Zoë Beck
Das zerbrochene Fenster
Thriller
Suhrkamp
Der vorliegende Text ist eine durchgesehene Version des 2012 unter demselben Titel bei Bastei Lübbe, Köln, erschienenen Romans.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5196.
Neuausgabe
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten.
Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von
§ 44b UrhG vor.
Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.
Umschlagabbildungen: bluefinart/Getty Images (Edinburgh Carlton Hill); FinePic(c), München (Wolken, Rastertexture).
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
eISBN 978-3-518-76997-3
www.suhrkamp.de
Das zerbrochene Fenster
Ich muss die kaputte Scheibe endlich austauschen. Man kann noch das Blut sehen, wenn man genau hinsieht. Aber mir haben bisher die Nerven dazu gefehlt.
Seit Dienstag ist er nicht mehr nach Hause gekommen.
Ich habe in drei Tagen Geburtstag.
Kein guter Zeitpunkt, um sitzen gelassen zu werden.
Die Arbeit lenkt mich ab. Ich bin den ganzen Tag unterwegs. Alle lassen ihre Klaviere und Flügel vor Weihnachten stimmen. Ich habe sogar den Auftrag für die Instrumente der Universität bekommen. Sehr kurzfristig, vermutlich, weil jemand abgesprungen ist. Kann mir egal sein.
Ich komme erst abends zum Nachdenken. Natürlich schlafe ich schlecht. Aber ich weiß nicht mehr, was ich noch machen soll. Ich habe alle Krankenhäuser abtelefoniert, sogar bis runter nach Newcastle. Ich habe bei der Polizei nachgefragt, ob bei ihnen ein Unfall gemeldet wurde. Heute war ich bei seinen Kollegen und habe nach ihm gefragt. Er ist seit zwei Tagen nicht zur Arbeit erschienen. Sie sagten, er habe sich krankgemeldet. Ich habe daraufhin noch einmal alle Krankenhäuser in Edinburgh angerufen. Nichts.
Ich werde noch wahnsinnig.
Vorhin war Pete da und hat nach ihm gefragt. Normalerweise meldet sich Sean einmal in der Woche bei seinem Vater, mindestens. Als ich Pete sagen wollte, was los war, musste ich weinen. Zum ersten Mal, seit er weg ist, habe ich geweint, und es hat gutgetan.
»Ich glaube nicht, dass er dich verlassen hat«, sagte Pete. »Bestimmt gibt es eine ganz einfache Erklärung. Und wenn ihm was wirklich Schlimmes zugestoßen wäre, hätte man uns doch informiert.«
Das wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, um mit ihm darüber zu reden, was wirklich passiert war, aber ich schaffte es nicht. Stattdessen sagte ich nur: »Nein. Er ist einfach weg.«
Pete sagte mir, dass mich Sean viel zu sehr liebt, um mich zu verlassen, und irgendwie will ich ihm das auch glauben. Er ist jetzt bei der Polizei, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Ich habe mich nicht getraut, das zu tun. Schon als ich mich danach erkundigt habe, ob ein Sean Butler einen Unfall gehabt haben könnte, weil er nicht nach Hause gekommen ist, haben die Polizisten die Augenbrauen hochgezogen. Sie dachten sicher: Das ist eine von diesen hysterischen Weibern, die nicht wahrhaben wollen, dass sie sitzen gelassen wurden.
Telefon!
Es war meine Mutter.
»Du hast in drei Tagen Geburtstag«, sagte sie.
»Gut, dass du mich erinnerst«, sagte ich.
Sie stöhnte, und ich konnte mir vorstellen, wie sie sich mit dem Zeigefinger die Schläfe massierte, die Augen geschlossen. »Ich rufe an, weil ich wissen will, ob du dir etwas von uns wünschst.«
»Nein.«
»Gut. Dein Vater hat nämlich ausdrücklich gesagt, er wird dir dieses Jahr kein Geld überweisen, weil du es sowieso wieder zurückschickst.«
»Da hat er in den letzten zehn Jahren tatsächlich was dazugelernt.«
»Du bist wirklich nicht normal.«
»Danke.« Nein, wirklich, es freut mich. Ihre Definition von »normal« ist nicht erstrebenswert.
Sie seufzte wieder. »Du feierst mit … Sean?«
»Höchstwahrscheinlich.«
Noch zwei, drei Floskeln, ein angeblicher Gruß von »deiner lieben Schwester« (Dana lässt mich nie grüßen, Mutter tut aber immer so), und wir beendeten die Quälerei in beidseitigem Einvernehmen. Ich hasse es, mit ihr zu telefonieren, und sie hat schließlich auch interessantere Zeitvertreibe. Sich mit ihren Freundinnen im Golfclub an der Bar festhalten, zum Beispiel.
Ich habe ihr nicht gesagt, dass Sean verschwunden ist, sie hätte sonst nur wieder angefangen mit dem Üblichen »Ich hab dir doch gleich gesagt, er wird nur Ärger machen«-Mist.
Menschen, die seine Privatnummer kannten: fünf.
Davon Menschen, über deren Anruf er sich freuen würde: null.
Schon gar nicht abends um halb zehn. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine gute Nachricht handelte, war: keine. Normalerweise rief man ihn auf seinem Handy an oder schrieb ihm eine Mail auf seinen geschäftlichen Account.
Cedric sah auf das Display: seine Stiefmutter. Er wünschte sich, er könnte neben dem Telefon sitzen und es ignorieren, bis Lillian aufgab. Zwei Dinge, die nicht passieren würden: Erstens, Lillian gab auf, obwohl sie die Gelegenheit hatte, ihm auf die Nerven zu gehen. Zweitens, Cedric ignorierte einen Anruf. Das Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben, würde ihn die ganze Nacht wachhalten. Gegen besseres Wissen.
Also ging er ans Telefon.
»Sean«, sagte sie. Oder etwas, das so ähnlich klang. Ihre Stimme war rau und dunkel.
»Lillian, was soll das? Bist du betrunken?« Nicht unwahrscheinlich.
Lillian sagte nichts. Oder vielleicht sagte sie so etwas wie »Oh«, er war sich nicht ganz sicher und drückte den Hörer fester gegen sein Ohr.
»Lillian? Was ist los?«
Nichts.
»Ist jemand bei dir?«
Nichts.
»Würdest du bitte antworten? Wenn du schon bei mir anrufst, könntest du wenigstens was sagen.«
Er hörte sie schwer atmen. Dann war es still, und die Leitung war tot.
Schlimmer noch, als nicht ans Telefon zu gehen, fand Cedric Fragen, auf die man ihm keine Antwort gab. Es brachte ihn um den Schlaf. Das, und abgebrochene Gespräche. Und noch einiges mehr.
Cedric rief zurück, aber Lillian ging nicht dran. Nach einer Minute rief er noch mal an. Zehn Mal hintereinander, immer mit einer Pause von etwa einer Minute. Dann versuchte er es auf Lillians Handy. Auch da bekam er keine Antwort.
Er versuchte es wieder auf dem Festnetz. Wieder zehn Mal hintereinander. Noch mal das Handy.
Eine halbe Stunde später saß er in seinem Mercedes, ließ Edinburgh hinter sich und fuhr auf die Forth Road Bridge zu, die ihn nach Fife brachte.
Fife, Halbinsel zwischen dem Firth of Forth und dem Firth of Tay, nördlich von Edinburgh und südlich von Dundee. Eintausenddreihundert Quadratkilometer Fläche (ungefähr), knapp über dreihundertfünfzigtausend Einwohner. Verwaltungssitz: Glenrothes, keine vierzigtausend Einwohner.
Fakten beruhigten ihn.
Lillian hatte sich wenige Monate nach der Geburt mit dem Baby in ihr Landhaus in Fife zurückgezogen. Nach dem Verschwinden seines Vaters war sie so gut wie nie da gewesen, nach seinem Tod hatte sie davon gesprochen, es zu verkaufen, weil sie es, Zitat, garantiert nie wieder betreten würde. So viel zu dem Thema. Etwa eine Stunde rechnete Cedric für die Fahrtzeit, was ihm sein Navigationsgerät bestätigte.
Mit Schnee rechnete er nicht.
Er reagierte so gut wie nie auf die Wettervorhersage. BBC Weather hatte seinem Empfinden nach eine Trefferquote von deutlich unter fünfzig Prozent, und da er selten das Haus verließ, interessierten ihn die Witterungsverhältnisse nur mäßig. Heute hatte er sich mit dem Thema noch gar nicht befasst. Andererseits: Er wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit auch losgefahren, wenn man eisglatte Straßen und hühnereigroße Hagelkörner vorhergesagt hätte.
Eine unbeantwortete Frage konnte er nicht aushalten.
Er war davon überzeugt, dass Lillian nur deshalb aufgelegt hatte, um ihn zu provozieren. Sicher hatte sie getrunken, und dann war ihr – nach fast einem Jahr des Schweigens – eingefallen, dass sie ihren Stiefsohn auf dieselbe Art quälen könnte, wie es sein Vater manchmal getan hatte. Sein Vater hatte, wenn er sich einen anderen Gesprächsverlauf gewünscht hätte, einfach mitten im Satz aufgelegt und war anschließend nicht mehr ans Telefon gegangen. Seine Art, Cedric dazu zu bringen, persönlich aufzutauchen und das Gespräch von Angesicht zu Angesicht weiterzuführen. Ein einfaches »Bitte komm vorbei« hätte Cedric ablehnen können.
Aber warum wollte sie ihn sehen? Gab es etwas zu bereden, von dem die Anwälte nichts erfahren sollten? War die Frau bereit zu verhandeln?
Cedric hatte sich dem Tempo der anderen Fahrzeuge angepasst und war langsam über die Brücke gerollt. Als er auf die Autobahn kam, war nur noch Schritttempo möglich, und wenige hundert Meter weiter kam der Verkehr ganz zum Stillstand.
Cedric sah aus dem Seitenfenster. Die dicht fallenden Schneeflocken hatten einen Durchmesser von zwei Zentimetern.
Alle Schneeflocken bestehen aus durch Wassertropfen miteinander verklebten Eiskristallen. Eiskristalle sind streng hexagonal und allein durch ihre Perfektion das Schönste auf dieser Welt. Schneeflocken fallen unabhängig von ihrer Größe mit einer Geschwindigkeit von vier Kilometern pro Stunde. Ihr Gewicht müsste man in Milligramm messen. Wenn sie auf Wasser treffen, klirren sie wie zerschellendes Glas. Allerdings in einer Frequenz von circa einhundert Kilohertz, was Menschen nicht hören können.
Die Welt um Cedric herum versank in Watte, die aus dem schwarzen Himmel fiel. Er sah den Flocken zu, wünschte sich, von ihnen hypnotisiert zu werden, wünschte sich auch, alle würden die Lichter und die Motoren ausschalten, aber nichts davon geschah.
Hinter ihm hupte jemand. Niemand ging darauf ein. Danach wirkte das Rattern der Motoren wie ein sanftes Schnurren. Cedric schaltete das Radio ein und erfuhr, dass ein LKW querstand. Es musste eben erst passiert sein und war von jemandem gemeldet worden, der mit ihm festsaß. Er schloss die Augen und dachte an Lillian und warum er sie noch nie hatte leiden können. Die beste Antwort? Instinkt. Wie ein Tier, das den Feind roch, hatte er sie von dem Moment an abgelehnt, als sein Vater sie ihm vorgestellt hatte. Sie passt zu ihm, hatte er damals gedacht.
Aber Instinkt war etwas, das nicht zu Cedric passte, weshalb ihm die spontane Antipathie bis heute ein Rätsel blieb.
Die Schneeflocken wurden blau. Von hinten kamen Rettungsfahrzeuge und Polizei. Sie fuhren langsam an ihm vorbei, und er schätzte, dass der LKW gute fünfhundert Meter vor ihm stehen musste. Einige Minuten später färbten sich die Flocken orange. Ein Abschleppwagen schob sich in Zentimeterarbeit durch die wartenden Autos. Im Radio sprachen sie über den überraschenden Wintereinbruch und wann es zuletzt in einem November so heftig geschneit hatte. Cedric hörte nur halb zu, während er in die Schneeflocken starrte, bis sie ihn doch endlich in eine Art Trance versetzten.
Als er aus ihr erwachte, bemerkte er, dass sich weitere Wünsche wenigstens ein bisschen erfüllt hatten: Die meisten Motoren waren abgestellt worden. Der Schnee fiel weiter, ohne dass sich etwas geändert hätte. Der Durchmesser blieb bei zwei Zentimetern, die Fallgeschwindigkeit änderte sich nicht. Und es war windstill.
Es war in Schottland nie windstill.
Er sah, wie die Schneeflocken immer langsamer fielen, bis sie in der Luft schweben blieben.
Er spürte, wie sein Körper nur noch Herzschlag war. Laut, fest und langsam.
Er wusste nicht mehr, wie man atmete.
Und dann hörte er die Schneeflocken. Sie klirrten auf die Windschutzscheibe und ließen sie zerspringen. Sein Herz raste, er atmete zu schnell, sah Schwarz, fühlte, wie der Fahrersitz anfing zu schwanken.
Routine: auf die Atmung achten. Mit beiden Füßen Kontakt zum Boden. Die Hände flach irgendwo auflegen. Atmen. Atmen, bis die Welt aufhörte zu tanzen.
Die Schneeflocken klirrten nicht mehr. Die Windschutzscheibe war vollkommen in Ordnung. Wie um es sich endgültig zu beweisen, ließ Cedric die Scheibenwischer an. Dann tastete er nach dem Handschuhfach, zwang seine Finger, es zu öffnen. Er musste die Handschuhe ausziehen, die Flasche mit seinen Tabletten aufschrauben und sich eine davon unter die Zunge zu legen.
In ein paar Minuten würde sie wirken. Bis dahin musste er sich konzentrieren. Er ballte die Hände zu Fäusten und spannte einige Sekunden lang die Muskeln im Unterarm an, dann entspannte er sie und atmete tief aus. Als Nächstes spannte er die Oberarmmuskeln an. Dann die Muskulatur an den Schultern. Er ging seinen gesamten Körper bis zu den Füßen durch, so lange, bis er die Wirkung des Medikaments spüren konnte.
Der Westwind ließ die Schneeflocken tanzen, und Cedrics Puls war wieder normal. Er nahm sein Handy, prüfte, ob er Empfang hatte, versuchte wieder, Lillian anzurufen. Immer noch ohne Erfolg. Dann ging er ins Internet und checkte seine Mails. Während es nur fünf Leute gab, die seine private Telefonnummer hatten, war er mit seiner privaten Mailadresse etwas freigiebiger. Sie bestand aus einer komplizierten Abfolge von Zahlen und Buchstaben, die keine Rückschlüsse auf seine Identität zuließen, was ihm erlaubte, sich für Newsletter einzutragen, die ihn interessierten. Es waren nicht viele.
Gegen zwölf setzten sich die Wagen vor ihm langsam in Bewegung. Er startete den Motor und folgte. Die Polizei hatte die Unfallstelle abgesperrt, der LKW stand noch immer quer, aber eine kleine Gasse am Mittelstreifen entlang war frei. Cedric manövrierte seinen Mercedes hindurch und sah, wie sich der Fahrer des Abschleppwagens mit jemandem unterhielt, der im offenen Rettungswagen saß. Der Pannenfahrer sprang auf der Stelle, um sich warm zu halten. Er hielt eine Hand schützend über die Augen.
Cedric nahm die Ausfahrt zur A 92 in Richtung Kirkcaldy, vorbei an Cowdenbeath, Lochgelly und Cardenden, Ortschaften, von denen er nichts sah, weil es zu dunkel war und der Schnee immer noch dicht und unablässig fiel. Er stellte das Fernlicht an, weil er keinen Gegenverkehr hatte, aber dadurch schienen die Flocken nur noch schneller auf ihn zuzurasen, obwohl er kaum mehr als zwanzig fuhr. Also machte er es wieder aus. Er quälte sich weiter Richtung Leven, kam endlich nach Upper Largo, die Straßen wurden schmaler, er musste noch langsamer fahren. Mittlerweile war außer ihm niemand mehr unterwegs. Die kurvige, ansteigende Strecke, die zu dem Landhaus führte, das einmal seinem Vater gehört hatte, ließ ihn fast scheitern. Zweimal drehten die Reifen durch, weil die Straße vereist war, und die Privatstraße zum Anwesen wäre noch eine Tablette wert gewesen. Er redete sich ein, es gleich geschafft zu haben. Die geschlossene, unberührte Schneedecke strahlte eine Ruhe aus, die langsam Besitz von ihm ergriff. Das Landhaus wirkte friedlich, und Cedric hielt an, bevor er auf den Hof fuhr, um den Anblick wirken zu lassen. Reiner, weißer, unberührter Schnee machte ihn glücklich. Er verbarg Dreck und Unordnung.
Bis die ersten Fußspuren gemacht waren, bis der Dreck sich an die Oberfläche gearbeitet und den Schnee graubraun gemacht hatte.
Cedric fuhr auf das Haus zu. Im Wohnzimmer brannte warmes Licht: eine Stehlampe und eine Tischlampe, so viel konnte er von außen sagen. Eines der oberen Zimmer war hell erleuchtet. Lillian war also noch wach. Es war mittlerweile fast halb zwei. Er parkte, öffnete die Fahrertür, wusste nicht, wie er aussteigen sollte, weil er den Schnee nicht stören wollte, stieg dann endlich aus und vermied es, auf den Boden zu schauen. Auf dem Weg zur Tür musste er sich gegen den plötzlich auffrischenden Wind stemmen.
Das Landhaus lag zwischen zwei Hügeln mit Blick auf die Mündung des Firth of Forth, aber der Wind wurde nur zum Problem, wenn er drehte und aus Osten kam. Noch kam er aus Westen.
Lillian reagierte nicht auf sein Klopfen. Er wartete, klopfte wieder, wartete, klopfte, benutzte den Schlüssel, den er immer noch hatte. Streifte die Sohlen an der Fußmatte ab, bis sie trocken waren und keine Abdrücke mehr hinterließen. Er rief ihren Namen, bekam keine Antwort. Der Gedanke, dass etwas nicht stimmte, kam ihm erst in diesem Moment. Lillian bedeutete immer eine Katastrophe. Für ihn. Sie selbst schien unantastbar. Immer im richtigen Moment am richtigen Ort.
Auch nachdem der Tod seines Vaters festgestellt worden war: Fast der gesamte Besitz ging an sie. Sie würde die Macht haben, Cedric alles zu nehmen, ihn aus dem Haus zu werfen, in dem er lebte, ihn auf direktem Weg ins Elend zu stürzen. Er ertrug sein Leben, wie es war, gerade so. Sie wusste, welcher Veränderungen es bedurfte, um ihn zu quälen. Einer ihrer Anwälte hatte sogar durchblicken lassen, Lillian sei in Besitz medizinischer Gutachten, die besagten, dass Cedrics Gesundheit eine führende Rolle in den Firmen seines Vaters nicht zuließe. Jede Entscheidung, die er in den vergangenen Jahren getroffen hatte, sollte neu bewertet werden. Seine Stiefmutter war in den Krieg gezogen und hatte nicht nur eine Schlacht gewonnen, sondern alles für sich entschieden.
Er rief wieder nach ihr. Nichts. Nur Musik aus dem Wohnzimmer. Er ging hinein, sah, dass der Fernseher angeschaltet war. Das Menü irgendeiner DVD hing auf dem Bildschirm in einer Endlosschleife. Cedric sah die grinsenden Hauptdarsteller und den Titel des Films, konnte aber nichts damit anfangen. Die Titelmusik plärrte ihn an. Er sah sich nach der Fernbedienung um und fand seine Stiefmutter.
Lillian lag in einem Sessel und schlief.
Er wollte glauben, dass sie schlief.
Ihr Kopf war auf die rechte Schulter gefallen, das Haar hing vor ihrem Gesicht, die Arme lagen schlaff in ihrem Schoß, die Beine hatte sie weit von sich gestreckt.
Er sagte ihren Namen, trat näher an sie heran. Sah die Fernbedienung und schaltete den Ton ab. Dann überlegte er es sich anders und schaltete die gesamte Anlage aus. Die Fernbedienung legte er exakt auf die Stelle, von der er sie genommen hatte. Er schob sie noch zwei Millimeter zurück, um ganz sicher zu sein, dass sie richtig lag. Jetzt gab es nichts mehr, das ihn davon abhielt, Lillian anzusehen.
Wieder sagte er ihren Namen.
Er kam noch näher, er hätte sie berühren können, wenn er den Arm ausstreckte. Aber er berührte nicht sie, sondern den Sessel.
Sagte ihren Namen.
Cedric rüttelte am Sessel. Zögerte, ging um den Sessel herum und berührte ihren Knöchel mit der Schuhspitze. Einer ihrer Pumps fiel vom Fuß. Sie schlief weiter. Wobei er längst wusste, dass sie nicht schlief.
Er sah sich im Zimmer um: Es hatte sich vieles verändert, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Lillian hatte die Einrichtung der Londoner Wohnung herschaffen lassen. Teppiche lagen übereinandergestapelt, Bilder standen gegen die Wand gelehnt am Boden, zu viele Lampen, Uhren, Spiegel, Stühle, Kommoden, zu viel von allem. Als hätte sie die Dinge gehortet, um sie vor ihm zu verstecken.
Er trat näher heran, beugte sich über sie, streckte seine Hand nach ihrem Gesicht aus und schob das blonde Haar zur Seite.
Zunächst sah er nur eine weitere Schicht ihres Haars, doch die klebte an Lillians Kopf fest.
War sie es überhaupt?
Er sah die blutige Masse, aus der ein Auge hervortrat, gleich unter dem freiliegenden Stück Knochen, wo die Braue hätte sein müssen. Nase und Mund waren verschoben, oder es war das Blut, das die Perspektive verzerrte. Er war längst zurückgewichen, stand gegen den Kamin gepresst, das blonde Haar verdeckte wieder, was er gerade gesehen hatte, und doch sah er es noch immer vor sich.
»Lillian«, sagte er. Natürlich war sie es, wer sonst. Er wandte den Blick ab, drehte sich weg, sah auf die Steinkante des Kamins. An ihr klebte Blut. Auf dem Boden war Blut. Er war hineingetreten, hatte sich dagegengelehnt, hatte ihr Blut nun an den Schuhen und am Mantel. Cedric rannte aus dem Wohnzimmer, schaffte es bis an den Fuß der Treppe, danach keinen Zentimeter weiter. Er ließ sich auf die unterste Stufe fallen und weinte.
»Sir, wir werden eine Weile brauchen«, sagte ihm die Frau von der Notrufzentrale, nachdem er alles erklärt, alles beantwortet hatte.
»Ja, das Wetter«, sagte er.
»Bitte rühren Sie nichts an.«
»Das haben Sie schon gesagt. Ich habe bereits alles berührt.«
»Ist noch jemand bei Ihnen?«
»Ich bin allein.«
»Können Sie abschließen und bei Nachbarn warten? Ist das möglich?«
»Es gibt keine Nachbarn.«
»Und Sie sind sicher, dass niemand mehr im Haus ist?«
»Ich werde hier warten, ich werde nichts weiter anrühren«, sagte er ungeduldig. Er beendete das Gespräch und sah auf seine Füße. Die Schuhe hatte er neben die Treppe gestellt, den Mantel zusammengefaltet und daraufgelegt. Man würde ihm die Sachen abnehmen, um sie zu untersuchen. Man würde sie ihm dann vielleicht zurückgeben, aber er könnte sie nie wieder tragen …
Und dann fiel es ihm ein: das hell erleuchtete Fenster im ersten Stock.
Er ging hinauf. Die Tür zum Kinderzimmer stand offen, und er sah William im Bett. Es war das erste Mal, dass er ihn sah.
William saß mit dem Rücken zur Tür und schien still zu spielen. Cedric klopfte an den Türrahmen, aber das Kind reagierte nicht. Er ging auf sein Bettchen zu und sagte: »William?«
Erst als er aus Versehen mit dem Fuß gegen das Bett stieß, drehte sich das Kind zu ihm um. Lachte ihn an. Streckte ihm die Puppe entgegen, mit der es gespielt hatte. William sah aus wie sein Vater. Stolz wäre er gewesen, wenn er das noch hätte erleben können, dachte Cedric. Wenigstens einer seiner Söhne sah ihm ähnlich. Dieselben Augen, dieselben Gesichtszüge. Derselbe Vorname.
»William, musst du nicht schlafen?«, fragte Cedric. Er brachte es nicht über sich, die Puppe entgegenzunehmen. Oder das Kind anzufassen. Obwohl er immer noch Handschuhe trug. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, als William sich aufrichtete und mit der Puppe bis an die Gitterstäbe des Bettchens kam.
»Gleich kommt jemand, der sich um dich kümmert«, sagte Cedric und merkte selbst, wie fremd er klang.
William schwenkte die Puppe und sah verunsichert aus.
»Es kommt bestimmt jemand«, sagte Cedric, diesmal ganz langsam und deutlich, und wunderte sich, warum das Kind nicht reagierte. Er hatte keine Ahnung, ab wann Kinder zu sprechen lernten. Anderthalb schien ihm aber das richtige Alter zu sein, um Verständnis zu signalisieren. Vielleicht irrte er sich auch.
Der Junge gab es auf, Cedric die Puppe hinzuhalten. Er ließ sie auf den Boden vor dem Gitterbett fallen und verzog das Gesicht.
»Ich bin sicher, dass es nicht mehr lange dauert, bis jemand kommt und mit dir spielt«, sagte Cedric und verfluchte sich dafür, das Fläschchen mit den Tabletten im Wagen gelassen zu haben. Seine Hände fingen an zu zittern, sein Herz schlug zu schnell, und das Rauschen in den Ohren wurde lauter.
Aber das Rauschen war nicht nur in seinen Ohren. Er hörte wirklich den Wind, wie er draußen aufheulte. Ostwind. Äste schlugen gegen das Fenster. Cedric ging auf den Flur und sah in die anderen Zimmer. Überall war es dunkel, und es schien sich niemand mehr im Haus aufzuhalten. Jedenfalls nicht hier oben. Er musste zum Wagen. Es würde nicht lange dauern. Er brauchte Schuhe. Er könnte seine Schuhe noch einmal anziehen, nur um die Tabletten zu holen. Wenn er es über sich bringen konnte, die Schuhe anzuziehen.
Schuhe mit Lillians Blut.
Im Wagen waren Tabletten, die ihm halfen, das alles durchzustehen.
Aber Schuhe mit Lillians Blut …
Die zweite Tablette dämpfte ihn noch mehr, sodass die Angst und die Aufregung etwas von ihm wegrückten. Er zog die Schuhe aus, stellte sie neben die Treppe, legte seinen Mantel darauf, ging die Treppe hinauf, zurück ins Kinderzimmer. Ihm fiel ein, was sie am Telefon gesagt hatte: Sean. War das der Name ihres Mörders? Er konnte sich nicht richtig konzentrieren, weil er langsam müde wurde. William spielte jetzt mit einem Teddy und machte schmatzende Geräusche mit seinen Lippen. Ob sich Cedric einfach auf das Sofa legen konnte, bis die Polizei kam? Es war ein großes, weißes Sofa, überladen mit Kissen, Kinderspielzeug und Stofftieren. Daneben ein Schaukelpferd, das einmal ihm gehört hatte. Eine Holzeisenbahn. Noch mehr Stofftiere, alte und neue. Lillian hatte nicht nur die Londoner Wohnung, sondern auch noch den Speicher leergeräumt, in dem die Sachen aus seiner Kindheit gelagert waren. Er fragte sich, ob sie die Finger von den Erinnerungen an seine Mutter gelassen hatte. Ob es diese Dinge noch gab. Er starrte auf das Sofa, sehnte sich danach, sich zurückzulehnen, auszuruhen, konnte sich aber nicht überwinden, weil er daran denken musste, dass Lillian dort gesessen hatte. Die Kissen, das Spielzeug berührt hatte.
Und dann klirrte Glas. Keine Schneeflocken, die auf die Frontscheibe fielen. Ein dicker Ast hatte das alte Fenster zerschlagen. Eisige Luft blies in das Zimmer.
Cedric sah nach William und sagte: »Wir gehen besser raus, du wirst sonst krank.« Aber der kleine Junge saß friedlich in seinem Bettchen und ließ den Teddy über seine Beine hopsen. Erst als ein kalter Windstoß über sein Haar wehte, sah der Kleine verwundert auf und drehte seinen Kopf in alle Richtungen.
»William?«, rief Cedric.
William lachte seinen Teddy an.
»William!«
Der Junge spielte weiter.
Verstört sah er das Kind an, starrte so lange, bis es nach einem weiteren Windstoß endlich doch den Kopf hob und in Richtung des kaputten Fensters sah. Dann drehte es sich zu Cedric und zeigte auf das Fenster.
Und er sagte immer noch keinen Ton.