Alice Oseman
X wie Xmas
Eine Solitaire-Novella
Aus dem Englischen
von Beate Schäfer
Deutscher Taschenbuch Verlag
© privat
Alice Oseman schrieb ›Solitaire‹, als sie erst siebzehn und noch Schülerin war. Für ihren ersten Roman hat sie sich intensiv mit dem Leben sarkastischer Teenager, die die ganze Zeit im Internet surfen, beschäftigt, indem sie selbst ein sarkastischer Teenager war, der die ganze Zeit im Internet surfte. Inzwischen studiert sie Englische Literatur an der renommierten Durham University.
Beate Schäfer studierte Germanistik, Geschichte und Amerikanistik. Sie arbeitete lange Zeit als Verlagslektorin. Inzwischen lebt sie als Übersetzerin, Lektorin und Schreibpädagogin in München.
Merry Christmas!?!
Es ist Weihnachten, Tori will einfach ihre Ruhe haben, ihr siebenjähriger Bruder will aber lieber mit ihr spielen. Ihr älterer Bruder Charlie, gerade aus der Klinik zurück, will sofort zu seinem Freund Nick. Und Nick will dem Chaos der Weihnachtsfeier entkommen. Ein ganz normales Weihnachten also …
Deutsche Erstausgabe
© der deutschsprachigen Ausgabe:
2015 dtv Verlagsgesellschaft mbH und Co. KG, München
© 2015 Alice Oseman
Titel der englischen Originalausgabe: ›This Winter‹
2015 erschienen bei HarperCollinsPublishers Ltd.
This translation of ›This Winter‹ is published under licence from HarperCollinsPublishers Ltd.
Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen
Umschlaggestaltung: HarperCollinsPublishers Ltd.
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Das Zitat aus ›Stolz und Vorurteil‹ von Jane Austen aus dem Englischen übersetzt von Helga Schulz: © 1997 dtv Verlagsgesellschaft mbH und Co. KG, München
eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-42925-2 (epub)
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www.dtv.de/ebooks
ISBN (epub) 9783423429252
»Caroline spricht mit Bestimmtheit davon, daß keiner von ihnen in diesem Winter nach Hertfordshire zurückkehren wird. Ich werde es dir vorlesen:
›Als uns mein Bruder gestern verließ, meinte er, daß die Geschäfte, die ihn nach London führten, in drei bis vier Tagen beendet sein würden; aber da wir sicher sind, daß dies nicht möglich ist, und gleichzeitig davon überzeugt sind, daß Charles, wenn er in die Stadt kommt, keine Eile hat, sie wieder zu verlassen, beschlossen wir, ihm dorthin zu folgen, damit er nicht genötigt sein würde, seine freien Stunden in einem ungemütlichen Hotel zu verbringen. Viele meiner Bekannten sind bereits dort für den Winter; ich wünschte, ich könnte von Ihnen hören, daß Sie, liebste Freundin, die Absicht hätten, auch darunter zu sein, doch das kann ich nicht erwarten. Ich hoffe aufrichtig, daß Ihr Weihnachtsfest in Hertfordshire voll der Vergnügungen sein wird, die diese festliche Zeit gewöhnlich mit sich bringt, und daß Ihre Bewunderer zahlreich sein mögen, damit Sie den Verlust der drei nicht fühlen, deren wir sie berauben.‹
Hiernach ist offensichtlich«, fügte Jane hinzu, »daß er in diesem Winter nicht mehr zurückkommt.«
STOLZ UND VORURTEIL
VON JANE AUSTEN
Zwei Stunden nach dem Einschlafen wache ich auf. Die Menge Schlaf, die ich in der Nacht vor dem Weihnachtstag kriege, nimmt Jahr für Jahr rapide ab, was wahrscheinlich daran liegt, dass sich meine Durchschnitts-Einschlafzeit immer mehr nach hinten verschiebt, was wahrscheinlich daran liegt, dass ich so eine internetsüchtige Idiotin bin. Vielleicht stelle ich das Schlafen irgendwann ganz ein und werde zum Vampir. Ich würde sicher einen guten Vampir abgeben.
Im Moment will ich mich aber nicht über meinen Schlafrhythmus beklagen, es ist nämlich Weihnachten, der eine Tag im Jahr, an dem ich einmal nicht herumjammern sollte. Was nicht leicht ist, wenn dir morgens um sechs dein sieben Jahre alter Bruder ein Kissen ins Gesicht haut.
Ich nuschele so was wie »Neeeeein« und verstecke mich unter der Decke, aber das nützt nichts gegen Oliver. Er reißt sie einfach zurück und krabbelt zu mir ins Bett.
»Tori«, flüstert er. »Heute ist Weihnachten.«
»Mhm.«
»Bist du wach?«
»Nein.«
»Bist du doch!«
»Nein.«
»Tori.«
»Oliver … geh rüber zu Charlie und weck ihn.«
»Mum hat gesagt, ich darf nicht, weil er doch krank ist.« Er wuschelt mir in den Haaren herum. »Toriiiiii –«
»Uh.« Ich drehe mich um und mache die Augen auf. Oliver ist unter die Decke geschlüpft, schaut mich an und zappelt aufgeregt. Seine Haare stehen ab wie bei einer Pusteblume. Charlie und ich haben ausführlich darüber diskutiert, wie Oliver überhaupt mit uns verwandt sein kann, wo er den Inbegriff von Freude verkörpert und wir beide solche trübseligen Arschlöcher sind. Unsere Schlussfolgerung war, dass alle verfügbaren Glücksgene bei ihm gelandet sein müssen.
Oliver hält eine Weihnachtskarte in der Hand.
»Warum hast du die …«
Als er sie aufklappt, plärrt eine ekelhaft fröhliche Version von We Wish You A Merry Christmas in mein Ohr.
Ich stöhne und schubse Oliver vom Bett. Er rollt auf den Boden und bekommt einen Kicheranfall.
»Das nervt«, brumme ich, setze mich auf und mache die Nachttischlampe an, was Oliver mit einem wilden Freudenschrei quittiert. Dann wandert er mit der Karte im Zimmer rum, klappt sie auf und zu, auf und zu, sodass sie immer wieder die gleichen zwei Töne spielt, und ich klappe die Augen auf und zu, wie im Englischunterricht in der ersten Stunde. So langsam dringt die Erkenntnis, dass heute Weihnachten ist, voll und ganz zu mir durch und ich fühle mich irgendwie … keine Ahnung. Dieses Jahr wird Weihnachten bestimmt nicht wie immer.
Normalerweise ist Weihnachten bei uns ganz okay. Ziemlich ruhig und entspannt.
Nach dem Aufstehen packen wir unsere Geschenke aus, später kommen die Verwandten zum Weihnachtsessen und bleiben bis zum Abend, und das war’s. Ich spiele ohne Ende Videospiele mit meinen Brüdern und Cousinen, Dad trinkt zu viel, mein spanischer Grandpa (Dads Vater) streitet sich mit meinem englischen Grandpa (Mums Vater) – alles wirklich wunderbar.
Aber dieses Jahr ist Weihnachten nicht wie immer.
Mein Bruder Charlie, der fünfzehn ist, musste letzten Oktober in eine psychiatrische Klinik, weil er magersüchtig ist und ein paar wirklich beschissene Sachen gelaufen sind. Eigentlich will ich heute gar nicht groß daran denken.
Er musste zwei Monate lang dort bleiben und ist erst seit zwei Wochen wieder zu Hause.