Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2021 Florian Schilling

Lektorat: Franz Strohmeier

Grafik: Adnan Tignan

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7557-7168-5

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

Long-Covid hat sich in der öffentlichen Diskussion zu einem Totschlag-Argument entwickelt. Unabhängig von akuten Erkrankungszahlen („Inzidenz“), Krankenhausauslastung (Intensivbettenbelegung), R-Wert oder sonstigen epidemischen Kennzahlen wird im Zweifelsfall auf Long-Covid verwiesen und daraus eine Handlungsnotwendigkeit abgeleitet. Dabei stehen konkrete Zahlenerhebungen zu diesem Thema nach wie vor aus. Weder wurde in groß angelegten Studien untersucht, mit welcher Häufigkeit Long-Covid eigentlich auftritt, noch wer warum in welchem Umfang betroffen ist. Schlimmer noch: Langzeit-Beobachtungsstudien, die ergründen, wie sich Long-Covid bei den Betroffenen entwickelt, fehlen vollständig. Eine notdürftig zusammengezimmerte medizinische Leitlinie ist momentan alles, womit unser Staat und unser medizinisches System aufwarten können. Der Großteil dieser Leitlinie beschäftigt sich damit, was Long-Covid alles nicht ist – sie entwickelt also eine lange Liste an Punkten, die bei Long-Covid ausgeschlossen werden müssen, um überhaupt die Diagnose stellen zu können. Was das Krankheitsbild aber ausmacht und was vor allem therapeutisch zu tun ist, nachdem die Ausschlussdiagnostik erfolgt ist – darüber schweigt sich die Leitlinie weitestgehend aus. Daher ist Eines vorprogrammiert: Zahlreiche Betroffene werden in der ein oder anderen Form durch das Raster unserer medizinischen Versorgung fallen. Manche werden „Glück haben“ und Organveränderungen aufweisen, die sich mithilfe konventioneller Diagnostik nachweisen und damit auch behandeln lassen. Diesen Veränderungen, den damit verbundenen Beschwerden sowie den entsprechenden diagnostischen und therapeutischen Ansätzen widmet sich Teil 1 dieses Buchs. Viele Betroffene werden aber die dort beschriebene Abklärungstournee komplett durchlaufen und am Ende dennoch ohne greifbare Diagnose dastehen. Sehr wahrscheinlich werden sie an diesem Punkt als psychosomatischer Fall eingestuft. Ihre Beschwerden werden also nicht auf physische, körperliche Veränderungen zurückgeführt, gegen die sich konkrete medizinische Gegenmaßnahmen richten könnten. Stattdessen wird argumentiert, die vom Patienten berichteten physischen Beschwerden seien psychischen Ursprungs. Damit bleibt als therapeutischer Ansatz nur die Psychotherapie – was allzu häufig letztlich auf Psychopharmaka hinausläuft. Neuroleptika und Antidepressiva sollen nun richten, was anderweitig nicht erklärbar war. Dieser Ansatz wird sich allerdings in den allermeisten Fällen als Sackgasse erweisen, da es sich bei Long-Covid um somato-psychische Probleme handelt, also Veränderungen auf körperlicher Ebene, die dann das psychische Wohlbefinden schädigen. Für alle Beteiligten birgt dies enormes Frustrationspotenzial. Vielen Menschen ist genau dies in der Vergangenheit passiert; Patienten mit CFS (Chronic Fatigue Syndrom), ME (Myalgische Enzephalomyelitis), Fibromyalgie, Pfeifferschem Drüsenfieber (EBV, Mononukleose) oder Neuroborreliose können hier von jahrelangen Odysseen und Leidensgeschichten berichten. Vielleicht – und dann hätte die ganze Situation wenigstens einen positiven Aspekt – richtet sich dank Corona nun genügend Aufmerksamkeit auf das Phänomen der postinfektiösen (insbesondere postviralen) Syndrome. Und damit auch auf deren Kernprobleme: Neuroinflammation, Mitochondrienschädigung und Autoimmunität sowie die zugrunde liegenden Krankheitsmechanismen wie Radikalenstress oder Silent inflammation. Vielleicht schaffen wir es nun, diese Probleme längerfristig und nachhaltig im Bewusstsein des medizinischen Mainstreams zu verankern. Zu wünschen wäre es uns allen, vor allem aber denen, die unter all diesen atypischen, chronischen Krankheitsprozessen leiden. Ich hoffe, dieses Buch kann allen Betroffenen ein guter Wegbegleiter sein, ein Leitfaden zur Wiedererlangung körperlicher und seelischer Gesundheit. Sie können die einzelnen Kapitel als Checkliste nutzen, insbesondere die Zusammenstellung der erforderlichen diagnostischen Schritte, und sie mit dem Therapeuten Ihres Vertrauens durcharbeiten. Seien Sie nicht frustriert, wenn sich Ihr angestammter Hausarzt vielleicht weigert, die entsprechenden Untersuchungen durchzuführen. Es gibt mittlerweile genügend Praxen in Deutschland, die mit diesen Themen vertraut sind. Hinweise zur Therapeutensuche finden Sie im Anhang.

Machen wir uns nichts vor – es wird ein langer Weg sein, Sie werden Kraft und vor allem Geduld benötigen, um ans Ziel zu kommen. Auch bei korrekter Vorgehensweise braucht es häufig mehrere Monate, um nachhaltig-positive Veränderungen herbeizuführen. Der entscheidende Punkt ist aber: Es ist möglich. Menschen vor Ihnen sind diesen Weg erfolgreich gegangen, und von ihnen durften wir viel lernen. Ihnen ist dann auch dieses Buch gewidmet, sie sind die Lehrmeister, die uns das Werkzeug bereitstellen, um diese Situation zu bewältigen.

Florian Schilling,

München, November 2021

TEIL 1: LONG-COVID AUS DER KONVENTIONELLEN PERSPEKTIVE

WAS IST LONG-COVID?

EINE ERSTE ANNÄHERUNG

Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Das mag auf den ersten Blick seltsam anmuten, da Long-Covid aktuell ein sehr prominentes Thema mit großer Präsenz in den Medien ist. Tatsache ist aber, dass es bisher keine einheitliche Definition für diesen Zustand gibt, geschweige denn standardisierte diagnostische und therapeutische Richtlinien. Wir befinden uns hier noch am Anfang eines Lernprozesses. Fakt ist: Ein Teil der Menschen, die an Covid-19 erkranken, leiden auch nach Ende der akuten Infektion an Symptomen. Dabei gibt es sowohl zeitlich als auch qualitativ Unterschiede. Grob lässt sich die Situation folgendermaßen gliedern:

Dauer Anhaltende
Symptome aus der
akuten Phase
Neue Symptome, die akut
nicht vorhanden waren
> 4 Wochen Verzögerte Heilung Nein
> 12 Wochen Long-Covid Long-Covid

Abbildung 1: Zeitliche und qualitative Gliederung von Long-Covid-Beschwerden

Im Sinne einer chronischen Erkrankung sind vor allem die Fälle bedeutsam, in denen die Betroffenen länger als 12 Wochen an Beschwerden leiden. Symptome, die länger als 4 Wochen andauern, aber binnen 12 Wochen verschwinden, entsprechen eher einer verlangsamten Heilungsphase, jedoch nicht einer chronischen Krankheit. Wir wollen uns im weiteren Verlauf daher auf folgende Situation konzentrieren und sie als Long-Covid definieren:

Ein Patient leidet auch nach 12 Wochen noch an Symptomen der akuten Infektion oder an Symptomen, die erst im Anschluss an diese Infektion und zeitversetzt aufgetreten sind.

Was sich inzwischen abzeichnet: Art und Intensität der Beschwerden sind sehr unterschiedlich, ein einheitliches Krankheitsbild scheint sich eher nicht herauszubilden. Dieser Umstand lässt bereits zwei grundsätzliche Überlegungen zu: Zum einen scheint die individuelle Ausgangslage eine Rolle zu spielen, also ob schon vor der Infektion bestimmte Risikofaktoren oder Schwachpunkte vorlagen. Zum anderen dürfte der Verlauf der akuten Infektion von Bedeutung sein – je heftiger sie ausfällt, desto eher drohen im Anschluss dauerhafte Probleme.

DAS KRANKHEITSBILD COVID-19

Die Schweregrade von Covid-19 werden üblicherweise so eingeteilt:

Klassifikation Definition Symptome
Asymptomatische
Infektion
Ansteckung mit SARS-
CoV2 und dessen
erfolgreiche
Bekämpfung durch das
Immunsystem
Keine
Milder Verlauf Keine
Lungenentzündung
Nur leichte,
entsprechend einem
grippalen Infekt:
• Husten
• Schnupfen
• Leichtes Fieber
• Kopfschmerzen
• Störung des Geruchs- und Geschmackssinns
Moderater Verlauf Lungenentzündung Wie bei mildem Verlauf
Schwerer Verlauf Schwere
Lungenentzündung
Alle Symptome eines
moderaten Verlaufs plus
Symptome einer
Lungenentzündung:
Hypoxie und Atemnot
Komplizierter
Verlauf
ARDS (akutes
Lungenversagen)
und/oder
Hyperinflammation
(„Zytokinsturm“)
Zeichen einer Sepsis
(Blutvergiftung) bzw.
eines Multi-Organ-
Versagens

Abbildung 2: Schweregrade und Verlaufsformen von Covid-19

Covid-19 wird vielfach als reine Atemwegsinfektion aufgefasst – das ist aber nur für milde und moderate Verläufe zutreffend. Bei kritischem oder kompliziertem Verlauf „funktioniert“ Covid-19 häufig anders. Drei Varianten können auftreten, wobei auch Kombinationen möglich sind:

  1. Bei ARDS (Acute Respiratory Distress Syndrome: akutes Lungenversagen) kommt es durch eine massive Lungenentzündung zu einem Lungenversagen, wodurch eine Zwangsbeatmung (Intubation) nötig wird.
  2. Eine vaskuläre Erkrankung (vaskulär: die Blutgefäße betreffend), die vorwiegend durch Gefäßentzündungen und Gerinnungsstörungen mit Thrombosen und Embolien imponiert.
  3. Eine Hyperinflammation (hyper: übermäßig; Inflammation: Entzündung), bei der es durch eine unkontrollierte, überschießende Immunaktivierung zu lebensgefährlichen Entzündungsprozessen im gesamten Organismus kommt. Diese Variante ist auch als „Zytokinsturm“ bekannt geworden.

Alle drei, entweder einzeln oder in Kombination, können zu einem Multiorganversagen führen. Medizinisch wichtig: In allen drei Fällen ist nicht mehr das Virus für das Geschehen verantwortlich. Viren sind zu diesem Zeitpunkt meist gar nicht mehr nachweisbar, die Erkrankung hat sich gewissermaßen verselbstständigt und an die Stelle der Infektion treten andere Krankheitsmechanismen. In diesem Stadium haben sich folgerichtig auch Therapien bewährt, die sich nicht gegen das Virus richten: Gerinnungshemmung und Entzündungshemmer oder Immunsuppressiva (Medikamente, die das Immunsystem unterdrücken). Was auf den ersten Blick seltsam wirkt, nämlich das Abwehrsystem bei einer hochakuten Infektionskrankheit zu hemmen, hat sich tatsächlich als enorm wirksamer und lebensrettender Eingriff erwiesen. Alle Patienten, die stationär im Krankenhaus behandelt werden, erhalten standardmäßig Gerinnungshemmer und alle, bei denen es zu einem kritischen Verlauf kommt, Steroide (Cortisol). Gerade bei schwerer Erkrankung treten Phänomene auf, die so gar nichts mit dem Virus selbst oder der ursprünglichen Atemwegsinfektion zu tun haben. Diese Tatsache deutet bereits an, dass es bei Covid-19 komplexe Mechanismen gibt, die deutlich über einen Befall der Atmungsorgane hinausgehen. Unterstrichen wird diese Erkenntnis, wenn man einen Blick auf die Vorerkrankungen wirft, die das Risiko für einen schweren Verlauf von Covid-19 erhöhen. Sie stehen nämlich allesamt nicht in direkter Verbindung zum Atemtrakt: Diabetes mellitus, Adipositas und Hypertonie (Bluthochdruck)! Interessanterweise haben diese Erkrankungen zwei wesentliche Gemeinsamkeiten: die starke Bildung von freien Radikalen sowie eine Silent inflammation (chronische, häufig unbemerkte Entzündung im Organismus). Wir werden uns mit beiden Themen genauer beschäftigen, da sie auch bei möglichen Langzeitfolgen eine große Rolle spielen.

Freie Radikale und versteckte Entzündungen sind Risikofaktoren für einen schweren Krankheitsverlauf bei Covid-19, gleichzeitig aber auch wichtige Säulen im Falle einer Chronifizierung (Long-Covid).

WELCHE BESCHWERDEN SPRECHEN FÜR LONG-COVID?

Wir haben bereits die zeitliche Zuordnung als wichtiges Kriterium besprochen, wenn es darum geht, Long-Covid zu definieren:

Zahlreiche Untersuchungen haben sich bereits damit beschäftigt, „typische“ Symptome herauszufiltern, aus denen sich auf eine etwaige Long-Covid-Erkrankung schließen lässt. Dabei haben sich drei Beschwerde-Gruppen als Schwerpunkte herauskristallisiert:

Typische Beschwerden bei Long-Covid
Atmung (respiratorisch) • Atemnot
• Husten
Nervensystem
(neurologisch)
• Fatigue
• Kopfschmerzen
• Riechstörung
• Brain Fog (Konzentrations- und Gedächtnisstörungen)
Psychiatrisch • Depression
• Angstzustände

Abbildung 3: Die häufigsten Symptome bei Long-Covid-Patienten1, 3

Die neuro-psychiatrischen Symptome, allen voran die Fatigue, stechen deutlich hervor. Was genau versteht man aber unter Fatigue? Wörtlich übersetzt bedeutet es „Müdigkeit“. Allerdings verbirgt sich hinter diesem Begriff eine ganz besondere Form der Müdigkeit:

Die Müdigkeit bei Fatigue ist nicht einfach konstant da, sondern tritt nach auch nur geringster körperlicher Belastung auf. Es besteht ein krasses Missverhältnis zwischen dem Ausmaß der körperlichen Betätigung und der daraufhin einsetzenden Müdigkeit. So kann es beispielsweise vorkommen, dass bereits Treppensteigen von einem Stockwerk zum nächsten eine Zwangspause erforderlich macht. Für die Betroffenen ist dieser Zustand mitunter verheerend. Bereits einfachste tägliche Verrichtungen werden zur Qual oder nahezu unmöglich: einkaufen gehen, Hausarbeit erledigen, Kochen, mit den Kindern spielen … von Arbeiten und Sport gar nicht erst zu reden.

Von diesem Fatigue abzugrenzen ist die körperlich-geistige Erschöpfung im Anschluss an die akute Infektion. Dieser Zustand ist nicht krankhaft, sondern vielmehr eine natürliche Reaktion unseres Körpers auf die Infektion. Um sie zu bekämpfen, ist eine massive Aktivierung des Immunsystems erforderlich. Milliarden von Abwehrzellen werden gebildet und ins Gefecht geschickt. Und jede einzelne dieser Abwehrzellen benötigt Energie – viel Energie. Tatsächlich erreicht der Energieverbrauch des Immunsystems in dieser Situation ähnliche Größenordnungen wie bei intensivem Sport. Während Sie eine Infektion bekämpfen, verbrennen Sie hierfür unter Umständen vergleichbar viele Kalorien wie bei einem Marathonlauf! Dass Ihr Körper in dieser Situation an anderer, weniger kritischer Stelle Energie einspart (Gehirn und Muskulatur) ist sinnvoll und wünschenswert.

Im Gegensatz zur Fatigue sind Riechstörungen häufig ein andauerndes Symptom aus der akuten Covid-19-Erkrankung. Der Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns ist ja gerade eine der Besonderheiten von Covid-19, mit deren Hilfe man die Erkrankung von anderen Atemwegsinfektionen etwas abgrenzen kann.

Der Begriff Brain Fog bedarf vielleicht auch der Erläuterung. Wörtlich mit „Hirn-Nebel“ übersetzt, versteht man unter diesem Oberbegriff vor allem Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Wir alle haben dieses Phänomen schon erlebt: Sie gehen zum Beispiel in einen anderen Raum, nur um kaum dort angekommen zu überlegen, warum Sie eigentlich hierhin gehen wollten. Vielleicht kennen Sie auch die folgende Situation: Sie wissen zu Hause genau, was Sie einkaufen wollen, im Laden selbst will es Ihnen aber partout nicht mehr einfallen. Das sind normalerweise alltägliche Lücken, mit denen man von Zeit zu Zeit zu kämpfen hat. Bei Menschen, die unter Brain Fog leiden, wird es allerdings zu einem Dauerzustand und nimmt bedenkliche Ausmaße an. Es gibt zum Beispiel Berichte von Betroffenen, die nicht mehr in der Lage waren, ihr Auto wiederzufinden. Diesen Menschen fällt es enorm schwer, einem Gespräch zu folgen, komplexe Handlungsabläufe werden zu einem Problem, Lernvorgänge geradezu unmöglich. Für Studenten beispielsweise kann dies eine Unterbrechung oder schlimmstenfalls den Abbruch der Ausbildung nach sich ziehen, da sie schlicht nicht mehr in der Lage sind, den Lernstoff aufzunehmen.

Eine Auswertung des Universitätsklinikums Freiburg zeigt eindeutig die Dominanz neurologischer Beschwerden bei Long-Covid:

Abbildung 4: Häufigkeit einzelner Beschwerden bei Patienten mit Long-Covid; deutlich zu sehen ist die hohe Bedeutung neurologischer Beschwerden2

Dabei dürfen Schmerzzustände nicht vergessen werden. Sie äußern sich zum einen in Form neu aufgetretener Schmerzen (Muskeln, Gelenke, Kopf), zum anderen in einer dramatisch erhöhten Schmerzempfindlichkeit. Bei den einen treten also Schmerzen ohne erkennbaren Auslöser auf, bei den anderen führen auch kleinste Schmerzreize zu einem deutlichen und intensiven Schmerzempfinden.

So weit das neurologische Bild. Eng damit verwandt, aber dennoch ein eigenes Feld, sind psychische Beschwerden. Auch sie sind ein Hauptmerkmal von Long-Covid: Immerhin ein Drittel der Betroffenen berichtet von Depressionen und Angstzuständen und das in einem Ausmaß, das die Lebensqualität deutlich beeinträchtigt3. Wir werden im Kapitel „Nervensystem“ genauer untersuchen, warum dies so ist, und welche Gegenmaßnahmen geeignet sein könnten, um diese Zustände zu verbessern.

Diese Darstellung des Beschwerdebilds bei Long-Covid ist bei Weitem nicht vollständig. Zahlreiche andere Symptome können auftreten, in unterschiedlicher Intensität. Wichtig an dieser Stelle ist es, einen ersten Eindruck von der Thematik zu bekommen und sich für die Leitsymptome zu sensibilisieren, um so einschätzen zu können, ob man selbst oder ein Angehöriger von Long-Covid betroffen sein könnte. Eine umfangreiche Liste möglicher Beschwerden finden Sie im Anhang (S. →).

Im ersten Teil dieses Buches werden wir nun Long-Covid aus konventioneller Sicht betrachten: Beschwerden, ihre diagnostische Abklärung und Zuordnung zu spezifischen Organsystemen sowie die aktuellen Behandlungsempfehlungen. Bislang lassen sich vor allem die folgenden Schwerpunkte erkennen4:

Dabei werfen die neuropsychiatrischen (neurologisch: das Nervensystem betreffend) Beschwerden die meisten Fragen auf, wie wir sehen werden. Es scheint ein weiter Weg von einem Atemwegsinfekt zu einer Schädigung des zentralen Nervensystems. Dass dieser Weg tatsächlich gar nicht so weit ist, wird sich im Folgenden zeigen.

TEIL 1: LONG-COVID AUS SICHT DER SCHULMEDIZIN

ATMUNG UND LUNGE

Von allen potenziell betroffenen Organsystemen leuchtet der Atmungstrakt wohl am meisten ein, handelt es sich beim ihm doch um das vordergründige Betätigungsfeld von SARS-CoV2. Das Risiko für Langzeitfolgen in diesem Bereich steigt mit dem Schweregrad der ursprünglichen Covid-Erkrankung. Menschen mit milden und moderaten Verläufen leiden so gut wie nie unter den hier beschriebenen Problemen. Folgeschäden sind aber durchaus im Bereich des Möglichen, falls es im Rahmen der Infektion zu einer schweren Lungenentzündung kam oder gar zu einem ARDS (akutes Lungenversagen), in dessen Folge eine künstliche Beatmung erforderlich war. Im Kontext Long-Covid wird hier vor allem von zwei Beschwerden berichtet: anhaltender Atemnot und Husten. Erstere kann dabei in unterschiedlicher Ausprägung auftreten:

Ausprägung Beschreibung
Schwere Atemnot Tritt bereits in Ruhe oder bei
kleinster körperlicher Belastung auf
(Treppensteigen, kurze
Gehstrecken)
Moderate Atemnot Tritt bei normaler körperlicher
Belastung auf (körperliche Arbeit)
Leichte Atemnot Tritt nur bei stärkerer körperlicher
Belastung auf (Sport)

Abbildung 5: Unterschiedliche Schweregrade der anhaltenden Atemnot

Radiologische Untersuchungen mittels Röntgen und CT ergaben zwei Veränderungen, die an den Lungen der Betroffenen typischerweise feststellbar waren: Fibrosen und die Verengung der kleinen Bronchien5.

LUNGENFIBROSE

Unter einer Fibrose versteht man die Umwandlung ursprünglichen Gewebes in Bindegewebe. Fibrosen sind üblicherweise die Folge anhaltender Entzündungsprozesse oder traumatischer Gewebeschädigungen. Wir alle kennen Fibrosen in Form von Narben, in diesem Sinne dürfte fast jeder von uns eine „Fibrose“ haben. Hautnarben sind dabei in der Regel aber kein größeres Problem und wenn doch, dann häufig vorwiegend optischer Natur. Anders verhält es sich bei Lungenfibrosen: Im Gegensatz zum ursprünglichen Lungengewebe kann das eingebaute Bindegewebe nichts zum Atmungsvorgang beitragen, im Gegenteil, es behindert ihn sogar. Das hat zwei Gründe: