Der Beitritt der DDR zur BRD und zur Europäischen Gemeinschaft
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de
© der E-Book-Ausgabe 2022 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-997-3
© der Print-Ausgabe 2022 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-353-7
eISBN 978-3-86854-998-0
Einleitung
Doppelte Integration
Die europäische Leerstelle in der Debatte über die deutsche Einheit
Kiran Klaus Patel
»Wann sag ich wieder mein und meine alle«
Ansichten eines Ostdeutschen über die Umbrüche von 1989/1990 und deren Folgen
Ingo Schulze
Anhang
Grafik und Tabelle
Quellen- und Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Danksagung
Nachwort
30 Jahre nach Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht und rund 33 Jahre nach dem Fall der Mauer lohnt sich einmal mehr der Blick zurück. Um die Gegenwart zu verstehen, muss aufeinander bezogen werden, was lange als getrennte Geschichten gesehen wurde: hier der Prozess des sich institutionalisierenden Europas mit all den Verhandlungen und Verträgen, Kompromissen und Krisen; dort die deutsche Geschichte mit ihren Brüchen, Verwerfungen und Neuanfängen. Tatsächlich waren in der Phase des Umbruchs von 1989/90 die deutsche und die europäische Ebene eng miteinander verwoben. Am 3. Oktober 1990 trat die DDR nicht nur der Bundesrepublik bei, sie wurde auch Teil der Europäischen Gemeinschaft (EG), der Vorläuferin der Europäischen Union (EU).
Was diese miteinander verschränkten Prozesse für die verschiedenen Ebenen bedeuteten, hat man bisher zu wenig diskutiert. Das gilt übrigens nicht nur für die deutsche und die europäische Ebene, sondern auch für Ost und West innerhalb Deutschlands sowie für die Nachbarstaaten des vereinigten Landes. Bereits zum ersten Jahrestag der deutschen Einheit schrieb Altkanzler Helmut Schmidt: »Unserer politischen Führung und unserer öffentlichen Meinung fehlt das Bewußtsein der europaweiten Auswirkungen unserer staatlichen Vereinigung.«1 Umgekehrt, so ließe sich ergänzen, verhielt es sich ähnlich. Tatsächlich gibt es immer noch eine merkwürdige Kluft in der Debatte. In Deutschland wird meist so diskutiert, als ließen sich Probleme aus den europäischen und globalen Verbindungen herauslösen. Zugleich wird Europa häufiger beschworen als kritisch reflektiert und die EU zu selten in ihren Wechselwirkungen mit Staat und Gesellschaft in Deutschland gesehen.
So wie die damaligen Entwicklungen einem Experiment mit ungewissem Ausgang gleichkamen, ist auch dieses kleine Buch ein Experiment. Geschichtswissenschaft trifft auf Literatur, West auf Ost, wobei wir beide Erinnerungen an selbst Erlebtes mit Überlegungen zu unserer Gegenwart verbinden. Gemeinsam wollen wir so dem Trennenden und dem Verbindenden, den Belastungen und den Gelegenheiten nachgehen. Im Dialog sollen die verschiedenen Ebenen stärker aufeinander bezogen werden, als das bisher geschehen ist.
Dabei blicken wir heute anders auf diese Fragen, als man es damals tat. Stand seinerzeit der atemberaubend schnelle Umbruch im Vordergrund, treten mittlerweile längere Linien hervor. So lassen sich die eingeschlagenen Wege ebenso wie die links liegen gelassenen Möglichkeiten erklären. Die deutsche Einheitverlieh der Idee einer europäischen Währungsunion, die man in Brüssel und anderswo schon lange diskutiert hatte, die entscheidende Schubkraft. Insofern ist die Geschichte des Euro eng mit dem Fall der Berliner Mauer verknüpft. Und anders als Bundeskanzler Helmut Kohl es versprach, verwandelten sich die östlichen Bundesländer keineswegs im Handumdrehen und überall in »blühende Landschaften«. Die Folgen des dramatischen Zusammenbruchs der DDR-Wirtschaft 1989/90 nach der Einführung der D-Mark und dem Inkrafttreten der Regelungen der EG wirken nach. Sie haben Ungleichheiten mit sich gebracht, die schwer zu revidieren sind.
Zugleich denken wir heute nicht nur in anderen Zeithorizonten, sondern bewerten die Ergebnisse der Prozesse anders als viele Zeitgenossen vor rund 30 Jahren. Damals stand der Triumph des westlichen Modells im Vordergrund, wobei sich die Entwicklungen auf deutscher wie auf europäischer Ebene wechselseitig zu bestätigen schienen. Die deutsche Frage galt endlich als gelöst; das vereinte Deutschland als vollständig in den politischen Westen unter marktwirtschaftlich-kapitalistischen Vorzeichen integriert. Auf europäischer Ebene schien der Fall der Mauer nicht nur eine Kette von Erweiterungsrunden einzuläuten, sondern auch den Weg zur weiteren Vertiefung des Einigungsprojekts freizumachen.
Heute hingegen sind die Risse, die Probleme und Belastungen auf beiden Ebenen besser zu sehen. In Deutschland bleiben die Unterschiede zwischen Ost und West auf vielen Ebenen deutlich spürbar. Wirtschaftskrisen stellen die Legitimität des ökonomischen Modells infrage, und die demokratische Ordnung erscheint zunehmend als gefährdet. Schuldzuschreibungen, besonders an »den Osten«, stehen regelmäßig auf der Tagesordnung. Dabei geht es nicht nur um übergreifende Prozesse, sondern auch um persönliche Erfahrungen. Angela Merkel hat jüngst in einer Rede zum 31. Jahrestag der Einheit in einer für sie überraschend deutlichen Art den häufig weiterhin unsensiblen Umgang mit DDR-Biografien problematisiert. Sie gab Beispiele aus ihrem Leben und erzählte von einem Historiker, der ihre eigene DDR-Vergangenheit als »Ballast« zusammenfasste, während ein Journalist unterstrich, dass Merkel »keine geborene, sondern eine angelernte Bundesdeutsche und Europäerin« sei.2 Besser spät als nie, könnte man sagen, hat die Kanzlerin in ihre Seele blicken lassen und gezeigt, wie sehr solche Herabsetzungen verletzen. Einmal mehr wurden dabei die Grenzen der häufig beschworenen Formel von der »Inneren Einheit« des Landes offensichtlich.3
Auch das europäische Projekt hat viel von dem Glanz verloren, der einst von ihm ausging. Verwiesen sei nur auf die Eurokrise und die Herausforderung durch illiberale Demokratien in der EU sowie die offensichtlichen Defizite der Union, auf die weltpolitischen Herausforderungen der Gegenwart angemessene Antworten zu finden.
Für die innerdeutsche Debatte forderte Helmut Schmidt im bereits erwähnten Artikel mehr »Ehrlichkeit in beiden Richtungen« – nach Osten wie nach Westen. Auf diesem Weg gibt es weiterhin viel zu tun.
Kiran Klaus Patel und Ingo Schulze
im Dezember 2021
1Schmidt, »Zur Lage der Nation«.
2Merkel, »Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich des Festaktes zum Tag der deutschen Einheit«.
3Als bestechende Kritik am Begriff der »Inneren Einheit« vgl. Morina/Bahr, »30 Jahre Wiedervereinigung«.
Der 3. Oktober 1990 war für mich ein Festtag. Das hatte weniger mit der deutschen Einheit zu tun als damit, dass das Datum auf meinen 19. Geburtstag fiel. Zwei oder drei Dutzend Freundinnen und Freunde fielen bei uns zu Hause ein. Man trank Sierra Tequila vom anderen Ende der Welt und das lokale Bier, keine fünf Kilometer entfernt gebraut. Dazu aßen wir Nudelsalat, von Pasta sprach man noch nicht, und das, was man im Badischen Schäufele nennt. So ergab sich eine für die südwestdeutsche Provinz der damaligen Zeit wahrscheinlich repräsentative Mischung aus Weltorientierung und Altbekanntem. Lediglich einer der Eingeladenen fuhr lieber für die öffentlichen Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit nach Berlin. Das nahm ich ihm nicht übel. Ich war aber nicht der Einzige, der seine Entscheidung uncool fand. Er meinte, wir verpassen einen historischen Moment. Ob er deshalb Arzt wurde und ich Historiker, sei dahingestellt.
Im engeren Freundeskreis waren wir uns einig, dass die Einheit in Form des Beitritts der sich auflösenden DDR zur Bundesrepublik ein Fehler ist. Wir lasen Milan Kundera, und wenngleich uns Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins näherstand als seine Überlegungen zu Zentraleuropa, sahen wir die Entwicklungen der zurückliegenden elf Monate als versäumte Gelegenheit. Die von uns bewunderten friedlichen Revolutionen entwickelten sich nicht zu politischen Laboratorien mit Sogkraft für den Westen in einem sich neu findenden Europa. Nirgendwo schien das utopische Potenzial des Umbruchs schneller zu verglühen als in Deutschland. Denn als sich die Schwaden des Überschwangs verzogen, traten die Umrisse eines sich aushärtenden Gehäuses national orientierter Realpolitik immer deutlicher hervor. Die postnationale Zukunft, die diejenigen von uns mit Migrationshintergrund besonders herbeisehnten, zerstob in atemberaubender Geschwindigkeit – politisch, aber auch im Alltag. Nichts verdeutlichte Letzteres mehr als die Reichskriegsflaggen, die ich zur Fußballweltmeisterschaft im Sommer 1990 erstmals in der Öffentlichkeit sah. Manche Intellektuelle hatten mit dem Ende des Kalten Krieges das »Ende der Geschichte« ausgerufen.4 Statt im Posthistoire erwachten wir jedoch in der zweiten Halbzeit der Ära Kohl. Deshalb feierten wir lieber Geburtstag als Einheit.
An den 1. Juli 1990 erinnere ich mich hingegen nur vage. An diesem Sommertag kreuzten sich zwei historische Prozesse, die kaum unterschiedlicher hätten sein können, und beide wiesen den Weg zum 3. Oktober: Die DDR führte die westdeutsche DM ein. Das bildete die zentrale Voraussetzung für die Einheit rund drei Monate später. So fand ein Prozess sein Ende, der sich in den Monaten zuvor dramatisch beschleunigt hatte. Schon bei den 100 DM »Begrüßungsgeld«, das westdeutsche Stellen seit Öffnung der Grenze massenhaft auszahlten, versinnbildlichte jeder Pfennig die Attraktivität des bundesrepublikanischen Modells. Innerhalb weniger Monate wurde die DM vom Symbol deutschdeutscher Annäherung zum Transmissionsriemen der Einheit. So sah man seit Februar 1990 im Osten immer mehr Plakate, auf denen die Menschen damit drohten, zur Westmark zu gehen, käme diese nicht zu ihnen. Mitte des Monats sprach Bundeskanzler Helmut Kohl öffentlich von der DM als dem »stärksten, wirtschaftlichen Aktivposten« der Bundesrepublik im Einigungsprozess.5 Am Abend des 1. Juli wandte er sich mit einer Fernsehansprache an die »Landsleute«. Der Tag sei »der entscheidende Schritt auf dem Weg zur Einheit unseres Vaterlandes, ein großer Tag in der Geschichte der deutschen Nation«, da nun die »Einheit erlebbare Wirklichkeit« geworden sei.6
Der 1. Juli 1990 brachte nicht nur die DM offiziell in die DDR. Merkwürdigerweise war der Moment des größten Triumphs der westdeutschen Währung zugleich ein Ausgangspunkt ihres Endes. Denn am selben Tag, an dem die Westmark zwischen Kap Arkona an der Ostsee und Bad Brambach im Vogtland alleiniges Zahlungsmittel wurde, trat die erste Stufe der europäischen Währungsunion in Kraft. Kohl erwähnte das in seiner Fernsehansprache nicht. Auch in autobiografischen Schilderungen des Tages ist davon nicht die Rede.7 Dieses europäische Projekt hatte Ursprünge in den 1960er Jahren. Die eigentliche Entscheidung zugunsten des 1. Juli 1990 war Ende Juni 1989 in Madrid auf einer Sitzung des Europäischen Rates gefallen, der sich mit der Lage und den Perspektiven europäischer Einigung auseinandergesetzt hatte. Sie stammte somit aus einer Zeit, als ein baldiges Ende der deutschen Zweistaatlichkeit für die meisten Menschen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs unvorstellbar war.8
Während die einen die DM als Aufbruchssignal in eine bessere, nationale Zukunft feierten, waren die anderen längst dabei, diese gerade gemeinsam gewordene Währung auf europäischer Ebene abzuschaffen. Manche, wie Kanzler Kohl, taten beides zugleich. Er überspielte damit auch die Ängste, mit denen viele Menschen in die gesamtdeutsche Zukunft blickten. Der Kanzler wiederholte an dem Tag einmal mehr seine Formel, dass sich der Osten »schon bald wieder in blühende Landschaften« verwandeln werde. Im Westen, fügte er hinzu, müsse keiner »wegen der Vereinigung Deutschlands auf etwas verzichten«.9 Während alle auf die DM schauten, blieben viele Veränderungen, die der 1. Juli einläutete, im Verborgenen. Mit dem Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion übernahm die DDR nicht nur die DM und wesentliche Teile der westdeutschen Rechtsordnung; vielmehr galt fortan in vielen Fragen das Recht der Europäischen Gemeinschaft (EG). Bis zum 3. Oktober hatte die DDR mit dieser eine Zollgemeinschaft gebildet,10 mit der deutschen Einheit wurde das Gebiet der vormaligen DDR Teil der EG.
In der Geschichte der heutigen Europäischen Union (EU) fand 1990 die einzige Erweiterungsrunde statt, bei der kein neuer Mitgliedstaat hinzukam. Eher der Kasuistik als der Mathematik folgend drückte Außenminister Hans-Dietrich Genscher dies im Februar 1990 in Bezug auf die damals elf EG-Mitgliedstaaten zuzüglich der Bundesrepublik so aus: »Die 11 + 1 + 1 bleiben also 12.«11 Während Kohls Diktum von den »blühenden Landschaften« polarisierte, ist dieses Faktum kaum bekannt. Auch diejenigen, die dem wiedererfundenen deutschen Nationalstaat skeptisch gegenüberstanden, hatten 1990 die europäische Dimension des 3. Oktober nicht auf dem Schirm – das galt zumindest für uns in der südwestdeutschen Provinz. In den »neuen« Bundesländern dürfte die Aufmerksamkeitsökonomie kaum anders gewesen sein: Stell dir vor, man tritt der EU bei und keiner kriegt es mit. Der erste große Schritt der EU, um den geteilten Kontinent zusammenzuführen, fand also bereits 14 Jahre vor der Osterweiterung von 2004 statt.
Bei deutscher Einheit und europäischer Integration handelt es sich um zwei Prozesse, die häufig getrennt voneinander betrachtet werden. In der gegenwärtigen Debatte über die Lage im Land gut 30 Jahre nach der deutschen Einheit spielt der Beitritt der DDR zur Europäischen Gemeinschaft keine tragende Rolle, und deshalb freut es mich sehr, dass sich Ingo Schulze darauf eingelassen hat, mit mir die Entwicklungen und ihre Verschränkungen zu befragen. Die beiden so unterschiedlichen Formen von Vereinigung waren unauflöslich miteinander verkettet. Sie beschleunigten und speisten einander; sie waren füreinander Problemdruck und Antwort, Erleichterung und Last.
Besonders eng verknüpft waren beide Prozesse zwischen Frühjahr und Herbst 1990. In der Zeit davor waren auf deutscher und auf europäischer Ebene viele Perspektiven diskutiert worden.12 Die Umbruchsphase kam überraschend; sie stellte Gewissheiten und Erwartungen infrage.13 Eigentlich galt das für Ost wie West, denn auch in der Bundesrepublik hatte niemand mit der Zeitenwende gerechnet. Unter dem Druck der Ereignisse gelang es der Regierung Kohl jedoch zunehmend, das eigene Modell als alternativlos darzustellen. In der DDR fand diese Sicht immer mehr Anklang. Spätestens seit der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 trat so die Perspektive eines schnellen Beitritts zur Bundesrepublik auf Grundlage von Artikel 23 des Grundgesetzes in den Vordergrund – denn damals entschied sich eine Mehrheit der Menschen für jenes von der Ost-CDU geführte Bündnis, das für diesen Weg zur deutschen Einheit stand.14