Matilda ist anders – die junge Frau hat eine ausgeprägte Phantasie, und damit kann ihr vernunftorientierter und realitätsgläubiger Mann so gar nicht umgehen. Ihre Tagträume und Visionen sind für ihn Zeichen geistiger Verwirrung, und er schickt sie kurzerhand zu Schrobacher, dem Psychotherapeuten, in den sich Matilda schon bald verliebt. Mit ihrer Offenheit und unverblümten Art bringt sie seine festgefügte Welt gehörig durcheinander.

Zur selben Zeit lernt Matilda Pauline kennen. Sie ist Schriftstellerin, und Matilda ist vom ersten Augenblick an fasziniert von ihr. Aber wie es der Zufall so will: Pauline ist die Geliebte Schrobachers. Diese Menage à quatre entwikkelt eine dramatische Dynamik …

Eine faszinierende Geschichte über Wahn und Wirklichkeit, über weibliche und männliche Abhängigkeiten und Aufbruchslust.

Erika Pluhar, 1939 in Wien geboren, war nach ihrer Ausbildung am Max-Reinhardt-Seminar lange Jahre Schauspielerin am Burgtheater Wien und als Sängerin tätig. Bislang veröffentlichte sie mehrere Romane, Gedicht-, Lieder- und Erzählungsbände. 2009 erhielt sie den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln.

Im insel taschenbuch liegen außerdem vor: Spätes Tagebuch (it 4091); PaarWeise (it 4183); Schatten der Zeit (it 4247); Reich der Verluste (it 4282), Die öffentliche Frau (it 4354).

Erika Pluhar

Matildas Erfindungen

Roman

Insel Verlag

Erstausgabe dieses Romans:

Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg 1999.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4432.

Für diese Neuausgabe: © Insel Verlag Berlin 2016

© 1999 Erika Pluhar

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Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg

Umschlagfoto: Maria Stijger © plainpicture

eISBN 978-3-458-74403-0

www.insel-verlag.de

Diese Geschichte ist vollkommen wahr,
weil ich sie von Anfang
bis Ende erfunden habe.

Boris Vian

(L’écume des Jours)

Daß die Erde eine Kugel ist, wußte Matilda natürlich. Man hatte es ihr gesagt, sobald sie alt genug war, für solche Tatsachen aufnahmefähig zu sein. Sie kam auch gar nicht auf die Idee, es zu bestreiten. Aber jede flache Wiese, jede Ebene, alles, was einem fernen und geradlinigen Horizont zustrebte, endete für sie als Absturz. Sie meinte diesen Knick, diesen Bruch vor sich zu sehen, so deutlich, als hätte sie ihn schon einmal vor Augen gehabt. Ja, sie sah Tiefe vor sich, die gleichzeitig Höhe und Weite war. Die nicht schwindlig machte, weil man sich nicht irgendwo hoch oben befand, sondern nur dort, wo sich alles auflöst. Sie sah es zu genau. Also mußte sie schon einmal dort gestanden sein, dort, am Rand der Welt. Auch das wurde für sie zu einer Tatsache, die sie nicht mehr bezweifelte.

Doktor Schrobacher lächelte.

»Es kann nicht zwei Tatsachen geben – bei ein und derselben Sache.«

»Warum nicht?« fragte sie.

»Kind …«, brummte er nur und ließ das Thema fallen. Matilda mochte es nicht, wenn er sie Kind nannte, aber er tat es immer wieder. Dann sah sie ihre eigenen großen Hände auf ihren eigenen breiten Schenkeln liegen und fühlte sich in ihrer Körperlichkeit gemaßregelt. Sie war schließlich eine Frau von zweiunddreißig Jahren.

»Ich wollte hinausspringen – davon – wissen Sie?« fügte sie bockig hinzu.

Doktor Schrobacher hob den Kopf.

»Hinausspringen? Wann? Wo?«

»Nun ja, dort, wo die Ebene aufhört, wo die Erde, wo alles aufhört. Eine scharfe Kante, ich hatte das rechte Bein schon drüber hinaus. Ein helles Blau rundherum.«

Doktor Schrobacher seufzte. »Und warum sind Sie nicht gesprungen?«

»Die Wiese hinter mir war voller Klee – blühender, wissen Sie. Der Geruch hielt mich zurück. Das vor mir roch nach nichts. Dahin kann ich immer noch, dachte ich mir, das ist so endlos, das bleibt. So eine Wiese blüht nicht immer.«

»Aha«, sagte Doktor Schrobacher und machte sich Notizen. Dann sah er sie wieder an.

»Und wann war das? Ich meine, wann sahen Sie das Ende dieser Wiese – besser gesagt, der Welt?«

»Mehrmals«, sagte sie.

»Wo befindet sich die Wiese?«

»Überall.«

Doktor Schrobacher lehnte sich über den Tisch und schüttelte den Kopf. Dabei sah er ihr tief und anklagend in die Augen.

»Matilda«, sagte er dann, »Sie müssen damit aufhören, Ihre Welt zu erfinden. Wir beide müssen endlich zur Sache kommen.«

Matilda sah sein Gesicht so nahe vor sich, daß sie es am liebsten berührt hätte. Oder auch geohrfeigt, beides drängte sich auf. Seine Oberlippe hatte einen klargezeichneten Schwung, und er war schlecht rasiert.

»Ja, Kind, zur Sache! Zur Realität! Zu Ihrer Realität.« Matilda beugte sich vor und küßte Doktor Schrobacher auf den Mund. Sie hatte den Eindruck, daß er eine Sekunde stillhielt, ehe er zurückfuhr und »Matilda, die Sache war aber nicht gemeint!« hervorstieß. Die Haut über seinen Schläfen hatte sich gerötet.

»Ich bin kein Kind«, sagte sie, »ich fühle mich ziemlich real und habe mehrmals das Ende der Welt erreicht. Was noch?«

Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, der feucht war von ihren Lippen, sie bemerkte, daß er es schnell und möglichst unauffällig tun wollte. Dann schrieb er wieder etwas in sein Notizbuch. Gleichzeitig murmelte er: »Ich komme mit dir nicht weiter –«

Matilda wurde angenehm warm. Sie fragte: »Wie ist eigentlich dein Vorname?«

Er musterte sie eine Weile schweigend, als studiere er ein seltenes Insekt.

»Fritz«, sagte er dann.

»Fritz …«, wiederholte sie und verzog das Gesicht.

»Mein Vorname tut aber nichts zur Sache«, sagte Doktor Schrobacher und schraubte seine Füllfeder zu.

»Schon wieder zur Sache – immer willst du zur Sache kommen oder etwas zur Sache tun – und dann kann eine Sache bei dir nicht einmal zwei Tatsachen enthalten, du glaubst wohl, ich merke das nicht, Fritz.«

»Gut, daß Sie es merken, Matilda, darauf will ich hinaus. Lassen Sie uns wieder per Sie sein und noch fünf Minuten über Tatsachen sprechen. Dann ist für heute Schluß.« Doktor Schrobacher lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte die Hände ineinandergefaltet auf die Schreibtischplatte.

»Fritz ist ein häßlicher Name«, sagte Matilda.

»Ja, ich weiß.«

»So spitz, der Fritz, ein Witz, der Fritz,

ein frecher kurzer Blitz, der Fritz –«

»Wunderbar«, sagte Doktor Schrobacher, »ich wußte gar nicht, daß Sie dichten.«

Matilda gab darauf keine Antwort und sie starrten einander in die Augen. Sie sah, daß die seinen dunkelblau waren, eine seltene Augenfarbe, dachte sie.

»Das heißt«, fuhr Doktor Schrobacher fort, »natürlich dichten Sie, Sie dichten unaufhörlich – wenn man das Erfinden von Leben als Dichtung bezeichnen kann. Kommen Sie – erzählen Sie mir jetzt noch was ganz Reales, etwas aus Ihrem Alltag, ein bißchen alltägliche Wahrheit. Was werden Sie tun, wenn Sie jetzt nach Hause kommen …?«

»Ich werde nicht nach Hause kommen«, sagte Matilda. »Und warum nicht?«

»Ich verkrieche mich in Ihrer Augenfarbe und bleibe dort.«

Doktor Schrobacher seufzte und fuhr sich über die Augen.

»Noch sitze ich nicht drin«, sagte Matilda, »aber es wird sein wie in einem Kornblumenfeld.«

»Mir wäre lieber, Sie würden nach Hause gehen.«

»Unter den Kornblumen ist sogar die Luft blau, das Licht wird so gefiltert. Dazu das hellere Blau des Himmels. Die Wurzeln eines Feldes riechen immer bitter, als wären sie mit Anstrengung gewürzt, und das sind sie ja wohl auch. Die Erde trägt leichte Feuchtigkeit, wie von Tränen, sie dringt durch meinen Rock und ich fühle –«

»Hören Sie auf.«

Doktor Schrobacher stand auf und ging zum Fenster, der Parkettboden knarrte unter seinen Schritten. Dann stand er vor den geschlossenen Scheiben und schaute hinaus.

»Sie wollen mich ärgern, Matilda, stimmt’s?«

»Ich möchte Sie mitnehmen«, sagte Matilda.

Er drehte sich um.

»Ja wohin denn?«

»Weg aus Ihren Tatsachen und dem zur Sache und der ganzen nutzlosen Bemühung um mich. Sie merken doch, daß ich nicht verrückt bin. Wenn schon, dann sind meine Tatsachen auch welche, ja, sie sind –«

»– alle erfunden und erträumt!« unterbrach er sie, »Sie wollen es so, und vielleicht – ist das auch verständlich. Aber leben können Sie so nicht – ich meine, das normale Leben einer erwachsenen Frau leben. Sie haben eine Familie, die letzteres von Ihnen erwartet. Deshalb hat man Sie zu mir geschickt, wir müssen gemeinsam ihren Zugang zur Realität finden, können Sie mir dabei nicht endlich helfen, Kind?«

Doktor Schrobachers Stimme war laut geworden, er merkte es selbst und räusperte sich.

»Warum sagen Sie immer wieder Kind zu mir?« fragte Matilda und sah ihn ruhig an dabei.

»Weil Sie so unvernünftig sind.«

Doktor Schrobacher kam an den Tisch zurück und setzte sich wieder. Draußen hatte es heftig zu regnen begonnen, die Tropfen knallten gegen die Fensterscheiben wie kleine Geschosse.

»Es klingt wie Hagel …«, sagte Doktor Schrobacher mit einem kurzen Seitenblick.

»Es klingt, als würden sie an Ihr Fenster klopfen«, sagte Matilda.

»Wer, sie?«

»Alle Gedanken und Bilder, die Sie nicht zu sich hereinlassen.«

»Wer bitte therapiert hier wen?«

Doktor Schrobacher versuchte zu lachen, schüttelte den Kopf und stützte ihn danach in seine Handfläche, als wäre er ihm zu schwer geworden. Matilda blieb unbeweglich sitzen. Die Tropfen durchdrangen das Fensterglas und schwebten als winzige Seifenblasen in den Raum. Eine Wolke dieser Bläschen zerplatzte an Matildas Körper, wurde zu Nässe, die unter ihre Kleidung geriet und ihr an Brust und Rücken herabfloß. Auch ihr Gesicht wurde feucht, einzelne Tropfen rannen ihr über die Wangen.

»Warum weinen Sie?« fragte Doktor Schrobacher.

»Es ist der Regen«, gab sie zur Antwort, »er fliegt so dicht herein.«

»So so, der Regen …«

»Ja, ich bin ganz naß.«

»Das merke ich, Matilda, aber es ist eben nicht der Regen. Sie schwitzen, verstehen Sie? Sie schwitzen, schlicht und prosaisch. Und daran ist im Grunde genommen nichts auszusetzen, es war den ganzen Tag heiß, ich habe meine Fenster geschlossen gehalten, jetzt prasselt ein Gewitterregen herunter – warum also nicht schwitzen? Warum den Regen hereinfliegen lassen, Matilda? Was ist so unerträglich an der Tatsache, daß Sie hier vor mir sitzen und schwitzen? Warum wollen Sie partout etwas anderes erleben?«

»Ich gehe jetzt«, sagte Matilda.

»Nein, Sie bleiben noch.«

Doktor Schrobacher rieb sich die Stirn, die ebenfalls feucht geworden war. Kurz sah er in Matildas Augen, die aufmerksam auf ihn gerichtet waren, dann fuhr er fort: »Sie bleiben noch die wenigen Minuten bis zum Ende unserer Sitzung, das wird wohl auszuhalten sein …« Er lehnte sich zurück, während er sich den Hemdkragen lockerte, und ließ dann seine Hand locker über der Brust liegen.

»Schwitzen Sie auch?« fragte Matilda.

»Nein«, sagte er mürrisch.

»Sehen Sie. Die Regenwolke hat auch Sie angeflogen. Sie füllt doch das ganze Zimmer und legt sich auch über Ihre Haut – wir beide schwitzen nicht, wir sind mitten im Regen, in einer Wolke schwebender Tropfen.«

Matilda hob ihre Hand und fuhr behutsam hindurch, die schimmernden Bläschen zerplatzten lautlos auf ihrem nackten Unterarm. Einige blieben an den Fingern und am Handrücken haften, rollten auf und nieder wie winzigkleine Glaskugeln.

»Üben Sie einen indischen Tanz?« erkundigte sich Doktor Schrobacher.

»Nein, ich lasse die Kügelchen tanzen …«, sagte Matilda, ohne ihn anzusehen. Sie bewegte ihre Hand zwischen den Tropfen und beobachtete deren Verlauf. Die Finger bewegten sich wie sanfte Pflanzen, auf denen der Tau sich niedergelassen hatte.

»Geben Sie mir die Hand«, sagte Doktor Schrobacher, »die, mit der Sie in der Luft herumfuchteln –«

»Dann zerdrücken Sie mir ja alles …«

»Macht nichts«, sagte Doktor Schrobacher, packte ihre Hand und zog sie zu sich hinunter. Sie starrten einander an, als wären sie bei etwas überrascht worden.

»Habe ich jetzt alles zerdrückt?« fragte Doktor Schrobacher.

»Ja. Alle die Wasserkügelchen sind zerplatzt.«

»Tut mir leid.«

»Deshalb sind unsere Hände so naß …«

Doktor Schrobacher warf einen Blick zur Schreibtischplatte hinunter, auf der er ihre Hand mit beiden Händen festhielt. Die verschlungenen Finger glänzten.

»Es ist heiß«, sagte er und ließ sie wieder los.

Matilda schaute kurz ihre Handflächen an und strich dann mit ihnen über den Stoff ihrer Bluse. Sie fühlte, daß sie dabei ihre Brüste berührte. Dann stand sie auf.

»Ich gehe jetzt.«

Doktor Schrobacher sah sie an und nickte.

»Gut, Matilda, hören wir auf für heute.«

Es regnete nicht mehr, aber die Gassen der Innenstadt dampften vor Feuchtigkeit. Eine schwefelgelbe Sonne drang durch das dunstige Gewölk, nach wie vor war es sehr heiß. Matilda ging nahe den Hausmauern dahin, die alten Steine atmeten Kühle aus, und ab und zu streifte sie mit ihrer Hand im Vorbeigehen darüber.

Die Front eines alten, schwarz nachgedunkelten Hauses ließ sie innehalten. Kälte war auf sie herabgeströmt, und sie hob den Kopf. Das Haus rollte sich ein, ähnlich der dunklen Rinde eines großen Baumes, die vertrocknet. Über Matilda entstand ein Tunnel, dunkel und kalt, bereit, sich über die ganze Straße zu wölben, sich auf sie niederzusenken. Sie begann zu laufen und erreichte keuchend die nächste Quergasse, in die sie entwischen konnte. Als sie zurücksah, hatte die schwarze Hausfront bereits die ganze Straße verschluckt.

Glück gehabt, dachte Matilda und schlenderte weiter. Menschen mit Schweißflecken unter den Armen kamen ihr entgegen, erschöpft wischten sie sich die feuchten Gesichter ab. Matilda standen ihre eigenen Wimpern wie goldene Speere vor den Augen, sie sah kaum noch hindurch, und die vorbeieilenden Menschen wurden für sie zu Schatten, die aufgespießt wurden, ehe sie sich wieder verloren. Gottlob bleiben sie in meinen bewaffneten Wimpern nicht hängen, dachte Matilda, das erleichtert mir den Heimweg.

Als sie den engen Platz vor ihrem Wohnhaus erreichte, war die Sonne hinter den Dächern versunken. Nur der Himmel glühte noch nach. Matilda wußte, daß sie wieder den Schlüssel vergessen hatte und suchte deshalb nicht lange, sondern läutete sofort neben einem der kleinen perlmuttweißen Schilder, auf dem BAUER stand. Wie immer gefiel ihr dieses Wort mehr, als daß sie es als ihren eigenen Namen verstand. Als Kind hatte sie davon geträumt, ein bäuerliches Leben zu führen, und was davon übrigblieb, war die Tatsache, daß sie einen Mann geheiratet hatte, der Bauer hieß. Den sie vielleicht sogar geheiratet hatte, weil er so hieß. Anton Bauer. Der Name schmeckte nach Erde und roch nach einer Fuhre frischgemähtem Gras, sie hatte sich diesem Namen zugeneigt wie ein Baum im Frühlingswind und sich dabei gründlich getäuscht.

Matilda läutete nochmals, aber erst beim drittenmal fragte die Stimme durch die Gegensprechanlage: »Bist du’s?« und sie sagte laut: »Ja.« Dann schnarrte der Türöffner und sie konnte das Haus betreten. Sie atmete tief ein und stieg dann langsam die Stiegen aufwärts. Die Flurlampen brannten noch nicht, und aus der Dämmerung flogen kleine violette Vögel auf sie zu, streiften mit den Flügeln ihr Gesicht und die Haut ihrer nackten Arme, es waren zarte und erfrischende Berührungen. Matilda breitete im Hinaufsteigen beide Arme aus, damit die Vögel sich darauf niederlassen könnten, aber sie wischten nur vorbei und fächelten ihr mit ihren Schwingen zu.

Sie stand mit ausgebreiteten Armen da, als Anton die Tür öffnete. Er starrte sie an und zwinkerte dann, als müsse er dieses Bild vertreiben.

»Was ist los?« fragte er.

»Nichts. Nur die Vögel im Stiegenhaus«, sagte Matilda und betrat an ihm vorbei die Wohnung. Sie wußte, daß Anton hinter ihr aufstöhnen würde, sie hörte im voraus den Tonfall seiner Stimme, und daß er »Die Vögel! Klar, deine Vögel! …« sagen und ihr dann ins Zimmer folgen würde, als trüge er eine Last auf den Schultern. Der Arme, dachte sie, er glaubt ja auch, eine zu tragen. Statt mir zu glauben.

»Du warst doch bei Doktor Schrobacher?« fragte Anton. »Ja«, sagte Matilda und ließ sich auf das Sofa fallen.

»Und?«

»Nichts.«

Matilda zog die Bluse aus und lehnte sich zurück. Sie konnte von der Höhe ihres hingelagerten Kopfes aus ihre Brustspitzen unter dem Büstenhalter sehen, und die kleinen spitzen Hügel unter dem weißen Satin gefielen ihr. »Was hat er gesagt?« fragte Anton weiter, seine Stimme klang angestrengt.

»Immer dasselbe«, sagte Matilda, »er sagt immer dasselbe, und es ist sinnlos, daß ich zu ihm gehe.«

»Dann bin ich ratlos.«

Anton setzte sich neben sie auf das Sofa, doch ohne sich zurückzulehnen. Vorgebeugt stützte er die Arme auf seine Schenkel und starrte auf den alten Parkettboden zu seinen Füßen, als stünde dort eine Antwort geschrieben, irgendeine Antwort, irgendein Rat. Matilda, zurückgelehnt, betrachtete sein Profil, die dichten schwarzen Wimpern seiner gesenkten Augen, das dünne verschwitzte Hemd über seinen Schultern, und hätte ihn gern gestreichelt. Zwischen den zugezogenen Vorhängen des Fensters, die tagsüber die Sonne dämpfen sollten, drang jetzt leichter Luftzug herein, es war dämmrig im Zimmer.

»Der Abend beginnt zu atmen«, sagte Matilda.

»O Gott, ja«, sagte Anton, hob müde den Kopf und sah sie an. »Der Abend atmet, Vögel fliegen dich an, du warst schon einmal dabei, über den Rand der Welt zu springen, in meinen Händen nisten Schmetterlinge, ich weiß, ich weiß, und ich halte es nicht mehr aus, Matilda.«

»Die Schmetterlinge sind braun. Hellbraun«, sagte Matilda, da gerade ein dichter Schwarm Antons Hände verließ und sich auf ihrem nackten Bauch niederließ. So berührt schloß sie die Augen, ihre Beine öffneten sich von selbst. Dann fühlte sie Antons Finger, die in ihren Schoß griffen.

Als sie beim Abendessen saßen, ging über der Stadt ein Gewitter nieder. Die Vorhänge waren jetzt aufgezogen, und schwache Ausläufer von Regen und Sturm drangen bis in das Zimmer. Die Straßenlampen schaukelten wild und warfen zuckende Lichter. Die Lampe über dem Tisch jedoch hing ruhig und beleuchtete sanft beider Hände, die sich zwischen Teller und Mund hin- und herbewegten.

Matilda aß mit Appetit. Anton hatte sein Spezialrührei zubereitet, das Brot war frisch und auch die Butter hatte sie erst gestern gekauft. Sie trank eine Flasche Bier und rülpste ab und zu leise. Sie fühlte sich wohl. Das Innere ihres Körpers fühlte sich noch weich an, Regenkühle strich vom Fenster her über ihre erhitzte Haut, die Serviette lag auf zwei zufriedenen nackten Schenkeln im Schatten der Tischplatte. Kauend sah sie Anton an.

»Dein Rührei ist gut.«

»Ich weiß«, sagte Anton, »es ist immer gut.«

Er sagte es, ohne vom Teller aufzublicken, seine Stirn, im Schatten des Lampenschirmes, sah auch von innen her beschattet aus. Wie ein dunkles Huflattichblatt.

»Fühlst du dich nicht wohl?« fragte Matilda.

»Nein«, sagte Anton.

Das Huflattichblatt wölbte sich hoch, und büschelweise wuchsen weitere dunkle Huflattichblätter aus Antons Stirne, der Schattenrand einer Wiese, ein sonnenloser Abhang. Antons Gesicht wurde davon überhangen und bedeckt, Matilda bewegte ihre Hand schnell über den Tisch auf seine Stirn zu.

»Was!« schrie Anton und fuhr zurück, »was machst du da?«

»Ich wollte nur die Blätter – es werden immer mehr, diese Huflattichblätter, sie verdunkeln dich so, ich wollte sie ausreißen –«

»Ausreißen?« Anton schrie noch lauter. »Du wolltest sie aus meiner Stirn herausreißen? – Bist du verrückt?«

Dann lehnte er sich zurück, atmete schwer und sah Matilda an.

»Du bist verrückt, ja«, sagte er, wieder leise geworden. »Nein«, sagte Matilda, »ich bin nicht verrückt. Ich wollte dir das Dunkle aus dem Gesicht nehmen, nur das.«

»Matilda.« Anton beugte sich wieder vor, weit vor, bis unter den Schein der Lampe, und kam Matilda sehr nahe. Seine Augen haben keine Farbe, dachte Matilda, überhaupt keine Farbe. Es sind farblose Augen.

»Die Hitze erotisiert«, sagte Anton, »und ich habe mit dir geschlafen. Ich schlafe mit dir. Ich lebe mit dir. Aber du bist mir unheimlich, verstehst du? Es ist – eine Art Geisterbahn. Mit dir. Und du saust immer weiter weg. Verstehst du? Wir haben nicht die gleiche Wirklichkeit, wir beide!«

Matilda schwieg und sah weiterhin in seine Augen wie in zwei leere Teiche. Nichts schien sie dort widerzuspiegeln, und das machte ihr angst.

»Schaust du mich an?« fragte sie.

Anton seufzte kurz und heftig auf.

»Natürlich schaue ich dich an, was soll das.«

»Und was siehst du?«

»Das soll ich dir sagen?«

»Ja.«

»Also –«, Anton räusperte sich, »also, ich sehe da eine Frau sitzen, deren Körper ich sehr genau kenne – nicht gerade mager, mit einem schönen Busen – nackt sitzt sie mir gegenüber und ißt Rührei. Und ich könnte mir einbilden, daß ich sie kenne – wenn sie mir nicht in der nächsten Sekunde wieder in eine erfundene Geschichte davonläuft und mich damit wahnsinnig macht.«

»Ich erfinde keine Geschichten«, sagte Matilda.

Anton richtete sich auf, nahm die Gabel zur Hand, stieß damit klirrend gegen den Tellerrand und aß weiter. Freudlos schob er sich viel zu große Bissen in den Mund. Iß nicht so schnell, wollte Matilda sagen, aber sie verbot es sich. Sie sah, daß er wütend war, und da er das in letzter Zeit fast ständig war, wußte sie, daß diese Bemerkung nicht gut getan hätte. Ich esse, wie ich will, hätte er geschrien, gib du mir keine realistischen Hinweise, bitte. Obwohl sie jetzt keinen Hunger mehr hatte, bestrich Matilda eine Scheibe Brot mit Butter und biß hinein. Das Gewitter hatte sich wieder verzogen, es war still und schwül im Zimmer. Ich sollte weggehen, dachte Matilda.

»Ich sollte weggehen«, sagte Anton.

Matilda hob den Kopf, schwieg jedoch.

»Aber wie kann ich dich allein lassen, gerade jetzt«, sprach Anton weiter, während er kaute und auf den Tisch vor sich starrte, »du arbeitest nicht. Doktor Schrobacher kostet einen Haufen Geld, und den mußt du weiter aufsuchen, was kann man sonst gegen deine Verrücktheit tun. Immerhin sind wir sechs Jahre verheiratet, ich fühle mich verantwortlich.«

»Ich kann zu Mela ziehen«, sagte Matilda.

»Laß deine Mutter in Ruhe«, Anton rieb sich den Mund mit der Serviette ab, »die hat’s auch nicht dick – und schwer genug gehabt im Leben.«

Durch das Fenster drang eine Nachtwolke ins Zimmer, in Form eines ziemlich regelmäßigen Ovals. Ihre Mitte bestand aus dunklem Blau, die Ränder waren milchig durchscheinend. Die Wolke zog sehr langsam durch das Zimmer und legte sich zwischen Matilda und Anton auf den Eßtisch. Wie ein großer Luftballon, nur nicht so glänzend, dachte Matilda, und sah Anton wie hinter blauem Milchglas Bier nachschenken.

»Ich werde ausziehen«, sagte er, aber Matilda hörte ihn kaum hinter der Wolke.

»Was?« schrie sie.

»Warum brüllst du so?« fragte Anton. Dann schüttelte er den Kopf. Sein Kopfschütteln schien eine Luftströmung erzeugt zu haben, denn die Wolke hob sich wieder vom Tisch und segelte lautlos davon.

»Ich weiß nicht«, sagte Matilda. Sinnlos, es ihm zu erklären.

»Sollte dich der Gedanke, daß ich ausziehen will, zu diesem Aufschrei motiviert haben –«

»Nein, nicht das«, sagte Matilda und sah der Wolke nach, die sich durch die Fensteröffnung zwängte und dann über den Platz zu den Dächern hinüberflog.

Anton nahm eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an, stieß dann den Rauch aus und lehnte sich zurück. »Wo schaust du hin?« fragte er, nachdem er kurz Matildas Blick gefolgt war.

»Hinaus«, sagte Matilda, löste ihre Augen von der Wolke, die im letzten Licht des Himmels glänzte und sich langsam über der Stadt verlor, und wandte sie Anton zu, »ich habe nur hinausgeschaut.«

»Aha«, sagte Anton.

Wie Doktor Schrobacher, dachte Matilda, sie sagen ›Aha‹ und das heißt: ›natürlich spinnt sie, ich habe es ja gewußt.‹ Dabei habe ich nur gesagt, daß ich hinausgeschaut habe. Würde ich sagen, daß eine Nachtwolke auf unserem Tisch lag und dann durch das Fenster wieder davongeflogen ist, gäbe es wieder sein Geschrei, drum sage ich es lieber nicht. Ohnehin schaut er mich so mißmutig an.

»Wie geht es – ich meine – geht es dem Museum gut?« fragte Matilda, und wußte im gleichen Augenblick, daß auch diese Frage nichts bessern würde.

»Wieso fragst du das

»Nur so«, sagte Matilda. Es war ihr Versuch gewesen, Anteil zu nehmen, denn Anton arbeitete in der Verwaltung der städtischen Museen, aber sie sah selbst ein, daß man so nicht fragen konnte. Anton zog heftig und mehrmals an seiner Zigarette, Rauch umgab ihn, als wäre er ein glosendes Stück Kohle.

»Solltest du mit dieser Frage Interesse an meinem Berufsleben heucheln wollen, so war sie blöde gestellt, denn es ist nicht nur ein Museum, dem ich vorstehe. Außerdem weiß ich viel zu gut, daß dich kaum etwas so kalt läßt wie Museen und deren Wohlergehen, spare dir also derart lächerliche Fragen. Alles ist ohnehin lächerlich genug.«

»Ich wollte in deine Wirklichkeit …«

… und mir wäre lieber, wenn wir beide die gleiche Wirklichkeit hätten, wenn du sehen würdest, was ich sehe, wenn ich deine Empfindungen nachempfinden könnte, wenn unsere Gespräche uns zueinanderführen würden wie das Miteinanderschlafen, wenn du mir glauben könntest und ich dir vertrauen könnte – wenn es so sein könnte, wäre es mir lieber, das alles hätte sie noch gerne hinzugefügt, aber sie sagte nur »Ich wollte in deine Wirklichkeit«, und stand auf. Es ging ihr selten so, aber sie hatte plötzlich das Bedürfnis zu weinen.

Nackt, wie sie war, trat sie ans Fenster. Ein Sternenhimmel hing jetzt über der Stadt, die Straßenlampen warfen einen rötlichen Lichtschein herauf, einige Fenster der Häuser, die den Platz einkreisten, waren hell erleuchtet. Gegenüber sah sie eine Frau am Computer sitzen, das Zimmer rundum war schwach erleuchtet. Im Schein der Arbeitslampe hob sich das gesenkte Profil scharf ab, die Frau hatte ihr Haar in einem schweren Zopf über den Rücken hängen. Ihre Hände gingen flink und leicht über die Tastatur. Ob sie einen Roman schreibt? fragte sich Matilda, oder geht sie mit Zahlen oder Adressen um, mit Geschäftsbriefen und dergleichen?

Die Frau stützte den Kopf in die Hand, wandte ihn zum Fenster und sah direkt zu Matilda hin. Matilda griff schnell zur Stoffbahn des Vorhangs und hielt sie von den Brüsten abwärts gegen ihren Körper, obwohl man im Gegenlicht vielleicht nicht sah, daß sie nackt war. Der ruhige Blick der Frau schien jedoch durch sie hindurchzulaufen, nach einer Weile neigte sie sich wieder über die Tasten und schrieb weiter.

Vielleicht erfindet sie Geschichten, dachte Matilda. Aus dem Pflaster und den Hauswänden des Platzes drang die gespeicherte Hitze des Tages hervor und mischte sich mit der Feuchtigkeit des Gewitterregens. Es roch nach Asphalt und warmen Ziegeln. Matilda atmete tief ein.

Dann fühlte sie, daß Anton hinter ihr stand. Er schob langsam seinen rechten Arm unter den Vorhangstoff und legte ihn über ihren Bauch, die andere Hand glitt ihr sanft von hinten zwischen die Schenkel.

»Komm«, sagte er, »komm in meine Wirklichkeit. Komm dorthin, wo wir uns beide auskennen. Laß uns noch einmal unsere Wirklichkeit teilen. Komm.«

Er liebkoste ihren nackten Bauch und ihre Brüste, sie ließ das Vorhangtuch fallen, spreizte die Beine und drehte sich ihm zu. Seine Hände taten genau das, was ihr wohltat. Sie hatte nicht mehr den Wunsch zu weinen, und ob die schreibende Frau sie beide am Fenster sah oder nicht war ihr egal.

Matilda wachte auf, als der erste Schimmer der Morgendämmerung den Himmel erfaßte, es war nicht mehr als eine bleiche Aufhellung, unter der die schlafende Stadt noch dunkler in sich zusammenzusacken schien. Anton neben ihr schlief fest, schnaubte bei jedem Atemzug leise durch die Nase, kein Schnarchen, eher ein hörbares, rhythmisches Atmen. Er lag von ihr abgewandt, sie sah nur seinen Rücken, die Haut über den Rippen leuchtete blaß.

Matilda war aufgewacht, weil sie einem Traum entrinnen wollte. Wach auf, hatte sie sich selbst befohlen, verlasse diesen Traum. Und es war ihr gelungen. Sie hatte die Schichten bis hin ins Bewußtsein rasch durchstoßen, eine nach der anderen, sie wurden leerer, deutlicher, bis Matilda schließlich die Augen öffnete.

Die Luft des ersten Morgens, die doch ein wenig abgekühlt hatte, ließ sie frösteln, sie zog das Bettlaken enger um ihren nackten Körper, vorsichtig, um Anton nicht zu stören. Sie hörte jetzt auch ihr eigenes Atmen, es klang, als wäre sie weit gelaufen. Der Traum, den sie hatte verlassen und beenden können, erfüllte ihre Gedanken. Sie sah Bilder vor sich und wußte von Empfindungen.

Auch diesmal hatte sie sich in einer Ebene befunden, die nach allen Seiten hin den Horizont berührte. Wie so oft stand sie allein in dieser Weite, als wäre sie die Nabe, um die das Rad der endlos ausgedehnten Landschaft kreisen müsse. Und wie so oft bedeckte nur Gras die Ebene. Weder Baum noch Strauch, nur weiche wellige Wiese, und ein sanfter Wind, der das Gras aufrauhte. Auch Blumen gab es nicht. Bis zu den Horizonten nur das Graugrün eines windbewegten Wiesenbodens.

Ihre Einsamkeit in dieser entleerten Landschaft war so ausdrücklich, daß sie nicht an ihr zweifelte. Sie beschloß, sich zu bewegen, in irgendeine Richtung auszuschreiten. Langsam drehte sie sich um die eigene Achse und ließ ihren Blick am Horizont entlanggleiten. Ringsum war nichts als die Linie zwischen Ebene und Himmel, nichts ragte auf oder schob sich dazwischen, es bot sich kein Anhaltspunkt. Ich kann wahllos drauflosgehen, dachte sie, egal, in welche Richtung. Also schloß sie die Augen und drehte sich mehrmals um sich selbst. Als sie innehielt, schwindelte ihr und sie verharrte noch kurz mit geschlossenen Augen. Danach blickte sie bis zum vor ihr liegenden Horizont und begann auszuschreiten. Das Gras, das einzig Lebendige, das sie umgab, berührte ihre Fußknöchel. Kein Vogel flog auf, kein wildes Kaninchen war zu sehen. Auch Wolken zogen keine über den Himmel, der ebenso einförmig grünlich war wie die Landschaft. Absolute Stille herrschte, der Windhauch im Gras verlor sich darin. Auch ihre eigenen Schritte hörte Matilda nicht, der weiche Boden schien sie zu verschlucken.

Sie wanderte dahin und der Horizont rückte nicht näher. Sie blieb der Mittelpunkt dieser Einöde. Und plötzlich schrie sie im Dahingehen laut auf, sie wollte etwas hören, etwas fühlen, etwas von sich geben, aber der Schrei verhallte schnell.

Da war es, daß sie plötzlich stehengeblieben war und beschlossen hatte, aufzuwachen.

Ich habe wohl nicht wirklich geschrien, dachte Matilda, sonst wäre auch Anton aufgewacht. Sie betrachtete nochmals den Rücken des schlafenden Mannes neben sich, dann stand sie leise auf, das Bettlaken um ihren nackten Körper gewickelt. Auf Zehenspitzen ging sie zum offenen Fenster. Die Stadt lag in der fahlen Dämmerung, die dem Sonnenaufgang vorausgeht, und schien den Atem anzuhalten. Kein Mensch war unterwegs, auf dem Platz vor ihrem Haus trippelten einige verschlafene Tauben herum und gurrten leise. Auch das Fenster der Frau am Computer war weit geöffnet, aber das Zimmer dahinter lag in nächtlichem Dunkel. Jetzt schläft sie und träumt von ihren erfundenen Geschichten, dachte Matilda und zog das Laken, das ihr über die Brust geglitten war, wieder hoch. Hinter den Dächern erschien jetzt ein rosiger Streifen, mattrosa noch, wie aus Marzipan.

Plötzlich fuhr ein Radfahrer über den Platz, die Tauben flatterten knatternd auf, schmerzhaft zerriß die Stille, Matilda zuckte zusammen. Der Mann auf dem Rad schien es sehr eilig zu haben, Matilda beugte sich aus dem Fenster und sah ihm nach, bis er in eine Seitenstraße einbog und verschwand. Aber der Weg, den er genommen hatte, lag als Dunstbahn über dem Platz und löste sich nur langsam auf, ähnlich dem Kondensstreifen, den ein Flugzeug in den Himmel zeichnet. Nur war die zurückbleibende Spur des Radfahrers nicht weiß, sondern dunkel, fast schwarz, eine dünne, langgezogene Rauchfahne. Matilda lehnte sich mit beiden Unterarmen auf das Fensterbrett und sah zu, wie der schwarze Rauch sich kringelte, verdünnte und auflöste. Der Mann hat Todesangst geatmet, überlegte sie, oder eine Todesnachricht, mit Tod hat es jedenfalls zu tun, wenn die Atemspur so dunkel ist. Es gibt zwar Grautöne, alle Schattierungen von Grau, aber die zeichnet alltäglicher Kummer und der gewohnte Schmerz. Sehr selten entstehen helle oder weiße Atemspuren, kein Wunder, wer beeilt sich schon vor Glück … Aber einmal, und sie vergißt es nicht, hatte Matilda eine nicht mehr junge Frau gesehen, die durch die Bahnhofshalle lief, die Beine vom Rock umwirbelt, das Gesicht hochgehalten, die geöffneten Haare wehend, sie lief erstaunlich schnell und ihre Atemspur war leuchtend weiß, weiß wie frisch gefallener Schnee im Sonnenlicht. Matilda hatte ihr lange hinterhergesehen, sogar versucht, den sich auflösenden Dunststreifen mit der Hand zu berühren. Sie hatte die Frau beneidet. Tat es sogar jetzt noch, wenn sie daran zurückdachte. Matilda schüttelte den Kopf und richtete sich auf. Das Bettlaken rutschte ihr wieder bis zur Hüfte und die Morgenluft strich so kühl über ihre Brüste, daß sie sich zusammenzogen. Sie verhüllte sich wieder und wollte sich gerade ins Zimmer zurückwenden, als sie sah, daß die schreibende Frau ebenfalls am Fenster stand. Vor dem dunklen Zimmer stand sie aufrecht und hell im Fensterrahmen und blickte zu Matilda herüber.

Anton trug ein frischgebügeltes, kurzärmeliges Hemd mit blauen Streifen, als er sich an der Wohnungstür nochmals umwandte, ›Matilda, bleib bitte am Boden und denk dir keinen Unsinn aus, ja?‹ zu ihr sagte, aufmunternd nickte und dann die Tür hinter sich ins Schloß fallen ließ. Er würde den Weg zum Verwaltungsbüro der Museen im Laufschritt zurücklegen und es pünktlich um neun Uhr erreichen. Die Morgensonne drang bereits wieder sehr warm in die Zimmer, die nach Frühstückskaffee und nach Antons Rasierwasser rochen.

Matilda setzte sich nochmals an den Tisch und trank ihre Tasse leer, obwohl ihr der lauwarme Kaffee nicht mehr schmeckte. Dann legte sie die Unterarme auf die hölzerne Tischplatte und betrachtete die Brotkrumen und Milchspuren. Eine Fliege trippelte dazwischen herum, lief auch einmal kurz über Matildas regungslose Hand. Was für ein großer Hügel für so eine kleine Fliege, dachte Matilda. Die Fliege saugte mit ihrem winzigen Rüssel Milch auf, eifrig und konzentriert am Leben. Es dauerte ziemlich lange, bis sie schließlich davonsurrte.

Matilda rührte sich nicht. Der Milchkrug und die Kaffeekanne hatten Kreise auf der Tischplatte hinterlassen, die ineinandergriffen und ein Muster bildeten. Das Buttermesser lag quer und stach hinein. Die Zuckerkristalle ließen die Flächen innerhalb der Kreise verschiedenartig schattiert wirken, je nachdem, ob mehr oder weniger Zucker verstreut worden war. Matilda begann sich eben für diese Zeichnung, die ein schnelles Frühstück entworfen hatte und die ihr äußerst sinnvoll erschien, näher zu interessieren, als das Telephon läutete.

»Mädchen«, sagte Mela, als sie abhob, »wie geht es dir denn heute?«

»Ich habe gerade einer Fliege bei einem Großteil ihres Lebens zugesehen«, sagte Matilda, »und die durchstoßenen Kreise entdeckt, die ein eheliches Frühstück hinterläßt.«

Mela lachte leise auf.

»Ja dann –«

Den Hörer am Ohr, lehnte sich Matilda ins Sofa zurück. Obwohl ihre Mutter nur zwei Stockwerke unter ihnen im selben Haus wohnte, sprach sie gern am Telephon mit ihr.

»Du Mela«, fragte sie, »weißt du, wer dir gegenüber – im mittleren Haus – wohnt? Gleiches Stockwerk wie du. Eine Frau. Sitzt viel am Computer.«

Mela schien nachzudenken.

»Ich schaue nicht oft aus dem Fenster«, sagte sie dann, »und ungern in fremde Wohnungen –«

»Wie diskret«, sagte Matilda. »Bin ich nicht.«

»Ich weiß«, sagte Mela, »andererseits weiß ich auch, daß in einem der Häuser hier am Platz eine Schriftstellerin wohnen muß. Ich weiß es, weil ich einmal versehentlich ihre Post gekriegt habe. Ein dickeres Paket und von einem Verlag, deshalb.«

»Was für ein Verlag?«, fragte Matilda.

»Weiß ich nicht mehr – hab ihn auch nicht gekannt –« »Und ihr Name?«

Mela seufzte. »Erschlage mich, aber …«

»Ja, ich erschlage dich«, sagte Matilda.

»Den Vornamen weiß ich noch. Paula.«

»Paula«, wiederholte Matilda.

»Aber wer weiß, ob deine Computerdame überhaupt diese Paula ist«, sagte Mela, »– und was hat dein Interesse ausgelöst?«

»Ihr hängt ein dicker schwarzer Zopf über den Rücken.« »Aha«, sagte Mela.

»Sag du bitte nicht auch Aha«, rief Matilda laut ins Telephon.

Ohne darauf einzugehen fragte Mela: »Kommst du heute mal runter zu mir?«

»Komm du rauf. Jetzt«, sagte Matilda und legte auf.

Dieses ›Aha‹, als Ausdruck tiefsten Unverständnisses und getarnt als ›Ich verstehe!‹ konnte sie unverhältnismäßig stark irritieren. Dabei hatte sie noch nie Grund gehabt, am Verständnis ihrer Mutter zu zweifeln, es lag nur daran, daß Anton und Doktor Schrobacher ihre beständige unausgesprochene Kritik in dieses Wörtchen legten. Was heißt Wörtchen. Drei Buchstaben, in einen Atemzug gereiht, mehr nicht. »Aha«, sagte Matilda laut vor sich hin, als sie aufstand und zum Garderobenschrank ging. Sie nahm ein Sommerkleid heraus und zog es über. Im Badezimmer putzte sie sich die Zähne und kämmte ihr Haar zurück. Mela hatte lieber, wenn es ihr nicht so dicht in die Stirn fiel. ›Du hast eine so schöne Stirn, laß sie frei‹, pflegte sie schon zu sagen, als Matilda noch Kind war, und strich ihr dann mit beiden Handflächen die Haare aus dem Gesicht. Diese Gebärde enthielt Sanftmut und Zärtlichkeit, deshalb hatte Matilda sich nie dagegen gewehrt. Aber wenn die Mutter außer Sichtweite war, fielen ihr die Haare immer schnell wieder über die Stirn.

Als Matilda das Badezimmer verließ, gab die Türglocke ein kurzes, kaum hörbares Zeichen, es war die Art, wie Mela ihr Kommen anzukündigen pflegte. Sie betrat die Wohnung mit einem Tablett in den Händen, küßte Matilda im Vorbeigehen auf die Wange, sagte »Ich hab Kuchen für dich. Und Marillenmarmelade«, und trug das Mitgebrachte, ohne innezuhalten, zum Eßtisch.

»Danke«, sagte Matilda und folgte ihr langsam.

»Kann ich mir Kaffee nehmen?« fragte Mela.

»Er ist kalt«, sagte Matilda und setzte sich an den Tisch. »Macht schön«, sagte ihre Mutter und goß sich eine benutzte Tasse voll, »willst du ein Stück Kuchen?«

»Nein.«

Mela schnitt ein schmales Dreieck aus dem mit Äpfeln und Nüssen bedeckten Rund des Kuchens, biß davon ab und schlürfte den Kaffee hinterher. Dabei schaute sie Matilda an.

»Tut mir leid, mein Aha vorhin –«, sagte sie.

»Ach was«, Matilda schnippte mit der Hand durch die Luft, »ich hab übertrieben. Ich wußte doch, wie du es meinst. Mir tut es leid.«

Ohne den Kuchen abzulegen, kam Melas Hand über den Tisch auf sie zu, und mit dem Zeigefinger fuhr sie ihr schnell und zart über die Wange. Matilda betrachtete ihre Mutter, wie sie es jeden Tag mindestens einmal tat. Vielleicht deshalb schien sie sich nicht zu verändern, obwohl man ihr Alter sah, und sie noch nie versucht hatte, es zu verschleiern.

»Nun, Mädchen«, sagte Mela und beugte sich vor, in ihren Augen die Helligkeit unermüdlicher Ermunterung. »Was wirst du heute tun? Ist der gute Schrobacher angesagt?«

Das kurzgeschnittene graue Haar hing über ihrem Kopf wie altes Gras, und darüber wuchs mit großer Schnelligkeit ein Haselstrauch und erfüllte das Zimmer. Die heiße Morgensonne leuchtete vom Fenster her durch ihn hindurch und vergoldete teilweise sein frisches Grün. Das ist was anderes als Antons schwarzer Huflattich, dachte Matilda, jedem wächst wohl aus dem Kopf, was er drinnen hat. Sie lehnte sich zurück und ließ den Blick über die Hecke von Haselsträuchern gleiten, die Mela so schnell vor ihr errichtet hatte.

»Was siehst du?« fragte Mela.

»Eine Hecke aus deinem Kopf.«

»Eine Hecke? So was Enges, Abschließendes? … Gefällt mir eigentlich nicht –«

»Nein, nein«, rief Matilda, »sie ist durchsichtig – hell – aus Haselsträuchern, wunderschön grün – die Sonne scheint hindurch –«

»Gut«, sagte Mela, »dann bin ich zufrieden.«

Sie hob ihre Hand und griff hinein in das Laub über ihrem Kopf, bewegte die Finger vorsichtig zwischen den Blättern, kleine Äste schnellten zur Seite.

»Ist es da?« fragte Mela.

»Ja«, sagte Matilda, »hörst du es nicht, wenn die Blätter sich berühren?«

»Nein«, Mela ließ die Hand wieder sinken, »das höre ich nicht.«

»Und warum glaubst du mir?«

»Warum soll ich dir nicht glauben? Du siehst es. Du hörst Blätter, die sich berühren, du lebst damit. Warum also nicht?«

Als Mela aufstand, drückte sie die Hecke gegen die Zimmerdecke, es wurde eng da oben. Aber ungehindert ging sie zum Fenster, den Kopf hocherhoben, das Rascheln und Knacken der Zweige schien sie nicht niederzudrükken. Aber Matilda tat es weh und sie schloß die Augen.

»Sie heißt übrigens nicht Paula«, sagte Mela.

Matilda riß die Augen wieder auf. Ihre Mutter lehnte am Fensterbrett und sah hinaus, die Hecke hatte sich aufgelöst und nur ein grünlicher Schatten schien das Zimmer noch zu füllen.

»Ich habe mich, ehe ich zu dir kam, bei unserer Hausmeisterin erkundigt, die weiß immer alles. Diese Schriftstellerin heißt Pauline, Pauline Gross, und wohnt tatsächlich da drüben. Jetzt schreibt sie grade.«

Matilda stand auf, ging zum Fenster und lehnte sich neben Mela. Die Sonne schien ihnen ins Gesicht. In das Zimmer der schreibenden Frau gelangte wohl trotz der geöffneten Fenster zu wenig Tageslicht, sie hatte auch jetzt die Lampe über dem Computer brennen. Ihre Hände bewegten sich auf der Tastatur, ohne innezuhalten. Sie trug ein rotes Kleid oder einen roten Hausmantel, jedenfalls fiel ein rötlicher Widerschein auf ihr geneigtes Gesicht.

»Der Zopf ist wirklich beeindruckend«, sagte Mela und richtete sich auf, »aber es ist fürchterlich heiß in der Sonne, jetzt schon – willst du nicht die Vorhänge zuziehen?«

»Was sie wohl schreibt«, sagte Matilda, »ob sie das erfindet? Oder nur aufschreibt, was sie sieht, so wie ich?«

»Heißt erfinden nicht sehen?« sagte Mela und zog mit einem Ruck den Vorhang bis zur Mitte des Fensters zu.

In Doktor Schrobachers Vorzimmer standen drei Lehnsessel und ein kleiner Tisch, auf dem medizinische Zeitschriften und eine Tageszeitung lagen. Sonst nichts. Das einzige Fenster führte in einen Innenhof, in dem eine große Platane Schatten warf. Deshalb war es auch in dem kleinen Raum schattig und verhältnismäßig kühl.

Matilda saß, den Kopf gegen die Zimmerwand gelehnt und beide Beine von sich gestreckt, in einem der Sessel. Der Weg durch die heiße Stadt hatte sie erschöpft, sie war ein wenig zu früh gekommen. Schon wieder bin ich hier, dachte sie, es liegt nur an Antons Drängen. Was er sich wohl von meinen Besuchen hier verspricht?

Durch die Platane sprangen Amseln. Matildas Blick verfolgte ihre Wege und kleinen Konferenzen, die braunen Weibchen und glänzend schwarzen Männchen hatten einander eine Menge mitzuteilen, ehe sie wieder nach verschiedenen Richtungen hochschwirrten.

Aus Doktor Schrobachers Zimmer klangen Stimmen, jedoch nur als fernes, von der dicken Türe gefiltertes Murmeln. Was die vor mir wohl für Probleme hat? dachte Matilda. Sinnlos das alles. Nur weil er sehr blaue Augen hat, kann er Menschen noch nicht durchschauen. Niemand kann Menschen durchschauen, nur in ihnen herumwühlen kann man, mehr nicht. Niemand weiß, was wirklich ist, und alle tun so, als wüßten sie’s. Matilda atmete heftig aus und blies sich die Haare aus der Stirn. Sie wußte jetzt schon, wie Doktor Schrobachers Gesicht aussehen würde, wenn sie ihm erzählte, daß sie die Gespräche der Amseln in der Platane belauscht hätte.

Als die Tür sich öffnete, kam ein Mädchen heraus, fast noch ein Kind. Es sah verweint aus, grüßte im Vorbeigehen halblaut und verlegen, und verließ rasch den Raum. Doktor Schrobacher, die Türklinke in einer Hand, wies mit einer einladenden Geste der anderen in sein Zimmer und sagte: »Bitte!«

»Vergreifen Sie sich jetzt auch schon an Kindern?« fragte Matilda, als sie an ihm vorbei zu ihrem Platz vor dem Schreibtisch ging.

»Kinder sind Menschen«, sagte Doktor Schrobacher, setzte sich ihr gegenüber nieder und suchte in seinem Notizheft nach einer bestimmten Seite, »und Menschen leiden.«

»Und Sie können Leid lindern?«

»Selten, leider. Aber manchmal doch.«

»Ich leide nicht.«

»Das weiß ich, Matilda.«

»Ja dann?«

»Sie flüchten. Und ich möchte Sie aufhalten.«

Er stützte sich jetzt mit beiden Unterarmen auf den Tisch vor sich und wandte ihr seine Augen voll zu. Der Mond geht auf, dachte Matilda. Ein knallblauer Doppelmond.

»Sie gefallen mir«, sagte Matilda, »deshalb komme ich auch weiterhin zu Ihnen. Wegen Ihrer Augen.«

»Schmeichelhaft«, sagte Doktor Schrobacher.

»Aber aufhalten können Sie mich sicher nicht, weil ich nämlich gar nicht weglaufe. Meinem Mann sollte ich vielleicht davonlaufen, das ist alles.«

»Und warum tun Sie es nicht?«

»Weil ich gern mit ihm schlafe.«