Anmerkung des Autors
ERSTER TEIL
...Eins
...Zwei
...Drei
...Vier
...Fünf
...Sechs
...Sieben
...Acht
ZWEITER TEIL
...Neun
...Zehn
...Elf
...Zwölf
...Dreizehn
...Vierzehn
...Fünfzehn
...Sechzehn
...Siebzehn
...Achtzehn
...Neunzehn
...Zwanzig
...Einundzwanzig
...Zweiundzwanzig
DRITTER TEIL
...Dreiundzwanzig
...Vierundzwanzig
...Fünfundzwanzig
...Sechsundzwanzig
...Siebenundzwanzig
...Achtundzwanzig
...Neunundzwanzig
VIERTER TEIL
...Dreißig
...Einunddreißig
...Zweiunddreißig
...Dreiunddreißig
...Vierunddreißig
...Fünfunddreißig
...Sechsunddreißig
...Siebenunddreißig
...Achtunddreißig
...Neununddreißig
...Vierzig
FüNFTER TEIL
...Einundvierzig
...Zweiundvierzig
...Dreiundvierzig
...Vierundvierzig
...Fünfundvierzig
...Sechsundvierzig
...Siebenundvierzig
...Achtundvierzig
...Neunundvierzig
...Fünfzig
Danksagung
Über das Buch
Über den Autor
Copyright
Für den folgenden Roman sind gewisse Aspekte der chinesischen Kultur von Bedeutung, die nicht jedem Leser geläufig sein dürften. Daher erlaube ich mir, an dieser Stelle einige Erläuterungen einzufügen.
GEOGRAPHIE. Die meisten Chinesen, die als illegale Einwanderer in die Vereinigten Staaten gelangen, kommen aus der südöstlichen Küstenregion ihrer Heimat, und zwar überwiegend aus zwei Provinzen: Guangdong, gelegen im äußersten Süden bei Hongkong, und Fujian, unmittelbar nördlich davon. Die Hauptstadt Fujians ist das große Seefahrtzentrum Fuzhou, dessen Hafen vermutlich der Mehrzahl der unerlaubten Immigranten als Ausgangspunkt ihrer Reisen in andere Länder dient.
SPRACHE. Die Schriftform des Chinesischen ist überall im Land gleich, doch gesprochen zeigen sich von Region zu Region beträchtliche Unterschiede. Im Süden herrscht der kantonesische Dialekt vor, in Fujian und Taiwan das Minnanhua und in Peking sowie im gesamten Norden das Mandarin oder Putonghua. Die wenigen chinesischen Begriffe, die ich in diesem Buch verwende, entstammen dem Putonghua, der Amtssprache Chinas.
NAMEN. Im Gegensatz zu amerikanischen oder europäischen Gepflogenheiten werden chinesische Namen in umgekehrter Reihenfolge genannt. Heißt jemand beispielsweise Li Kangmei, so ist Li der Familienname und Kangmei der Vorname. Manche Bürger aus den städtischen Regionen des Landes sowie Chinesen, die sich den Vereinigten Staaten oder anderen westlichen Kulturen eng verbunden fühlen, nehmen mitunter einen westlichen Rufnamen an, den sie dann zusätzlich zu oder anstelle ihres chinesischen Vornamens benutzen. In einem solchen Fall steht der anglisierte Name vor dem Familiennamen (zum Beispiel Jerry Tang).
J. D.
Dienstag,
von der Stunde des Tigers, 4.30 Uhr,
bis zur Stunde des Drachen, 8.00 Uhr.
Das Wort Wei-Chi besteht aus zwei chinesischen Begriffen – Wei, was »einkreisen« bedeutet, und Chi, das sich mit »Spielfigur«übersetzen lässt. Da das Spiel einen symbolischen Überlebenskampf darstellt, kann man es auch das »Kriegsspiel« nennen.
Danielle Pecorini und Tong Shu,
The Game of Wei-Chi
Sie waren die Verschwundenen, die vom Unglück Verfolgten.
Für die Menschenschmuggler – die »Schlangenköpfe« -, die sie wie Paletten verdorbener Ware um die halbe Welt beförderten, waren sie ju-jia: Ferkel.
Für die Beamten der amerikanischen Einwanderungsbehörde, die ihre Schiffe aufbrachten, sie verhafteten und abschoben, waren sie Illegale.
Sie waren die Hoffnungsvollen, die Heimat, Familie und eine tausendjährige Ahnenreihe gegen die illusionslose Gewissheit eintauschten, dass ihnen gefährliche und arbeitsreiche Jahre bevorstanden.
Die nur eine winzige Chance hatten, in einem Land sesshaft zu werden, das ihren Familien Wohlstand versprach, weil dort, so hieß es, Freiheit, Geld und Zufriedenheit so alltäglich wie Sonnenschein und Regen seien.
Sie waren seine kostbare Fracht.
Und nun musste Kapitän Sen Zi-jun, die Beine gegen die tosenden, fünf Meter hohen Wogen fest auf den Boden gestemmt, sich von der Brücke zwei Decks nach unten in den düsteren Laderaum vorkämpfen, um ihnen die schlimme Nachricht zu überbringen, dass die wochenlange beschwerliche Reise womöglich ganz umsonst gewesen war.
Es war kurz vor Tagesanbruch an einem Dienstag im August. Der stämmige Seemann, der seinen Kopf kahl geschoren hatte und stolz einen kunstvoll gezwirbelten, buschigen Schnurrbart zur Schau trug, schob sich an den leeren Containern vorbei, die zur Tarnung auf dem Deck der zweiundsiebzig Meter langen Fuzhou Dragon verzurrt waren, und öffnete die schwere Stahlluke zum Frachtraum. In dem spartanischen, fensterlosen Raum kauerten zwei Dutzend Menschen. Unter den billigen Feldbetten trieben Abfälle und Kinderbauklötze aus Plastik im flachen Bilgenwasser.
Trotz des starken Seegangs stieg Kapitän Sen, der dreißig Jahre Erfahrung auf den Weltmeeren besaß, die steile Metalltreppe hinunter, ohne die Handläufe zu benutzen, und trat in die Mitte des Laderaums. Ein Blick auf die Kohlendioxidanzeige verriet keine besorgniserregende Konzentration, obwohl die Luft nach Dieselkraftstoff und nach Menschen stank, die zwei Wochen auf engstem Raum ausgeharrt hatten.
Im Gegensatz zu den Kapitänen und Mannschaften vieler anderer »Eimer« – wie die Schlepperschiffe im Allgemeinen genannt wurden -, die ihre Passagiere bestenfalls ignorierten, sie manchmal jedoch sogar schlugen oder vergewaltigten, fügte Sen den Leuten keinen Schaden zu, sondern war fest davon überzeugt, ein gutes Werk zu tun: Er half diesen Familien aus einer schwierigen Lage, an deren Ende zwar kein sicherer Reichtum, aber immerhin die Aussicht auf ein glückliches Leben in Amerika stand, das auf Chinesisch Mei Guo hieß: »Schönes Land«.
Auf dieser Überfahrt allerdings schienen die meisten der Emigranten ihm nicht zu trauen. Das war verständlich, denn sie nahmen an, er mache gemeinsame Sache mit dem Schlangenkopf, der die Dragon gechartert hatte: Kwan Ang, eher bekannt unter seinem Spitznamen Gui, der Geist. Da Kwan als überaus gewalttätig galt, hatten die Passagiere fast jedes Gesprächsangebot des Kapitäns ausgeschlagen. Nur mit einem der Männer hatte Sen sich ein wenig anfreunden können. Chang Jingerzi – der den westlichen Namen Sam Chang vorzog – war fünfundvierzig Jahre alt und hatte früher als Universitätsprofessor in einem Vorort der großen südostchinesischen Hafenstadt Fuzhou gelebt. Er nahm seine gesamte Familie nach Amerika mit: seine Frau, zwei Söhne und seinen verwitweten Vater.
Unterwegs hatten Chang und Sen ein halbes Dutzend Mal im Frachtraum gesessen, den starken mao-tai getrunken, den der Kapitän stets in ausreichender Menge an Bord mitführte, und sich über das Leben in China und den Vereinigten Staaten unterhalten.
Sen entdeckte Chang auf einer Pritsche in der vorderen Ecke des Laderaums. Der hoch gewachsene, gelassene Mann runzelte die Stirn, als er den Kapitän sah. Er reichte seinem halbwüchsigen Sohn das Buch, aus dem er den anderen vorgelesen hatte, und stand auf.
Alle Anwesenden verstummten.
»Unser Radar zeigt ein schnelles Schiff auf Abfangkurs.«
Bestürzung machte sich breit.
»Die Amerikaner?«, fragte Chang. »Die Küstenwache?«
»So muss es wohl sein«, antwortete der Kapitän. »Wir befinden uns in amerikanischen Hoheitsgewässern.«
Er ließ den Blick über die verängstigten Gesichter der Emigranten schweifen. Wie bei nahezu jeder Ladung Illegaler, die Sen transportiert hatte, waren auch diese ehemals Fremden innerhalb kurzer Zeit zu Freunden geworden. Nun fassten sie einander bei den Händen oder raunten sich leise etwas zu, manche verunsichert, andere beruhigend. Die Augen des Kapitäns richteten sich auf eine Frau, die ihre anderthalbjährige Tochter im Arm hielt. Die Mutter, deren Gesicht von den Schlägen in einem Umerziehungslager gezeichnet war, senkte den Kopf und brach in Tränen aus.
»Was können wir tun?«, fragte Chang besorgt.
Kapitän Sen wusste, dass der Professor offene Kritik am chinesischen Regime geäußert hatte und daraufhin fliehen musste. Falls die amerikanische Einwanderungsbehörde ihn zurück in die Heimat schickte, würde er wahrscheinlich als politischer Gefangener in einem der berüchtigten Gefängnisse im Westen Chinas landen.
»Es ist nicht mehr weit bis zum Absetzpunkt, und wir sind mit voller Kraft unterwegs. Mit etwas Glück kommen wir nahe genug an die Küste heran, um Sie mit Schlauchbooten übersetzen zu können.«
»Nein, nein«, wandte Chang ein. »Bei diesen Wellen? Wir würden alle sterben!«
»Ich steuere einen natürlichen Hafen an. Dort dürfte es ruhig genug sein, dass Sie auf die Boote umsteigen können. Am Ufer warten bereits Lastwagen, um Sie nach New York zu bringen.«
»Und was ist mit Ihnen?«, fragte Chang.
»Ich fahre wieder hinaus in den Sturm. Bis die Beamten gefahrlos an Bord kommen können, befinden Sie sich längst auf den goldenen Pfaden, die direkt in die Stadt der Diamanten führen ... Und jetzt sollten alle ihre Sachen zusammenpacken. Nehmen Sie nur das Notwendigste mit, das Geld, die Fotos. Alles andere lassen Sie zurück, denn Sie müssen so schnell wie möglich an Land gelangen. Bleiben Sie unter Deck, bis entweder der Geist oder ich Sie nach oben rufen.«
Kapitän Sen eilte die steile Treppe wieder hinauf und richtete ein Stoßgebet an Tian Hou, die Göttin der Seeleute, sie möge ihrer aller Leben beschützen. Dann wich er der grauen Wasserwand aus, die neben dem Schiff aufragte.
Als er die Brücke erreichte, stand dort der Geist vor dem Radarschirm und starrte auf die schimmernde Anzeige. Der Mann verharrte völlig reglos und hielt sich mit beiden Händen fest, um auf dem schlingernden Schiff nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Manche der Schlangenköpfe kleideten sich wie die reichen kantonesischen Gangster aus einem Film von John Woo, doch der Geist sah stets wie ein ganz gewöhnlicher Chinese aus, mit schlichter Stoffhose und einem kurzärmeligen Hemd. Er war muskulös, ziemlich klein, glatt rasiert, trug das Haar etwas länger als ein typischer Geschäftsmann, benutzte aber weder Gel noch Spray.
»In fünfzehn Minuten haben sie uns erreicht«, sagte der Schlangenkopf. Sogar jetzt, angesichts einer drohenden Enterung und Festnahme, wirkte er so lethargisch wie der Fahrkartenverkäufer eines ländlichen Busbahnhofs.
»Fünfzehn?«, entgegnete der Kapitän. »Unmöglich. Mit wie vielen Knoten sind die denn unterwegs?«
Sen ging zum Kartentisch, dem Kernstück aller hochseetüchtigen Schiffe. Darauf ausgebreitet lag eine Seekarte des Gebiets, hergestellt von der amerikanischen Defense Mapping Agency. Zur Ermittlung der relativen Position beider Schiffe standen ihm nur diese Karte und das Radar zur Verfügung, denn um nicht angepeilt werden zu können, hatten sie die Satellitennavigation der Dragon, das EPIRB-Funkfeuer und das Global Maritime Distress and Safety System abgeschaltet.
»Ich schätze, es wird noch mindestens vierzig Minuten dauern«, sagte der Kapitän.
»Nein, ich habe genau verfolgt, welche Strecke sie seit der ersten Sichtung zurückgelegt haben.«
Kapitän Sen sah kurz zu dem Matrosen am Ruder der Fuzhou Dragon, der sich schwitzend abmühte, die mit einem Stück Schnur markierte Speiche des Rads immer genau senkrecht zu halten, was bedeutete, dass das Steuer exakt parallel zum Rumpf ausgerichtet war. Die Gashebel standen auf volle Kraft voraus. Falls der Geist mit seiner Einschätzung Recht behielt, blieb ihnen nicht mehr genug Zeit, den geschützten Hafen zu erreichen. Sie würden sich der felsigen Küste allenfalls bis auf einen knappen Kilometer nähern können – was dicht genug war, um die Schlauchboote zu Wasser zu lassen, die dann jedoch der erbarmungslosen See ausgesetzt wären.
»Womit werden die Amerikaner bewaffnet sein?«, fragte der Geist.
»Wissen Sie das denn nicht?«
»Man hat mich noch nie abgefangen«, erwiderte der Geist. »Reden Sie schon.«
Bisher hatte Sen es zweimal erlebt, dass Schiffe unter seinem Kommando angehalten und geentert wurden – zum Glück auf völlig legalen Reisen und nicht während seiner Emigrantentransporte für die Schlangenköpfe. Doch die Erfahrung war trotzdem alles andere als angenehm gewesen. Ein Dutzend bewaffnete Beamten der Küstenwache hatten sich an Bord verteilt, derweil Sen und die Mannschaft von Deck des anderen Boots aus mit einem zweiläufigen Maschinengewehr in Schach gehalten worden waren. Außerdem hatte es dort ein kleines Geschütz gegeben.
Er verriet dem Geist, womit sie rechnen mussten.
Der Mann nickte. »Wir sollten die verschiedenen Alternativen überdenken.«
»Was für Alternativen?«, fragte der Kapitän. »Sie denken doch nicht etwa daran, einen Kampf zu riskieren, oder? Nein, das werde ich nicht zulassen.«
Aber der Schlangenkopf reagierte nicht. Er blieb am Radar stehen und starrte auf den Schirm.
Der Mann wirkte absolut ruhig, wenngleich der Kapitän vermutete, dass er innerlich vor Wut kochte. Keiner der Schlangenköpfe, mit denen Sen bislang zusammengearbeitet hatte, hatte so viele Vorkehrungen getroffen, um eine mögliche Entdeckung und Gefangennahme zu vermeiden, wie der Geist auf dieser Fahrt. Die zwei Dutzend Emigranten hatten sich in einem leeren Lagerhaus am Rande Fuzhous einfinden und dort zwei Tage unter der Aufsicht eines Handlangers des Geists – eines »kleinen Schlangenkopfs« – ausharren müssen. Dann hatte der Mann die Chinesen in eine gecharterte Tupolev 154 verfrachtet, die zu einem verlassenen Militärflugplatz in der Nähe des russischen Sankt Petersburg geflogen war. Dort mussten die Leute in einen Schiffscontainer umsteigen, wurden 120 Kilometer nach Wyborg gefahren und an Bord der Fuzhou Dragon gebracht, die erst tags zuvor in den russischen Hafen eingelaufen war. Die Zolldokumente und das Ladungsverzeichnis hatte Sen höchstpersönlich und peinlich genau ausgefüllt – alles streng nach Vorschrift, um keinen Verdacht zu erregen. Der Geist war erst in letzter Minute zu ihnen gestoßen, und das Schiff hatte planmäßig abgelegt. Nach Ostsee, Nordsee und dem englischen Kanal hatte die Dragon dann in der Keltischen See bei 49° nördlicher Breite und 7° westlicher Länge den Ausgangspunkt der berühmten Transatlantikrouten erreicht und südwestlichen Kurs nach Long Island, New York, eingeschlagen.
Genau genommen hätte nichts an dieser Fahrt das Misstrauen der amerikanischen Behörden wecken dürfen. »Wie hat die Küstenwache das angestellt?«, fragte der Kapitän.
»Was denn?«, entgegnete der Geist zerstreut.
»Uns gefunden. Wie haben sie das geschafft? Es ist völlig unmöglich.«
Der Geist richtete sich auf und trat hinaus in den tobenden Sturm. »Wer weiß?«, rief er über die Schulter zurück. »Vielleicht war es Zauberei.«
»Wir sind ihnen dicht auf den Fersen, Lincoln. Das Boot hält auf die Küste zu, aber wird es sie auch erreichen? O nein, Sir, auf gar keinen Fall. Moment, müsste ich es nicht eigentlich ein ›Schiff‹ nennen? Doch, müsste ich. Es ist zu groß für ein Boot.«
»Keine Ahnung«, sagte Lincoln Rhyme geistesabwesend zu Fred Dellray. »Ich bin weiß Gott nicht oft auf dem Wasser unterwegs.«
Bei der Jagd auf den Geist fungierte der hoch aufgeschossene, schlaksige FBI-Agent Dellray als leitender Vertreter der Bundesbehörden. Weder sein kanariengelbes Hemd noch der schwarze Anzug, dessen Farbe der schimmernden Haut des Mannes entsprach, waren in letzter Zeit gebügelt worden – allerdings sah keiner der Anwesenden besonders ausgeruht aus. Das halbe Dutzend Leute, das sich um Rhyme drängte, hatte während der letzten vierundzwanzig Stunden praktisch in dieser außergewöhnlichen Kommandostelle kampiert – dem Wohnzimmer von Rhymes Haus am Central Park West, das einst ein viktorianischer Salon gewesen war, inzwischen jedoch eher einem forensischen Labor ähnelte, zum Bersten vollgestopft mit Tischen, technischen Geräten, Computern, Chemikalien, Leitungen und Hunderten von Fachbüchern und -zeitschriften.
Dem Team gehörten sowohl Bundesbeamte als auch Angehörige der lokalen Dienststellen an. Zu Letzteren zählte Lieutenant Lon Sellitto vom Morddezernat der New Yorker Polizei, der noch zerknitterter als Dellray und zudem wesentlich stämmiger war. (Er war erst kürzlich zu seiner Freundin nach Brooklyn gezogen – einer begnadeten Köchin, wie der Cop mit wehmütigem Stolz verkündete.) Begleitet wurde er von Eddie Deng, einem jungen sino-amerikanischen Detective aus dem Fünften Revier des New York Police Department, zu dessen Bezirk auch Chinatown gehörte. Deng war von athletischer Statur und auffallend elegant, einschließlich einer Armani-Brille und einer schwarzen Igelfrisur. Man hatte ihn Sellitto vorübergehend als Mitarbeiter zugewiesen; Roland Bell, der eigentliche Partner des massigen Lieutenants, war vor einer Woche mit seinen beiden Söhnen zu einem Familientreffen ins heimatliche North Carolina gefahren. Wie es der Zufall wollte, hatte er sich dort mit einer ortsansässigen Polizistin namens Lucy Kerr angefreundet und seinen Urlaub daraufhin um ein paar Tage verlängert.
Zu den Bundesvertretern der Gruppe gehörte der Mittfünfziger Harold Peabody, ein mittlerer Beamter von birnenförmiger Gestalt und wachem Verstand, der in der New Yorker Zweigstelle des Immigration and Naturalization Service eine leitende Funktion innehatte. Wie alle Bürokraten, die sich dem Pensionsalter nähern, erzählte Peabody kaum etwas von sich, aber seine weitreichenden Kenntnisse über alle denkbaren Einwanderungsfragen zeugten von einer langjährigen und erfolgreichen Arbeit im Dienst der Behörde.
Im Zuge der aktuellen Ermittlungen war er mehrfach mit Dellray aneinander geraten. Nach dem Zwischenfall mit der Golden Venture – bei dem zehn illegale Einwanderer ertranken, als das Schlepperschiff dieses Namens vor Brooklyn auf Grund lief – hatte der Präsident der Vereinigten Staaten angeordnet, dass für größere Fälle von Menschenschmuggel ab sofort nicht mehr der INS, sondern das FBI zuständig sein würde, unterstützt durch die CIA. Die Einwanderungsbehörde kannte sich auf dem Gebiet der Schlangenköpfe und ihrer Schlepperaktivitäten sehr viel besser aus als das FBI und war nicht im Geringsten erfreut darüber, die Zuständigkeit an andere Behörden abzutreten – vor allem nicht an eine, die darauf bestand, Schulter an Schulter mit dem NYPD und, nun ja, alternativen Beratern wie Lincoln Rhyme zusammenzuarbeiten.
Als Assistenten hatte Peabody einen jungen INS-Beamten namens Alan Coe mitgebracht, einen Mann Anfang dreißig mit kurz geschorenem, dunkelrotem Haar. Auch Coe gab sich verschlossen, war einerseits tatkräftig, andererseits aber mürrisch und launenhaft. Zu seinem Privatleben äußerte er sich überhaupt nicht, zu seinem Werdegang – abgesehen von dem vorliegenden Fall – nur einsilbig. Rhyme hatte bemerkt, dass Coe Anzüge von der Stange – sie waren zwar halbwegs modisch, aber mit deutlichen Nähten gearbeitet – und staubige schwarze Schuhe mit dicken Gummisohlen trug, als wäre er ein Kaufhausdetektiv, der ständig Ladendieben hinterherhetzen musste. Coe wurde nur dann gesprächig, wenn er zu einem seiner spontanen – und langweiligen – Vorträge über das Übel der illegalen Einwanderung ansetzte. Wie dem auch sei, er arbeitete unermüdlich und war eifrig darauf bedacht, dem Geist das Handwerk zu legen.
Darüber hinaus waren im Verlauf der letzten Woche noch diverse andere Untergebene beider Parteien ein und aus gegangen, um die unterschiedlichsten Botengänge zu erledigen.
Ich komme mir vor wie in der verfluchten Grand Central Station, hatte Lincoln Rhyme in den vergangenen Tagen immer wieder gedacht – und gelegentlich auch laut ausgesprochen.
Jetzt, um Viertel vor fünf an diesem stürmischen Morgen, fuhr er mit seinem batteriebetriebenen Rollstuhl, Modell Storm Arrow, durch den voll gestopften Raum zu der Wandtafel, auf der sie den aktuellen Status des Falls festhielten. Gegenwärtig hing dort eines der wenigen existierenden Fotos des Geists, aufgenommen bei einer Überwachungsaktion und von sehr schlechter Qualität, ein Bild von Sen Zi-jun, dem Kapitän der Fuzhou Dragon, und eine Karte des östlichen Long Island sowie der umliegenden Gewässer.
Vor einigen Jahren hatte Rhyme bei der Untersuchung eines Tatorts einen Unfall erlitten, durch den sein vierter Halswirbel verletzt worden war. Infolge der daraus resultierenden Querschnittslähmung hatte er sich zunächst vollständig von allen Aktivitäten zurückgezogen und sein Bett nicht mehr verlassen. Mittlerweile verbrachte er die Hälfte des Tages in seinem kirschroten Storm Arrow, der sich seit neuestem über ein hochmodernes MKIV-Touchpad lenken ließ, das Lincolns Betreuer Thom im Sortiment von Invacare entdeckt hatte. Rhyme bediente es mit seinem einen noch funktionsfähigen Finger und erhielt dadurch bei der Steuerung des Rollstuhls eine weitaus größere Flexibilität als mit dem alten Strohhalmsystem.
»Wie weit noch bis zur Küste?«, rief er, ohne den Blick von der Karte abzuwenden.
Lon Sellitto, der am Telefon saß, hob den Kopf. »Ich werde mal nachfragen.«
Rhyme arbeitete häufig als Berater für das NYPD, aber meistens ging es dabei um klassische forensische Spurenauswertung – um Kriminalistik, wie es im Jargon der Strafverfolgungsbehörden heutzutage bevorzugt hieß. Dieser neue Auftrag war ungewöhnlich. Vor vier Tagen hatten Sellitto, Dellray, Peabody und der wortkarge Alan Coe ihn in seinem Haus aufgesucht. Rhyme war mit den Gedanken anfangs nicht ganz bei der Sache gewesen – ihn beschäftigte zurzeit vor allem eine nahe bevorstehende Operation -, aber Dellrays eindringliche Bitte hatte schließlich seine Neugier geweckt: »Sie sind unsere letzte Hoffnung, Linc. Wir stecken in großen Schwierigkeiten und haben nicht die leiseste Ahnung, an wen wir uns sonst wenden könnten.«
»Fahren Sie fort.«
Interpol – die Zentralstelle zur internationalen Koordination der Ermittlungsarbeit in der Verbrechensbekämpfung – hatte eines ihrer berüchtigten Roten Bulletins in Umlauf gebracht. Es ging um den Geist. Nach Aussage mehrerer Informanten war der weltweit gesuchte Schlangenkopf im chinesischen Fuzhou aufgetaucht, von dort erst nach Südfrankreich und dann weiter in irgendeine russische Hafenstadt geflogen, um eine Schiffsladung illegaler chinesischer Auswanderer zu übernehmen, zu denen auch der bangshou, der Assistent des Geists zählte – ein Spion, der sich als einer der Emigranten ausgab. Als Zielort vermutete man New York, aber dann war der Mann von der Bildfläche verschwunden, und weder die taiwanesische noch die französische oder russische Polizei konnten ihn aufspüren, desgleichen FBI und INS.
Das einzige Material, das ihnen zur Verfügung stand, hatte Dellray gleich mitgebracht – einen Aktenkoffer mit ein paar persönlichen Habseligkeiten des Geists, die man in seinem französischen Unterschlupf sichergestellt hatte. Der FBI-Agent hoffte, Rhyme würde daraus vielleicht ablesen können, wohin die Spur des Mannes führte.
»Warum dieses allgemeine Interesse?«, hatte Rhyme mit Blick auf die Neuankömmlinge gefragt, die immerhin drei bedeutende Strafverfolgungsbehörden repräsentierten.
»Er ist ein verdammter Soziopath«, antwortete Coe.
Peabodys Antwort fiel etwas maßvoller aus. »Bei dem Geist handelt es sich wahrscheinlich um den gefährlichsten Menschenschmuggler der Welt. Er wird im Zusammenhang mit elf Morden gesucht – zu den Opfern zählen sowohl Emigranten als auch Polizisten und verdeckte Ermittler. Aber wir wissen, dass er noch weitere Menschen umgebracht hat. Die Illegalen werden oft auch als ›Verschwundene‹ bezeichnet – falls sie versuchen, einen der Schlangenköpfe zu hintergehen, beseitigt man sie. Sobald sie sich über irgendetwas beklagen, räumt man sie aus dem Weg. Sie lösen sich einfach für immer in Luft auf.«
»Und er hat mindestens fünfzehn Flüchtlingsfrauen vergewaltigt«, fügte Coe hinzu. »Das jedenfalls sind die Fälle, von denen wir wissen. Ich bin überzeugt, es gibt noch mehr.«
»Hochrangige Schlangenköpfe wie er nehmen normalerweise nicht persönlich an den Überfahrten teil«, erklärte Dellray. »Seine Anwesenheit hat vermutlich einen ganz bestimmten Grund: Er will seinen hiesigen Einflussbereich ausdehnen.«
»Falls ihm die Einreise gelingt, werden Menschen sterben«, sagte Coe. »Viele Menschen.«
»Tja, und wieso ich?«, fragte Rhyme. »Ich kenne mich mit Menschenschmuggel doch überhaupt nicht aus.«
»Wir haben schon alles ausprobiert, Lincoln, aber leider ohne Erfolg«, sagte der FBI-Agent. »Uns liegen keinerlei persönliche Informationen über den Mann vor, keine guten Fotos, keine Fingerabdrücke. Rein gar nichts. Abgesehen davon.« Er nickte in Richtung des Aktenkoffers.
Rhyme warf einen skeptischen Blick darauf. »Und wohin in Russland ist er geflogen? Können Sie mir eine Stadt nennen? Einen Staat, eine Provinz oder wie auch immer die da drüben organisiert sind? Soweit ich weiß, ist das ein ziemlich großes Land.«
Sellitto hob als Antwort lediglich eine Augenbraue, was zu besagen schien: Wir haben nicht die geringste Ahnung.
»Ich werde sehen, was ich tun kann, aber erwarten Sie bitte keine Wunder.«
Zwei Tage später hatte Rhyme sie alle wieder zu sich gebeten. Thom reichte Agent Coe den Aktenkoffer.
»War etwas Hilfreiches dabei?«, fragte der junge Mann.
»Nein«, entgegnete Rhyme vergnügt.
»Mist«, murmelte Dellray. »Da haben wir wohl Pech gehabt.«
Das reichte Lincoln Rhyme als Stichwort. Er lehnte den Kopf auf das bequeme Kissen zurück, das Thom an dem Rollstuhl befestigt hatte, und begann sogleich mit seinen Ausführungen.
»Der Geist und zirka zwanzig bis dreißig illegale chinesische Auswanderer halten sich an Bord eines Schiffs namens Fuzhou Dragon auf, Heimathafen Fuzhou, Provinz Fujian, China. Es handelt sich um ein zweiundsiebzig Meter langes Frachtschiff mit Laderaum und Containerdeck, angetrieben durch zwei Dieselmotoren. Der sechsundfünfzigjährige Kapitän heißt Sen Zi-jun – Sen ist dabei der Nachname – und verfügt über eine siebenköpfige Besatzung. Die Dragon ist vor vierzehn Tagen um acht Uhr fünfundvierzig morgens aus dem russischen Hafen von Wyborg ausgelaufen und befindet sich gegenwärtig – das ist jetzt eine Schätzung – knapp fünfhundert Kilometer vor der Küste von New York. Ihr Ziel ist der Hafen von Brooklyn.«
»Wie, zum Teufel, haben Sie das denn herausgefunden?«, rief Coe verblüfft. Sogar Sellitto, der an Rhymes deduktive Fähigkeiten gewöhnt war, lachte unwillkürlich auf.
»Ganz einfach. Zuerst mal bin ich davon ausgegangen, dass diese Leute von Osten nach Westen fahren würden – andernfalls hätten sie auch direkt von China aus aufbrechen können. Ein Freund von mir arbeitet bei der Moskauer Polizei – ein Kriminaltechniker, ich habe mit ihm zusammen einige Aufsätze verfasst. Der weltweit beste Experte für Bodenproben, nebenbei bemerkt. Ich habe ihn gebeten, sich mit den Hafenmeistereien der westrussischen Seehäfen in Verbindung zu setzen. Er hat seine Beziehungen spielen lassen und die Ladungsverzeichnisse sämtlicher chinesischer Schiffe besorgt, die in den letzten drei Wochen dort ausgelaufen sind. Es hat ein paar Stunden gedauert, die Unterlagen mit ihm durchzugehen. Ach, übrigens, Sie können sich schon mal darauf einstellen, die immense Telefonrechnung zu begleichen. Und ich habe ihm gesagt, er soll Ihnen auch die Übersetzung berechnen. Ich an seiner Stelle würde das tun. Wie auch immer, wir haben festgestellt, dass nur ein einziges Schiff genügend Treibstoff für eine dreizehntausend Kilometer lange Reise an Bord genommen hat, obwohl die Strecke laut der Dokumente nur sechseinhalbtausend Kilometer betragen sollte. Dreizehntausend Kilometer entsprechen einer Fahrt von Wyborg nach New York und zurück ins englische Southampton, um dort erneut zu tanken. In Brooklyn wurde kein Anlegeplatz reserviert. Man hat vor, den Geist und die Emigranten abzusetzen und sofort wieder nach Europa zurückzufahren.«
»Vielleicht ist denen nur der Treibstoff in New York zu teuer«, warf Dellray ein.
Rhyme zuckte die Achseln – eine der wenigen beiläufigen Gesten, die sein Körper ihm noch gestattete. »Alles in New York ist zu teuer«, lautete sein mürrischer Kommentar. »Aber da ist noch etwas: Das Ladeverzeichnis der Dragon besagt, dass sie Industriemaschinen nach Amerika transportiert. In den Papieren muss der aktuelle Tiefgang des Schiffs vermerkt werden, um sicherzustellen, dass der Rumpf in einem zu flachen Hafenbecken nicht auf Grund läuft. Der Tiefgang der Dragon wurde mit drei Metern angegeben, wohingegen ein voll beladenes Schiff dieser Größe auf wenigstens siebeneinhalb Meter kommen dürfte. Demnach hatte sie überhaupt keine Ladung an Bord, abgesehen von dem Geist und den Emigranten. Ich gehe von zwanzig bis dreißig Leuten aus, weil die Dragon entsprechend viel Trinkwasser und Proviant aufgenommen hat, obwohl die eigentliche Besatzung – wie schon erläutert – aus nur sieben Männern und dem Kapitän besteht.«
»Da hol mich doch der Teufel«, sagte der ansonsten so spröde Harold Peabody mit bewunderndem Grinsen.
Wenig später an jenem Tag machten Beobachtungssatelliten die Dragon ungefähr vierhundertfünfzig Kilometer vor der amerikanischen Küste aus, genau wie Rhyme vorhergesagt hatte.
Das Küstenwachboot Evan Brigant, ausgestattet mit fünfundzwanzig Mann Besatzung, großkalibrigen Zwillingsmaschinengewehren und einem 80-mm-Geschütz, ging in Bereitschaft, blieb jedoch zunächst auf Distanz, um die Dragon näher herankommen zu lassen.
Jetzt – kurz vor Tagesanbruch am heutigen Dienstag – befand sich das chinesische Schiff in amerikanischen Hoheitsgewässern, und die Evan Brigant hatte die Verfolgung aufgenommen. Der Plan sah vor, die Dragon zu entern und den Geist samt seinem Gehilfen und der Besatzung zu verhaften. Dann sollte die Küstenwache das Schiff in den Hafen von Port Jefferson auf Long Island bringen, von wo aus man die Emigranten bis zur Abschiebung oder dem Asylverfahren in ein Bundesgefängnis überstellen würde.
Von Bord des Küstenwachboots kam ein Funkspruch herein. Thom legte ihn auf den Lautsprecher.
»Agent Dellray? Hier spricht Captain Ransom auf der Evan Brigant.«
»Ich höre Sie, Captain.«
»Wir wurden anscheinend bemerkt – deren Radar ist besser, als wir vermutet haben. Das Schiff hält nun geradewegs auf die Küste zu. Wir benötigen neue Anweisungen hinsichtlich unseres Vorgehens. Es besteht Grund zu der Befürchtung, dass ein Enterversuch zu einem Schusswechsel führen könnte. Ich meine, wir wissen ja schließlich, um wen es sich bei diesem Kerl handelt. Vielleicht gibt es Verluste. Kommen.«
»Verluste bei wem?«, fragte Coe. »Bei den Illegalen?« Der verächtliche Tonfall, in dem er dieses Wort aussprach, war nicht zu überhören.
»Genau. Wir haben uns überlegt, das Schiff eventuell nur zum Beidrehen zu zwingen und abzuwarten, bis der Geist sich ergibt. Kommen.«
Dellray hob die Hand und fingerte an der Zigarette herum, die er zur Erinnerung an sein früheres Laster hinter dem Ohr stecken hatte. »Erlaubnis verweigert. Folgen Sie dem ursprünglichen Plan. Stoppen Sie das Schiff, gehen Sie an Bord, und nehmen Sie den Geist fest. Falls nötig, machen Sie von Ihren Waffen Gebrauch. Bitte bestätigen Sie.«
Der junge Mann zögerte kurz mit der Antwort. »Bestätigt, Sir. Ende und Aus.«
Damit war das Gespräch beendet, und Thom schaltete den Lautsprecher wieder ab. In der folgenden Stille machte sich fühlbare Anspannung im Raum breit. Sellitto fuhr sich mit den Handflächen über die zerknitterten Hosenbeine und rückte dann die Dienstwaffe an seinem Gürtel zurecht. Dellray ging auf und ab. Peabody rief in der INS-Zentrale an, um den Leuten dort mitzuteilen, dass er ihnen nichts mitzuteilen hatte.
Kurz darauf klingelte das Telefon an Rhymes Privatanschluss. Thom zog sich in eine Ecke des Zimmers zurück und nahm den Anruf entgegen. Er hörte einen Moment zu und hob dann den Kopf. »Lincoln, es ist Dr. Weaver. Wegen der Operation.« Er ließ den Blick über die nervösen Beamten schweifen. »Ich sage ihr, dass du zurückrufst.«
»Nein«, widersprach Rhyme entschieden. »Ich möchte jetzt mit ihr reden.«
Die Windstärke hatte noch zugenommen, und die Wogen türmten sich hoch über der unerschrockenen Fuzhou Dragon auf.
Der Geist hasste Schiffsfahrten, denn er war an Luxushotels mit umfassendem Service gewöhnt, und Schleppertransporte waren eine dreckige, ölige, kalte und gefährliche Angelegenheit. Die Menschheit hat es bis jetzt nicht geschafft, das Meer zu zähmen, und es wird ihr auch nie gelingen, dachte er. Der Ozean ist eine eisige Todesfalle.
Sein Blick suchte das Achterdeck des Schiffs ab, aber sein bangshou war nirgendwo zu entdecken. Er wandte sich nach vorn, kniff die Augen zusammen und vermochte im Sturm noch immer kein Land auszumachen, lediglich weitere rastlose Berge aus schwarzem Wasser. Er kletterte auf die Brücke und klopfte an die Scheibe der hinteren Tür. Kapitän Sen blickte auf, und der Geist winkte ihn zu sich.
Sen zog sich eine Strickmütze über die Ohren und trat pflichtgetreu hinaus in den Regen.
»Die Küstenwache wird bald hier sein«, brüllte der Geist, um das Heulen des Windes zu übertönen.
»Nein«, erwiderte Sen. »Ich kann dicht genug ans Ufer gelangen, um die Leute abzusetzen, und zwar noch bevor sie uns einholen.«
Doch der Geist sah ihn ungerührt an. »Sie werden jetzt Folgendes tun. Die Brückenbesatzung bleibt an ihrem Platz, aber Sie und der Rest der Mannschaft begeben sich nach unten zu den Ferkeln. Verstecken Sie sich dort, und sorgen Sie dafür, dass auch alle anderen im Laderaum sich irgendein Schlupfloch suchen.«
»Aber warum?«
»Weil Sie ein guter Mensch sind«, erklärte der Geist. »Zu gut, um zu lügen. Ich werde vorgeben, der Kapitän zu sein, denn ich kann einem Mann ins Gesicht sehen, und er wird mir glauben, was ich ihm erzähle. Sie können das nicht.«
Der Geist nahm Sen die Mütze ab. Im ersten Moment wollte der Kapitän danach greifen, aber dann ließ er die Hand wieder sinken. Der Geist setzte die Mütze auf. »So«, sagte er ernst. »Sehe ich wie ein Kapitän aus? Ich schätze, ich gebe einen recht guten Kapitän ab.«
»Die Dragon ist mein Schiff.«
»Nein«, widersprach der Geist. »Auf dieser Reise ist sie mein Schiff. Immerhin zahle ich bar und in Grün.« Amerikanische Dollars waren sehr viel wertvoller und vielseitiger einsetzbar als die chinesischen Yuan, mit denen die meisten der niederen Schlangenköpfe zu bezahlen pflegten.
»Sie wollen sie doch nicht etwa angreifen, oder? Die Küstenwache, meine ich.«
Der Geist lachte ungehalten auf. »Wie sollte ich das wohl bewerkstelligen? Es dürften mehrere Dutzend Männer sein.« Er nickte in Richtung der Matrosen auf der Brücke. »Weisen Sie Ihre Leute an, meine Befehle zu befolgen.« Als Sen zögerte, beugte der Geist sich vor und fixierte ihn mit einem ruhigen, aber eiskalten Blick, der praktisch nie seine einschüchternde Wirkung verfehlte. »Möchten Sie mir noch etwas sagen?«
Sen senkte den Kopf und kehrte dann auf die Brücke zurück, um seine Männer zu instruieren.
Der Geist wandte sich wieder dem Heck der Dragon zu und hielt abermals nach seinem Gehilfen Ausschau. Dann zog er sich die Mütze tiefer ins Gesicht und betrat die Brücke, um auf dem schlingernden Schiff das Kommando zu übernehmen.
Bei den zehn Richtern der Hölle...
Der Mann kroch auf dem Oberdeck zum Achterschiff, steckte den Kopf über die Reling der Fuzhou Dragon und fing erneut an zu würgen.
Seit Ausbruch des Sturms hatte er die ganze Nacht neben einem der Rettungsboote gelegen und war nun dem stinkenden Laderaum entflohen, um seinen Körper von der Disharmonie zu befreien, die durch die wogende See hervorgerufen wurde.
Bei den zehn Richtern der Hölle, schoss es ihm ein weiteres Mal durch den Kopf. Das ständige Schaukeln ließ seine Eingeweide revoltieren. Ihm war kalt, und er fühlte sich so elend wie noch nie in seinem Leben. Langsam rutschte er an dem rostigen Geländer hinunter und schloss die Augen.
Er hieß Sonny Li, wenngleich sein Vater ihm einst rücksichtslos den Namen Kangmei gegeben hatte, was übersetzt »Bekämpfe Amerika« bedeutete. Während Maos Regierungszeit war es üblich gewesen, den Kindern solche politisch korrekten – und furchtbar peinlichen – Vornamen zu verpassen. Später aber hatte er es den vielen anderen chinesischen Jugendlichen aus den Küstenprovinzen Fujian und Guangdong gleichgetan und zusätzlich einen westlichen Rufnamen angenommen. Die Jungs in seiner Gang hatten ihm den Namen verliehen: Sonny, nach dem gefährlichen, übellaunigen Sohn von Don Corleone in dem Film Der Pate.
Wie sein Namensvetter hatte auch Sonny Li viel Gewalt erlebt – und ausgeübt -, aber nichts und niemandem war es je gelungen, ihn buchstäblich so in die Knie zu zwingen wie diese Seekrankheit.
Bei den Richtern der Hölle...
Li war bereit, seine Reise in die Unterwelt anzutreten. Er würde sämtliche Missetaten gestehen, all die Schande, die er seinem Vater bereitet hatte, all die Dummheiten, all den Schmerz. Soll der Gott T'ai'shan mir ruhig einen Platz in der Hölle zuweisen. Wenn doch nur diese beschissene Übelkeit verschwinden würde! Erschöpft nach zwei Wochen karger Mahlzeiten und verwirrt durch den Schwindel hatte er plötzlich den Eindruck, das Meer sei nur deswegen so in Aufruhr, weil ein gewaltiger Drache sich ungehemmt austobte. Am liebsten hätte Sonny seine schwere Pistole aus der Tasche gezogen und dem Vieh einen Schuss nach dem anderen in den Wanst gejagt.
Er drehte sich um, schaute zur Brücke des Schiffs und glaubte dort den Geist zu entdecken, aber dann krampfte sich unvermittelt sein Magen zusammen, und Li musste sich wieder über die Reling beugen. Er vergaß den Schlangenkopf, vergaß das gefährliche Leben, das er in Fujian geführt hatte, vergaß alles außer den zehn Richtern der Hölle, die schadenfroh ihre Dämonen anwiesen, seinen sterbenden Leib mit ihren Speeren zu durchbohren.
Er fing von neuem an zu würgen.
Die hoch gewachsene Frau lehnte an ihrem Wagen und gab ein farblich überaus kontrastreiches Bild ab: das rote Haar, das vom heftigen Wind gepeitscht wurde, das Gelb des alten Chevy Camaro, der schwarze Waffengürtel aus Nylon, in dessen Holster an ihrer Hüfte eine ebenso schwarze Pistole steckte.
Amelia Sachs trug Jeans und eine Kapuzenjacke, auf deren Rücken die Worte NYPD SPURENSICHERUNG standen. Ihr Blick war auf das aufgewühlte Hafenbecken bei Port Jefferson an der Nordküste von Long Island gerichtet. Dann nahm sie ihre nähere Umgebung in Augenschein. Die Einwanderungsbehörde, das FBI, die Polizei des Suffolk County und Amelias eigene Truppe hatten einen Parkplatz abgesperrt, der an einem durchschnittlichen Augusttag normalerweise von den Autos zahlloser Badegäste übergequollen wäre. Heute bei diesem Tropensturm würde sich aber vermutlich kein einziger Urlauber am Strand blicken lassen.
In der Nähe waren zwei große vergitterte Häftlingsbusse geparkt, die der INS bei der Strafvollzugsbehörde ausgeliehen hatte, ein halbes Dutzend Krankenwagen und vier Kleinbusse mit den Vertretern der verschiedenen Dienststellen. Sofern alles nach Plan verlief, würde die Dragon sich bei ihrem Eintreffen in der Gewalt der Mannschaft der Evan Brigant befinden und der Geist samt seinem Assistenten wären verhaftet. Allerdings musste zwischen dem Moment, in dem der Geist das Küstenwachboot bemerkte, und der tatsächlichen Enterung zwangsläufig eine gewisse Frist verstreichen – schlimmstenfalls bis zu vierzig Minuten. Dadurch erhielten der Geist und sein bangshou jede Menge Zeit, sich unter die illegalen Einwanderer zu mischen und Waffen am Körper zu verstecken, wie die Schlangenköpfe es häufig taten. Die Küstenwache würde es vielleicht nicht schaffen, alle Passagiere und das gesamte Schiff vor dem Einlaufen in den Hafen gründlich zu durchsuchen, sodass der Schlangenkopf und ein paar Besatzungsmitglieder eventuell versuchen könnten, sich den Weg freizuschießen.
Vor allem Sachs würde ein großes Wagnis eingehen, denn ihre Aufgabe war es, das gesamte Schiff nach Spuren abzusuchen, mit denen sich die diversen Anklagen gegen den Geist untermauern ließen. Ferner suchte man nach Hinweisen auf seine Komplizen. Wenn es sich um den Fundort einer Leiche oder den Schauplatz eines Raubüberfalls handelte, so war der Täter längst geflohen, und der Beamte der Spurensicherung setzte sich keiner nennenswerten Gefahr aus. Sobald der zu untersuchende Tatort jedoch zugleich der Ort des Zugriffs war, wobei man weder die genaue Zahl der Täter noch deren Aussehen kannte, entstand eine potentiell riskante Situation, besonders im Fall von Menschenschmugglern, die meist schwer bewaffnet waren.
Amelias Mobiltelefon klingelte. Sie ließ sich auf den straff gepolsterten Sitz des Chevy fallen und nahm den Anruf entgegen.
Es war Rhyme.
»Wir stehen alle bereit«, teilte sie ihm mit.
»Man hat auf dem Schiff anscheinend etwas spitzgekriegt, Sachs«, sagte er. »Mittlerweile hält die Dragon in gerader Linie auf das Ufer zu. Die Küstenwache dürfte sie noch rechtzeitig abfangen können, aber wir gehen davon aus, dass der Geist es auf einen Kampf ankommen lassen wird.«
Sie dachte an die armen Menschen an Bord.
Als Rhyme nicht weitersprach, wagte Sachs eine Frage. »Hat sie angerufen?«
Er zögerte. »Ja«, sagte er dann. »Vor ungefähr zehn Minuten. Sie kann den Eingriff nächste Woche im Manhattan Hospital vornehmen. Wegen der Einzelheiten wird sie sich noch einmal melden.«
»Aha«, sagte Sachs.
Die Frau, von der sie sprachen, war Dr. Cheryl Weaver, eine renommierte Neurochirurgin, die für ein Semester aus North Carolina nach New York gekommen war, um am Manhattan Hospital zu lehren. Es war ein experimenteller Eingriff, dem Rhyme sich unterziehen wollte – eine Operation, die seine Lähmungserscheinungen unter Umständen bessern würden.
Eine Operation, von der Sachs nicht unbedingt begeistert war.
»An eurer Stelle würde ich noch ein paar zusätzliche Krankenwagen anfordern«, sagte Rhyme. Er klang wieder ziemlich sachlich – es gefiel ihm nicht, wenn mitten bei der Arbeit persönliche Themen zur Sprache kamen.
»Ich kümmere mich darum.«
»Das war vorerst alles, Sachs.«
Er legte auf.
Amelia lief durch den strömenden Regen zu einem der Staatspolizisten und veranlasste die Bereitstellung weiterer Ambulanzen. Dann kehrte sie zu ihrem Chevy zurück, nahm auf dem Schalensitz Platz und lauschte dem Prasseln der großen Tropfen auf Windschutzscheibe und Faltdach. In der feuchten Luft roch der Innenraum nach Plastik, Motoröl und alter Auslegeware.
Rhymes bevorstehende Operation ließ Amelia an eine Unterredung denken, die sie kürzlich mit einem anderen Arzt geführt hatte, der nicht an diesem Rückenmarkseingriff beteiligt war. Sie wollte sich eigentlich nicht an das Gespräch erinnern, aber es geschah ganz automatisch.
Zwei Wochen zuvor hatte Amelia Sachs im Aufenthaltsraum eines Krankenhauses vor dem Kaffeeautomaten gestanden, nur wenige Meter von dem Zimmer entfernt, in dem Lincoln Rhyme währenddessen untersucht wurde. Sie wusste noch, wie auffallend scheußlich ihr die gleißenden Strahlen der Julisonne auf dem grün gefliesten Boden vorgekommen waren. Der Mann in dem weißen Kittel hatte den Raum betreten und Amelia angesprochen. »Ah, Miss Sachs. Hier stecken Sie also.« Sein ernster Tonfall hatte sie frösteln lassen.
»Hallo, Doktor.«
»Ich habe gerade mit Lincoln Rhymes Arzt gesprochen.«
»Ja?«
»Und jetzt muss ich unbedingt mit Ihnen reden.«
Das Herz hatte ihr bis zum Hals geklopft. »Das klingt nach schlechten Neuigkeiten, Doktor.«
»Wollen wir uns nicht da drüben in die Ecke setzen?«, hatte er gefragt und dabei nicht wie ein Arzt, sondern eher wie ein Bestattungsunternehmer gewirkt.
»Nein, es geht schon«, hatte sie entschlossen erwidert. »Raus mit der Sprache. Was ist los?«
Eine Windbö ließ den Wagen erzittern, und Amelia schaute abermals hinaus in das Hafenbecken und auf den langen Pier, an dem die Fuzhou Dragon anlegen würde.
Schlechte Neuigkeiten.
Raus mit der Sprache. Was ist los? ...
Sachs stellte ihr Funkgerät auf die sichere Frequenz der Küstenwache ein, nicht nur, um über den weiteren Verlauf der Ereignisse unterrichtet zu bleiben, sondern auch, weil sie nicht länger an diesen blendend hellen Aufenthaltsraum denken wollte.
»Wie weit noch bis zur Küste?«, fragte der Geist die beiden Matrosen, die sich außer ihm auf der Brücke befanden.
»Anderthalb Kilometer, vielleicht etwas weniger.« Der schlanke Mann am Ruder warf dem Geist einen kurzen Blick zu. »Direkt vor den Untiefen drehen wir ab und versuchen, die geschützte Bucht zu erreichen.«
Der Geist starrte angestrengt in Fahrtrichtung. Als das Schiff auf einen Wellenkamm gehoben wurde, konnte er am Horizont das hellgraue Festland als schmalen Strich ausmachen. »Bleiben Sie exakt auf Kurs«, befahl er. »Ich bin gleich wieder zurück.«
Er atmete tief durch und ging nach draußen. Wind und Regen schlugen ihm ins Gesicht. Der Geist stieg aufs Containerdeck hinunter, dann noch ein Deck tiefer, bis er die Stahlluke zum Frachtraum erreichte. Er trat ein und ließ den Blick über die Ferkel schweifen. Besorgt und verängstigt sahen sie zu ihm hinauf. Die jämmerlichen Männer, die verwahrlosten Frauen, die dreckigen Kinder – darunter sogar ein paar nutzlose Mädchen. Weshalb nur hatten ihre dämlichen Familien sich überhaupt die Mühe gemacht, sie mitzuschleppen?
»Was gibt's?«, fragte Kapitän Sen. »Ist das Boot der Küstenwache in Sicht?«
Der Geist antwortete nicht, sondern hielt zwischen den Ferkeln nach seinem bangshou Ausschau. Vergebens. Wütend wandte er sich ab.
»Warten Sie«, rief der Kapitän.
Der Schlangenkopf verließ den Laderaum und schloss die Tür. »Bangshou!«, brüllte er.
Keine Reaktion. Ein zweites Mal würde er nicht nach dem Mann rufen. Zunächst sicherte er die Verriegelung, sodass die Luke des Frachtraums nicht mehr von innen geöffnet werden konnte. Danach eilte er zu seiner Kabine, die sich auf dem Brückendeck befand. Während er die Stufen hinaufstieg, zog er ein verschrammtes Plastikkästchen aus der Tasche, das wie der Garagentoröffner seines luxuriösen Hauses in Xiamen aussah.
Er klappte den Deckel hoch und drückte erst einen Knopf, dann noch einen. Das Funksignal raste zwei Decks hinab zu dem Matchbeutel, den er im Achterladeraum unterhalb der Wasserlinie deponiert hatte. Es schloss einen Stromkreis und sandte den elektrischen Impuls einer Neun-Volt-Batterie an eine Zündkapsel, die in zwei Kilo C4-Sprengstoff steckte.
Die Explosion war gewaltig, viel stärker, als er erwartet hatte, und ließ eine Gischtfontäne aufsteigen, die bis weit über die höchsten Wellen reichte.
Der Geist wurde von der Treppe aufs Hauptdeck geschleudert. Benommen blieb er auf der Seite liegen.
Zu viel!, wurde ihm klar. Die Ladung war nicht richtig bemessen gewesen. Schon jetzt führte das eindringende Meerwasser dazu, dass die Dragon Schlagseite bekam. Ursprünglich hatte der Geist mit einer halben Stunde bis zum Untergang gerechnet, aber stattdessen würde es nur wenige Minuten dauern. Er sah zum Brückendeck, wo in der kleinen Kabine sein Geld und seine Waffen lagen. Dann suchte sein Blick ein letztes Mal die anderen Decks nach dem bangshou ab, aber der Kerl war nirgendwo zu entdecken. Es blieb keine Zeit mehr. Der Geist stand auf, arbeitete sich über das Containerdeck bis zum nächsten Schlauchboot vor und löste die Haltetaue.
Schlingernd legte die Dragon sich ein weiteres Stück auf die Seite.