Wilburs Lebensphilosophie lautet: Unsichtbar sein. Kopf runter. Mund zu. Einfach schauen, dass man möglichst wenig auffällt. Sich an dem festhalten, was einem Freude macht. Und schließlich hat er ja auch noch zwei großartige Mütter, die ihn abgöttisch lieben.
Bei einem Schüleraustausch überwältigen Wilbur gigantische Gefühle für die quirlige Pariserin Charlotte. Aber wie wird man zu einem begehrten, coolen Typ, wenn man gerade eben noch völlig unsichtbar war? Wilburs Freunde sind überzeugt: Da hilft nur ein Selbstoptimierungsprogramm für Anfänger!
Einmal mehr beweist Susin Nielsen ihre außergewöhnliche Fähigkeit, starke Charaktere zu schaffen, die sich unerschütterlich von Problemen befreien, indem sie lernen, an sich selbst zu glauben. Ein Buch voller Humor, Weisheit und Warmherzigkeit.
»Eine offenherzige und lustige Geschichte über die erste Liebe und das Vertrauen in sich selbst.«
The Times
DIE GIGANTISCHEN
DINGE DES LEBENS
Aus dem kanadischen Englisch
von Anja Herre
Verlag Urachhaus
Am nächsten Tag in der Schule dachte ich zunächst, ich spinne. Ganz bestimmt starrten mich nicht alle an.
Ich spann nicht.
Jemand hatte meinen Brief geöffnet – meinen persönlichen, privaten Brief – und abfotografiert. Dann hatte dieser Jemand ihn auf sämtlichen der Menschheit bekannten Social-Media-Kanälen gepostet, wo er kommentiert und mit jeglichen Leuten an meiner Schule und darüber hinaus geteilt wurde.
Gegen zehn Uhr vormittags versteckte ich mich im Schulkrankenzimmer und heulte erbärmlicher als bei der Tierschutzwerbung.
Gegen elf Uhr vormittags waren die Mumps zu einer Krisensitzung einberufen worden. Die Direktorin hatte wohl beschlossen, dass meine Schmach ohnehin nicht mehr zu überbieten war, denn sie gab ihnen meinen Brief auf ihrem Handy zu lesen. Sie versicherte ihnen, die Schule würde die Schuldigen finden und zur Verantwortung ziehen.
Auf der Heimfahrt weinte ich immer noch, deshalb setzte sich Mum zu mir nach hinten und hielt meine Hand. Sie war direkt vom Dreh zu Wo ein Wolf ist gekommen und hatte noch das komplette Spezialeffekt-Make-up drauf; ihre Hand war sehr haarig. »Das ist kein Weltuntergang, Nüsschen. So fühlt es sich jetzt vielleicht an, aber du wirst gestärkt daraus hervorgehen.«
»Mum hat recht«, antwortete Mup und guckte mich im Rückspiegel unseres neuen Autos an. »Was dich nicht umbringt, macht dich härter.«
Ich seufzte. Mum zog mich an sich und ich spürte ihre pelzigen Wangen. »Wenn du mich fragst, ich fand den Brief ganz großartig. Ehrlich und auf den Punkt gebracht.«
»Und du kannst sicher sein, in deiner Klasse gibt es keinen einzigen Jungen, der nicht schon die Demütigung einer spontanen Erektion durchgemacht hat«, ergänzte Mup von vorne, und ich versank noch tiefer in meinem Sitz.
Mum strich mir übers Haar. »Ein klitzekleines Hühnchen haben wir aber noch mit dir zu rupfen, Nüsschen.«
O nein.
»Musstest du wirklich das Wort Vorbau gebrauchen? Wir haben uns doch so bemüht, dir die anatomisch korrekten Bezeichnungen für Körperteile beizubringen.«
»Selbiges gilt auch für Jeremiah. Das war süß, als du noch klein warst, aber ich bin nicht sicher, ob es immer noch altersgerecht oder gesund ist, deinen Penis zu vermenschlichen.« Mup seufzte. »Bestimmt bin ich schuld, weil ich früher zu oft Joy to the World mit dir gehört habe.«
Tatsächlich hatte ich den Namen aus dem Lied geklaut, weil Jeremiah ein bisschen wie ein Ochsenfrosch aussah. Und er war ein guter Freund von mir.
»Damit wir uns richtig verstehen, Wil: Du möchtest die Brüste eines Mädchens berühren«, sagte Mum. »Und du wünschst dir einen größeren Penis.« Sie lächelte und entblößte scharfe, spitze Werwolfzähne.
Nur für den Fall, dass es nicht glasklar ist: Ich bin ein Einzelkind.
An dem Abend taten die Mumps ihr Bestes, um eine fröhliche Stimmung zu verbreiten. Sie holten sogar die Karaokeanlage heraus und versuchten, mich dazu zu bewegen, I will survive von Gloria Gaynor zu singen. (Ich weigerte mich.)
Später am Abend jedoch ging ich aufs Klo und hörte sie in ihrem Schlafzimmer reden.
Mum: »Ich wusste, dass Schule keine gute Idee ist.«
Mup: »Ach, jetzt komm, Norah. Woher wolltest du das denn wissen?«
Mum: »Aus denselben Gründen, die uns dazu bewogen haben, ihn zu Hause zu unterrichten, Carmen. Erstens ist er ein Frühchen. Zweitens ist er ein Dezemberkind. Und drittens – na ja, im gesellschaftlichen Miteinander ist er nicht gerade versiert, oder? Weißt du noch, im Kindergarten? Er hat jeden Tag geweint, drei Wochen lang, bis wir ihn zu guter Letzt rausgenommen haben.«
Mup: »Und hätten wir ihn eine vierte Woche drin gelassen, hätte er vielleicht aufgehört zu weinen und angefangen, sich einzufügen.«
Ich konnte sie zwar nicht sehen, aber ich spürte die eisige Kälte in Mums Schweigen.
Mum: »Ich will nur das Beste für unseren Jungen. Und diese Schule ist es nicht.«
Mup: »Norah, Liebling. Ich denke, wir können uns darauf einigen, dass unser Junge lernen muss, sich in dieser großen, verrückten Welt, in der wir leben, zurechtzufinden. Und außerdem, was haben wir denn für eine Wahl? Wir können ihn nicht weiter zu Hause unterrichten, nicht mit deinem neuen Engagement und meinen Arbeitszeiten.«
Mum: »Wir könnten uns nach einer Privatschule umsehen.«
Mup: »Und wie um Himmels willen würden wir das bezahlen?«
Schweigen. Dann:
Mum: »Er tut mir so furchtbar leid.«
Mup: »Ich weiß. Mir auch. Aber lass es uns ein paar Tage probieren. Ich bin sicher, die finden die Person, die dafür verantwortlich ist, und dann …«
Mum: »Hängen wir sie an den Füßen auf, pulen ihr mit einem Löffel die Augäpfel raus und weiden sie anschließend mit einem rostigen alten Messer aus …«
Mup: »Hach, du bist so eine Löwenmama.« Wieder wurde es still, aber dieses Mal war ich ziemlich sicher, dass sie sich küssten. Also ging ich ins Bett und versuchte, die fiesen Gedanken aus meinem Hirn zu vertreiben. Stattdessen stellte ich mir vor, ich sei in einer Scheune, zusammen mit den Tieren aus Wilbur und Charlotte, meiner absoluten Lieblingsgeschichte, und nach einer Weile schlief ich schließlich ein.
Die Schule fand den Übeltäter fast im Handumdrehen. Poppy, ein Mädchen in meiner Stufe, erzählte der Direktorin, sie habe gesehen, wie Tyler Kertz den Brief aufgehoben habe, nachdem Mr Markowitz ihn fallen gelassen hatte.
Ich hatte nur ein einziges Mal mit Tyler geredet, als ich in der Klasse neben ihm saß. »Schicker Hut«, hatte er gesagt.
»Danke. Ist ein echter Fischerhut.« Dann: »Ich bin Wilbur Cézar Hernandez-Schott.« Ich streckte die Hand aus.
Er ergriff sie nicht. Er ignorierte sie. »Hast du irgend ’ne Krankheit oder so was?«
»Was?«
»Deine Augen. Die sind glubschig.«
»N-n-nein. Die sind einfach so –«
»Siehst aus wie ’n Frosch. Oder ’n Mops.«
Da kam Mr Markowitz herein, und schon war’s vorbei.
Dennoch – oder vielleicht deswegen? – gab Tyler Mr Markowitz den Umschlag nicht einfach zurück, als er meinen Namen darauf entdeckte. Er öffnete ihn, las alles – und beschloss, alle anderen müssten das ebenfalls lesen.
Als man ihn aufforderte, sich dazu zu äußern, sagte er der Direktorin, er habe das »bloß zum Spaß« gemacht. Er hatte es nicht böse gemeint.
Kertz wurde für eine Woche von der Schule suspendiert und musste mir einen Entschuldigungsbrief schreiben.
Und ich?
Ich war verdammt zu einer Ewigkeit in der Hölle.
aus ›Ohne Fallschirm‹ von Wilbur Hernandez-Schott
»Die Zeit heilt alle Wunden«, sagt Mup gerne. »Und die Zeit verwundet alle Heiler.« Ich habe Mup wirklich lieb. Aber ihre Plattitüden sind manchmal echt kompletter Schwachsinn.
Nach Tylers Ausschluss vom Unterricht setzten wir uns zu einer unserer Familienbesprechungen zusammen. »Wir finden, du solltest versuchen, noch ein bisschen durchzuhalten«, sagte Mup. »Vor deinen Problemen wegzulaufen ist ein Rennen, das du niemals gewinnen wirst.« Mum stieß einen Würgelaut aus, und Mup nahm ihre Hand und drückte sie fest. Ich war mir ziemlich sicher, dass sie unterschiedlicher Meinung waren, sich jedoch darauf verständigt hatten, als geschlossene Front aufzutreten.
»Nur einen Monat, Gürkchen«, sagte Mum. »Wenn es danach nicht besser ist, holen wir dich raus.« Sie hörte sich an, als redete sie von einem Gefängnisausbruch.
Also ging ich weiter auf die Pierre-Elliott-Trudeau-Schule.
Und es war ein Albtraum.
Die Witze über Jeremiah nahmen kein Ende. Ein paar Kinder versuchten mich zum Weinen zu bringen, und ich muss leider zugeben, dass es ihnen bisweilen gelang. Noch schlimmer: Niemand nannte mich mehr Wilbur. Ich hatte einen neuen Spitznamen. Keiner von uns – weder ich noch Mum noch Mup – hatte je das Akronym bemerkt, das die Initialen meines Namens bildeten. WiCHS.
Ich hasste die Schule. Ich beschloss, den Mumps nach Ablauf des Monats zu sagen, dass ich da raus wollte.
Und prompt überrollte uns kurz vor Ende September eine Unglückslawine.
Eines Tages kam Mup ganz aufgewühlt von der Arbeit nach Hause. »Die haben mich durch einen Roboter ersetzt.« Sie arbeitete Vollzeit als Kassiererin in einem Lebensmittelladen. Vor Kurzem waren Selbstbedienungskassen angeschafft worden, und da man Mup als Letzte eingestellt hatte, war sie die Erste, die gehen musste. Ein paar Tage später löste sich Mums Fernsehsendung – ihre erste Hauptrolle, der Grund, weshalb wir nach Toronto gezogen waren – in Rauch auf. Jennica Valentine und meine Mum, Norah Schott, spielten in Wo ein Wolf ist die Anführerinnen eines Rudels weiblicher Werwölfe. Doch nur zwei Wochen nach Drehbeginn wurde der Produzent wegen etwas namens Geldwäsche festgenommen und die Produktion eingestellt.
Die Mumps rackerten sich ab, um Arbeit zu finden, irgendeine Arbeit. Spät nachts hörte ich sie reden; sie hatten furchtbare Angst, wir könnten das Haus verlieren, das wir erst vor Kurzem im Zentrum von Kensington Market gekauft hatten. »Wir haben das Fell verteilt, bevor wir den Bären erlegt hatten«, sagte Mup.
Sie waren komplett überlastet.
Als unsere Familienbesprechung wegen der Schule anstand, sagte ich deshalb bloß: »Ist okay. Alles gut. Die Schule läuft gut.« Und die vielen kleinen Muskeln in ihren Gesichtern entspannten sich, und mir war klar, dass sie unendlich erleichtert waren, sich um eine Sache weniger, und zwar mich, sorgen zu müssen.
Nur zwei Jahre, sagte ich mir. In der Oberschule würde ich ganz neu anfangen.
Ich Trottel.
Die Pierre-Elliott-Trudeau-Oberschule ist direkt neben der Pierre-Elliott-Trudeau-Mittelschule.
Und so zogen Tyler – und Wichs – zusammen mit mir um.
»Erzähl doch mal von deiner ersten Schulwoche nach den Ferien«, sagte Sal am Samstagmorgen zu mir. Wir standen vor unseren benachbarten Schließfächern in der Umkleide des jüdischen Gemeindezentrums und zogen uns aus. Ich tat mein Bestes, um nicht hinzugucken, weil a) Starren sehr unhöflich und b) Sal »fünfundachtzig Jahre jung« ist und somit sehr, sehr viele Falten hat, und zwar am ganzen Körper.
»War ganz okay«, erwiderte ich. »Die Trudeau-Tonartisten haben viel geprobt. Mr P will, dass wir gut sind, wenn unsere Gäste kommen.« Der Leiter unserer Band, Mr Papadopoulos, war den Sommer über bei einer Schulorchesterkonferenz gewesen und hatte eine Dirigentin aus Paris kennengelernt. Es ging das Gerücht um, sie hätten richtig viel S-E-X gehabt und einen Schüleraustausch ausgeklügelt, damit sie einander wiedersehen konnten. Am Montag sollte das französische Orchester ankommen. »Wir haben die Namen der Leute gekriegt, die bei uns übernachten«, erzählte ich. »Meiner heißt Charlie Bourget.«
»Charlie klingt nicht sehr französisch.«
»Genau, finde ich auch! Ich hatte einen Yves erwartet, oder einen Jaques.« Unter dem Schutzmantel eines Handtuchs zog ich meine rote Badehose an. Ich habe nicht den Körper für eine Badehose; viel lieber würde ich sackartige Badeshorts tragen; aber Sal hat mir die Badehose zum Geburtstag geschenkt, und wer bin ich denn, dass ich meinen besten Freund beleidigen würde?
Er hielt sich an meinem Arm fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und wir zogen los, langsam, aber stetig. Eigentlich hatte ich in diesem Kurs gar nichts zu suchen, frühestens in ungefähr fünfzig Jahren, doch Sal benötigte meine Hilfe im Umkleideraum, also wurde eine Ausnahme gemacht.
Mup stand schon am Becken, ihre schwarzen Locken steckten unter einer Badekappe, ihr kräftiger Körper in einem marineblauen Badeanzug. Die anderen, die am Kurs teilnahmen – alles Frauen, alle weit über sechzig –, umringten sie. Dies ist einer von ihren drei Teilzeitjobs, und ich bin ziemlich sicher, dass sie den am meisten mag.
Als die Damen uns erblickten, fingen sie an zu grinsen. »Unsere Jungens sind da!«, sagte Ruth Gimbel. Da wir die einzigen Männer im Kurs sind, behandeln sie Sal und mich wie Rockstars. Die Damen kneifen mich in die Wangen, wuscheln mir durchs krause Haar und bringen mir hausgemachtes Gebäck mit, was echt klasse ist.
Doch wenn ich also quasi der Schlagzeuger der Band bin, dann ist Sal der Frontsänger und Mädchenschwarm. Die Damen lieben ihn. Mindestens vier von ihnen, einschließlich Ruth, flirten mit ihm, weil sie wissen, dass er Witwer ist und darüber hinaus einfach ein beeindruckender Mensch.
Mup schaltete die Musik ein. »So, alle miteinander, ab ins Wasser!«
Sal und ich hüpften ins Becken. In der folgenden Stunde ging ich auf eine Art und Weise aus mir raus wie sonst nirgendwo. Ich schleuderte die Arme hoch, schüttelte verwegen meine Schultern und tanzte unter Wasser Cancan.
Aquagymnastik für alle ab 60+ zählt definitiv zu den Höhepunkten meiner Woche.
Mup musste noch weitere Kurse geben, also liefen Sal und ich hinterher sehr langsam zum Royal Ontario Museum, das nur ein paar Straßen entfernt lag. (Sal schenkt mir jedes Jahr zu Weihnachten eine Junior-Mitgliedschaft und ich ihm jedes Jahr zu Chanukka eine Senioren-Mitgliedschaft.) Sal spähte in seine Leinentasche. »Was hast du heute erbeutet?«
»Nanaimo-Riegel und Kekse mit Schokostückchen von den Zwillingen«, sagte ich. »Und du?«
»Dasselbe. Und noch einen ganzen Schokoladen-Babka von Ruth.«
»Sie steht so was von auf dich.«
»Da gebe ich dir nicht Unrecht. Aber es ist noch zu früh.«
»Irmas Tod ist drei Jahre her.« Ich hatte Sals Frau nie kennengelernt; sie war gestorben, bevor wir einzogen, aber ich wusste, dass sie ihm noch immer sehr fehlte.
»Genau. Zu früh. Und außerdem, wenn du die Wahrheit hören willst, Ruth grabscht ganz gern mal. Heute im Becken hat sie mir drei Mal an meinen Derrière* gefasst.«
»Woa. Dreist.«
»Seh ich genauso.«
Wir betraten das Museum und liefen ohne Umwege zu Fulton, so nennen wir das riesige Dinosaurierskelett, das das gesamte Foyer beherrscht. Unsere gemeinsame Begeisterung für alles, was mit Dinosauriern zu tun hat, gehörte zu den Dingen, die uns von Anfang an verbanden. Er lieh mir ein paar Bücher, und ich las ihm die Geschichten vor, die ich über einen freundlichen, aber scheuen Tyrannosaurus Rex mit dem recht einfallslosen Namen Tex geschrieben hatte.
Fulton ist kein Tyrannosaurus; er ist die Nachbildung eines Futalognkosaurus, der vor Urzeiten Südamerika durchstreift hat. Er ist riesig. Seine Füße stehen auf zwei Metallklötzen mit ein paar Metern Abstand dazwischen.
Wir legten uns, die Hände unterm Kopf, auf den Boden. Wir blickten nach oben und betrachteten Fultons Knochen. Das ist eine von Sals Lieblingsbeschäftigungen. »Stell dir mal vor, diese Lebewesen sind vor Millionen und Abermillionen von Jahren auf ebendiesem Planeten herumgelaufen! Das ist unglaublich. Unser Leben ist bloß ein Fliegenschiss. Gigantisch! Aber nichtsdestotrotz ein Fliegenschiss!«, sagt er gerne. »Was ist das Leben doch für ein Wunderwerk!« Sal steckt in dieser Hinsicht voller Weisheit; einen besten Freund zu haben, der einundsiebzig Jahre älter ist als ich, ist ein Geschenk.
»Hast du dich mit Alex fürs Wochenende verabredet?«, fragte er, während wir Fultons wuchtigen Brustkorb anstarrten.
»Nein. Ich hab’s versucht, aber … er hatte schon was vor.«
»Der Freund?«
Ich nickte.
»Ah. Sehr schade. Manche Leute drehen ein bisschen durch, wenn sie sich in den ersten Zügen einer Romanze befinden.«
»Ist schon okay. Dafür kann ich mehr Zeit mit dir verbringen.«
»Du brauchst auch gleichaltrige Freunde, Wilbur. Ich habe Freunde in meinem Alter.«
»Sal. Wilbur.« José, die Samstagsaufsicht, türmte sich über uns auf. Seine Uniform spannte über seinen Muskeln. »Ihr wisst, was jetzt kommt.«
Sal und ich sagten einstimmig: »Ihr könnt hier nicht auf dem Boden liegen. Ihr gefährdet euch und andere.« José ergriff Sals ausgestreckte Hand und half ihm hoch. Er reichte Sal seinen Filzhut.
»Ich hab was zum Naschen für dich, José.« Sal griff in seine Tragetasche und gab José eine seiner Tüten mit Süßigkeiten.
Josés Augen leuchteten auf. »Nanaimo-Riegel. Danke, Sal.«
Per U-Bahn und Tram fuhren wir zurück zu Sals Haus, das direkt neben unserem steht und zu einer Reihe von schmalen Backsteinreihenhäusern in Kensington Market gehört. Einige sind in knalligen Farben gestrichen, unseres zum Beispiel in Mauve. Seines hat noch die ursprüngliche Backsteinfarbe. Innen sind unsere Häuser im Grundriss gespiegelt, aber da hören die Ähnlichkeiten auch schon auf: Das Haus meiner Familie ist vollgestopft mit Zeug, das Mum in Kleinanzeigen oder bei privaten Flohmärkten gefunden hat; Sals Haus ist voll mit Antiquitäten.
Traditionsgemäß machte er uns zum Mittagessen Grillkäse-Sandwiches mit eingelegten Gurken. Das lag daran, dass wir beide Grillkäse lieben und dass Sal außerdem seit Jahren in Rente ist und mit wenig Geld auskommen muss; ich weiß zufällig, dass er sehr oft Grillkäse, Ramennudeln und Suppe aus verbeulten Dosen isst.
Um halb eins brachte er mich zur Tür. »Hier, nimm noch was von dem Babka für unterwegs mit.« Er reichte mir zwei dicke Scheiben in einem Frischhaltebeutel.
Ich verabschiedete mich und lief zur Sandwich Station in der Queen Street West. Während der Weihnachtsferien hatte mich der Eigentümer, Mr Chernov, vom Sandwich Creation Profi zum Sandwich Creation Expert befördert. Das ging nicht mit einer Gehaltserhöhung einher, aber Mr Chernov erinnerte mich daran, dass es mehr Verantwortung bedeutete, also ist das wohl angemessen, nehme ich an. Da Mr Chernov selten da war – er war Chef von drei Restaurants, die zu einer Kette gehörten –, war ich streng genommen der Vorgesetzte der anderen Angestellten, aber ich bin nicht ganz sicher, ob diese Info zu ihnen durchgedrungen ist.
»Dmitri, du bist dran mit den Toiletten«, sagte ich kurz nach Beginn unserer Schicht. Dmitri ist neu, klein und drahtig und hat eine Igelfrisur. Er ist ungefähr in meinem Alter und außerdem das, was ich als schwierigen Angestellten bezeichnen würde.
Er schrieb gerade Textnachrichten und reagierte nicht.
»Dmitri. Du weißt, die Toiletten müssen einmal pro Stunde überprüft und geputzt werden.«
»Sorry, Dilbert, geht nicht«, sagte er, ohne aufzuschauen.
»Wilbur«, sagte ich. »Wieso nicht?«
»Gesundheitliche Gründe. Ich hab Psoriafungalitis.«
Ich sah ihn verständnislos an.
»Hautkrankheit. Ich darf keine starken Putzmittel benutzen, sonst krieg ich einen superekligen Ausschlag.«
Ich wusste, ich konnte ihn schlecht zu etwas nötigen, wozu er aus medizinischer Sicht nicht in der Lage war – selbstverständlich hatte ich die achtzigseitige Dienstvorschrift gelesen –, also putzte ich die Toiletten selbst. Ich weiß nicht, ob das nur in unserem Laden vorkommt oder ob es ein weit verbreitetes Phänomen ist, aber es gibt eine Menge Leute, die entweder nicht begreifen, wie man spült, oder die sich einfach nicht die Mühe machen zu spülen.
Während Dmitris Pause kam Mitzi zu mir. Sie ist ungefähr in meinem Alter, ein oder zwei Jahre jünger, hat eine kräftige Statur, lange rote Haare und eine Hornbrille. »Dir ist schon klar, dass er sich das ausgedacht hat.«
»Psoriafungalitis? Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass es das wirklich gibt.«
Mitzi holte ihr Handy raus und tippte das Wort ein. Sie hielt es mir vor die Nase. »Nee.«
»Oh.«
Wir standen rum und lauschten eine Weile der Fahrstuhlmusik. Sie begutachtete ihr Spiegelbild im Fenster. »Wer um Himmels willen hat diese Uniformen entworfen? Pikachu?«
Unsere Uniformen sehen abscheulich aus – einteilige bananengelbe Anzüge mit Reißverschluss aus billigem Polyester. Ich nehme an, sie sollen zu den billig wirkenden gelben Plastiktischen und -stühlen passen, die auf dem Boden festgeschraubt sind.
»Also, ich finde ja, du siehst damit ziemlich gut aus«, sagte ich. »Wie Sigourney Weaver in Alien. Oder Uma Thurman in Kill Bill.«
»So irgendwie knallhart?«
»Auf jeden Fall.«
Das bescherte mir ein seltenes Lächeln; meistens sieht Mitzi verächtlich und gelangweilt aus. Keine Ahnung, was sie von mir hält.
Wenn ich ganz ehrlich bin: Ich finde sie ziemlich Furcht einflößend.
Während unserer Schicht arbeiteten Mitzi und ich ununterbrochen, anders als Dmitri, der immer wieder für längere Zeit nach hinten verschwand. Er verließ den Laden fünfzehn Minuten, bevor seine Arbeitszeit offiziell zu Ende war.
Um sechs Uhr übernahmen George und Deepak. Da es schon dunkel war, begleitete ich Mitzi nach Hause. »Musst du echt nicht machen«, sagte sie. »Ich habe den blauen Gürtel in Karate. Ich könnte einen Typen plattmachen, der doppelt so groß ist wie du, und zwar sehr viel müheloser, als du es je fertigbringen würdest, nimm’s mir nicht übel.«
»Ich nehm’s dir nicht übel. Und ich glaube dir. Aber es liegt ohnehin auf meinem Weg.«
Sie wohnt in der Shaw Street, und da wir zu zweit waren, nahmen wir eine Abkürzung durch den Trinity-Bell-woods-Park.
»Ich glaube, Franklin ist krank«, erzählte sie. Ich brauchte kurz, um mich daran zu erinnern, dass Franklin ihre Schildkröte war. »Er wird langsamer.«
»Aber benimmt er sich dann nicht einfach wie … eine Schildkröte?«
»Glaub mir, ich erkenne den Unterschied. Franklin und ich sind unzertrennlich.«
Ich brachte sie bis zu ihrem Haus. »Na, ich hoffe, er kommt bald wieder in die Gänge«, sagte ich. »Und denk dran, ich werde jetzt eine Woche nicht arbeiten.«
»Ach, stimmt. Dein Austauschschüler. Hoffe, das wird gut.«
Mitzi drehte eine Pirouette, winkte mir zum Abschied zu und lief die Einfahrt hinauf.
Sie ist ein von Rätseln umwobenes Mysterium.
Als ich unsere Haustür öffnete, empfingen mich ein Schwall warmer Luft, Kulturradio und Templeton, der auf seinen kurzen Beinchen mit begeistert fiependem Gebell in den Flur trippelte. »Wo ist mein braver Kleiner?«, rief ich mit Babystimme. »Wo ist mein braver, süßer Kleiner?« Ich nahm ihn hoch. Angriffslustig leckte er mein Gesicht ab.
Wir liefen in die Küche. Unter dem Spülbecken schauten Mups Beine hervor. Sie sagt gern: »Wenn’s hart auf hart kommt, legen die Harten erst richtig los.« Das hat sie gemacht, seit sie entlassen wurde. Zusätzlich zu ihren drei Teilzeitjobs beschloss sie, Reparaturen eben selbst zu erledigen, wenn wir uns einen Handwerker nicht leisten konnten. Sie schaut sich Videoanleitungen zu allen möglichen Themen an, vom Verputzen bis hin zu einfachen Klempnerarbeiten; sie hat sich alles selber beigebracht. Aber sie ist auch nur eine einzelne Frau und lebt mit zwei Individuen mit räumlicher und handwerklicher Behinderung zusammen, also geht das Reparieren langsam vonstatten.
Gerade setzte ich Templeton ab, als Mup mit triumphierendem Grinsen unter der Spüle hervorgekrochen kam. »Hab die undichte Stelle repariert. Ich koche gleich Abendessen – Pfui. Wil.« Mup deutete auf Templeton. Er robbte mit den Vorderbeinen durchs Zimmer und schleifte seinen Hintern übers Linoleum. »Du weißt, was das heißt.«
Wusste ich. »Muss das jetzt sofort sein?«
»Er hinterlässt Kackspuren auf dem Boden. Und du weißt, worauf wir uns geeinigt haben. Du bist seine …«
»Hauptverantwortliche Betreuungsperson. Ich weiß.« Das hatten mir die Mumps eingetrichtert, als ich ihn adoptieren durfte. Ich nahm ihn wieder hoch und hielt ihn diesmal etwas mehr auf Abstand. »Du hast Glück, dass ich dich so lieb habe«, flüsterte ich in sein gutes Ohr. Dann trug ich ihn nach oben, um mein Werk zu verrichten.
Als ich fertig war, ging ich mit Templeton vor dem Abendessen in dem winzigen Park unseres Viertels noch eine schnelle Runde Gassi. Die Mauern auf beiden Seiten waren mit bunten Wandgemälden und Graffiti bedeckt. Lloyd, der einen Imbiss mit Teigtaschen nach jamaikanischer Art betreibt, und Viktor, dem der Käseladen gehört, saßen in Anoraks auf ihrer Lieblingsbank und rauchten einen Joint. Sie gehören zum Inventar des Parks, egal, welches Wetter herrscht oder wie spät es ist. Wir grüßten einander. Lloyd fügte hinzu: »So’n Gesicht kann nur eine Mutter lieben.« Ich war nicht ganz sicher, ob er Templeton oder mich meinte.
Als wir zurück nach Hause kamen, war Mum ebenfalls in der Küche und deckte den Tisch. Sie trug einen Hosenanzug und hatte ihr langes, dunkles Haar auf dem Kopf aufgetürmt. Meine Mütter sind schöne Frauen: Carmen ist klein und hat eine Rubensfigur und üppige schwarze Locken; Norah ist groß und schlank und hat langes, kastanienfarbenes Haar und unglaubliche Wangenknochen. Ich erwähne das nur, weil es mir ein Rätsel ist, wie Mum so einen Gnom wie mich auf die Welt bringen konnte. Vor allem, weil das Profil des Spenders besagte, er sei ein gut aussehender Mann mit Harvard-Abschluss, der es beinahe in die olympische Rudermannschaft geschafft habe …
Ich glaube eher, er war ein sehr guter Lügner, der sein Sperma gespendet hatte, weil er die Kohle brauchte.
Mup stellte Schüsseln mit Grünkohl-und-weiße-Bohnen-Suppe auf unseren kleinen Resopaltisch. Sie kocht an den Tagen, an denen sie als Erste nach Hause kommt, und das sind die wirklich guten Tage, weil sie sehr viel besser kochen kann als Mum, aber das behalten wir für uns, denn Mum hört das gar nicht gerne.
Abwechselnd berichteten wir, wie unser Tag gelaufen war. Das ist eine Hernandez-Schott-Familientradition. Als Mum an der Reihe war, sagte sie: »Heute war ich in einer Restaurantszene im Hintergrund. Ich sollte so tun, als sei ich in einen alten Knacker verliebt. Der war bestimmt dreißig Jahre älter als ich. Es war unfassbar öde.« Nachdem sich Wo ein Wolf ist erledigt hatte, war es auch mit Mums Schauspielkarriere vorbei. Aber ebenso wie Carmen ist auch Norah einfallsreich. Sie beschloss, dass keine Rolle zu klein ist, und nimmt jetzt viele Jobs als Statistin an. Außerdem hat sie ein gutes Auge für Trödel bei privaten Flohmärkten; sie putzt die Sachen oder arbeitet sie auf und verkauft sie dann mit Gewinn weiter.
Ich schlürfte den letzten Rest Suppe. »Ich glaube, ich habe noch gar nicht erwähnt«, sagte ich, genau wissend, dass ich es bisher unterlassen hatte, »dass Mr Papadopoulos die Anzahlung für die Austauschfahrt bis Freitag braucht.« Das französische Schulorchester kam nicht nur zu uns; im April sollten wir sie dann in Paris besuchen. Deshalb heißt es vermutlich Austausch. Der Elternbeirat finanzierte einen Teil der Kosten, aber für das meiste mussten wir selbst aufkommen.
Die Mumps warfen einander Blicke zu. »Wie viel?«
»Vierhundert Dollar«, sagte ich. »Insgesamt tausendsechshundert.«
Ich hörte, wie sie unisono nach Luft schnappten. Mum beschäftigte sich damit, eine der vielen Retro-Keksdosen herunterzuholen, die auf den Küchenschränken aufgereiht stehen.
»Ich habe lange überlegt«, sagte ich. »Ich muss nicht nach Paris. Ich glaube eh nicht, dass es mir besonders viel Spaß machen wird.«
»Wieso in aller Welt denn nicht?«, fragte Mup.
»Andere Sprache, anderes Essen, andere Kultur …« Ich verzog das Gesicht.
»Stimmt, du magst keine Veränderungen«, sagte Mum. Sie nahm ein paar selbst gebackene Kürbiskekse aus der pilzförmigen roten Dose mit den weißen Punkten und wandte sich zu Mup um. »Als er kleiner war, wollte er nicht mal bei Stewart übernachten, weil er lieber in seinem eigenen Bett schläft. Mehr als einmal mussten wir mitten in der Nacht bis nach North Shore fahren, um ihn abzuholen, weißt du noch?«
»Aber genau deswegen sollte er fahren. Er muss mal raus aus seiner Komfortzone.«
»Irgendwann schon, ja«, sagte Mum. »Aber es ist viel Geld. Und Paris wird es auch noch geben, wenn er älter ist und vielleicht ein wenig … abenteuerlustiger?«
Manchmal machten sie das, sie sprachen über mich in der dritten Person, als sei ich nicht da.
Mup drehte sich zu mir um. »Hast du was von deinem Gehalt gespart?«
»Ein bisschen. Nicht so viel, wie ich gehofft hatte.«
»Nun, es ist eine einmalige Gelegenheit. Die Anzahlung kriegen wir hin. Ich übernehme noch ein paar zusätzliche Taxifahrten.« Taxifahren ist Mups zweiter von drei Jobs. »Heute Abend stelle ich den Scheck aus. Gib ihn deinem Lehrer aber nicht vor Donnerstag; bis dahin sollte das Geld da sein.« Mum machte einen Schmollmund, sagte aber nichts. »Und wenn wir gerade dabei sind, ich setze mich gleich noch ein paar Stunden hinters Steuer.« Mup gab uns beiden einen Kuss und ging.
Nach dem Abwasch ließ Mum mich einen Film aus unserer riesigen DVD-Sammlung aussuchen; die kriegt sie bei Flohmärkten fast für umsonst. Ich entschied mich für unser Lieblingsmusical, West Side Story. Wir kuschelten uns aufs Sofa. Templeton saß auf meinem Schoß. Doch selbst als wir bei Hey, Inspektor Krupke mitsangen, musste ich gegen das Gefühl von Einsamkeit ankämpfen, das sich in mir breitmachte.
Samstagabends war ich immer zu Hause, zusammen mit einer Mutter oder beiden und meinem Hund. Sogar Sal hatte samstags eine feste Verabredung zum Doppelkopfspielen mit ein paar seiner angemessen gleichaltrigen Freunde.
»Freust du dich schon auf deinen Austauschschüler?«, fragte Mum bei Ein Kerl wie der.
»Ja.« Ich hielt inne. »Ich hoffe bloß …«
»Was?«
»Ich hoffe bloß, dass Charlie Toronto mögen wird.«
»Natürlich wird es ihm gefallen. Wieso denn auch nicht?«
Ich traute mich nicht auszusprechen, was ich wirklich dachte, nämlich:
»Ich hoffe, dass Charlie mich mögen wird.«
* Französische Wörter oder Sätze, die sich nicht aus dem Zusammenhang erschließen lassen, werden auf Seite 276 f. erklärt.