selbst, sondern in ihrer falschen Verquickung miteinander durch die Medien. Die falsche Aussage lautet: »Wurmlöcher = Schlupflöcher ermöglichen Überlichtgeschwindigkeit«.
Aber genau das können Wurmlöcher nicht. Denn Wurmlöcher sind zwar krumm, aber nicht besonders schnell. Wurmlöcher – sollte es sie wirklich geben, was noch nicht nachgewiesen ist – sind Abkürzungen durch räumliche Tunnel im Weltraum (alles Wichtige über Wurmlöcher findet man im Kapitel Wurmlöcher für Anfänger meines Buches Im Schwarzen Loch ist der Teufel los). Ein Vergleich: Statt über die sich scheinbar ewig ziehende Straße über den Gotthard-Pass nach Italien zu fahren, nehme ich lieber den Tunnel und komme bei gleicher Fahrtgeschwindigkeit hinten am selben Punkt schneller raus. Warum schneller? Weil ich bei gleicher Geschwindigkeit eine kürzere Strecke fahre.
Auch die Spezielle Relativitätstheorie verlangt, dass, egal wo man langfährt, man nicht schneller als das Licht vorwärtskommt. Und genau das ist der Punkt: Wurmlöcher ermöglichen keine Überlichtgeschwindigkeiten, sondern nur räumliche Abkürzungen. Übrigens, wie groß die Lichtgeschwindigkeit ist, darüber besagt die Spezielle Relativitätstheorie nichts. Lediglich die Quantentheorie besagt, sie sei eine Folge der virtuellen Teilchen im Quantenvakuum. (Zu kompliziert? Lesen Sie dazu meine Erklärung im Kapitel Was ist Dunkle Energie? in meinem Buch Im Schwarzen Loch ist der Teufel los.) Es wäre denkbar, dass sich die Dichte der virtuellen Teilchen in unserem Universum lokal ändert. Damit würde sich die Lichtgeschwindigkeit von Ort zu Ort ändern: Bei uns 300.000 km/s, woanders 100.000 km/s und irgendwo weit draußen vielleicht sogar 1.000.000 km/s. Durchaus möglich und bei einem Nachweis sogar nobelpreisverdächtig. Einstein sagt lediglich, dass nichts schneller geht als diese lokale Lichtgeschwindigkeit. Hätten wir eine Quantengravitationstheorie, dann könnten wir vermutlich die lokale Größe der Lichtgeschwindigkeit sogar berechnen. Genauso nobelpreisverdächtig.
Wir sehen, bewährte Theorien werden nicht durch neue über den Haufen geworfen, sondern die neuen, wenn sie denn wirklich wahr sind, ergänzen lediglich das bereits Bekannte. So war es, und so wird es immer bleiben. Und das macht Wissenschaft – wenn man sorgsam mit ihr umgeht – gestern, heute und auch morgen zu dem, was ich an ihr so liebe: Sie ist verlässlich.