Titel

Natasha Brown

Zusammenkunft

Roman

Aus dem Englischen von Jackie Thomae

Suhrkamp Verlag

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Assembly bei Hamish Hamilton, London.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.

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Umschlagabbildung: SpiffyJ/iStock

Umschlaggestaltung: Nurten Zeren, Berlin

eISBN 978-3-518-77218-8

www.suhrkamp.de

Motto

Ich ward aber gewahr,
dass auch dies ein Haschen nach Wind ist.

Zusammenkunft

Schon gut

Du musst damit aufhören, sagte sie.

Womit aufhören, sagte er, wir machen doch gar nichts. Sie wollte ihn korrigieren. Es gab kein wir. Es gab ihn, das Subjekt, und sie, das Objekt, aber er sagte ihr nur, pass auf, es gibt keinen Grund, sich aufzuregen über nichts.

Sie saß oft in der letzten Kabine der Damentoilette und starrte die Tür an. Sie saß dort, manchmal, die ganze Mittagspause über, wartete darauf, entweder zu scheißen oder zu weinen oder auf genug Entschlossenheit, um zurück an ihren Schreibtisch zu gehen.

Er konnte sie von seinem Büro aus an ihrem Schreibtisch sehen und rief regelmäßig auf ihrer Durchwahl an, um auszusprechen, was er sah (und was er daraus machte): ihre Haare (wild), ihre Haut (exotisch), ihre Bluse (zu knapp über den Brüsten).

Über das Telefon forderte er sie auf, kleine Dinge zu tun. Das erniedrigte sie mehr als die größeren Dinge, die irgendwann folgten. Dennoch hielt sie ihren Tacker so hoch wie angewiesen. Trank ihr gesamtes Wasserglas in einem Zug aus. Spuckte ihren Kaugummi in ihre Hand.

Sie war mit ihren Kollegen zum Lunch gegangen. Es waren sechs Männer, die sich in Alter, Größe und Charakter unterschieden. Sie bestellten vier Portionen Beef Nigiri und kamen beim Essen, mittels Andeutungen und vorwurfsvoller Beobachtungen, ab und zu auf ihre Situation zu sprechen.

Einer der Älteren, fett, mit dichtem, angegrautem Bart um die dünnen pinkfarbenen Lippen, legte seine Gabel beiseite, um Klartext zu reden. Er begann langsam: Er weiß, dass sie keine von denen ist, die einen Vorteil daraus ziehen würden. Das weiß er, klar weiß er das. Hier hielt er kurz inne, für den größeren Effekt und um den Thrill auszukosten, dem Mädchen erklären zu können, wie die Dinge laufen. Aber, aber jetzt, müsste sie zugeben, dass sie ihm gegenüber und den anderen am Tisch im Vorteil sei. Das könnte sie zugeben, oder nicht?

Er grinste breit, streckte die Arme weit aus und lehnte sich zurück. Die fünf anderen schauten sie an, manche nickten. Er griff wieder zur Gabel und schaufelte sich mehr rohes Fleisch in den Mund.

Sein Büro bestand an drei Seiten aus Glas. Rechts und links erstreckten sich Schreibtischreihen, eine Zuschauergalerie. Sie in der Bühnenmitte. Er setzte sich, während er ziemlich angeregt mit ihr sprach.

Er hoffe, sie würde ein bisschen Reife zeigen, sagte er, ein bisschen Wertschätzung. Er stand von seinem Stuhl auf, ging auf sie zu, streifte sie, obwohl das Büro riesig war und er genug Platz hatte. Sie solle das große Ganze sehen und ihre Zukunft und was sein Wort hier zählte. Das sagte er, während er die Bürotür öffnete.

Es war nichts. Das dachte sie jetzt, wie sie es jeden Morgen dachte. Sie knöpfte ihre Bluse zu und dachte es. Dann drückte sie sich kleine Stecker in die Ohrläppchen. Sie dachte es, während sie ihre Haare straff nach hinten zog, zu einem ordentlichen Knoten, der ihr Gesicht freilegte, und ihren steifen grauen Bleistiftrock glattstrich.

Sie dachte es, während sie aß, sogar nachdem sie vergessen hatte, wie man schmeckte oder schluckte. Sie versuchte zu kauen. Es war nichts. Sie blaffte, es ginge ihr gut, wurde leiser, schaute sich im Wohnzimmer um. Fragte ihre Mutter, wie ihr Tag gewesen war.

Ein Abendessen nach der Arbeit, sie hatte zugesagt. Draußen vor dem Restaurant, bevor sie hineingingen, packte er ihre Schultern und presste seinen offenen Mund auf ihr Gesicht.

Sie sah zu, wie sich seine Lider zuckend schlossen, während er seine langsame Zunge gegen ihre drückte und stieß. Sie stellte sich ihren Körper vor, zusammengefaltete Glieder, verstaut in einer Box. Er trat zurück, lächelte, lachte ein bisschen, sah zu ihr herunter. Er berührte ihren Arm, dann ihre Finger, dann ihr Gesicht. Schon gut, sagte er zu ihr. Schon gut, schon gut.

Wie es ist

Nein, ich meine ursprünglich. Also deine Eltern, wo die herkommen. Afrika, oder?

Die Sache ist die: Ich bin fünf Jahre hier. Meine Frau, sieben, acht. Wir haben gearbeitet. Wir haben unsere Steuern bezahlt. Wir jubeln für England bei der Fußball-WM! Als die Regierung uns also mitteilte, wir sollten uns registrieren; verlangte, dass wir diese App downloaden und dafür bezahlen, dass man uns registriert, tat das weh. Das ist unser Zuhause. Wir fühlten uns nicht mehr willkommen. Es ist, als würden sie dir sagen: Geh zurück nach Afrika. Stell dir vor, die würden zu dir sagen: Nein, nein, du bist kein richtiger Brite, geh zurück nach Afrika. So ist das.

Ich meine, es ist – na ja, du weißt schon. Klar weißt du das, du verstehst das. Du kannst das auf eine Art verstehen, die den Engländern abgeht.

Nach dem Digestif legt er los

Sie verstand die Wut eines Mannes, der sich selbst bis in sein Fleisch, bis in Knochen und Blut und Haut als jemanden verstanden hatte, der für den Kopf eines bedeutenden, massiven Riesen bestimmt war, über dem die Sonne niemals unterging. Weil es Nacht war, jetzt, und er betrunken, fühlte er sich sehr klein, war nur noch ein Mund. Eine Lippe oder ein Zahn oder ein rauer, entzündeter Punkt auf einer trockenen, weißen Zunge, glitschig vom Schleim hinten am Rachen. Der Rachen eines Mannes mit Bierbauch und dünner werdenden, kurz geschorenen Haaren. Als dieser Mund sich also öffnete und ihr sein Gift entgegenhustete, was manchen am Tisch durchaus unangenehm war, verstand sie den Ursprung seiner Wut, obwohl sie seine Zielscheibe war. Sie wartete auf das Vibrieren ihres Telefons, um sich kurz zu entschuldigen und – die ganze Zeit über – still und höflich, verstand sie ihn.

Zusammenkunft

Es ist eine Geschichte. Sie handelt von Herausforderungen. Von harter Arbeit. Sich am Riemen reißen. Hochgerollten Hemdsärmeln. Sie handelt davon, wie man sich zwingt. Hoch. Bewältigung, Überwindung, et cetera. Alles schon gehört. Es ist nicht mein Leben, aber es ist, zwei Meter groß hinter mir, an die Wand projiziert, und ich spreche in die weichen, formbaren Gesichter, die sich über uniformierten Schultern nach vorn beugen. Ich trage meine alten Sätze vor wie neue Weisheiten. Klicke zur nächsten Folie. Hinter mir lächeln riesige, diverse Gesichter in grauen Anzügen, zeigen auf Grafiken, schütteln Hände und winken. Der Projektor surrt und ihr Lächeln verschmilzt mit dem schreienden Logo der Bank. Es ist Zeit, zusammenzupacken. Ich schaue in die Reihen der Schulmädchen. Danke ihnen fürs Zuhören, bevor sie mir ihre Fragen stellen dürfen.

Eine fragt, ob ich in einer Villa wohne.

Ein Knaller, sagt mir der Koordinator des Programms, und die Rektorin nickt mit ihrem fransigen, grauen Bob. Als ihre zusammengepressten Lippen sich öffnen, blitzen kaffeegelbe Zähne hervor. Wir gehen eine kleine Hintertreppe hinunter und ich muss würgen wegen der warmen Luft, diesem Schulgestank nach zerkochtem Gemüse. Die Rektorin dankt mir für mein Kommen, sagt, die Mädchen wären total inspiriert gewesen. Quieken, Gelächter, melodiöses Geschnatter schallen um uns herum, als die Schülerinnen von unserer Zusammenkunft in die Betonflure strömen. Einfach inspirierend, sagt sie.

Zurück im Büro. Lou ist noch nicht da. Er taucht selten vor elf auf. Als würde jeden Morgen frische Mittelmäßigkeit aus dem Ozean gleiten, sich ihren Weg über moosige Felsen und Sand schleimen, um dann zittrige Fortsätze wachsen zu lassen, die sich strecken und winden und zu Gliedmaßen werden, während sie ins Landesinnere vorstößt, bis sie schließlich, voll ausgebildet, Lou!, auf zwei Plattfüßen in glänzenden Schuhen in die Lobby spaziert. Glänzt, wippt, wartet auf den Lift in unsere Etage. Nickt zu den Beats-Stöpseln in den Ohren. Er hat sich nie in all das hineinziehen lassen. Ich halte diese Vorträge – Schulen und Unis, Frauen-Panels, Rekrutierungsmessen – alle paar Wochen. Das ist Teil des Jobs. Die Diversität muss sichtbar sein. Wie viele Frauen und Mädchen habe ich angelogen? Wie viele haben mein grinsendes Gesicht werben sehen – für dieses oder jenes Unternehmen oder diese Branche, jene Uni, dieses Leben? Solche Fragen sind nicht konstruktiv. Ich muss die verlorenen Stunden vom Morgen aufholen.

Den Großteil meiner Kindheit habe ich neben einem Friedhof gewohnt. Aus den Fenstern nach vorn habe ich gesehen, wie sich Beerdigungszüge die Straße entlangschlängelten: schwarze Pferde, gefolgt von schwarzen Leichenwagen, gefolgt von gewöhnlichen Autos in verschiedenen Farben. Manchmal marschierte ein Mann mit Stock und Zylinder vorneweg. Dann die Leute: Sie stiegen aus ihren Autos und den Leichenwagen und versammelten sich, trugen Kränze, trugen Hüte. Trugen auch Särge, vermute ich. Ich erinnere mich nicht daran, das gesehen zu haben. Sie versammelten sich neben den Hügelchen frisch aufgeschütteter Erde und warteten, die Kränze aufgestapelt neben sich, oder sie standen einfach nur da und hielten Blumen. Oder hielten sich gegenseitig. Kleine, weit entfernte Geschöpfe, die sich aneinanderklammerten, um sich zu trösten. Ich sah von oben zu.

Letztes Jahr habe ich mir eine Wohnung in der obersten Etage eines georgianischen Townhouse gekauft, kernsaniert, in einer vielversprechenden Gegend. Die beiden anderen Wohnungen sind an zwei ziemlich junge, neurotische Paare vermietet. Jede Nacht eskaliert eine Auseinandersetzung über die Lautstärke der Musik zwischen ihnen.

Die, die absurderweise Adam und Evie heißen, wohnen im Erdgeschoss. Als wir uns im Treppenhaus begegnet sind, hat sich Evie als Erste vorgestellt, als Adams Freundin. Sie strich sich dünne blonde Haarsträhnen aus der Stirn und sagte, sie arbeite im Publishing. Wenn die Musik zu laut ist, klopft sie an die Wohnungstür obendrüber und fleht sie an, doch bitte leiser zu drehen. Nur ein bisschen. Ihre verzweifelte Upperclass-Stimme scheppert bis nach oben in meine Etage.

Das andere Paar wirkt mürrisch und zurückgezogen. Sie sprechen kaum, wenngleich ich schon ihr ausgelassenes Gejohle zu den 90er-Krachern gehört habe. Sie sind beide hübsch: Brünette mit fein gezeichneten Gesichtern und kleinen Füßen. Jeden Dienstagmorgen liegen zwei Paar winzige, schlammige Fußballschuhe vor ihrer Wohnungstür zum Trocknen.

Der gewohnte Rhythmus unserer übereinandergestapelten Leben ist zu einer Art von Nähe geworden.