Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2022 Nikolaus Tullius
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7557-2923-5
Das ereignisreiche Leben des Autors Nikolaus Tullius wurde aus seinem autobiografischen Buch bekannt, das in drei Sprachen erschienen ist, Deutsch: »Vom Banat nach Kanada. Aus dem Leben eines Migranten« 2011, Münster; »My journey from the Banat to Canada« 2011, USA; und Rumänisch: »Din Banat în Canada. Cronica unei călătorii de-o viaţă«, 2013, Timişoara. Nach dem Aufstieg und Höhepunkt jedes Lebens folgt der langsame Abstieg, aber auch die Möglichkeit, aus der erreichten Höhe auf die Ereignisse seines Lebens zurückzublicken, sie einzuordnen und zu interpretieren.
– Der mittlerweile 85-jährige Diplomingenieur Nikolaus Tullius ist Ehrenbürger seines Geburtsortes, der Banater Gemeinde Alexanderhausen, heute Şandra. Die Binnensiedlung entstand 1833 auf dem Praedium Pakatz, ein Gut des Bischofs von Agram/Zagreb, Alexander Alagovich. Die ersten Bewohner des »Contractdorfes« waren Zuwanderer aus umliegenden deutschen, im 18. Jahrhundert gegründeten Kolonistendörfern. Die weiteren Vorfahren des Autors kamen aus dem Moselgebiet in Deutschland, aus Belgien und Luxemburg, Lothringen und Böhmen, ins Banat, das von 1717-1778 eine österreichische Krondomäne, danach eine ungarische Provinz und ab 1920 ein Gebiet Rumäniens war.
– Infolge der Amerika-Auswanderungen um 1900 wurde die Mutter des Autors 1915 in den USA geboren. Die Familie kehrte heim, doch die »Amerikanerin« wurde trotzdem 1945 in die Sowjetunion zur Zwangsarbeit deportiert, wo sie dreißigjährig starb. Der Vater geriet nach dem Fronteinsatz in englische Gefangenschaft und gelangte nach Kanada. Die einzige Stütze des Waisenkindes war seine Großmutter, die ihn ernährte und großzog. Trotz allen Unbills in der Nachkriegszeit im kommunistisch regierten Rumänien ließ sich Niki (wie viele Schicksalsgefährten) nicht unterkriegen, lernte gut, pendelte täglich nach Temeswar/Timişoara ins Gymnasium und besuchte danach die Elektrotechnik-Fakultät der Polytechnischen Universität, die er 1958 als Diplomingenieur absolvierte. Im November 1957 starb seine einzige Bezugsperson, die Großmutter. Nikolaus beantragte daher die Ausreise zu seinem Vater, nach Kanada und konnte tatsächlich 1961 nach Montreal ausreisen.
– Es folgten die üblichen Schwierigkeiten, die jeder Emigrant überwinden muss: Integration in eine andere Gesellschaftsordnung, eine fremde Sprache (Tullius hatte Grundkenntnisse in Englisch und Französisch), andere Sitten und Gebräuche erlernen. Dank eines eisernen Willens und hilfreicher Menschen konnte Nikolaus alle Anfangsschwierigkeiten überwinden, machte sich mit den sich mit den jüngsten enormen Fortschritten in seinem Fachgebiet vertraut und wurde Mitarbeiter der damals größten kanadischen Firma der Fernmeldeindustrie in Montreal, die ihn später zur neu gegründeten Abteilung für Forschung und Entwicklung nach Ottawa sandte. Hier fand er seinen Traumjob, heiratete und hatte zwei Söhne. Seine Arbeit betraf die neuesten Entwicklungen in der Halbleitertechnik und der Anwendung von Software in der Fernmeldetechnik. Seine mehr als 20 technischen Publikationen präsentierte er weltweit auf internationalen Tagungen und hatte so die Gelegenheit, die Welt kennenzulernen (was ihm aus Rumänien nicht möglich gewesen wäre).
– Seit seiner Pensionierung im Jahre 2000 befasst sich der Autor mit Familienforschung und mit den kulturellen Überlieferungen seiner Banater Vorfahren, die er den englischsprechenden Nachkommen der Donauschwaben in Amerika und der Welt näherbringen will, wozu ihn seine Mehrsprachigkeit und sein Interesse für Geschichte und Ethnografie entgegenkommt. Ebenfalls förderlich ist die (im Buch beschriebene) »globale Dorfstraße«, das Internet und die Portale, die eine weltweite Verbindung von Interessenten ermöglichen. Denn Interesse am Schicksal der Vorfahren besteht weltweit und es gibt auch Dokumentationsmöglichkeiten, es liegt nur an der Orientierung und am Beharrungsvermögen der Forscher, sich darin einzuarbeiten und so zu befriedigenden Erkenntnissen zu gelangen.
– Eine Besonderheit des Autors ist sein doppelter – und dennoch objektiver – Blickwinkel: auf die »Pipatsch«, den Klatschmohn, als Symbol der Banater Heide und die roten Ahornblätter in der Flagge Kanadas. Beide Welten hatten dem Autor ihr Entgegenkommen, aber auch ihre kalte Schulter gezeigt und es bedurfte eines starken Willens, um die Hürden zu überwinden und zur nächsten Lebensphase durchzustarten. Nun ist es Zeit, Rückschau zu halten und das Erlebte zu bewerten.
– Es ist Nikolaus Tullius hoch anzurechnen, dass er trotz der notwendigen Anpassung an das neue Leben in der Fremde die Grundwerte seiner Heimat mitgenommen und bewahrt hat: Fleiß. Offenheit und Verständnis für seine Mitbewohner; was ihm auch zurückgegeben wurde. Er kehrte als Rentner öfter in seine Banater Heimat, in seinen Geburtsort und in seine Schul- und Universitäststadt zurück, beobachtete die Veränderungen und versuchte diese zu verstehen und einzuordnen. Sein Geburtsort ehrte ihn als Ehrenbürger, der sein Dorf bekanntmachte und in Temeswar nahm er im Sommer 2008 am 50-jährigen Absolventreffen teil. Dabei nahm er die Veränderungen im Banat und in dessen Hauptstadt wahr, eben andere Zeiten, andere Sitten.
– Das Buch umfasst sechs hochdeutsche und siebzig Texte in der heimischen, rheinfränkisch-pfälzischen Mundart, (die der Autor noch unverfälscht beherrscht) umrahmt von gut ausgewählten, passenden Fotos. Der Kanada-Banater hält auf den mehr als 200 Seiten des Buches Rückschau auf die »Überbleibsel« seines langen und erfüllten Lebens von der Dorfstraße seiner Jugend bis zu seiner modernen Wohnung in Ottawa mit Ausblick auf den nahen Teich mit den rastenden Kanadagänsen und schließlich mit der friedlichen Perspektive, den bekannten »Vier Quadratmetern für die Familie«, im dem in der Nähe des Stadtviertels Kanata gelegenen Friedhof.
– Die hochdeutschen Texte werden als »Stationen meines Lebens« geführt und umfassen: Die Urheimat der Vorfahren, den Banater Heimatort Alexanderhausen/Şandra, Dorfleben, Ausreise, Einleben in die neue Welt, Weltreisen und Heimreisen ins Banat. Der Mundartteil »Schwowisch Gschriebenes« ist in vier Sektionen unterteilt: Dorf uf dr Heed beschreibt das Dorf Alexanderhausen in seiner Landschaft; Dorflewe umfasst das Leben und die Arbeit im Dorf, Alltägliches und Seltenes; Was vorkumm is umfasst Kinderspiele, Arbeiten und Tätigkeiten, Speisen; Verschiedenes wird ernster, mit Priefungen, Schwabenschicksal, Abschiedsglocken.
– Insgesamt ein ausgewogener, gut durchdachter und anschaulich dargestellter Band, der dem großen Ziel gerecht wird, das Wesentliche eines typisch schwäbisch-kanadischen Lebens darzustellen und zugleich der Nachwuchsgeneration als Informationsquelle mitzuteilen. Das ist Tullius auch in seinen zahlreichen, deutschen und englischen Informationstexten in Kanadischen Blättern gelungen. Bemerkenswert sind auch die häufig vertretenen, gediegenen Mundartbeiträge in der Rubrik »Mei Mottersproch« der »Banater Post« (München), wo Nikolaus Tullius inzwischen der wichtigste und zuverlässigste Schreiber ist.
– Das Leben geht weiter, bis es ein zufälliges Ende findet, aber das Wesentliche ist bereits geschehen und wird in diesem Erinnerungsbuch für die Nachwelt festgehalten.
Hans Gehl, Tübingen
Im Jahr 2011 erschien der Roman meines Lebens, das Buch »Vom Banat nach Kanada««. Es war ein Versuch, etwas von unserer bewegten, von manchen als interessant bezeichneten, Zeit aufzuzeichnen. Die Erlebnisbeschreibung sollte in der Form des Romans etwas zur Veranschaulichung der Ereignisse beitragen, die unser kleines donauschwäbisches Völkchen hauptsächlich durch den Zweiten Weltkrieg miterleben musste. Ich versuchte, den Nachkommen der Erlebnisgeneration etwas von dem oft tragischen Schicksal der Banater Schwaben zu berichten, da es in vielen Geschichtsbüchern kaum beachtet wird. Nach dem Buch in deutscher Sprache erschien es im selben Jahr in englischer Sprache und 1913 in rumänischer Sprache. Dann erschien 2017 das Büchlein »Gschichte vun drhem« mit 38 Mundartstücken. Inzwischen sind noch etwa 30 Mundartstücke dazu gekommen, die im vorliegenden Buch zusammengefasst sind.
In diesem Aufsatz möchte ich noch einmal mein Leben überblicken, mit Einbezug meiner näheren Familie. Er ist als mein Vermächtnis an die Nachwelt gedacht. Wir erleben, dass trotz zunehmender Umweltverschmutzung, trotz chemischer Zusatzstoffe in unserer Nahrung, die meisten von uns heute länger leben als die Menschen früherer Zeiten. Das hat sicherlich mit den besseren Wohnbedingungen, der besseren Ernährung, der besseren medizinischen Betreuung und den vervollkommneten Arzneimitteln zu tun. Trotz einiger Wohlstandskrankheiten reisen wir mehr und sehen mehr von unserer schönen Welt. Durch den rasanten Fortschritt der elektronischen Technologien werden wir von wahren und nützlichen, wie auch von falschen und nutzlosen Informationen überflutet.
Die Mehrheit unserer Vorfahren wurden von ihren Kaisern aus dem Hause Habsburg im neuerworbenen Kronland Banat angesiedelt. Das Banat gehörte zu Ungarn, bevor es in den letzten hundertfünfzig Jahren eine Provinz des Osmanischen Reiches war. Die Einwanderer aus den Gebieten des Römischen Reichs Deutscher Nation erkannten schnell, dass Pannonien anders war, als ihre angestammte Heimat. Es war auch anders als das von den Werbern versprochene Land »in dem Milch und Honig fließen«.
Viele Ansiedler mussten sich ihre Häuser selbst erbauen, bekamen aber ihre Felder in »ewiger Erbpacht« direkt von ihrem Kaiser. Das war besser als die in ihrer Heimat verlassene Hörigkeit, die Abhängigkeit von einem Gutsherrn. Im neuen Land war das Klima ungesund, es gab zu viele Sümpfe und viele Schwärme von Stechmücken. Es gab Cholera- und Typhusepidemien, so dass die neue Heimat vorerst den schlechten Ruf als Grab der Schwaben erhielt. In Temeswar entstand eine fähige und hilfsbereite deutschsprachige Verwaltung. Die überlebenden Ansiedler und ihre Nachkommen schafften sich ein annehmbares Leben und brachten es sogar zu einem gewissen Wohlstand.
Nach wenigen Jahrzehnten stellten die Habsburger das Banat 1778 unter ungarische Verwaltung. Es war das Zeitalter des Merkantilismus: Solange ihre wirtschaftlichen Interessen wahrgenommen wurden, waren die Habsburger bereit, die Last der Verwaltung an Ungarn abzugeben. Das war ein Sieg für Ungarn: Es konnte eine während der Türkenzeit verlorene Provinz wieder in seinen Staat eingliedern. Dass der aufkommende Nationalismus die Nachkommen der deutschen Ansiedler dem Magyarisierungsdruck aussetzen sollte, war den Habsburger nicht wichtig. Das Überleben der Monarchie war ihnen viel wesentlicher, sei es auch als Doppelmonarchie Österreich-Ungarn.
Nach dem Ersten Weltkrieg lag das Schicksal der Banater Schwaben in den Händen der in Versailles und Trianon versammelten Politiker, die für die Entwicklung eines Friedensplans in Europa verantwortlich waren. Sie haben die Bitten der Banater Schwaben für ein ungeteiltes Banat ignoriert. Unsere natürlich gewachsene Gemeinschaft wurde zersplittert, Familien wurden gewaltsam gespalten und die Wirtschaft litt großen Schaden. Mit der Zeit erholte sich die Wirtschaft, die Schwaben arbeiteten viel und schwer, und erreichten nochmals einen gehobenen Lebensstandard. Der Wiederaufbau wurde durch den Zweiten Weltkrieg gewaltsam unterbrochen. Die Schwaben erlebten grausame Verschleppungen, Enteignungen und den Verlust aller Rechte. Viele Banater Schwaben versuchten sich in den Westen abzusetzen. Die Verbliebenen mussten sich den neuen Umständen anpassen. Ohne Feld konnten sie nicht Bauern bleiben. Viele wurden Industriearbeiter, Jugendliche gingen in die Schulen, andere arbeiteten in staatlichen Betrieben wie Staatsfarmen und Traktorenstationen.
In den 1960er und 1970er Jahren gab es ein erstaunliches Aufblühen der rumäniendeutschen Kultur. Talente in so manchen Bereichen der Kultur und Wissenschaft kamen zur Geltung. Es sollte das letzte Erblühen des Kulturlebens der Banater Schwaben sein. Als Diktator Ceauşescu die Verwandlung der Dörfer in landwirtschaftliche Kleinstädte und die Integrierung der Nationalitäten in eine einzige sozialistische Nation anvisierte, war das Maß voll. Die Banater Deutschen saßen auf gepackten Koffern und nahmen jede Gelegenheit wahr, in die Heimat der Ahnen zurückzukehren. Man hat sie nicht ausgewiesen, doch man hat ihnen den Verbleib unmöglich gemacht.
Warum meine Großmutter als vierundzwanzigjährige Bauerntochter aus Neusiedel als Kellnerin in einer Herberge bei Kleinbetschkerek arbeitete, wurde nie geklärt. Dort hat sie aber meinen Großvater Johann Lukas getroffen. Er war fünfzehn Jahre älter als sie und seit zwei Jahren Witwer. Die beiden heirateten noch im selben Jahr und im folgenden Jahr wurde ihr Sohn, mein Onkel Nikolaus Lukas geboren. Die Familie wohnte in Perjamosch, wo sie Anteile einer an der Marosch gelegenen Ziegelfabrik besaß. In Alexanderhausen waren noch Erzeugnisse dieser Fabrik zu sehen: Die Ziegel waren weiß, nicht rot wie die gewöhnlichen Ziegel. Sie waren von höherer Qualität und daher auch teurer.
Wann und warum die Ziegelei zugrunde ging ist nicht mehr feststellbar. Mein Großvater beschuldigte seine Mitinhaber, packte sein Gepäck und brachte seine Familie nach Amerika. In Cincinnati lebten bereits Verwandte meiner Großmutter, daher war diese Stadt ein natürlicher Zielort. Wie so manche Banater Familien, wollten sie in einigen Jahren dort Geld verdienen und damit ins Banat zurückkehren. In Hamburg bestiegen sie das Schiff »Amerika« und erreichten New York am Weihnachtsabend des Jahres 1912. Noch Jahrzehnte später konnte Oma den überwältigenden Eindruck der Millionen Lichter von New York beschreiben.
Die Jahre vor und nach dem Ausbruch des Weltkriegs brachten guten Verdienst. Auch als Amerika in den Krieg zog, gab es in Cincinnati viel Arbeit. Oma nähte Tag und Nacht, aber Großvater fand deutlich weniger Arbeit. Seine ungarndeutschen Freunde ermutigten ihn, die Ersparnisse der Familie in ungarische Kriegsanleihen anzulegen. Gegen die Einwende meiner Großmutter, dass Ungarn den Krieg verlieren könnte, stand die Überzeugung der Freunde: »Es wird immer ein Ungarn geben.« Im Jahr 1915 wurde in Cincinnati meine Mutter Barbara Lukas geboren. Dem Kriegsende folgten schwere Zeiten für die Familie und sie beschloss ins Banat zurückzukehren.
Auf einem in dieser Zeit entstandenes Foto trägt Oma ein Kleid der zwanziger Jahre, Großvater trägt einen Querbinder, Barbara trägt ein Kleid wie eine typische fünfjährige Amerikanerin, und Nikolaus ist ein typischer zwölfjähriger Junge aus Cincinnati, Ohio.
Die Reise mit einem italienischen Schiff ging von New York nach Triest. Es war eine lange und miserable, von Seekrankheit geplagte Reise. Großmutter wusste noch Jahrzehnte später von den feuerspeienden Bergen Italiens zu erzählen, ein Höhepunkt der Heimreise. Die Weiterreise mit der Eisenbahn ging über Budapest, Arad und Temeswar und passierte zwei neue, im Entstehen begriffene Grenzen.
Im Dorf fand die Familie ein kleines Haus mit Aussicht auf Hutweide und Bahnhof. Es war kaum groß genug für die vierköpfige Familie, aber man erwartete den Ertrag der ungarischen Kriegsanleihe um damit ein größeres zu kaufen. Die Scheine kamen vorläufig in die Schublade, bis Großvater einen Anwalt in Temeswar fand, der sich der Sache annahm. Wie viele rumänische Lei er für die Anleihen erhalten hat und wie viele er für seine Dienste berechnet hat, ist nicht überliefert. Sicher ist nur, dass die Familie von ihrem Anteil nicht reich geworden ist.
Die Tatsache, dass die rumänischen Behörden die deutsche Muttersprache als Unterrichtssprache in der Schule wieder erlaubten, brachte allgemeine Erleichterung. Bei ihrem Schulbeginn besuchte meine Mutter eine deutsche Schule. Oma war wieder zu den schwäbischen Röcken und Blusen zurückgekehrt, aber Mutter trug weiter ihre städtische Kleidung. Nachdem Mutter die Volksschule absolviert hatte, wurde eine zweite Nähmaschine angeschafft und es arbeiteten zwei Schneiderinnen im Zimmer. Die Mädchen und junge Frauen des Dorfes verlangten moderne Kleider und mit Nähen und Hausarbeit waren Großmutter und Mutter voll beschäftigt.
Dann kam das Jahr in dem Mutter Kirchweihmädel wurde. Auf dem Kirchweihfoto steht sie in der mittleren Reihe und in der Reihe hinter ihr steht ein junger Mann der später behauptete, dass Mutter das schönste aller Kirchweihmädel war. Die beiden heirateten im folgenden Jahr, nachdem Vater seine Tischlerlehre als Meister beendet hatte. In der Schule war er ein ausgezeichneter Schüler, aber die zum Studium nötigen Mittel konnte seine Familie nicht aufbringen. In Folge setzten meine Eltern sich bereits vor meiner Geburt als Ziel: Ihr Kind sollte die Möglichkeit erhalten, alle seinen Fähigkeiten entsprechenden Schulen zu besuchen.
Im Rückblick bin ich ziemlich sicher, dass mein Geburtshaus bei der Gründung des Dorfes, also um 1833 erbaut wurde. Es hatte dicke gestampfte Mauern, aber der dreieckige Giebel war aus gebrannten Ziegeln. Die lange Vorderseite zog sich der Gasse entlang und zeigte der Welt die drei Fenster, je eines für Zimmer, Küche und Kammer. Die innere Seite hatte einen Gang mit Brustmauer. Die Speis genannte Speisekammer lag am hinteren Ende. Der Eintritt ins Haus erfolgte durch die Küche, deren Tür neben der Tür zur Speis und der Dachbodentür lag. Dem Haus gegenüber stand ein Parallelgebäude mit Sommerküche, Werkstatt, Scheune und Ställen.
Speis, Dachboden, Sommerküche, Werkstatt, wurden am Abend abgeschlossen und die Schlüssel wurden ins Haus gebracht. Die Küchentür wurde von innen verschlossen und der Schlüssel im Schloss belassen. Als wir rumänische Kolonisten im Haus aufnehmen mussten, gehörte die Kammer ihnen, zusammen mit der Sommerküche und der Werkstatt.
Das Zimmer hatte vier Fenster, eines zur Gasse, eines zum Gang und zwei an der Giebelseite zum Hof. Dieses helle, freundliche Zimmer diente den Großeltern als Schlafzimmer, aber auch die beiden Nähmaschinen standen dort und waren täglich viele Stunden lang in Betrieb. Auch festliche Mahlzeiten, oft mit Gästen, fanden dort statt, wobei die dekorative, von der Decke herabhängende Petroleumlampe ein verklärtes Licht beitrug.
Ich habe viele schöne Kindheitserinnerungen an dieses Haus, aber auch traurige Erinnerungen wie der Abschied von meinem Vater für siebzehn Jahre und der Abschied von meiner Mutter und von meiner Großmutter, beide für immer.
Heute steht das Haus nicht mehr, eine Art Villa steht an seinem Platz. Wo einst das Gärtel (der Blumengarten) war, steht ein Wirtschaftsgebäude. Der große Garten ist verwildert und mit Mais bepflanzt. Die Ereignisse der Kindheit und Jugend werden in meiner Erinnerung weiterleben, so lange bestehen wie ich selbst.
Der Plan zur Errichtung des Dorfes soll um 1930 auf dem Zeichnungstisch eines Wiener Ingenieurbüros entstanden sein. Man hatte viel Erfahrung mit dem Layout der Banater deutschen Dörfern gewonnen. Die Wiener Militärstraße zog sich von Billed gegen Lovrin durch flaches Land. Der Plan des Dorfes stellte die Kirche mitten auf diese Landstraße und umgab sie mit 16 nahezu quadratischen Wohnvierteln. Daraus ergaben sich drei parallel zur Landstraße und drei senkrecht dazu verlaufende Straßen. Die Landstraße wurde zur Hauptgasse des Dorfes. Die Nebengassen hatten Namen, die aber praktisch nicht verwendet wurden, da die Haunummern (von 1 bis nahezu 500) zur Adresse genügten. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlief die Landstraße, als Temescher Straße bezeichnet, von Temeswar nach Tschanad.
Die Wehrmacht erschien im Jahr 1941 als »Lehrtrupp« in Rumänien. Die fröhlichen jungen Soldaten mit ihren funkelnagelneuen Fahrzeugen machten im Dorf einen großen Eindruck und nicht nur bei den Mädchen. Es war eine allgemeine Überraschung, als sie plötzlich nach Serbien abzogen und dort in die Kämpfe zur Eroberung Jugoslawiens eingesetzt wurden.
Von der gotischen Schrift, von Griffel und Schiefertafel, avancierten wir in der zweiten Klasse zu Stahlfedern, linierten Heften und zur »Deutsche Normalschrift«. Spuren dieser kursiven Schreibweise sind in meiner Handschrift erhalten geblieben. Mit der strikten Anwendung des Satzes »Fünf Minuten vor der Zeit, ist die deutsche Pünktlichkeit« hatten wir Schüler am Anfang Schwierigkeiten, aber auch dieser Satz hat in unserem Verhalten lebenslange Spuren hinterlassen. Vom »deutschen Gruß« kehrten wir bald wieder zum traditionellen »Grüß Gott« zurück. Und eine »völkische Hochzeit« war ein Unikum geblieben. Alle deutschen Familien wurden über Nacht Mitglieder der Deutschen Volksgruppe in Rumänien. Wer seinen Mitgliedsbeitrag nicht bezahlte, konnte mit Nachteilen rechnen. Diese nahmen später drastische Formen an, wie eingeschlagene Fensterscheiben und an das Haus der beim rumänischen Militär gebliebenen Männer geworfene Eier. Die meisten Dorfleute fügten sich den Verordnungen (1943 junge Männer zur Wehrmacht, u.a. Vorschriften), weil ihre Nachbarn es taten. Feste politische Überzeugungen, oder Änderung derselben, waren unter diesen Umständen äußerst selten.
Die 1943 zur rumänischen Armee einberufenen Männer wurden bei ihrem Eintreffen am Temeswarer Bahnhof in einem großen Raum versammelt und eindringlich an ihre Pflicht als deutsche Männer erinnert, in diesem Daseinskampf in den deutschen Streitkräften für Deutschland zu kämpfen. Sie wurden in Eisenbahnwagen verladen, die Wagen blieben versiegelt bis Wien. Auf dem Bahnhof Wien erlebten die Banater Männer eine erste Überraschung. Von den dort beschäftigten Arbeitern wurden sie als Kriegsverlängerer und als Volksdeutsche Affen beschimpft. Dass es im Reich Widerständler dieser Art gab, war für sie ein großer Schock. Später berichteten manche Männer von Überanstrengungen und Hungerleiden im Ausbildungslager Grafenwöhr, von Fronteinsätzen in Jugoslawien und in Russland. Der Gemeindearzt war in Verruf geraten, weil er alle Männer des Dorfes als tauglich zum Wehrdienst in der deutschen Wehrmacht zertifiziert hatte. Es dauerte nicht lange, bis regelmäßige Nachrichten über die Gefallenen das Dorf erreichten und für jeden fand ein Requiem in der Kirche stattfand.
Viele Jahre später erfuhr man, dass man den «SS-Freiwilligen« die deutsche Staatsbürgerschaft nach dem siegreichen Ende des Krieges versprochen oder in Aussicht gestellt hätte. Aus diesem Versprechen soll sich die von manchen nach 1945 erhaltene Wiedergutmachung herleiten.
Ebenfalls viele Jahre später wurde es offenbar, dass unter den höheren Anführern zweierlei Zukunftspläne kursierten. Einige hofften auf eine selbständige oder wenigstens autonome deutsche Provinz »Donauland«, andere fürchteten eine »Heim ins Reich« Aktion, wie sie die Dobrudscha- und Bessarabien-deutschen erfahren hatten. Für eine Umsiedlung hätten sich die Banater Schwaben kaum begeistern können, und sie wären sicher nicht bereit gewesen, dafür zu kämpfen und ihr Leben zu lassen.
Als mein Vater im Frühjahr 1944 nach Hause auf Urlaub kam, nahm er Mutter und mich mit dem Zug nach Temeswar, wo wir Familienfotos machten. Der Temeswarer Bahnhof war bereits bombardiert worden, der Zug hielt an, bevor wir den Bahnhof erreicht hatten, wir gingen zu Fuß in die Stadt.
Ich weiß nicht, wie mein Vater die militärische Lage beurteilte, aber er beschloss zu seiner Einheit zurückzukehren. Vor dem Abschied versprach ihm meine Mutter, jede Gelegenheit zur Flucht nach Westen zu benützen, sobald es möglich werde. Niemand wusste, wer diesen Krieg überleben wird, oder wann und wo es ein Wiedersehen geben sollte. Für meine Mutter hielt das Schicksal kein Wiedersehen bereit, meinen Vater aber sollte ich nach 17 Jahren wiedersehen.
Als die Radiogeräte zur Verwahrung ins Gemeindehaus abgeliefert werden mussten, machten sich viele Dorfleute zur Flucht bereit. Sie deckten ihre Pferdewagen mit einer Plane und bepackten sie mit Vorräten. Ungewissheit herrschte überall: Bleiben oder Flüchten? Als Gruppe oder jeder für sich? Die Volksgruppe wankte zwischen den Alternativen. An einem Septembertag kam endlich Kreisleiter Frauenhoffer ins Dorf. Er stand in seinem Wagen und sprach zu den vor dem Gemeindehaus versammelten Leuten. Das Dorf sollte planmäßig evakuiert werden. Für Leute ohne Pferd und Wagen sollten Listen angelegt werden, um die nötigen Eisenbahnwagen bereit zu stellen. Meine Mutter trug unsere Namen in die Liste ein, aber die Zeit verging und nichts geschah.
Im Dorf verbreiteten sich die Gerüchte von Gräueltaten der Sowjetsoldaten auf. Eine Einheit der ungarischen Armee kam ins Dorf, hielt sich aber nicht lange auf. Eine bedrückende Stille lag über dem von der Verwaltung verlassenem Dorf. Die Ankunft der Roten Armee stand bevor und wurde mit großer Besorgnis erwartet.
An 21. September sahen wir die ersten Soldaten der Roten Armee. Sie kamen in unseren Hof und requirierten zwei Hühner. Mutter blieb im Haus und wir atmeten erleichtert auf, als die Gassen wieder leer waren. Am nächsten Tag fielen die ersten Schüsse. Sie kamen aus der Richtung Neusiedel. Später entstand ein lautes Getöse, als Artilleriefeuer zum Lärm der Gewehre und Maschinengewehre hinzukam. Durch die Gasse kamen einige verwundete Sowjetsoldaten von ihren Stellungen beim Bahndamm zurück ins Dorf. Die Russen wurden angegriffen, aber wer war der Gegner?
Irgendwo brannte ein Haus und Panik erfasste die Menschen. Wir verbrachten die Nacht in einem Keller, die erste Nacht in meinem Leben, die ich nicht in meinem Bett schlafen konnte. Als die Schießerei etwas nachließ, ging Mutter zurück zu unserem Haus um einige wichtige Arbeiten zu besorgen. Auf dem Rückweg zum Keller wurde sie von einem Splitter verwundet. Der Krieg war in unser friedliches Dorf gekommen.
Am nächsten Tag, bei einer Feuerpause, als wir auf den Weg zu Verwandten waren, begegneten uns drei deutsche Soldaten mit einem Maschinengewehr und vielen Koffern mit Munition. Das Dorf war in deutscher Hand und die Russen hatten das Dorf verlassen.
Es sprach sich herum, dass die Soldaten Teil der Polizeidivision waren und von Griechenland kamen. Als Kind glaubte ich, dass die Deutschen nun die Russen besiegt hatten und das Leben im Dorf zur Normalität zurückkehren werde. Stattdessen verbreitete sich die Nachricht von Haus zu Haus, dass wir das Dorf verlassen mussten. Über Neusiedel erreichten wir das Dorf Bogarosch und wurden von der verwandten Familie Denuel gastfreundlich aufgenommen. Mutter kehrte jeden zweiten Tag in unser 6 Kilometer entferntes Dorf zurück. Auch in Bogarosch setzte sie unsere Namen auf eine Liste der zur Flucht bereiten Familien. Zwei mit dem Wichtigsten vollgepackte Säcke standen für die Flucht bereit. Auch diesmal trafen die versprochenen Eisenbahnwagen nicht ein.
Nach fast zwei Wochen näherte sich die Front Bogarosch. Die Wehrmacht hatte das Dorf bereits verlassen als die Russen es stürmten. Wir verbrachten die Nacht wieder einmal im Keller. Mit großem Schrecken stellte Mutter fest, dass es keine Gelegenheit zur Flucht in den Westen mehr gab. Wir kehrten nach Alexanderhausen zurück und versuchten uns wohnlich einzurichten. Etwa ein Dutzend Häuser waren dem Feuer zum Opfer gefallen und standen nur noch als Ruinen da. Die unbewohnten Häuser der geflüchteten Dorfbewohner standen zunächst leer, bis sie von rumänischen Kolonisten besetzt wurden. Manche Kolonisten waren Rumänen, die in früheren Jahren durch das Dorf gezogen waren und ihre Äpfel verkauft hatten. Andere waren Flüchtlinge (refugiaţi) aus Bessarabien und der Bukowina, Gebiete die von Rumänien wieder an die Sowjetunion abgegeben wurden. Auch die letzteren wurden von der Dorfbevölkerung nicht gerade geliebt, aber viele von ihnen wurden als gelernte Leute respektiert. Die Frage, ob Vater noch lebt und wo er wohl sein mag, lastete schwer auf unseren Gemütern und bedrückte besonders meine Mutter.
An einem Wintertag verkündete der Trommler einen Befehl der Behörden: Die Männer zwischen 17 und 45 Jahren und Frauen zwischen 18 und 35 Jahren mussten sich im großen Wirtshaussaal Saal einfinden, mit Verpflegung für vierzehn Tage. Es war unklar, ob es sich um einen zweiwöchigen Arbeitsdienst oder um eine Verschleppung handelte. Durch ihre Geburt in den USA war Mutter amerikanische Staatsbürgerin und sollte somit von der Verschleppung ausgenommen sein. Als die Gendarmen ins Haus kamen, ließen sie dieses Argument aber nicht gelten. Sie verlangten einen amerikanischen Geburtsschein, den wir leider nicht hatten. Mutter versteckte sich, aber nach einigen Nächten im kalten Strohschober beschloss sie, sich zu melden. War es ihr Pflichtgefühl, dass sie sich dem vorgegaukelten vierzehntägigen Einsatz nicht entziehen wollte? Oder glaubte sie den Drohungen der Polizisten, dass sie in ihrer Abwesenheit Oma mitnehmen werden? Ihr Versteck im Strohschober war sicher kalt und unfreundlich. Wenn sie geahnt hätte, dass es sich um eine Verschleppung nach Russland handelte, hätte sie es sicher länger in ihrem Versteck ausgehalten. In dieser Zeit der allgemeinen Unsicherheit konnten momentane Entscheidungen fatale Folgen haben. Zufälle dieser Art bestimmten leider so manches Schicksal.
Oma und ich besuchten Mutter im Sammellager von Perjamosch. Dort reichten wir uns die Hände durch das Eisengitter. Unwillkürlich kam mir der Gedanke, dass ich meine Mutter zum letzten Mal sah. Ich verscheuchte den Gedanken, wurde ihn aber nie völlig los.
Am folgenden Tag machte sich Oma noch einmal zu Fuß auf den Weg nach Perjamosch, um Mutter einige Kleidungsstücke zu bringen. Auf dem Heimweg wurde sie von einem Schneegestöber überrascht. Sie rutschte aus, ihr rechter Fuß war gebrochen, und sie wurde nur kurz vor dem Erfrieren von einen mit dem Pferdewagen vorbeifahrenden Landsmann gerettet.
Im Frühjahr heilte sich der Fuß ohne ärztliche Hilfe aus, aber nicht ganz richtig. Sie hinkte durch die ihr noch verbliebenen Jahre hindurch, konnte aber ihre Nähmaschine mit dem heilen Fuß im Gang halten. Ich war mir immer bewusst, dass ich bei allem Unglück doch noch Glück hatte. Ohne Omas Hilfe kann ich mir mein eigenes Überleben überhaupt nicht vorstellen.
Das Dorf hatte sein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit verloren. Die vielen rumänischen Kolonisten hatten alle Rechte und wir hatten alle Rechte verloren. Nur langsam erfuhr man, welche Häuser unbewohnt waren, weil ihre Bewohner geflüchtet waren. Die Kaufläden waren geschlossen, der illegale Handel florierte. Nicht nur das Geld, sondern auch das Menschenleben schien wertlos. Von den nach Russland Deportierten erreichte uns kein Lebenszeichen.
Endlich traf eine Rotkreuzpostkarte von meinem Vater ein. Er hatte den Krieg überlebt und befand sich in einem englischen Lager für Kriegsgefangene. Wir freuten uns, dass er überlebt hatte und erwarteten seine Entlassung und Heimkehr. Ich erinnere mich an eine Nacht, als vier Sowjetsoldaten in unserer Küche schliefen. Oma und ich schliefen im Zimmer daneben. Oma gestand später, dass sie in dieser Nacht kein Auge geschlossen hat. Die Soldaten waren aber anständige Menschen und zogen am Morgen mit ihrer Einheit in Richtung Ungarn weiter.
Einige unserer geflüchteten Dorfleute kehrten zurück und erzählen von ihrem Hungerleiden in den Lagern Österreichs und wie sie von den Sowjets zur Rückkehr beordert wurden. Sie fanden ihre Häuser von Kolonisten besetzt und mussten bei Verwandten oder Nachbarn unterkommen. Manche von ihnen beschlossen spontan, wieder in den Westen auszuwandern, sobald sich dazu eine Möglichkeit ergab.
Als man sie aus den Kriegsgefangenenlagern entlassen hatte, kehrten einige der zum deutschen Militär eingerückten Männer ins Dorf zurück, oft auf abenteuerliche Weise. Sie mussten sich verstecken, den der neuen Regierung erschienen sie als Gefahr. Sie wurden in ihrem eigenen Dorf von der Miliz gejagt, festgenommen und eingesperrt. Sie hatten keine Gesetze des Landes übertreten und sahen keinen Grund, als Verbrecher behandelt zu werden.
Die Dorfschule öffnete wieder ihre Tore. Wir waren in der dritten Klasse, mussten aber den Unterricht mit einer rumänischen Fibel beginnen. Es war erstaunlich, wie schnell wir diese Sprache erlernten. Eines der traurigsten Erlebnisse meines Lebens war die Rückkehr einiger Russland-Deportierten. Sie sahen krank aus und brachten die ersten Nachrichten von den verschleppten Landsleuten. Sie berichteten, dass auch meine Mutter eine der Verstorbenen war. Ich war unfähig diese Nachricht anzunehmen. Das konnte doch nicht wahr sein, irgendwer musste da einen Fehler gemacht haben. Oma nahm das Unglaubliche mit tiefer Trauer aber auch mit einem Gefühl für das Unvermeidliche wahr. Sie versprach mir, dass sie ihr Leben lang für mich da sein werde. Sie hat ihr Versprechen redlich eingehalten.
Nachdem die Monate verflossen waren, konnte ich mich zum Verständnis durchringen, dass es in unserer Welt keine Gerechtigkeit gab. Es gab nur die Unsinnigkeit eines unseligen Krieges und wir Menschen waren nur Spielbälle des Schicksals. Von meiner Mutter blieb uns nur ein Brief, den sie auf dem Transport nach Russland geschrieben hatte. Darin zeigt sie sich nur um uns Daheimgebliebene besorgt:
»… Liebes Kind und geliebte Mutter, bleibt gesund und stark, so wie ich es bleiben will. Ich möchte euch bitten stark durchzuhalten. Achtet auf eure Gesundheit, wir wollen uns doch einst wiedersehen …«