INHALT

Der Überfall auf die Tankstelle war völlig missglückt und zu allem Überfluss war auch noch ein Mensch gestorben, dessen Tod man nun Isabella anhängte. Jetzt saß sie in Untersuchungshaft und ihre Aussichten für die Zukunft sahen nicht gut aus. Noch vor dem Beginn der Gerichtsverhandlung taucht ein Mann auf und bietet ihr an, sie aus dem Gefängnis zu holen, wenn sie sich als Gegenleistung dazu bereit erklärt an einem geheimen Forschungsprojekt teilzunehmen. Obwohl Isabella zunächst skeptisch ist, überwiegt ihre Angst vor einer jahrelangen Haftstrafe. Sie willigt ein, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, auf was sie sich einlässt. Doch schon bald wird ihr klar, warum ausgerechnet sie ausgewählt wurde.

Ein besonderer Dank für geopferte Zeit
und konstruktive Unterstützung
geht an meine Testleser:

Andrea
Daniela
Jenny
Maren
und
Marvin

Copyright © 2022 Markus Linnemann

Herstellung und Verlag:

Books on Demand GmbH Norderstedt

Umschlaggestaltung: M. Linnemann

www.mlive-studio.de

ISBN: 9783755750000

Inhaltsverzeichnis

ISABELLA

Es war ein kahler Raum. Nicht sehr groß und ohne Fenster, jedenfalls wenn man von dem großen Spiegelfenster auf der einen Seite absah. Die Luft war abgestanden. Eine einfache Leuchtstoffröhre unter der Decke erzeugte ein kaltes Licht. Isabella saß auf einem der beiden Stühle, die zusammen mit dem schlichten Holztisch die einzige Ausstattung in diesem Raum war. Sie saß mit dem Blick zur Tür an diesem Tisch und fragte sich schon eine Weile, wer wohl gleich den Raum betreten würde. Man hatte ihr gesagt, ihr Anwalt wollte sie sprechen, doch sie konnte sich nicht daran erinnern, einen beauftragt zu haben, geschweige denn konnte sie einen bezahlen. Ein Pflichtverteidiger vielleicht, doch der würde ihr wohl kaum helfen können. Sie saß mächtig in der Scheiße und daran würde so ein zweitklassiger Winkeladvokat auch nichts ändern können. Insgeheim hatte sie sich schon damit abgefunden, für eine ganze Weile den schicken, hellblauen Overall zu tragen und sich ein Zimmer mit dieser fetten Kuh zu teilen, die man vermutlich wegen unerlaubter Blödheit eingesperrt hatte. Isabella war klar, dass ihr Leben bisher nicht perfekt verlaufen war. Auch jetzt war sie nicht zum ersten Mal Gast in einer JVA, aber diesmal würde sie wohl so lange bleiben wie nie zuvor. Sie hätte auf Luis hören sollen, aber die Aussichten waren zu verlockend. Luis war ihr Freund, jedenfalls bezeichnete sie ihn so. Sie waren nicht wirklich zusammen oder zumindest seit einer Weile nicht mehr, aber sie verbrachten noch immer eine Menge Zeit miteinander. Luis‘ Vater war gegen diese Verbindung und nur wenn er Isabella sah, bekam er schon einen Wutanfall. Das machte die Treffen ziemlich kompliziert, weil es bei Luis zu Hause nicht möglich war und Isabella mehr oder weniger auf der Straße lebte. Luis kam aus einem perfekten Elternhaus. Gutverdienende Eltern mit einem eigenen Haus etwas außerhalb der Stadt. Genau das Gegenteil von Isabella.

Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt und ihre Mutter lebte von der Sozialhilfe. Zu ihr hatte sie nur noch selten Kontakt. Mit vierzehn hatte sie immer weniger Zeit zu Hause verbracht und Kontakte zu Jugendlichen bekommen, die sie aus heutiger Sicht besser nie getroffen hätte. Damals sah sie das anders. Es war ein völlig neues Leben. Grenzenlose Freiheit und Partys bis früh in den Morgen. Auf das spießbürgerliche Leben scheißen und einfach nur Spaß haben. Doch auch in dieser Szene ging das nicht ohne Geld. Irgendwann begannen dann die Ladendiebstähle, um an Alkohol zu kommen, den sie in ihrem Alter sowieso nicht hätte kaufen können, wie die meisten aus ihrer Clique. Luis hätte das alles gar nicht nötig gehabt, aber er wurde von seinen Eltern eher kurzgehalten. Geld muss man sich erarbeiten, war der Lieblingsspruch seines Vaters, mit dem er seinen Sohn zu Ehrgeiz und Leistung anspornen wollte. Bei Luis hatte das allerdings nicht gezündet und irgendwann war er Isabella über den Weg gelaufen. Von da an waren sie ein Paar und machten alles gemeinsam. Bei den Ladendiebstählen wurde inzwischen alles mitgenommen, was man irgendwie zu Geld machen konnte und als das nicht mehr reichte, folgten die ersten Einbrüche in Wohnungen und Häuser. Einer dieser Einbrüche ging schief. In dem eigentlich verlassenen Haus hatten sie einen stillen Alarm ausgelöst und dies erst bemerkt, als die Polizei das Haus schon umstellt hatte. Es gab zweihundert Sozialstunden und Luis‘ Vater war danach natürlich über alles im Bild. Er gab Isabella an allem die Schuld und darum war ihr Verhältnis zu ihm seitdem nicht mehr das Beste. Das ging jetzt schon seit vier Jahren so, doch Luis war sehr erfinderisch und schaffte es immer wieder, sich mit ihr und der Clique zu treffen. Jetzt hatte sie ihn vor fünf Tagen zuletzt gesehen. Nach dem Schellen öffnete allerdings sein Vater, mit dem Isabella um diese Uhrzeit nicht gerechnet hatte. Sie musste sich wüste Beschimpfungen anhören und sich als Flittchen bezeichnen lassen, dennoch hatte sie ihr Ziel erreicht. Spät abends war Luis noch ins Hell-Fire gekommen, wo sie meistens die Nächte verbrachten, um sich zu treffen. Es war keiner dieser Nobelklubs, wie es sie in der Innenstadt gab. Die hätte niemand aus der Clique betreten dürfen, geschweige denn bezahlen können. Das Hell-Fire war ein altes, stillgelegtes Fabrikgebäude hinter dem Bahnhof. Freddy, dem ein Tattoo-Studio in der Stadt gehörte, betrieb diesen Treffpunkt nebenbei. Ursprünglich mal für Biker eröffnet, trafen sich inzwischen alle hier, die das normale Leben mehr oder weniger freiwillig hinter sich gelassen hatten. Isabella hatte zu diesem Zeitpunkt schon reichlich Alkohol zu sich genommen. Sie erzählte Luis von der ganz großen Sache, die am nächsten Wochenende steigen sollte. Leo hatte herausgefunden, dass die Tankstelle am Ortsausgang die Einnahmen vom Wochenende in der Filiale sammelt, weil keine Banken aufhaben. Sonntagnacht sollten da also ein paar Tausend Euro drin sein. Die Info kam von Elli, die dort mal ausgeholfen hatte, war also totsicher. Trotzdem versuchte Luis sie davon abzubringen und machte ihr unmissverständlich klar, dass er auf keinen Fall mitmachen würde. Isabella zeigte sich enttäuscht, auch wenn sie ihn verstehen konnte. Trotzdem hielt sie ihn mit seinen sechsundzwanzig Jahren für viel zu abhängig von seinem Elternhaus. Mit oder ohne Luis stieg die Sache am Montagmorgen um kurz vor eins. Doch es lief nicht nach Plan. Entgegen ihren Infos trafen sie nicht auf eine Aushilfe, sondern auf den Besitzer selbst, der bereit war, sein Eigentum zu verteidigen. Er versuchte Leo zu überwältigen, wobei sich ein Schuss löste und den Besitzer tödlich traf. In der plötzlich aufgekommenen Panik brauchte Elli sieben Versuche, um den Tresor zu öffnen. Als sie endlich mit dem Geld ins Auto stiegen, war es eigentlich schon zu spät. Leo drückte Isabella die Waffe in die Hand, während er hektisch versuchte, seinen neunzehn Jahre alten Opel Astra zu starten. Sie kamen nicht mal mehr vom Gelände der Tankstelle, als die Polizei eintraf und noch während Isabella durch die Windschutzscheibe in das flackernde Blaulicht sah, wurde ihr bewusst, dass sie im Gegensatz zu Leo keine Handschuhe trug.

Während sie auf die graue Tür starrte und daran dachte, war sie sich nicht sicher, ob Leo das absichtlich getan hatte oder ob er einfach nur die Hände frei haben wollte, um das Auto steuern zu können. Im gleichen Augenblick wurde die Tür geöffnet und ein Mann betrat den Raum. Er kam auf den Tisch zu, legte seinen schwarzen Aktenkoffer darauf ab und setzte sich Isabella gegenüber.

»Guten Tag Isabella«, sagte er ruhig und sah die junge Frau an.

Isabella musterte ihr Gegenüber in dem vermutlich sündhaft teuren Maßanzug und dem tadellosen Haarschnitt mit dem vornehmen Seitenscheitel. Er war perfekt rasiert und keine Bartstoppel störte die gepflegte Gesichtshaut. Sie schätzte ihn auf Mitte vierzig und er war alles, nur kein Anwalt.

»Du bist doch Isabella Gehrig?«, fragte er, nachdem von ihr keine Reaktion erfolgte.

Er griff nach seinem Koffer, öffnete ihn und holte eine Akte daraus hervor, die er vor sich auf dem Tisch aufschlug.

»Isabella Gehrig, 25 Jahre alt, geboren in Bad Schwalbach«, er hob den Kopf und sah sie an. »Ein schöner Ort, den ich zufällig kenne.«

»Was wollen Sie?«, entgegnete Isabella völlig unbeeindruckt. »Ich bin dein Anwalt«, antwortete er überrascht, doch für Isabella war klar, dass das nur gespielt war.

Um auf der Straße zu überleben, musste man Menschen einschätzen können, um zu wissen, wem man vertrauen konnte und wem nicht. Dieser Mann gehörte zu der Gruppe, denen man besser aus dem Weg ging, doch das gestaltete sich gerade etwas schwierig.

»Sie sehen aber gar nicht aus wie ein Anwalt.«

Der Mann lächelte gekünstelt.

»So, wie sieht ein Anwalt denn deiner Meinung nach aus?«

Isabella lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Nun, da Sie niemand bezahlt, können Sie nur ein Pflichtverteidiger sein. Die sehen aber immer etwas heruntergekommen aus. Tragen schlecht sitzende, billige Anzüge und bestimmt keine goldenen Uhren.«

Mit den letzten Worten war ihr Blick auf sein linkes Handgelenk gewandert. Unter dem Ärmel seiner Anzugjacke war eine Omega Seamaster zu sehen. Isabella hatte sie sofort erkannt. Vor ein paar Jahren hatten ein paar Jungs einen Juwelier ausgeraubt und dabei eine Reihe teurer Uhren erbeutet. An einigen hingen noch die Preisschilder und diese hatte eine fünfstellige Summe. Isabella hatte das damals fassungslos gemacht, dass es Menschen gab, die für so viel Geld eine Uhr kauften. Jetzt saß ihr offensichtlich jemand gegenüber.

»Na schön. Du hast offensichtlich eine gute Auffassungsgabe. Also höre ich auf, dir etwas vorzumachen. Du hast recht, ich bin kein Anwalt. Mein Name ist Klaus Schneider, aber dennoch bin ich hier, um dir zu helfen.«

Wieder ließ Isabella einen Moment verstreichen, bevor sie reagierte.

»Wie?«

»Ich arbeite für ein Unternehmen, das besondere Menschen sucht. Menschen wie dich.«

»Kann es sein, dass Sie sich verlaufen haben? Wir sind hier nicht auf dem Arbeitsamt.«

Schneider musste lachen und diesmal war es echt.

»Das ist mir klar.«

»Wir sind hier im Knast. Da geht man nicht, nur weil man einen Job hat.« »Auch das ist mir klar. Mein Auftraggeber verfügt über gute Beziehungen zum Direktor. Wir lassen das als Resozialisierungsmaßnahme laufen.«

Isabella beugte sich vor.

»Und was ist meine Aufgabe bei diesem Deal?«

»Du verpflichtest dich an einem Forschungsprojekt teilzunehmen.«

»Ihr sucht Versuchskaninchen?«

»Nein, darüber sind wir hinaus.«

»Verpiss dich!«, entgegnete Isabella und ließ sich wieder auf ihrem Stuhl zurückfallen.

Schneider machte einen tiefen Atemzug und begann in der Akte zu blättern.

»Beachtlicher Lebenslauf. Mit fünfzehn der erste polizeiliche Eintrag wegen Ladendiebstahl. Zweimal mehrere Monate in Jugendhaft verbracht, einmal davon wegen Raub mit Körperverletzung.«

Er blickte auf und sah die junge Frau an.

»Soll ich weiter machen?«

Sein Gegenüber reagierte nicht.

»Jetzt Hauptverdächtige in einem Überfall mit Todesfolge.«

Er schloss die Akte und legte die gefalteten Hände darauf ab.

»Dafür wirst du eine lange Zeit hinter diesen Mauern verschwinden.«

»Ich habe nicht geschossen!«

»Aber auf der Waffe sind deine Fingerabdrücke und zwar nur deine.«

»Das beweist gar nichts. Leo hat Handschuhe getragen.«

»Dann war er wohl schlauer als du.«

»Mein Anwalt wird das zur Sprache bringen und das Gericht wird die Möglichkeit berücksichtigen müssen.«

Schneider lehnte sich jetzt auch auf seinem Stuhl zurück, beließ die Hände aber auf der Akte.

»Vergiss es. Deine Mitstreiter haben bereits gestanden den Überfall gemeinsam geplant zu haben. Aber sie wussten nichts von der Waffe, die du mitgebracht hast.«

»Was?«

Isabella sprang auf und der Stuhl hinter ihr fiel krachend um.

»Diese Schweine! Damit kommen die nicht durch!«

Sie stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab und sah Schneider wütend an.

»Setz dich und versuche dich zu beruhigen, sonst kommt noch jemand und fixiert dich und das wollen wir doch nicht.« Isabella hob den Stuhl auf und warf sich aufgebracht darauf. »Wie du bereits sagtest, für dich kommt nur ein Pflichtverteidiger infrage und der erfüllt, wie der Name so schön sagt, seine Pflicht. Mehr aber auch nicht. Mit etwas Glück werden es vielleicht nur zehn Jahre, aber für diese Zeit wirst du mit Sicherheit hinter Gittern verschwinden und wütend auf deine Mitstreiter sein. Stattdessen biete ich dir eine Alternative. Ergreife die Chance und blicke voller Schadenfreude auf deine Mitstreiter, die für ein paar Jahre einsitzen werden, während du längst wieder frei bist.«

Isabella beugte sich vor und stützte sich mit verschränkten Armen auf dem Tisch ab.

»Was sind das für Forschungen und wie lange dauert das?«

»Das Ganze ist über mehrere Jahre angelegt, aber Details kann ich dir erst nennen, wenn du den Vertrag unterschrieben hast.«

Er klappte seinen Koffer wieder auf, holte ein Papier heraus und schob es Isabella über den Tisch.

»Sie sind sich Ihrer Sache ziemlich sicher, was?«

»Nein bin ich nicht, aber du solltest es dir gut überlegen. Eine zweite Chance bekommst du nicht.«

Isabella richtete sich auf und betrachtete den Zettel, der beidseitig mit kleiner Schrift bedruckt war. Um das zu lesen, würde sie mindestens eine Stunde brauchen.

»Gibt es dazu auch eine Kurzfassung?«

Schneider lachte.

»Wenn du mir vertraust?«

»Habe ich eine Wahl?«

Der Mann verzog die Mundwinkel.

»Also gut. Du verpflichtest dich zur Verschwiegenheit über alles, was wir gerade besprochen haben. Der Prozess wird ganz normal stattfinden und du wirst verurteilt. Das kann sich noch etwas hinziehen, aber da musst du durch. Kurz nach deiner Verurteilung hole ich dich ab und dein neues Leben beginnt.«

»Dafür braucht ihr so viel Text?«

»Wurde von Juristen ausgearbeitet.«

»Wo muss ich unterschreiben?«

»Auf der anderen Seite, unten«, antwortete Schneider und reichte Isabella einen Stift.

Sie zögerte einen Moment mit der Unterschrift und blickte noch einmal auf.

»Sie haben gute Beziehungen zum Gefängnisdirektor?«

»Kann man so sagen.«

»Dann unterschreibe ich unter einer Bedingung.«

Schneider sah sie fragend an.

»Bis Sie mich hier rausholen möchte ich eine Einzelzelle.«

Der Mann nickte und Isabella setzte schwungvoll ihre Unterschrift unter den Vertrag.

ADRIAN

Die Frau drückte weinend ihr Gesicht an die Brust ihres Mannes, der tröstend seine Arme um sie gelegt hatte. Er selber kämpfte seit einiger Zeit mit einem riesigen Kloß im Hals. Seit drei Tagen lag ihr Sohn Adrian hier auf der Station. Er war nach einem schweren Autounfall eingeliefert worden und seitdem ohne Bewusstsein. Gerade hatten sie ein Gespräch mit dem behandelnden Stationsarzt gehabt und der hatte keine guten Nachrichten für sie. Fast regungslos standen sie auf dem Gang des Krankenhauses und blendeten jegliches Geschehen um sie herum aus. Nichts hatte in diesem Moment eine Bedeutung, die wichtig genug gewesen wäre, um Beachtung zu finden. So bemerkten sie auch nicht, wie sich ein Mann im schwarzen Anzug und mit Aktenkoffer näherte.

»Entschuldigen Sie, Herr und Frau Heuser?«

Das Ehepaar sah den Mann fragend an, während sich die Frau mit einem in ihrer Hand zusammen geknüllten Papiertaschentuch durch die Augen wischte.

»Mein Name ist Dr. Klaus Schneider. Es tut mir leid, Sie in diesem ungünstigen Moment ansprechen zu müssen, aber mein Anliegen ist dringend. Es geht um ihren Sohn.«

Die Frau blickte kurz zu ihrem Mann hoch und dann wieder zu dem Fremden, fand aber noch immer keine Worte.

»Wenn Sie mir ein paar Minuten Ihrer Zeit schenken würden, könnte ich Ihnen meine Hilfe anbieten. Vielleicht setzen wir uns kurz dort rein.«

Er sprach langsam und diskret leise. Mit der freien Hand deutete er auf den Besucherraum. Durch die große Glasscheibe war zu erkennen, dass sich zurzeit niemand darin aufhielt. Frau Heuser sah erneut ihren Mann an, der ihr kurz zunickte. Gemeinsam begaben sie sich zum Besucherraum und Schneider ließ das Ehepaar zuerst eintreten. Er schloss hinter sich die Tür, ging zu einem Tisch am Fenster und bat die beiden zu sich.

»Bitte, - setzen Sie sich.«

Er legte seinen Aktenkoffer seitlich vor sich auf den Tisch, öffnete ihn und holte eine Akte heraus. Frau Heuser tupfte sich erneut mit dem Taschentuch die Tränen aus den Augen, doch so sehr sie sich auch bemühte, ihre Schminke hatte inzwischen aufgegeben und zog hässliche Streifen. Schneider machte einen tiefen Atemzug, legte die gefalteten Hände auf die Akte und sah seine beiden Gegenüber kurz an.

»Ich kann mir nicht vorstellen, was gerade in Ihnen vorgeht, weil ich so etwas selber noch nie erlebt habe, aber sein Sie versichert, Sie haben mein vollstes Mitgefühl. Wie ich bereits sagte, mein Name ist Dr. Klaus Schneider, ich bin Arzt, aber nicht hier am Krankenhaus. Ich arbeite an einer Spezialklinik und wir suchen Patienten wie Ihren Sohn.«

Er machte eine kurze Pause, fuhr dann aber fort.

»Wir arbeiten seit einigen Jahren mit dieser Klinik zusammen und werden immer dann informiert, wenn die Aussichten für einen jungen Patienten schlecht stehen.«

Frau Heuser rang mit einem neuen Heulkrampf und drückte sich das inzwischen völlig durchweichte Taschentuch vors Gesicht, während ihr Mann mit der Hand über ihren Rücken strich. Schneider zog eine Packung Taschentücher aus der Innentasche seiner Anzugjacke und schob sie über den Tisch.

»Danke«, sagte Heuser mit erstickter Stimme und reichte seiner Frau ein frisches Taschentuch.

»Es tut mir leid, wenn ich vielleicht etwas direkt bin«, entschuldigte sich Schneider und fuhr mit seinen Erklärungen fort. »In unserer Klinik erforschen wir Möglichkeiten, um schwer verletzten Patienten zu helfen, denen die normale Medizin nicht mehr helfen kann.«

»Warum hat uns der Arzt das gerade im Gespräch nicht gesagt«, fragte Herr Heuser.

Schneider lächelte kurz.

»Die Assistenzärzte wissen nichts davon. Überhaupt weiß kaum jemand davon. Sie müssen wissen, unsere Klinik liegt nicht in Deutschland und unsere Verfahren sind nicht medizinisch zugelassen.«

Das Ehepaar sah sich kurz an, bevor Herr Heuser wieder das Wort ergriff.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Nun, in der Medizin ergeben sich ständig neue Erkenntnisse, Behandlungsmethoden oder Medikamente. Aber bevor etwas davon offiziell zugelassen wird, muss die einwandfreie Wirksamkeit nachgewiesen werden. Dazu braucht die Wissenschaft Testpersonen.«

»Sie wollen unseren Sohn als Versuchskaninchen?«, fragte Herr Heuser entrüstet, »Was bilden Sie sich ein? Dafür belästigen Sie uns…«

»Entschuldigen Sie. Sie sehen das falsch. Bitte gehen Sie nicht.«

Heuser hatte sich bereits erhoben und blickte jetzt unschlüssig seine Frau an.

»Bitte Herr Heuser, setzen Sie sich wieder und lassen Sie mich erklären.«

Frau Heuser nickte kurz und ihr Mann nahm wieder Platz.

»Danke«, sagte Schneider. »Wir sollten nicht den Begriff Versuchskaninchen verwenden, sondern mehr von Studienteilnehmer sprechen. Ich sage es ungern, aber die Prognose für Ihren Sohn sieht nicht gut aus. Häufig nehmen Patienten, bei denen es um Leben und Tod geht, an medizinischen Studien teil. Sie haben dadurch die Möglichkeit, doch noch geheilt zu werden und die Wissenschaft kann aus den Erfahrungen lernen und die Verfahren präzisieren. Eine Win-win-Situation für beide Seiten.«

»Und Sie können unserem Sohn helfen?«, fragte Frau Heuser schluchzend.

»Nein, das kann ich Ihnen nicht versprechen. Aber wir haben Möglichkeiten, mit denen seine Chancen auf eine Genesung bei Weitem höher sind als mit den Verfahren der normalen Medizin. Hat der Arzt Ihnen eben nahegelegt, die Organe Ihres Sohnes zur Spende freizugeben? Wenn Sie dem zustimmen, ist Ihr Sohn in wenigen Tagen tot. Aber Sie sollten noch etwas anderes berücksichtigen.«

Die Heusers wurden hellhörig, während Schneider die Akte vor ihm aufklappte. Das Schwierigste war überstanden, jetzt hatte er die Aufmerksamkeit der Eltern.

»Adrian hat an einem illegalen Straßenrennen teilgenommen. Ich nehme an, Sie wissen das?«

Schneider nahm den Blick von der Akte und sah die Eltern an, während der Vater die Mundwinkel verzog.

»Ja – und nicht zum ersten Mal.«

»Er wurde schon mal erwischt und hatte jetzt keinen Führerschein mehr.«

Heuser nickte.

»Ich habe ihm immer gesagt, dass er den Scheiß lassen soll, aber es war wie eine Sucht. Ich wusste, dass es irgendwann mal schief gehen würde. Aber auf uns hat er ja nicht gehört. Seine Freunde waren da wichtiger und diese Internetfilme.«

Er klang frustriert und enttäuscht, fuhr sich mit der Hand nervös durchs Gesicht.

»Sie werden ihn vor Gericht stellen, nicht wahr?«

Schneider nickte langsam.

»Sollte er wieder gesund werden, werden sie ihn zur Verantwortung ziehen. Durch den von ihm verursachten Unfall sind weitere Menschen ums Leben gekommen beziehungsweise verletzt worden. Aber soweit muss es nicht kommen.« Die Eheleute sahen Schneider erwartungsvoll an.

»Wenn wir ihn heilen können, kann er anschließend bei uns einen Job bekommen.«

Schneider blätterte in der Akte und stoppte an einer bestimmten Stelle.

»Er studiert zurzeit Informatik?«

»Ja, im vierten Semester.«

Schneider hob den Kopf.

»Solche Leute können wir immer gebrauchen.«

»Was genau machen Sie da in dieser Klinik?«, mischte sich Frau Heuser in das Gespräch ein.

Für den Moment wirkte sie wieder gefasst.

»Nun, unsere Klinik entwickelt künstliche Organe zur Transplantation. Es gibt heute schon eine Menge Ersatzteile für den Menschen, aber das meiste davon ist eher passiv. Wir forschen auf dem Gebiet des aktiven Ersatzes von menschlichen Organen mit dem Ziel, jedem Menschen zu jeder Zeit helfen zu können, ohne lange Wartezeiten auf einen Organspender. Bei Adrian sind beide Lungenflügel gerissen, die linke Hälfte ist bereits kollabiert. Eine Heilung ist ausgeschlossen. Für die Transplantation einer Spenderlunge fehlt vermutlich die Zeit und selbst wenn es gelingt, liegt die Lebenserwartung ihres Sohnes bei maximal fünf bis sechs Jahren. Wir verfügen bereits über eine künstliche Lunge, die wir Adrian einsetzen würden.«

»Und damit könnte er überleben?«, hakte Frau Heuser nach. »Ich will ehrlich sein. Ich kann Ihnen nichts garantieren. Wie ich bereits sagte, wir forschen noch und dabei gibt es leider auch immer wieder Rückschläge, aber hier wird Ihr Sohn garantiert sterben. Bei uns hat er eine Überlebenschance.«

»Das ist bestimmt sehr teuer. Sie müssen wissen, dass wir nicht…«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, unterbrach Schneider, »Für Sie fallen keine Kosten an. Sie haben recht, es ist sehr teuer. So eine künstliche Lunge kostet rund 400.000 Euro. Aber wenn wir diese Kosten in Rechnung stellen würden, wäre die Chance an einen Studienteilnehmer zu kommen, nahezu bei null. Das Einzige, was wir von Ihnen benötigen, ist ihre Zustimmung, weil Adrian nicht mehr selbst entscheiden kann und ich weiß, damit verlange ich schon sehr viel von Ihnen.« Herr Heuser fuhr sich erneut durchs Gesicht und sah anschließend seine Frau an.

»Was machen wir jetzt?«

Sie schüttelte den Kopf und presste ihr Gesicht wieder in das Taschentuch.

»Können wir uns das in Ruhe überlegen?«, fragte Heuser.

»Ich möchte Sie auf keinen Fall drängen, aber ich fürchte, wir haben keine Zeit mehr. Was hat Ihnen der Arzt gesagt, wie lange Adrian noch leben wird?«

Heuser senkte den Blick, während seine Frau einen erneuten Weinkrampf bekam.

»Ein paar Tage maximal«, antwortete er leise.

»In dieser Zeit müssen wir die Formalitäten erledigen und ihn zu uns in die Klinik verlegen. Sollte er vorher versterben, können auch wir ihm nicht mehr helfen. Aber ich werde Sie für einen Moment alleine lassen. Ist das okay?«

Schneider stand auf.

»Ich gehe mir einen Kaffee holen. Soll ich Ihnen etwas mitbringen?«

Heuser schüttelte den Kopf und Schneider verließ den Besucherraum. Links vom Ausgang stand ein Automat, der alle möglichen Varianten von kaffeeähnlichen Getränken anbot. Schneider holte ein paar Münzen aus seiner Hosentasche, suchte ein zwei Euro Stück heraus und steckte es in den Automaten. Anschließend zog er einen Plastikbecher aus dem Spender, stellte ihn in die Ausgabe und wählte Cappuccino. Der Automat begann zu brummen und füllte den Becher mit einer bräunlichen Flüssigkeit. Schneider stellte fest, dass sie weder nach Cappuccino aussah, noch danach schmecken würde, was sich bestätigte, als er vorsichtig probierte. Während er leicht in den Becher pustete, sah er unauffällig in den Besucherraum. Das Ehepaar Heuser schien intensiv miteinander zu reden, wobei sich Frau Heuser immer wieder mit dem Taschentuch ins Gesicht fuhr und damit die letzten Reste ihrer Schminke endgültig verschmierte. Schneider ging davon aus, dass er den Mann bereits auf seiner Seite hatte. Bei Müttern gestaltete sich das immer etwas schwieriger, aber die Erfahrung zeigte, dass auch sie in Anbetracht der Ausweglosigkeit irgendwann zustimmen würde. Der Junge wäre ein Glücksfall für das Vorhaben. Mit seinen dreiundzwanzig Jahren war er noch sehr jung. Er war intelligent. Hatte ein super Abitur gemacht, studierte und besaß die nötige Portion Draufgängertum. Im Besprechungsraum wurde es anscheinend ruhiger und so nahm Schneider noch einen Schluck von seinem Cappuccino und kehrte zu den Heusers zurück. Wortlos setzte er sich wieder auf seinen Platz und stellte den Becher neben seinem Aktenkoffer ab. Erwartungsvoll sah er die Heusers an. Für einen Moment herrschte Schweigen, bevor Herr Heuser das Wort ergriff.

»Tja, - also wir möchten Ihr Angebot annehmen«, sagte er dann zögerlich und es war ihm anzumerken, wie schwer es ihm fiel, diese Worte zu sagen.

»Das ist die beste Entscheidung, die Sie für ihren Sohn treffen konnten«, entgegnete Schneider.

Er klappte seinen Aktenkoffer auf und holte ein Formular und einen Kugelschreiber heraus.

»Sie werden verstehen, wir müssen das natürlich schriftlich vereinbaren. Mit diesem Vertrag verpflichten Sie sich zur Verschwiegenheit…«

»Aber was sollen wir denn den Leuten sagen, wenn sie nach Adrian fragen?«, unterbrach Heuser.

»Es ist vielleicht nicht ganz einfach für Sie, aber Ihr Sohn wird offiziell an seinen Verletzungen versterben. Das Krankenhaus wird Sie ganz normal darüber informieren. Es wird eine Beerdigung geben und damit ist Adrian aus dem Verkehr gezogen. Wir geben in der Zwischenzeit unser Bestes und versuchen ihn wieder auf die Beine zu bekommen. Anschließend sollte er ein paar Jahre bei uns verbringen. Danach kann er, wenn er möchte bleiben oder unter neuer Identität nach Deutschland zurückkehren.«

»Können wir ihn besuchen?«

»Nein, das ist ausgeschlossen, aber Sie werden regelmäßig von uns über seinen Zustand informiert. Sobald er dazu in der Lage ist, wird er das selbst übernehmen. Sie erhalten von uns eine neutrale Anschrift hier in Deutschland, von dort wird Ihre Post weitergeleitet. Entschuldigen Sie diese Umstände, aber in unserem und auch im Sinne Ihres Sohnes darf es keine Hinweise auf seinen Verbleib geben. Ich hoffe, das verstehen Sie?«

Heuser nickte und zog das Formular zu sich, während Schneider ihm den Stift anreichte. Er überflog grob den Text, bei dem es um Stillschweigen, Haftungsausschlüsse und Ähnliches ging. Die Buchstaben und Wörter zogen wie von Nebel umhüllt an ihm vorbei und in Wirklichkeit verstand er nichts davon. Als er zur Unterschrift ansetzte, spürte er die Hand seiner Frau am Unterarm. Er stoppte kurz und sah sie an.

»Tun wir es unserem Jungen zu liebe.«

Frau Heuser ließ ihre Hand von seinem Arm rutschen und Heuser unterschrieb.

LUCA

Die Tür zum Büro schlug auf und Wagner kam laut gestikulierend die Stahltreppe herunter. Sein Büro lag oberhalb der Werkstatt und verfügte über ein großes Fenster, durch das er ständig alles im Blick hatte. Meistens sparte er sich den Weg nach unten und schrie seine Anweisungen direkt von oben herunter. Jetzt schien es besonders wichtig zu sein. Wagner war Inhaber der Autowerkstatt KFZ-Wagner. Ein kleiner, schmieriger Laden, der in erster Linie von Stammkundschaft und Mundpropaganda lebte. Die Kunden liebten seine freundliche, hilfsbereite Art, die er ihnen gegenüber aufzubringen vermochte und natürlich die günstigen Preise, die er nur deshalb halten konnte, weil er das Geld bei den Löhnen einsparte.

»Luca! Luca, wo steckst du?«, rief der kleine, leicht untersetzte Mann, während er die letzten Stufen der Treppe nahm. »Hier unten, Herr Wagner«, antwortete Luca und streckte seinen Kopf aus der Grube unter einem Fahrzeug hervor.

»Was machst du da? Was ist mit dem Passat?«

Wagner deutete auf den Wagen auf der Hebebühne.

Der Junge stieg die Stufen aus der Mulde hoch, während er sich die öligen Finger an einem Tuch abwischte.

»Was soll damit sein? Der wartet auf die Bremsscheiben«, erklärte Luca.

»Die sind gerade gekommen. Der Wagen muss heute noch fertig werden, das habe ich dem Kunden zugesagt. Liegen bei mir im Büro.«

Warum hast du die dann nicht gleich mitgebracht, dachte Luca, sah auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand und sagte stattdessen, »Ist nur noch eine knappe halbe Stunde bis Feierabend.«

»Feierabend, Feierabend! Feierabend ist, wenn die Arbeit erledigt ist. Wer fragt mich denn? Ich sitze jeden Abend noch bis acht hier. Du bist hier im Service tätig, da gibt es keine geregelten Arbeitszeiten. Mach den Wagen fertig und dann kannst du meinetwegen abhauen.«

»Geht klar«, entgegnete Luca und sah dem einen Kopf kleineren Wagner nach, der wieder auf dem Weg zurück in sein Büro war. Der Junge kannte Wagner nun schon seit seiner Ausbildung zum Kfz-Mechaniker, die er hier in der Werkstatt absolviert hatte. Inzwischen kümmerte er sich selber um einen Auszubildenden, doch der war heute in der Berufsschule. Für Wagner zu arbeiten war kein Traumjob, aber er wurde bezahlt, wenn auch schlecht und Luca brauchte das Geld. Als seine Eltern damals bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, war er gerade erst zwölf gewesen und in ein tiefes Loch gefallen. Seine Großeltern hatten ihn aufgenommen und mit Mühe wieder ins normale Leben zurückgeholt. In der Zeit war Luca zum Kickboxen gekommen. Der Sport gab ihm die Gelegenheit sich abzureagieren und sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Irgendwann hatte sich dann die Gelegenheit mit der Ausbildungsstelle ergeben. Lucas Leben bestand aus Arbeit und Sport. Jeden Abend verbrachte er beim Training. Über die Jahre hatte er sich im Verein immer weiter hochgearbeitet und stand jetzt kurz vor seiner Prüfung zum Meister. Freunde gab es in seinem Leben, abgesehen von den Leuten aus dem Sportcenter, nicht. Seit er achtzehn geworden war, bewohnte er eine kleine Wohnung und seine Großeltern besuchte er nur noch ausgesprochen selten. Heute würde es also mal wieder etwas später werden und bezahlt würden die Überstunden auch nicht, das war von vornherein klar. Luca folgte Wagner ins Büro, holte die Bremsscheiben und machte sich an die Arbeit.

Es war kurz nach sechs, als er im Sportcenter eintraf. Nachdem er sich umgezogen hatte, betrat er die Halle und meldete sich bei seinem Trainer. Der stand am Ring und feuerte Jakob an, der sich einen Kampf mit einem Sparringspartner lieferte. Jakob war Lucas großes Vorbild. Er war bereits Meister und hatte schon den einen oder anderen Titel bei Wettkämpfen gewonnen. Bei ihnen im Sportcenter war er der Beste.

»Ah Luca!«, begrüßte sein Trainer ihn, ohne dabei den Kampf aus den Augen zu lassen.

»Sieh es dir an. So muss das laufen, da musst du hin – geh ran und mehr Beinarbeit!«, schrie er dann gleich wieder zum Ring rüber.

»Du bist da nicht mehr weit von entfernt, du musst es nur wollen – was soll das denn? Das kannst du doch besser!«

»Ich schlage vor, heute für dich nur – ja genau, so will ich das sehen und jetzt nicht nachlassen!«

Er wendete sich kurz wieder Luca zu.

»Für dich heute nur Krafttraining und danach noch ein bisschen am Sack, zwanzig Minuten mindestens.«

Der Junge nickte kurz und begab sich in den hinteren Bereich der Halle, wo die Sportgeräte standen. Dort kam ihm Ben entgegen, der mit einem Handtuch um die Schultern auf dem Weg zu den Umkleideräumen war.

»Hi Alter«, sagte Ben, während sich die beiden mit einem High Five begrüßten.

»Hallo Ben. Hast du Jakob gesehen?«

Die beiden blickten zum Ring rüber.

»Klar, der hat voll die geile Technik, da komme ich nie hin.«

»Du musst es nur wollen«, sagte Luca und grinste.

»Hast du das eben auch wieder zu hören gekriegt.«

»Klar. Bist du durch?«

»Ja. Mache heute früher Schluss. Hab noch ein Date.«

Ben zwinkerte verschwörerisch mit einem Auge.

»Na dann, viel Erfolg«, sagte Luca, während Ben seinen Weg fortsetzte.

»Danke und du halt die Ohren steif.«

Als Luca das Sportcenter verließ, dämmerte es draußen bereits, aber es war noch warm. Er hatte eine Jahreskarte für den Bus, denn ein Auto konnte er sich nicht leisten, doch heute entschied er sich dafür zu Fuß zu gehen. Durch den Stadtpark wären es nur gute zwanzig Minuten und die frische Luft würde nach dem intensiven Training guttun. Mit der Sporttasche über der Schulter machte er sich auf den Weg. Er musste an Ben denken, der heute ein Date hatte. Bei ihm war es wenigstens schon mal ein Date, davon war er, Luca, noch weit entfernt. Doch bei seinem Lebenswandel konnte sich dahingehend auch nichts ergeben. Trotzdem war er ein wenig neidisch auf Ben. Mit seinen vierundzwanzig Jahren hatte er noch nie eine Freundin gehabt und kam sich mittlerweile schon unnormal vor. Ihm war klar, dass nur er selber das ändern konnte, aber auch heute Abend würde er nur wieder nach Hause gehen, etwas essen und am Computer spielen. Der Stadtpark war menschenleer und das Knirschen des Schotters unter seinen Schuhen war das einzige Geräusch, das die Ruhe störte. Auf dem kleinen See trieben ein paar Enten im Licht der untergehenden Sonne. Doch ganz plötzlich war da noch ein anderes Geräusch. Luca blieb stehen. Zuerst war nichts zu hören, doch dann war es plötzlich wieder da. Ein heller Ton wie ein Hilferuf, der nur durch die Nase abgegeben wurde. Luca sah sich um. Er versuchte dem Geräusch eine Richtung zuzuordnen und beim nächsten Mal fiel sein Blick auf eine Gruppe von Sträuchern. Ohne weiter darüber nachzudenken, ging er darauf zu und mit Entsetzen entdeckte er zwei Männer, die eine Frau auf den Boden drückten, während einer dabei war, ihr mit einem Messer die Kleidung aufzuschneiden.

»Hey, geht’s noch?«, rief Luca.

Die Männer stoppten für einen Moment ihre Aktivitäten und sahen Luca an, während die Frau noch lauter und energischer durch die Nase schrie, denn ihr Mund war mit Klebeband verschlossen.

»Verpiss dich, das geht dich nichts an«, rief ihm der Mann mit dem Messer zu und hielt es kurz in seine Richtung, machte sich dann aber sofort wieder an der Frau zu schaffen. Beide trugen schwarze Sturmhauben und waren sich ihrer Sache offensichtlich sicher. Luca ließ die Sporttasche von der Schulter rutschen, nahm kurz Anlauf und trat dem Mann mit dem Messer so heftig in die Seite, dass er in einem leichten Bogen von der Frau flog und stöhnend liegen blieb. Die Frau begann sich jetzt mehr zu wehren, schaffte es, sich auf den Bauch zu drehen und schließlich ließ der Mann, der ihre Arme festgehalten hatte, sie los. Sie sprang auf und rannte davon.

»Was soll das? Bist du ‘n scheiß Superheld oder was?«, fragte ihn der Mann, während er auf den Jungen zuging.

Luca rasten die Gedanken durch den Kopf und gleichzeitig war er sich nicht sicher das Richtige getan zu haben. Sicherlich musste er der Frau helfen, aber damit war die Situation nicht ganz zu Ende überlegt. Die Möglichkeit, dass auch die beiden Täter das Weite suchen würden, war vermutlich zu einfach gedacht. Auch der andere Mann rappelte sich inzwischen wieder auf und kam, immer noch vor Schmerz schnaufend, näher.

»Was machen wir jetzt mit dem Typ?«

»Der kriegt jetzt eine Lektion verpasst, die er so schnell nicht wieder vergisst!«, antwortete er und stach mit dem Messer auf Luca ein, aber die Reaktion des Jungen war schnell genug, um dem Angriff seitlich auszuweichen. Dafür ergriff ihn der Zweite von hinten und legte seinen Arm um Lucas Hals. Der stieß zweimal mit dem Ellenbogen nach hinten, wobei er den Brustkorb seines Gegners traf und ihm für einen Moment den Atem nahm. Gleichzeitig nutzte er die Gelegenheit, griff nach hinten an den Kopf des Mannes und schleuderte ihn mit einem Schulterwurf auf den Boden. Gleichzeitig stürzte der andere schon wieder herbei. Luca sah ihn aus seinem Augenwinkel, fuhr herum und trat ihm mit einem Roundhousekick seinen Fuß gegen den Kopf. Der Mann ging benommen zu Boden und sofort war Luca bei ihm und entriss ihm das Messer, während ihm der andere Gegner in den Rücken sprang. Zusammen rollten sie ein Stück über den Boden, als der Mann plötzlich röchelnd liegen blieb. Mit Entsetzen registrierte Luca, dass das Messer im Bauch des Mannes steckte.

»Was hast du getan?«, schrie der Andere und stürzte herbei.

Luca war sofort wieder auf den Beinen, duckte sich unter den Schlägen seines Gegners hinweg und versetzte ihm einen schmerzhaften Boxhieb auf den Rücken. Ein Schlag, der beim Kickboxen nicht erlaubt ist, aber hier ging es nicht nach Regeln. Der Mann schrie auf, drehte sich und sah den Jungen wutentbrannt an. Erneut griff er an. Luca wehrte den angreifenden Schlag mit dem linken Unterarm ab und traf den Mann gleichzeitig mit der vollen Wucht seiner rechten Faust am Kinn. Der Mann taumelte, während Luca mit links nachschlug und ein dritter Haken warf den Kopf des bereits wehrlosen Mannes so weit zurück, dass ihm das Genick brach. Leblos blieb er auf der Wiese liegen. Luca sah sich um und ging in die Knie, während ihm bewusst wurde, was passiert war. Sein Trainer hatte ihn vor Situationen wie dieser immer gewarnt.

Mit dem Training wird dein Körper zu einer Waffe. Sei dir dessen immer bewusst, waren seine Worte.

Und während sie ihm noch durch den Kopf gingen, hörte er im Hintergrund das Martinshorn.

DAS FORSCHUNGSCENTER

Es war ein regnerischer November Morgen, als Isabella vor die Tür der JVA trat. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und rieb sich mit den Händen über die Arme. Zu ihrer Entlassung hatte man ihr ihre alten Klamotten zurückgegeben, die aus einer zerrissenen Jeans und einem dünnen, grünen T-Shirt bestanden und noch aus dem Sommer stammten, als man sie festgenommen hatte. Sie hob kurz den Kopf und ließ sich die kalten Regentropfen ins Gesicht fallen, während hinter ihr die Metalltür wieder ins Schloss fiel. Es war ein merkwürdiger Moment. Erst vor vier Wochen war sie zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt worden und jetzt stand sie schon wieder auf der anderen Seite der Mauer. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wartete ein Taxi und das sicherlich nicht zufällig. Der Fahrer ließ das Seitenfenster herunterfahren, streckte den Arm heraus und winkte sie herbei. Einen Moment lang überlegte sie einfach wegzugehen. Der Taxifahrer würde sie wohl kaum verfolgen. Aber sie verwarf den Gedanken. Wer dazu in der Lage war, sie als verurteilte Mörderin aus dem Gefängnis zu holen, der war auch in der Lage sie überall auf der Welt zu finden. Wo also sollte sie hin? Und wollte sie wirklich in ihr altes Leben zurück? Sie blickte kurz zur Seite und ließ ein Auto vorbeifahren, bevor sie die Straße überquerte und in das Taxi stieg. Sie nahm auf dem Rücksitz Platz und der Taxifahrer drehte sich zu ihr um. Er war der südeuropäische Typ mit schwarzer Schiebermütze und Schnurrbart.

»Frau Gehrig?«, fragte er in fast akzentfreiem Deutsch.

Isabella nickte und rieb sich erneut über die Arme. Hier im Taxi war es angenehm warm.

»Schönen guten Morgen, ich habe schon auf Sie gewartet«, sagte er und gleichzeitig fiel Isabellas Blick auf das Taxameter, auf dem bereits 23 Euro angezeigt wurden.

Sie hoffte, dass am Ende dieser Reise jemand stehen würde, der die Rechnung bezahlte.

»Dann wollen wir mal, damit Sie nicht zu spät kommen«, fügte der Taxifahrer dann hinzu und drehte sich wieder hinter sein Steuer.

Er startete den Motor und fuhr los. Isabella drehte den Kopf und beobachtete durch die Heckscheibe das kleiner werdende Gebäude der JVA. Noch gestern Abend hätte sie keinen Gedanken an diesen Anblick verschwendet und erst vor einer halben Stunde hatte sie erfahren, dass sie abgeholt wird. »Wohin fahren wir?«

Der Taxifahrer zögerte einen Moment mit der Antwort, während er die Vorfahrt achtete, um auf eine Hauptstraße abzubiegen.

»Zum Flughafen«, antwortete er dann.

Isabella war überrascht, obwohl sie im Grunde nicht die geringste Vorstellung von dem hatte, was vor ihr lag. Bis zuletzt hatte sie an dem Deal mit diesem Schneider gezweifelt. Nach ihrem Treffen in dem Verhörraum hatte sie nichts mehr von ihm gehört. In den folgenden Monaten war sie mit ihrem Prozess beschäftigt gewesen, wobei ihre Aufgabe mehr darin bestand, einfach nur anwesend zu sein. Im Grunde genauso wie ihr Anwalt, denn mehr getan als anwesend zu sein, hatte der auch nicht. Die Beweise waren erdrückend und von Anfang an schien das Ende des Prozesses eigentlich schon festzustehen. Wie Schneider bereits angedeutet hatte, bestritt Leo die Tat. Immerhin bezeugte er, dass der Schuss nicht beabsichtigt war und sich im Handgemenge gelöst hatte. Ob das zu einer Strafmilderung geführt hatte, konnte Isabella nicht beurteilen, für sie waren zwölf Jahre ein halbes Leben. Doch das Schlimme an der Sache war nicht der Verrat, das konnte sie noch irgendwie nachvollziehen. Das Schlimme waren die Blicke der Angehörigen des toten Tankwarts. Für die war sie die Mörderin des Ehemanns und Vaters. Isabella hatte versucht, den Blickkontakt zu meiden, aber sie hatte die Blicke jeden Tag gespürt und wenn Blicke töten könnten, dann wäre sie inzwischen tot. Ihr Anwalt hatte es für eine gute Idee gehalten, sich bei der Familie zu entschuldigen, aber Isabella hatte abgelehnt. Vermutlich hatte das bei dem Richter einen schlechten Eindruck hinterlassen, aber sie konnte sich nicht entschuldigen. Sie hatte doch gar nichts getan. Kurz nach der Urteilsverkündung war sie aus der Untersuchungshaft in den regulären Strafvollzug verlegt worden. Damit, dass sie irgendjemand dort rausholen würde, hatte sie nicht mehr gerechnet, obwohl dieser Gedanke sie die ganze Zeit über aufrecht gehalten hatte. In der Nacht darauf hatte sie zum ersten Mal einen Zusammenbruch. Der Gedanke, die nächsten zwölf Jahre nichts anderes als diese Zelle zu sehen, hatte sie verzweifeln lassen und das hatte sie solange herausgeschrien, bis ein Arzt kam und ihr ein Beruhigungsmittel spritzte. Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte war, dass sie nur vier Wochen in dieser Zelle sitzen würde und jetzt war sie auf dem Weg zum Flughafen. Schneider schien sein Wort gehalten zu haben und egal wohin die Reise auch führte, alles war besser als Knast. Auch wenn sie nichts darüber wusste. Den Vertrag hatte sie nie gelesen und eine Kopie besaß sie auch nicht. Letztendlich hatte Schneider ihre Situation ausgenutzt, darüber war sie sich längst im Klaren. Doch welche Alternative wäre ihr geblieben? Die ersten Tage hatte sie sich noch den Kopf darüber zermartert und dann mehr und mehr Hoffnung daraus geschöpft, die sie letztendlich durch den Prozess gebracht hatte. Erst als sie nach der ganzen Zeit immer noch nichts von Schneider gehört hatte, war auch diese mit dem Urteil untergegangen.

Das Taxi stoppte an einer Ampel und der gleichmäßige Takt des Blinkers war zu hören. Immer wieder unterbrochen von der unverständlichen Stimme aus dem Funkgerät. Isabella sah aus dem Seitenfenster, an dessen Scheibe die Wassertropfen sich ihren Weg nach unten bahnten. Noch fünf Kilometer bis zum Flughafen las sie auf dem Straßenschild an der Kreuzung. Das Taxi setzte sich wieder in Bewegung und bog ab. Nach kurzer Zeit tauchten auf der rechten Seite die ersten Hallen des Flughafens auf. Für Isabella wäre es der erste Flug in ihrem Leben. Wenn sie zurückdachte, war ihr ganzes Leben von Armut geprägt. Zum Fliegen war nie Geld übrig. Für sie wäre schon Taxi fahren Luxus gewesen. Unwillkürlich schweifte ihr Blick noch mal zu dem Taxameter. 45 Euro hatten sich dort bereits angesammelt. So viel Geld hatte sie sonst in einem ganzen Monat nicht zur Verfügung gehabt und der Flug wäre auch nicht günstig. Mit ihrer Fähigkeit, Menschen einzuschätzen, war sie bei Schneider nicht wirklich weit gekommen. Vielleicht, weil er zu jener Gruppe Menschen gehört, mit denen sie bisher nie in Kontakt gekommen war. Abgesehen von Luis und seinen Eltern. Aus Isabellas Sicht waren die reich, obwohl sich auch Luis‘ Vater mit Sicherheit keine Armbanduhr im fünfstelligen Bereich leisten konnte. Nein, Schneider verkehrte in einer anderen Schicht, obwohl das auch gleich wieder mehrere Fragen aufwarf. Normalerweise hatten solch unterschiedliche Schichten keine Berührungspunkte, also was veranlasste Schneider so jemanden aus dem Knast zu holen und dafür auch noch Geld auszugeben? Er hatte von einem Forschungsprojekt gesprochen. Worum ging es da und wie konnte Isabella dabei behilflich sein? Sie verfügte weder über besonderes Fachwissen, noch wies sie irgendwelche Berufserfahrung auf. Wenn sie den Gedanken weiter verfolgte, führte er sie zu einem Punkt, den sie sich nicht weiter ausmalen wollte. Auch wenn es ihr nicht gefiel, aber sie war genau der Typ, der nicht vermisst wurde. Sie war entbehrlich. Sie spürte, wie ihr heiß wurde, während das Taxi die Ausfahrt zum Flughafen nahm. »So, wir sind da«, sagte der Fahrer mit einer Freude in der Stimme, als würde er sie zu einer Weltreise hier absetzten.

Er fuhr eine lang gezogene Kurve und nahm dann die Ausfahrt. Auf einem großen Schild über der Fahrbahn stand Terminal 2 – Abflug. Er hielt kurz darauf vor einer verglasten Front, die nur aus Türen zu bestehen schien. Zahllose Menschen luden Koffer und Taschen aus Autos, lagen sich in den Armen und verschwanden in dem Gebäude. Vor Isabella tat sich eine neue Welt auf. Eine Welt von der sie wusste, dass es sie gab. Von der sie aber bisher so weit entfernt gelebt hatte, dass es sich nicht lohnte darüber nachzudenken. Jetzt plötzlich wurde sie damit konfrontiert und fühlte sich so fremd wie ein Außerirdischer. Die Autotür neben ihr wurde geöffnet und ein Mann begrüßte sie freundlich.

»Isabella, schön dich zu sehen.«

Sie erkannte erst auf den zweiten Blick, dass es Schneider war. Es war fast ein halbes Jahr her und sie hatte ihn nur für eine knappe halbe Stunde gesehen, wodurch sein Erscheinungsbild in ihrem Gedächtnis stark verblasst war. Doch der spießige Seitenscheitel rüttelte ihre Erinnerung wieder wach. »Hallo«, entgegnete sie fast schüchtern.

»Es ist zwar kalt hier draußen«, er blickte kurz auf ihre nackten Arme, »aber du solltest trotzdem jetzt aussteigen. Mit dem Taxi kommst du nämlich nicht weiter.«

Er ließ die Tür auf und ging nach vorne zur Beifahrertür.

»Was kriegen Sie?«, fragte er den Taxifahrer, während Isabella langsam, fast zögerlich ausstieg.

»48,20«, antwortete der nach einem kurzen Blick auf das Taxameter.

Schneider reichte ihm einen fünfzig Euroschein mit der Bemerkung, dass er den Rest behalten könne. Der Mann bedankte sich und fuhr davon, während Schneider sich wieder Isabella zuwandte.

»Wollen wir?«, fragte er kurz.

Isabella nickte, obwohl sie nicht wusste, was Schneider damit eigentlich meinte. Fürs Erste folgte sie ihm ins Gebäude. In der riesigen Halle herrschte reger Betrieb. Zahllose Menschen hetzten scheinbar ziellos umher oder standen in langen Schlangen an irgendwelchen Schaltern an. Für sie alle schien ein System dahinter zu stecken, doch Isabella verstand nichts von dem. Sie folgte einfach nur dem Mann, der in seinem perfekt sitzenden Anzug vor ihr herlief und offensichtlich ebenfalls wusste wohin er wollte. Er ging schnell und sie hatte alle Mühe Schritt zu halten, denn immer wieder wurde sie abgelenkt. Auf einem Podest stand ein brandneues Auto, das man anscheinend gewinnen konnte, indem man einen aufgedruckten QR-Code mit dem Handy scannte. Ein paar Menschen hatten sich dort versammelt und diskutierten miteinander. Anschließend hielten sie ihre Handys auf den Code, schauten auf ihre Displays und lachten. Ja, Isabella tauchte in eine ihr bisher verborgene Welt ein, aber sie war sich gleichzeitig sicher, dass sie gerade erst an der Oberfläche kratzte. Sie sah sich um, nachdem sie immer langsamer geworden war und bekam gerade noch mit, wie Schneider nach links in einen Nebengang abbog. Er blieb kurz stehen und wartete.

»Wo bleibst du? Wir sollten uns hier nicht verlieren«, sagte er ermahnend, aber nicht vorwurfsvoll, als wüsste er was in Isabella gerade vorging.

»Tschuldigung«, entgegnete sie und beide setzten sich wieder in Bewegung.

Der Gang war nicht lang und am Ende befand sich eine hell erleuchtete Doppelglastür mit der Beschriftung Zoll. Automatisch blieb Isabella wieder stehen.

»Das geht nicht!«, rief sie.

Schneider, der schon wieder ein Stück voraus war, drehte sich herum und kam zurück.

»Was genau geht nicht?«

»Ich kann da nicht rein. Ich habe keinen Ausweis«, antwortete sie.

Bei ihrer Entlassung heute Morgen hatte sie ihr spärliches Eigentum vollständig zurückbekommen, nur den Ausweis eben nicht, aber das fiel ihr jetzt erst auf.