Titel

3Ulf Brunnbauer/​Piotr Filipkowski/​Andrew Hodges/​Stefano Petrungaro/​Philipp Ther/​Peter Wegenschimmel

In den Stürmen der Transformation

Zwei Werften zwischen Sozialismus und EU

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2798.

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Umschlag gestaltet nach einem Konzept
von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77311-6

www.suhrkamp.de

71. Auf Grund gelaufen: Die lange und große Transformation

Im polnischen Gdynia zeigt sich die Transformation von ihrer sonnigen Seite. Weiß und Blau sind die Farben dieser Stadt, der unzähligen Möwen, die am Himmel fliegen, der Segelschiffe, die zu Hunderten im Hafen liegen, der Segelschuhe ihrer sichtlich zufriedenen Besitzer. Sogar das Meerwasser ist nicht mehr trüb und muffelig wie zu Zeiten des Staatssozialismus, sondern blassblau und dank des Klimawandels spürbar wärmer als früher. Im alten Hafen von Gdynia wird kaum noch ent- und beladen, auch nicht produziert, sondern vor allem konsumiert. Die Angebotsökonomie der Ostseestadt hält für jeden Geldbeutel und Geschmack etwas bereit, von Fritten bis zur gehobenen mediterranen Küche, von kleinen Kappen für den Sonnenschutz bis zu weißen Leinenhosen, von billigen Privatzimmern im Hinterland bis zu einer Suite in einem der 38 Stockwerke des »Sea Tower«. Im Vergleich zu diesem 141 Meter hohen Wohnturm wirkt sogar das nahe Riesenrad winzig, das ebenfalls einen perfekten Blick über die Werftanlagen und den Hafen bietet, über den einst die illegalen Druck- und Kopiermaschinen geschmuggelt wurden, mit denen die Gewerkschaft Solidarność 1980/​81 von der Ostseeküste aus Anhänger im ganzen Land mobilisierte.

Heute legen täglich noch zwei, drei größere Fährschiffe an, dementsprechend sind die Kräne des Hafens und der Werft in den Hintergrund gerückt. Komplette Frachter und Tanker werden in Gdynia nicht mehr gebaut. Seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/​09 und der damit einhergehenden Pleite der großen Werft Stocznia Gdynia S.A. beschränkt 8sich der Schiffbau auf kleinere Firmen sowie auf Spezialaufträge, Reparaturen und die Herstellung einzelner Komponenten wie Schiffsbrücken. Das kann, wie im zweiten Kapitel dieses Buches gezeigt wird, profitabel sein. Doch diese Firmen sind aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden, »Kohle und Stahl«, das Paradigma der Trente Glorieuses im westlichen Europa sowie des Staatssozialismus, prägen die lokale und regionale Ökonomie nicht mehr.1

Den Umstieg auf Tourismus und Dienstleistungen mag man als gelungenen Strukturwandel sehen; in der Tat steht Gdynia bei ökonomischen Indikatoren wie dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, dem Wirtschaftswachstum oder der Arbeitslosigkeit besser da als beispielsweise Bremerhaven, Rostock und Teile des Ruhrgebiets.2 Doch die fast dreihundert Meter langen und turmhohen Schiffe, mit denen die Werft gemäß den Auftragsbüchern zum sechstgrößten globalen Schiffsproduzenten aufstieg, fehlen auch in einem weiteren Sinne. Sie waren Symbole der industriellen Moderne und Gegenstand ihrer »Lebenszyklusrituale«: Kiellegung, Stapellauf, die Schiffstaufe und die Jungfernfahrt ordneten die Arbeit auf den Hellingen und waren große öffentliche Ereignisse, bei denen die Verbindung der Werft mit der sie umgebenden Gesellschaft, oft auch der Politik, höhere Weihen erhielt. All das gehörte in der Volksrepublik Polen, als die Werft nach der Pariser Kommune benannt war, und in der folgenden Dekade, als sich die Stadt Gdynia und das gesamte Land zu einer Marktwirtschaft transformierten, zum Alltag am Meer. Die Schiffe standen für die Integration in die moderne Welt – ganz praktisch, da ungefähr neunzig Prozent des globalen Handelsvolumens per Schiff transportiert werden, aber auch symbolisch.3

Die Schiffbauer in Gdynia waren nach dem Ende des Kommunismus stolz auf eine scheinbar erfolgreiche Transformation, die ihnen die Tür in die EU öffnete. Doch nach der Börsen9krise und den Terroranschlägen von 2001 ging die Nachfrage im globalen Schiffbau kurzzeitig zurück. Der Beitritt Polens zur EU 2004 war ebenfalls folgenreich für die Schiffbauer an der Ostsee, denn er führte schon vorab zu einer schrittweisen Aufwertung des polnischen Złoty, was die Schiffe für internationale Kunden teurer und die Gewinnspanne kleiner machte. Außerdem galt mit dem EU-Beitritt nun auch in Polen ein neues wirtschaftspolitisches und regulatorisches Regiment: Die Brüsseler Wettbewerbshüter schoben staatlichen Beihilfen für defizitäre Industriebetriebe einen Riegel vor. Die restriktive Beihilfepolitik sollte unfaire Konkurrenz auf dem europäischen Binnenmarkt unterbinden, blendete dabei aber den globalen Wettbewerb aus, in dem nicht für alle Player dieselben Bedingungen gelten. Dies und nicht so sehr die globale Finanz- und Wirtschaftskrise führte direkt in den Bankrott der Werft in Gdynia im Jahr 2009.

Die ökonomischen Transformationen, die Gdynia nach dem Ende der Planwirtschaft und dem Beitritt Polens zur EU erlebte, spiegeln sich deutlich im Straßenbild: Aus der 250000 Einwohner zählenden Arbeiterstadt ist eine Touristenmetropole geworden. Man muss sehr weit in das Industriegebiet rund um das 1976 errichtete Trockendock fahren, um einen Arbeiter im Blaumann anzutreffen (in diesem Jahr wurde auch das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, Komitet Obrony Robotników, gegründet, eine Keimzelle der Gewerkschaftsbewegung Solidarność). Frauen sieht man dort so gut wie gar nicht mehr. Nach dem Wegfall der sozialistischen Arbeitsmarktpolitik waren Frauen in der Industrie nicht mehr gefragt. Umso mehr weibliche Beschäftigte sind in den vielen Dienstleistungsbetrieben anzutreffen, die in Gdynia nach 1989 wie die sprichwörtlichen Pilze aus dem Boden geschossen sind. Ist demnach der Umbruch von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft in Polen und im postkommunistischen Europa nichts 10anderes als eine wie im Zeitraffer verlaufende nachholende Entwicklung, quasi ein verspäteter Strukturwandel, analog zu jenem in Westeuropa? Wir werden in diesem Buch argumentieren, dass die postsozialistische Transformation nicht nur spürbar schneller und chaotischer verlief als der von Lutz Raphael untersuchte Strukturwandel in Westeuropa, sondern aufgrund der Breite und Tiefe des Wandels auch seine eigene Qualität hatte.

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11Karte 1: Lokalisierung der beiden Fallstudien.

Die speziellen Dynamiken und Ambivalenzen der postsozialistischen Transformation, ihre spezifischen Logiken sowie Folgen für die gesamte EU lassen sich besser verstehen, wenn man mehr als einen Standort und ein Land untersucht.

Auch im kroatischen Pula im Süden der Halbinsel Istrien, unserer zweiten Fallstudie, können Touristen stillstehende Kräne einer einst großen, stolzen Werft bestaunen. Sie hieß Uljanik und produzierte 163 Jahre lang Schiffe, bis sie 2018 pleiteging. Aufgrund der zentralen Lage der Kräne direkt vor der Altstadt entschied sich die Stadtverwaltung für eine ästhetische Aufwertung. Am Abend werden die Kräne bunt beleuchtet und bestimmen nun zusammen mit dem perfekt erhaltenen Augustus-Tempel und dem römischen Amphitheater die touristische Kulisse.

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12Abb. 1: Die Werft Uljanik in der Bucht von Pula (1962). Die Docks und Schweißhallen auf der namengebenden Oliveninsel (vom italienischen olivio) bildeten das Herz der Werft.

Es ist kein Zufall, dass der zeitliche Abstand der Insolvenzen der beiden Werften zum EU-Beitritt Polens und Kroatiens in den Jahren 2004 bzw. 2013 nahezu gleich ist. In beiden Fällen machten die geänderten Rahmenbedingungen, insbesondere die stringenten EU-Wettbewerbsregeln, das bisherige Geschäftsmodell obsolet, sich im Notfall oder auch über längere Strecken von der Staatskasse alimentieren zu lassen. Ging die schwerindustrielle sozialistische Moderne also erst mit der Mitgliedschaft zum europäischen Binnenmarkt zu Ende? Anhand der beiden Fallstudien, die sowohl eine konkrete Verortung des Transformationsprozesses als auch die Untersuchung seiner globalen Verlinkungen erlauben, formulieren wir die These, dass der EU-Beitritt zwar nicht das »Ende der Geschichte«, aber das Ende des Postsozialismus einläutete.

Für Kroatien bedeutet die Pleite der Werft in Pula im Jahr 2018 (und parallel dazu einer zweiten großen Werft in Rijeka, die zum selben Konzern gehörte) einen weit härteren volkswirtschaftlichen Schlag als für Polen. Der Schiffbau machte zu seinen guten Zeiten einen erheblichen Teil der kroatischen Industrieproduktion aus und erwirtschaftete mehr als ein Zehntel der Exporteinnahmen des Landes, das unter einer notorisch negativen Handelsbilanz leidet. Verloren ist außerdem ein Großteil der staatlichen oder durch staatsnahe Institutionen vermittelten Kredite und Garantien für die Schiffbauindustrie, die sich allein bis zum Jahr 2010 auf etwa vier Prozent des kroatischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) beliefen.4 Die Verluste im Schiffbau haben damit ein Ausmaß, das sogar die Ausgaben an13derer Länder für die »Rettung« ihrer Banken infolge der globalen Finanzkrise von 2008/​09 überschreitet.

Im Alltag der 60000-Einwohner-Stadt Pula ist vom Ende der 1856 im Kaiserreich Österreich gegründeten Werft jedoch weniger zu spüren, als zu befürchten war. Getreu dem einstigen Motto: »Wenn sich Uljanik erkältet, hustet die ganze Stadt«, hatten die Manager für den Fall einer Pleite eine soziale Katastrophe an die Wand gemalt. Dabei waren zum Schluss nicht einmal 2000 Arbeiterinnen und Arbeiter in der Werft beschäftigt, nach einem Höchststand von 8000 Betriebsangehörigen vor 1989. Doch die Zahl der von der Deindustrialisierung in die Armut beförderten Schiffbauer ist überschaubar. Viele Ingenieure und Facharbeiter haben anderswo, vor allem in italienischen und deutschen Werften sowie in anderen Industriebetrieben, einen Job gefunden. Außerdem hat der Tourismus noch stärker als in Gdynia den Schiffbau längst vom führenden Platz in der lokalen Wirtschaft verdrängt – im Falle Kroatiens auch gesamtstaatlich. Auf der Alltagsebene bedeutet dies, dass viele Eigentümerinnen und Eigentümer der einstigen Betriebswohnungen (oder von Häusern auf dem Land, die sie während des Sozialismus mit billigen Mitarbeiterdarlehen finanzierten) heute gutes Geld mit der Beherbergung von Touristen verdienen.

Das erklärt auch, warum die Mobilisierung der Beschäftigten Uljaniks gegen die sich abzeichnende Schließung des Betriebs nach einer kurzen Protestphase rasch wieder versandete. Als der kroatische Premierminister Andrej Plenković im September 2018 nach Pula kam, um über die Zukunft der Werft zu diskutieren, erschien nur eine Handvoll Mitglieder des Protestkomitees Stožer za obranu Uljanika, um ihrem Unmut Luft zu machen. Ein paar Schaulustige, unter ihnen unsere Projektmitarbeiter, gesellten sich im Freibereich eines auf dem Forum liegenden Cafés hinzu. Trotz der einmaligen Möglichkeit, die mediale Öffentlichkeit des Landes auf sich aufmerksam zu ma14chen, folgte niemand dem Aufruf zu einer Massendemonstration – es blieb bei einem kurzen Gespräch des kroatischen Premiers mit den Aktivisten (siehe Abbildung 2).

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15Abb. 2: Besuch des kroatischen Premierministers Andrej Plenković in Pula im September 2018.

Das Ausbleiben größerer Protestwellen anlässlich des Konkurses der beiden Werften in Polen und Kroatien verdeutlicht den fundamentalen Wandel, der mit dem EU-Beitritt einherging: Die Schließung eines bedeutenden Industriebetriebes wurde politisch durchsetzbar. Die Werften als einstige Insignien der industriellen Moderne und des Fortschritts verloren nach dem Ende des Staatssozialismus sukzessive ihre wirtschaftliche, aber vor allem auch ihre symbolische und damit politische Macht, somit auch ihre Fähigkeit, ihre Interessen als solche der gesamten Gesellschaft auszugeben. Damit sanken für die betroffenen Regierungen die politischen Kosten für den Fall der Verweigerung weiterer Staatshilfen, zumal sie den Schwarzen Peter der EU-Kommission in Brüssel zuschieben konnten. In Pula passierte dies 2019, in Gdynia war es zehn Jahre zuvor wenig anders gewesen, wenngleich die seit 2015 von der nationalkonservativen und populistischen Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) geführte Regierung immer wieder versprach, eines Tages die nationale Werftindustrie auferstehen zu lassen und damit den Stolz der Schiffbaunation Polen wiederherzustellen.

Die erwähnten Jahreszahlen – 1976, 1981, 1989, 2001, 2004, 2009, 2013 (für Kroatien muss man 1974 für die jugoslawische Verfassungsreform, 1991 für den Zerfall Jugoslawiens und den anschließenden Krieg bis 1995 ergänzen) – deuten bereits an, dass die Transformationszeit verschiedene Einschnitte aufweist. Sie hat offensichtlich weit länger gedauert als der politische Regimewechsel im engeren Sinne. Das relativiert die Zäsur von 1989, welche die anschließend aufgekommene Transitions- und Transformationsforschung häufig als Stunde null betrachtet. Die Nachkriegszeit im östlichen Europa war kein langer ruhiger Fluss, der im Zusammen- und Umbruch von 1989 endete und sich dann in neue Kanäle ergoss.

Gegen eine solche Sicht sprechen nicht zuletzt die immer breiteren Nischen für die Privatwirtschaft im Staatssozialismus, die in den achtziger Jahren einen Kapitalismus »von unten« ermöglichten, ehe ihn die Reformpolitiker als Zukunftsverheißung verkündeten. Die steigende Bereitschaft zu radikalen Reformen sowie die bereits in den Sechzigern beginnende Integration des östlichen Europa in die Weltwirtschaft legen eine Chronologie der Transformation nahe, die deutlich vor dem Machtverlust der Kommunisten beginnt. Die in Deutschland besonders beliebte Reduktion des Umbruchs auf ein einziges Jahr ist auch deshalb verkürzt, weil der politische Systemwandel erst im Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Zerfall Jugoslawiens 1991 kulminierte. Istrien und Pula waren von 16den in diesem Jahr beginnenden Kampfhandlungen in Kroatien zwar nicht direkt betroffen, aber der Schiffbau und andere Branchen litten unter dem Krieg, unter anderem weil die Regierung in den folgenden Jahren andere Prioritäten setzte als die Restrukturierung der Wirtschaft und weil ein Land im Krieg die Risikobereitschaft ausländischer Investoren übersteigt.

Wann begann nun die Transformation? Zum einen ist klar, dass der fundamentale, über die Strukturen der staatssozialistischen Ordnung hinausreichende Wandel in diversen gesellschaftlichen Handlungsfeldern unterschiedlich datiert werden muss. Die Chronologie der Politik und der sozialen Proteste der unruhigen achtziger und neunziger Jahre fällt nicht notwendigerweise mit den Konjunkturwellen der Wirtschaft oder kulturellen Trends zusammen. Gleichzeitig existieren diese Zeitachsen nicht voneinander unabhängig, sondern sind verschränkt, so dass Dynamiken in einem Feld solche in einem anderen verstärken.5 Die achtziger Jahre treten als eine solche Periode kondensierter Veränderungsprozesse hervor, als eine Art Sattelzeit, die im Westen den Übergang zu einem postindustriellen, zunehmend neoliberal geprägten Kapitalismus markierten, während sich in den sozialistischen Staaten die systemimmanenten Widersprüche immer weiter verdichteten. Die Krisensymptome des Realsozialismus traten nicht zuletzt auf betrieblicher Ebene derart deutlich hervor, dass sie selbst der kreativste Ideologe nicht mehr der westlichen Diversion in die Schuhe schieben konnte. Markierten die siebziger Jahre den »Beginn vom Ende«,6 wie Marie-Janine Calic schreibt, so wurde dieses Ende in den achtziger Jahren immer unvermeidlicher – obwohl es für die Zeitgenossen ebenso wenig vorhersehbar war wie die anderen behaupteten »Enden der Geschichte« nach 1989.

Die hier behandelten Werften, so speziell diese Industrie erscheinen mag, bestätigen die Funktion der eineinhalb Jahr17zehnte vor 1989 als eine Art Sattelzeit. Nach dem Erdölpreisschock von 1973/​74 amalgamierten sich industriespezifische Entwicklungen, auch auf globaler Ebene, mit politischen Weichenstellungen und neuen sozialen Spannungen, welche den Boden für einen rapiden Strukturwandel in der Zukunft bereiteten. Letztlich fehlte es den sozialistischen Ökonomien an der notwendigen Flexibilität, angesichts eines sich verändernden globalen Umfelds die Produktivität zu steigern und neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Die Werften illustrierten die Bedeutung des Schocks von 1973/​74 besser als andere Industrien, da sie unmittelbar davon betroffen waren: Als Folge des vervielfachten Ölpreises und des damit verbundenen Einbruchs des Welthandels versank der internationale Markt für Schiffe in eine lang anhaltende, erst in den neunziger Jahren überwundene Depression.7

Für die westlichen Ökonomien brachte diese Erfahrung einen starken Impuls zu einem sozioökonomischen Strukturwandel Richtung Dienstleistungssektor und Informationstechnologie.8 Die sozialistischen Länder hingegen setzten nicht zuletzt wegen der langen Planungszyklen ihre Investitionen in die Schwerindustrie fort, sie betrachteten das Kohle-und-Stahl-Paradigma als alternativlos. In Gdynia war die Inbetriebnahme des Trockendocks im Jahr 1976 ein zweiter Gründungsmoment nach der stalinistischen Industrialisierung. Diese milliardenschwere Investition in die Produktionstechnik markiert zugleich den Höhepunkt der von westlichen Krediten gestützten Modernisierungsversuche der polnischen Staats- und Parteiführung.9 Insofern steht die Pariser-Kommune-Werft pars pro toto für die Geschichte Polens und des östlichen Europa.10

Im Jahr des Ölpreisschocks beschloss das jugoslawische Parlament wiederum eine neue Verfassung und kurz darauf das »Gesetz der Vereinten Arbeit«, das einen radikalen Umbau der Unternehmen in Richtung verstärkter Selbstverwaltung vor18sah. Die Fragmentierung der Unternehmen in sogenannte »Basisorganisationen der vereinten Arbeit« brachte jedoch eine weitere Bürokratisierung mit sich und lähmte die Geschäftsführung.11 Das verschärfte in den achtziger Jahren die Krise in Pula und generell im jugoslawischen Schiffbau sowie in anderen Branchen. Die Betriebe mussten Zeit für innere Aushandlungsprozesse aufwenden, die dann für die Entwicklung zukunftsorientierter Strategien fehlte; und das in einer Phase, in der sich die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Jugoslawiens zu einer letztlich letalen Wirtschaftskrise auswuchsen, mit hoher Inflation, steigender Arbeitslosigkeit, untragbarer Verschuldung und Illiquidität.

Unterdessen zeichnete sich in Polen rasch ab, dass die mit Kapitalimporten gestützte staatssozialistische Modernisierung die ökonomischen Probleme der Volksrepublik ebenfalls vergrößerte, anstatt sie zu lösen. Schon 1976 kam es aufgrund angekündigter Preissteigerungen und allgemeiner Unzufriedenheit zu großen Streiks und der Gründung des erwähnten Komitees zur Verteidigung der Arbeiter. 1979 setzte eine schwere Rezession ein, die es in einer Planwirtschaft theoretisch gar nicht hätte geben dürfen; das Regime ließ als politisches Ventil 1980 die Solidarność zu. Im gleichen Jahr starb Josip Tito, der allseits akzeptierte Schiedsrichter bei politischen Disputen in Jugoslawien und die charismatische Führungsfigur der Bewegung der Blockfreien Staaten. Insofern handelt es sich bei diesem Jahr erneut um eine in beiden Vergleichsfällen wirksame Zäsur. Hinzu kam der erwähnte weltweite wirtschaftshistorische Einschnitt.

Die jugoslawischen Werften spürten den globalen Einbruch bei der Nachfrage nach Transportschiffen noch mehr als die polnischen, weil sie sich zu fast hundert Prozent auf Exporte und den Weltmarkt ausgerichtet hatten. Polen orientierte sich seit dem Exportplan von Parteisekretär Edward Gierek ab 1970 19vermehrt von der Sowjetunion und dem Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) weg und hin zu Exporten in den Westen, um dringend benötigte Deviseneinnahmen zu erwirtschaften. Dies ist angesichts der Globalisierung des Schiffbaus nicht überraschend, aber die Orientierung auf den Weltmarkt bereits während des Staatssozialismus widerspricht der weitverbreiteten Ansicht, erst nach 1989 seien die wirtschaftlichen Uhren im postkommunistischen Europa komplett umgestellt worden. Für die staatssozialistischen Ökonomien sollte sich der mit großen Hoffnungen eingeschlagene Weg einer stärkeren Integration in den Weltmarkt als fatal erweisen, da die heimischen institutionellen Strukturen dessen Anforderungen nicht gewachsen waren. In einer längeren Perspektive lässt sich jedoch festhalten, dass damit unwissentlich der Pfad in Richtung einer intensiven Weltmarktintegration nach 1989 eingeschlagen wurde und diese damit kein Ergebnis des politischen Umbruchs war.

Auch was die Rolle des Staates im Wirtschaftsleben anbelangt, lässt sich eine den herkömmlichen Erwartungen entsprechende Vorher-nachher-Dichotomie nicht aufrechterhalten. Der Staat behielt in beiden Ländern lange Zeit seine tragende Rolle im Schiffbau, die Privatisierung der Werften begann relativ spät und war kein linearer Prozess. Die Privatisierung ist für unser Buch weder Endpunkt noch Einbahnstraße oder Idealzustand, wie es das nach 1989 verbreitete Narrativ der Transitologie »von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft« nahelegt. Zwischen »staatlich« und »privat« gibt es eine facettenreiche Zone der Überlappung, die wir als Signum der Transformation erachten. Wir argumentieren daher, dass Praktiken der politischen Ökonomie aus der staatssozialistischen Ära nicht einfach aufhörten, nur weil das politische Regime gewechselt hatte – hier war der Beitritt zur EU folgenreicher als der Abtritt der kommunistischen Regierungen.

Schließlich gibt es selbstverständlich lebensgeschichtliche 20Kontinuitäten. Zwischen 1989 und 1991 gingen die beiden wichtigsten Varianten des real existierenden Sozialismus in Europa zu Ende, bald darauf beschleunigte sich im Westen der systemische Niedergang der sozialen Demokratie (und mit ihr der Sozialdemokratie), die man eines Tages vielleicht als die dritte, bürgerliche Variante des Sozialismus betrachten wird. Doch die individuellen und gruppenbezogenen Einstellungen und Handlungsweisen der Arbeiter und Arbeiterinnen, Angestellten und Führungskräfte der Werften veränderten sich selbstverständlich nicht innerhalb von zwei Umbruchsjahren, ebenso wenig wie im Westen im Rahmen des dortigen Strukturwandels nach der ersten Ölkrise. Das kann man im Management, aber auch im Arbeitsalltag nachweisen, also in der Unternehmensgeschichte und der Arbeitsgeschichte, die wir in unserem Forschungsprojekt betrieben haben. Wir gehen deshalb von einer langen Transformation aus, die von Mitte der Siebziger bis in die jüngste Zeit reicht. Außerdem beziehen wir dabei auch das westliche Europa sowie die globalen Konjunkturzyklen mit ein.