Titel

Doron Rabinovici

Die Einstellung

Roman

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.

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Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

eISBN 978-3-518-77236-2

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Nicole

Motto

Lügen erscheinen dem Verstand häufig viel einleuchtender und anziehender als die Wahrheit, weil der Lügner den großen Vorteil hat, im Voraus zu wissen, was das Publikum zu hören wünscht.    Hannah Arendt

Die Einstellung

1

Ohne sein Bild keine Geschichte, nicht ein Satz, nicht ein einziges Wort. Breitbeinig, einen Fuß ein wenig vorgeschoben, stand August da und nahm ihn ins Visier. Das Gesicht im Fadenkreuz des Suchers. Es galt, den richtigen Moment zu erwischen, aber er war nur einer von vielen, die es auf den Mann, der da vor ihnen saß, abgesehen hatten. Um ihn herum das Knattern und Klicken der Apparate.

Das Gesicht des Politikers sprang einem jetzt überall entgegen, von Plakaten, aus Zeitungen und von den Bildschirmen. Es war noch nicht lange her, da hatten sich die meisten über diesen Mann und seine Sprüche mokiert, doch mittlerweile war ihnen das Lachen vergangen. Immer wenn es so aussah, als sei er diesmal mit seinen Gemeinheiten, seiner Niedertracht zu weit gegangen, nahm die Zahl jener zu, die sich von ihm angesprochen fühlten. Je abwegiger seine Behauptungen waren, desto ausführlicher wurde über ihn berichtet, und keinen ließ er kalt.

Kein glatter Schönling saß da vorne, auch kein Blässling, sondern ein stattlicher Mann, hochgewachsen und stämmig, ein – wie seine Jünger gerne sagten – ganzer Kerl mit gesundem Teint, als käme er gerade von einer Bergtour oder aus dem Sonnenstudio, ein Kumpeltyp mit kantigem Gesicht und einem breiten Lächeln, das immerzu verwegen und ein wenig spöttisch wirkte. Ulli Popp war dafür bekannt, auf einer Kundgebung volksnah, bei einem Galadinner charmant und vor Firmenvorständen weltgewandt aufzutreten. Welcher Art sein Publikum auch war, immer hinterließ er den Eindruck, mit sich im Reinen zu sein, und es war nicht nur seine Lebendigkeit, seine Energie, die alle um ihn herum ansteckte, sondern wie selbstgewiss er erschien. Sogar hier, in diesem sterilen Hinterzimmer eines Gasthauses, in dem Popp eine Pressekonferenz abhielt, zog er selbst jene, die ihn ablehnten, in seinen Bann, das war für August nicht zu übersehen.

Der Raum war gesteckt voll, alle gierten danach, jede seiner Aussagen festzuhalten. In der ersten Reihe ein jüngerer Kollege, der die Kamera kurz senkte und August zunickte. Schräg hinter ihm Marion Ettl, eine Journalistin, die nicht nur durch ihre scharfen Fragen aufzufallen wusste. Sie hatte sich auf ein Fensterbrett hochgeschwungen; die Beine übereinandergeschlagen, den Rücken durchgestreckt saß sie da, und August spähte aus dem Augenwinkel zu ihr hinüber.

Popp sagte, er spreche aus, was das einfache Volk denke, weil die Elite verschweige, was das ganze Land bedrohe, denn da rolle ein Tsunami heran, der alles mitreißen werde, und wer davon nichts hören wolle und die Menschen in Sicherheit wiege, verrate die Interessen aller, der gesamten Nation, und dann nahm er ein Wort in den Mund, das die meisten hier aufhorchen ließ. »Lügenpresse«, sagte er, und Popp schmunzelte dabei ein wenig, als meinte er die Beschimpfung der Anwesenden gar nicht ernst, als wäre dieses Wort nur ein Kosename, eine ironische Tändelei –, und genau in diesem Augenblick drückte August auf den Auslöser und schoss eine ganze Serie von Fotos. Danach hielt er kurz inne, um sich im Display die Aufnahmen anzuschauen. Der übliche Kontrollblick, reine Routine, um mögliche Fehleinstellungen zu korrigieren, aber nun, als er die einzelnen Aufnahmen überprüfte, geschah etwas, das ihm noch nie passiert war. August war von seinen eigenen Bildern abgestoßen. Das war nicht, worauf er aus war. Und plötzlich wollte er nur noch weg.

Er schlängelte sich durch die dichten Reihen der anderen aus den verschiedenen Redaktionen, drängelte vorbei an einer Kollegin mit Fotoapparat, dann wich er den Beinen von Marion Ettl aus, die ihn so verwundert anschaute, dass er prompt über das Mikrofonkabel eines Radioredakteurs stolperte. Am anderen Ende des Raums bemerkte auch Popp die Unruhe und blickte in seine Richtung, aber da war August schon draußen auf der Straße und wusste im nächsten Moment selbst nicht mehr, was in ihn gefahren war. Aber er wollte nicht noch einmal hinein und an allen anderen vorbei, und es war ja auch gar nicht notwendig, Popp unbedingt heute abzulichten. Er stand nicht unter Zeitdruck, und niemand hatte ihn zu diesem Pressetermin geschickt. Er war aus eigenem Antrieb hergekommen, weil er gedacht hatte, er müsse sich auf eine Aufgabe vorbereiten. Was für eine Schnapsidee! Seit wann brauchte er Vorstudien, um seinen Job ordentlich zu machen? Vielleicht war es Selma gewesen, die ihn dazu verleitet hatte.

Ohne sein Bild keine Geschichte, nicht ein Satz, nicht ein einziges Wort, hatte Selma gesagt. Sie arbeitete auch sonst am liebsten mit ihm, August Becker, zusammen, aber bei diesem Thema, meinte Selma, gebe es für sie keine andere Wahl. Niemand außer August, so Selma, käme für sie in Frage. Wenn sie sehe, welche Fotos andere von Ulli Popp machten, dann vergehe ihr die Lust, einen Artikel über ihn zu schreiben, denn sie wolle nicht zu denen gehören, die diesen Blender immer so glanzvoll und groß aussehen ließen. Seine Aufnahmen, das war August nach diesen Worten klar geworden, mussten vollkommen anders werden und Popp so einfangen, wie er noch nie zu sehen gewesen war.

Selma hatte in der Redaktionskonferenz berichtet, was sie vorhatte. Sie müssten, hatte sie erklärt, das Magazin mit Ulli Popp aufmachen. Popp sei der Mann, der das ganze Land in Atem halte; zumindest seit Beginn dieses Wahlkampfs. Es sei nicht mehr möglich, auszublenden, welche Gefahr da drohe. Sie wolle über Ulli Popp und dessen Kampagne einen langen Artikel schreiben. Ein Raunen war durch den Raum gegangen. Einer der jungen Kollegen hatte geseufzt, es bringe doch nichts, Popp zu verteufeln. Aber Bruno, der Chefredakteur, hatte eingewilligt. Er vertraue auf Selmas Gespür. Es brauche jedoch herausragende Fotos von dem Mann. Und bitte keine Polemik, ein sorgfältiges Porträt solle es werden, so Bruno. Niemand war verwundert gewesen, als Selma daraufhin gemeint hatte, sie wolle die Aufgabe ebendeshalb nur mit August Becker gemeinsam angehen.

Kaum hatte Selma ihm von ihrem Vorhaben erzählt – ohne sein Bild keine Geschichte, nicht ein Satz, nicht ein einziges Wort –, war August von einer Unruhe erfasst worden. Er hatte beschlossen, auf eigene Faust loszugehen. Ohne es ihr zu sagen. Deshalb war er zu Popps Pressekonferenz aufgebrochen, von der er, als er die Schnappschüsse auf dem Display seiner Kamera gesehen hatte, geradezu geflüchtet war.

Nicht wenige meinten, es bringe ohnehin nichts, noch einen weiteren Artikel über Ulli Popp zu schreiben, und ein junger Redaktionskollege aus der Kultur, für den er eine Bilderserie von einer gefeierten Theateraufführung geschossen hatte, meinte zu August, Selma habe sich doch verrannt. »Wer jede Woche den Teufel an die Wand malt, darf nicht überrascht sein, wenn er einem erscheint.« Popps Wähler seien nichts als besorgte Bürger. Jeder andere Protest werde doch ignoriert. »Nur wer Ulli Popp wählt, kann sich sicher sein, gehört zu werden.«

Am Tag nach der Pressekonferenz war er mit Selma verabredet. In einem Kaffeehaus trafen sie den Schriftsteller Avi Weiss, der ein Manifest gegen Popp verfasst hatte. Die Erklärung war von Dutzenden Intellektuellen unterschrieben worden. Selma zückte ihren Notizblock und einen Stift, um mitzuschreiben; sie legte ihr Mobiltelefon auf den Tisch, um das Gespräch aufzuzeichnen. August sollte Weiss fotografieren.

»Manche«, begann Selma, »werfen Ihnen vor, aus Popp einen Nazi zu machen.«

August senkte die Kamera und betrachtete das Gesicht des Schriftstellers. Dieser Avi Weiss kannte wahrscheinlich keinen jener alten Nazis, und wenn doch, dann bestimmt nicht so gut wie August, dessen Großvater einer dieser ganz normalen Männer gewesen war, die einst die Kohns, die Rubinsteins oder die Levys niedergemacht hatten. Wenn es nach den Regeln seines Großvaters und dessen Kameraden gegangen wäre, dürfte es diesen Avi Weiss, jenen Dichter beschnittener Zunge, gar nicht geben. Auch in Selmas Familie gab es solche Großväter nicht. Selma Kaltak war als Flüchtlingskind in dieses Land gekommen, und August wusste, wie nah es ihr ging, wenn sie die Hassreden eines Ulli Popp hörte. Dann kamen in ihr die Erinnerungen an all die Ulli Popps auf, die gegen das gehetzt hatten, was ihr und den Ihren lieb gewesen und längst vernichtet war. Sie redete nie davon, und nur wer genau aufpasste, konnte den leichten Anflug eines Akzents bei ihr ausmachen; sie war in den Neunzigern mit ihren Eltern und Geschwistern aus Bosnien hergekommen.

»Der Opa ist ein Nazi«, hatte Augusts Mutter manchmal geflüstert und dann »ein Scheißnazi« hinzugefügt. Irgendwann hatte sie es aufgegeben, mit ihrem Vater über Politik zu reden. »Das wird sich bald biologisch lösen«, hatte Paul, Augusts Vater, immer behauptet. Diese Ehemaligen würden doch irgendwann alle gestorben sein. So hatte August seinen Vater oft reden gehört, gerne hatten er und Augusts Mutter die antifaschistischen Lieder gesungen, Bella Ciao und Die Moorsoldaten, Nachklänge ihres studentischen Engagements. Die Vergangenheit lag im Dunkeln, nur die Zukunft schien ganz licht und so klar, dass sie die Gegenwart bereits aufhellte. Mittlerweile war die Gewissheit, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, wieder verblasst. Nichts mehr war übrig von der einst so strahlenden Zuversicht … Aber was hatte der grummelige Greis, der sein Opa gewesen war, mit jenem Schreihals Ulli Popp zu tun?

Avi Weiss' laute Stimme riss August aus seinen Gedanken. Der sagte gerade: »Wer will heutzutage schon ein Nazi sein? Die gehören auf die Liste bedrohter Tierarten. Wenn Sie einen finden, dann decken Sie ihn warm zu, umsorgen und nähren Sie ihn. Das ist ja eine beinah ausgestorbene Rasse.«

Selma bohrte nach: »Nur um ganz sicherzugehen: Sie klingen, als würden Sie glauben, dass er es zwar nicht sein will, aber es im Innersten eben doch ist.«

»Und Sie klingen, als wollten Sie das unbedingt von mir hören«, antwortete Weiss und dann: »Was weiß ich von seinem Innersten? Ich bin doch nicht sein Therapeut. Ich will es auch nicht werden.«

»Möchten Sie sein Fotograf sein?«, fiel ihm August ins Wort.

Avi Weiss schaute ihn mit großen Augen an, als bemerkte er ihn erst jetzt, worauf August auf den Auslöser drückte.

Eine Familie ging an ihnen vorbei, offenbar Touristen, der Mann in Jeans, T-Shirt und Lederjacke, hinter ihm sein jugendlicher Sohn und dann seine Frau mit Kopftuch, einen kleinen Buben an der Hand. Von allen Tischen starrten Gäste auf diese Gruppe.

»Entschuldigung, was meinen Sie?«, fragte der Schriftsteller.

August rückte ganz nah an ihn heran, beugte sich ihm entgegen, bis das Objektiv nur noch fünfzig Zentimeter von ihm entfernt war, worauf der Autor unweigerlich zurückwich, das Gesicht angespannt, die Augen verengt, den Anflug eines Zuckens im Mundwinkel, ein Lächeln aus Unsicherheit, und genau das fing August ein. Dann schaute er kurz auf das Display und sagte dabei: »Soll ich ihn fotografieren? Oder besser gesagt: Würden Sie es tun?«

Selma ging dazwischen: »Na klar. Warum sollte Herr Weiss Popp nicht fotografieren?«

»Na, dann mach doch die Geschichte mit ihm«, so August. »Niemand glaubt, ein Pianist zu sein, nur weil er ein Klavier besitzt, aber kaum hat einer eine Kamera, meint er schon, er ist ein großer Fotograf.«

»Kehren wir bitte zu den Fragen zurück«, sagte Selma.

»Aber er hat ja recht. Ich bin Schriftsteller, nicht Fotograf. Und die Frage ist relevant. Was bringt es denn, ein Bild ums andere von diesem Mann zu machen, bis einem das Grausen kommt? Seine Masche besteht ja genau darin, zwischen Lichtgestalt und Feuerteufel zu schillern.«

»Da hast du's«, nickte August.

»Aber du hast doch solche Typen schon oft fotografiert«, widersprach sie: »Zum Beispiel diesen Glatzkopf damals, der sich vor den Reportern aufstellte und dabei wie ein Schimpanse wirkte, der die Brust herausstreckt und dazu grinst, als wolle er Bananen quer essen. Einfach wunderbar war diese Aufnahme damals, und um ihn herum diese Meute, und er winkt ihr zu – den Arm erhoben.«

August unterbrach sie: »Es war kein Hitlergruß!«

»Aber die Gesichter der Fotografen, das Leuchten in ihren Augen. Im Grunde hast du ihn dadurch zur lächerlichen Gestalt gemacht, zum Abklatsch ihres Geknipses.«

August zuckte mit den Schultern: »Das war damals anders. Viel schlimmer als Popp sind doch diejenigen, die so ein Arschloch wählen. Wäre er doch nur ein echter Nazi!«

»Wäre er doch nur ein echter Nazi? Du wünschst dir einen Nazi?«, stieß sie so laut hervor, dass die Gäste an den anderen Tischen verstört aufschauten und der Ober sie kurz musterte.

»Ja, dann wüsste ich, wie ich ihn einfangen soll. Aber Popp ist wie ein Untoter, der kein Spiegelbild hat. Den kannst du mit keiner Kamera festhalten. Der sagt ja, die wahren Nazis seien die Muslime.«

Avi Weiss nickte: »Der will ein Freund Israels sein. Wenn es sein muss, lässt der sich öffentlich beschneiden.«

Selma winkte ab und sagte in Richtung des Schriftstellers: »In Wirklichkeit arbeitet August bereits an dem Foto von Popp.«

»Wieso bist du dir da so sicher?«

Selma lächelte: »Ich war bei Popps Pressekonferenz. Ich bin später gekommen, aber ich habe dich dort noch gesehen. Du hast mich nicht bemerkt, so fokussiert warst du auf deine Kamera. Du hast deine Fotos geschossen, hast sie dir angeschaut und bist sofort verschwunden. Mittendrin. Du hast ihn also schon gut getroffen, oder?«

»Nein. Die sind nichts geworden.«

Selma legte den Kopf schräg: »Unsinn … jetzt zeig doch mal her. Lass sehen!«

»Nein«, wehrte August ab, worauf der Schriftsteller fragte: »Ist das nicht ein wenig unprofessionell? Ich meine … Sie sind doch Fotograf, oder?«

»Zeigen Sie mir etwa Ihren unfertigen Text?«

»Und ob er ein Fotograf ist«, stellte Selma klar und richtete sich im Sessel auf, »es gibt nicht wenige, die viel darum geben würden, von August Becker porträtiert zu werden.«

Der Schriftsteller hob die Augenbrauen und zog die Mundwinkel herab: »Ach so … Sie sind der August Becker? Echt? Sie sind der Fotograf August Becker?«

Das Klicken der Spiegelreflexkamera war Augusts Antwort.