Pamela Druckerman

Warum französische
Kinder keine
Nervensägen sind

Erziehungsgeheimnisse aus Paris

Aus dem Amerikanischen
von Christiane Burkhardt

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© 2013 Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
© 2012 der Originalausgabe Pamela Druckerman
All rights reserved.
Originaltitel: Bringing Up Bébé
Originalverlag: The Penguin Press, New York
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design
nach einer Vorlage von R. Shailer/TW
Umschlagillustrationen: Nellie Ryan
Redaktion: Dagmar Rosenberger
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
KW · Herstellung: IH
ISBN 978-3-641-10157-2
V003
www.mosaik-goldmann.de

Für Simon,
der das Leben erst lebenswert macht

Les petits poissons dans l’eau
Nagent aussi bien que les gros.

Die kleinen Fischlein im Wasser
Schwimmen genauso gut wie die großen.

Französisches Kinderlied

Inhalt

Französische Kinder werfen nicht mit Essen

»Erwarten Sie ein Kind?«

Eine Amerikanerin in Paris

Schlaf Kindlein, schlaf

Warte!

Gâteau au yaourt (Joghurtkuchen)

Kleine vernunftbegabte Wesen

Tagesbetreuung – ja oder nein?

Bébé au lait

Die perfekte Mutter gibt es nicht

Caca boudin

Doppelt gemoppelt

»Ich liebe dieses Baguette!«

»Du musst nur probieren!«

Hélènes Rezept für Chocolat chaud

»Ich entscheide!«

Leben und leben lassen

Unsere Zukunft à la française

Anhang

Glossar französischer Erziehungsbegriffe

Dank

Literatur

Register

Französische Kinder werfen nicht mit Essen

Als meine Tochter Bean anderthalb Jahre alt ist, beschließen mein Mann und ich, gemeinsam in den Sommerurlaub zu fahren. Wir entscheiden uns für einen Küstenort, der nur wenige Zugstunden von unserer Wahlheimat Paris entfernt ist. (Ich bin Amerikanerin, mein Mann ist Brite.) Wir buchen ein Hotelzimmer mit Kinderbett. Noch ist Bean unser einziges Kind, kein Wunder dass wir so naiv sind zu denken: So schwer kann das doch nicht sein!

Wir frühstücken im Hotel, aber das Mittag- und Abendessen müssen wir in den Fischlokalen um den alten Hafen einnehmen. Wir merken schnell, dass es die Hölle ist, zweimal täglich mit einem Kleinkind ins Restaurant zu gehen. Bean interessiert sich nur am Rande für Essbares: für ein Stück Brot oder für etwas Frittiertes. Es dauert nur wenige Minuten, und sie beginnt, Salzstreuer umzuwerfen oder Zuckertütchen aufzureißen. Dann will sie unbedingt aus ihrem Hochstuhl gehoben werden, damit sie durchs Lokal rennen und den Anlegestegen am Kai gefährlich nahe kommen kann.

Unsere Strategie besteht darin, möglichst schnell zu essen. Wir bestellen schon, bevor man uns einen Platz zugewiesen hat, und flehen den Kellner an, uns rasch etwas Brot und unser Essen zu bringen – Vorspeise und Hauptgericht bitte gleichzeitig. Während mein Mann ein paar Bissen von dem Fisch nimmt, passe ich auf, dass Bean nicht von den Kellnern umgerannt wird oder ertrinkt. Anschließend tauschen wir die Rollen. Wir geben Unmengen von Trinkgeld, um uns für die zerfetzten Servietten und die überall herumliegenden Calamari zu entschuldigen.

Auf dem Rückweg zum Hotel schwören wir uns, dass wir nie wieder verreisen und nie wieder ein Kind bekommen werden. Diese »Ferien« beweisen uns einmal mehr, dass unser Leben nie mehr so sein wird, wie es vor Bean war. Ich weiß auch nicht, warum uns das dermaßen erstaunt.

Nach mehreren Restaurantbesuchen fällt mir auf, dass die französischen Familien überhaupt nicht so aussehen, als litten sie Höllenqualen. Seltsamerweise sehen sie sogar wirklich so aus, als machten sie Ferien. Französische Kinder in Beans Alter sitzen zufrieden in ihren Hochstühlen und warten aufs Essen. Oder sie essen Fisch, ja sogar Gemüse. Sie kreischen und quengeln nicht. Die Gänge werden nacheinander serviert, und die Tische sehen auch nicht komplett zugemüllt aus.

Obwohl ich bereits seit einigen Jahren in Frankreich lebe, kann ich mir das nicht erklären. In Paris sieht man in Restaurants eher selten Kinder. Und wenn, habe ich nicht auf sie geachtet. Bevor ich selbst ein Kind hatte, habe ich nie auf fremde Kinder geachtet. Und auch jetzt achte ich zwangsläufig hauptsächlich auf mein eigenes. Doch angesichts unseres Urlaubsstresses muss ich feststellen, dass es anscheinend auch anders geht. Aber wie funktioniert das? Sind französische Kinder einfach von Geburt an ruhiger als unsere? Wurden sie bestochen (oder bedroht), dass sie so brav sind? Sind sie das Produkt veralteter, kruder Erziehungsmethoden?

Eigentlich machen sie nicht den Eindruck. Die französischen Kinder sehen nicht eingeschüchtert aus, sie sind fröhlich, lebhaft und neugierig. Ihre Eltern sind liebevoll und aufmerksam. An ihren Tischen, ja vermutlich in ihrem gesamten Leben, scheint eine unsichtbare, zivilisatorische Kraft zu walten, die uns abgeht.

Kaum habe ich damit angefangen, mir über französische Erziehungsmethoden Gedanken zu machen, merke ich, dass nicht nur die Mahlzeiten anders ablaufen. Plötzlich habe ich jede Menge Fragen. Wie kommt es beispielsweise, dass ich in Hunderten von Stunden auf französischen Spielplätzen kein einziges Kind mit einem Tobsuchtsanfall erlebt habe (außer meinem eigenen natürlich)? Warum müssen meine französischen Freundinnen nie abrupt auflegen, wenn wir gerade telefonieren, weil ihre Kinder irgendwas von ihnen wollen? Warum geben in ihren Wohnzimmern keine Tipis und Kinderküchen den Ton an, so wie bei uns?

Und das ist noch längst nicht alles! Warum ernähren sich so viele Kinder bei uns dermaßen einseitig, nämlich ausschließlich von Nudeln, weißem Reis oder einer schmalen Auswahl von Kindergerichten, während die kleinen französischen Freundinnen meiner Tochter Fisch, Gemüse und eigentlich so gut wie alles essen? Und wie kommt es, dass französische Kinder, bis auf einmal am Nachmittag, nicht naschen?

Ich war nicht darauf gefasst, die Franzosen für ihre Kindererziehung zu bewundern. Sie ist längst nicht so en vogue wie französische Mode oder französischer Käse. Niemand fährt nach Paris, um sich etwas von der natürlichen Autorität französischer Eltern abzuschauen oder um zu lernen, nicht ständig ein schlechtes Gewissen zu haben. Im Gegenteil: Die amerikanischen Mütter, die ich in Paris treffe, sind entsetzt darüber, dass Französinnen öffentlich stillen und ihre Vierjährigen noch mit Schnuller herumlaufen lassen.

Aber warum verschweigen sie, dass viele französische Babys bereits im Alter von zwei, drei Monaten nachts durchschlafen? Warum bleibt unerwähnt, dass französische Kinder nicht ständig um Aufmerksamkeit betteln und sogar das Wort »Nein« hören können, ohne einen Nervenzusammenbruch zu kriegen?

Niemand findet das außergewöhnlich. Aber so langsam dämmert mir, dass französische Eltern heimlich, still und leise Erfolge erzielen, die ein ganz anderes, ein entspanntes und friedliches Familienleben ermöglichen. Bekommen wir Besuch von Amerikanern, sind die Erwachsenen ständig damit beschäftigt, Streit unter den Kindern zu schlichten, hinter dem eigenen Nachwuchs herzurennen, der Runden um die Kücheninsel dreht, oder auf der Erde herumzukrabbeln und Legodörfer zu bauen. Es wird ununterbrochen geweint und getröstet. Kommen Franzosen zu uns zu Besuch, trinken wir Erwachsenen in aller Ruhe Kaffee, während die Kinder fröhlich zusammen spielen.

Franzosen sind sehr besorgt um ihre Kinder.1 Sie wissen Bescheid über Pädophile, Allergien und Erstickungsgefahren und sie ergreifen vernünftige Vorsichtsmaßnahmen, aber sie werden nicht hysterisch. Wegen ihrer größeren Gelassenheit, fällt es ihnen leichter, Grenzen zu setzen, ihren Kindern aber gleichzeitig Freiheiten zu lassen.

Ich bin mit Sicherheit nicht die Erste, der auffällt, dass viele Eltern in Amerika, aber auch in Deutschland ein Erziehungsproblem haben. Dieses Problem wurde bereits in Hunderten von Büchern und Artikeln ausgiebig beschrieben und kritisiert. Es gibt sogar schon Begriffe dafür wie Over-Parenting oder Helikopter-Eltern. Eine Autorin schreibt, man schenke den Kindern einfach mehr Aufmerksamkeit als ihnen guttut.2 Judith Warner dagegen spricht von einer »culture of total motherhood«. (Dass diese Kultur der absoluten Mutterschaft ein Problem ist, fiel Warner übrigens erst nach ihrer Rückkehr aus Frankreich auf.) Niemand scheint sich mit dem gnadenlosen, unglücklich machenden Stress dieses Erziehungsstils wohlzufühlen, und schon gar nicht die betroffenen Eltern selbst.

Aber warum praktizieren wir ihn dann? Wozu diese Erziehung, die unsere Generation regelrecht verinnerlicht hat – selbst wenn sie, wie ich, ins Ausland gegangen ist? Diese Entwicklung begann in den 1980er-Jahren. Damals wurden Unmengen von Daten erhoben, und anschließend hieß es, arme Kinder seien schlechter in der Schule, weil sie nicht von klein auf genügend gefördert würden. Daraus schlossen Mittelschichtseltern, dass ihre Kinder ebenfalls von mehr Förderung profitieren müssten.3

Ungefähr zur selben Zeit wurde die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer: Plötzlich schien man sich ganz besonders um die Kinder kümmern zu müssen, wenn sie zur zukünftigen Elite gehören sollten. Auf einmal sollten die eigenen Kinder so früh wie möglich an die richtigen Dinge herangeführt werden, um gegenüber Gleichaltrigen im Vorteil zu sein.

Gleichzeitig setzte sich die Auffassung durch, dass Kinder psychisch labil sind. Die jungen Eltern von heute sind die am meisten psychoanalysierte Generation überhaupt. Sie haben die Überzeugung verinnerlicht, dass alles, was wir tun, unsere Kinder potenziell schädigen kann. Darüber hinaus sind wir alle in den 1980er-Jahren groß geworden, als sich mehr Paare scheiden ließen denn je, mit der Folge, dass wir selbstloser sein wollen als unsere eigenen Eltern.

Wir haben als Eltern das Gefühl, in einer hochgefährlichen Welt zu leben und ständig wachsam sein zu müssen. All diese Faktoren haben dazu geführt, dass wir einen anstrengenden, völlig aufreibenden Erziehungsstil pflegen. Aber in Frankreich habe ich erlebt, dass es auch anders geht. Das hat mich in mütterliche Verzweiflung gestürzt, aber auch meine journalistische Neugier geweckt. Nach unserem katastrophalen Strandurlaub habe ich beschlossen zu recherchieren, was französische Eltern anders machen. Warum werfen französische Kinder nicht mit Essen? Und warum werden ihre Eltern nicht laut? Was ist das für eine unsichtbare, zivilisatorische Kraft, die sich die Franzosen zunutze gemacht haben? Kann ich mich umprogrammieren und meinen Nachwuchs gleich mit?

Dass das ein echt heißes Thema ist, merke ich, als ich auf eine Studie stoße, die ein Wirtschaftswissenschaftler der Princeton University durchgeführt hat.4 Ihr zufolge empfinden Mütter aus Columbus, Ohio, die Kinderbetreuung als doppelt so anstrengend wie Mütter aus dem französischen Rennes. Das deckt sich mit meinen Beobachtungen, die ich in Paris, aber auch auf Reisen in meine Heimat machen konnte: Etwas an der Art, wie Franzosen ihre Kinder erziehen, sorgt dafür, dass es weniger anstrengend ist und deutlich mehr Spaß macht.

Ich bin fest davon überzeugt, dass sich die Geheimnisse der französischen Kindererziehung lüften lassen. Es hat nur noch niemand versucht. Ich stecke also meinen Laptop in die Wickeltasche. Bei jedem Arztbesuch, bei jeder Party, bei jeder Spielverabredung und bei jeder Marionettenaufführung nutze ich die Gelegenheit, französische Eltern zu beobachten, um herauszufinden, welchen ungeschriebenen Gesetzen sie folgen.

Anfangs ist das schwer zu sagen. Französische Eltern scheinen ständig zwischen zwei Extremen hin- und herzuschwanken: Zum einen sind sie unglaublich streng und zum anderen erschreckend locker. Hakt man nach, bringt das auch nicht viel, denn die meisten Eltern, mit denen ich spreche, glauben, bei der Kindererziehung gar nichts Besonderes zu machen, im Gegenteil: Sie sind fest davon überzeugt, dass Frankreich unter dem »Enfant-roi«-Syndrom leidet und die Eltern all ihre Autorität verloren haben. (Dazu kann ich nur sagen: »Ihr habt unsere kleinen Tyrannen noch nicht gesehen.«)

Mehrere Jahre lang, in denen ich in Paris noch zwei weitere Kinder bekomme, suche ich nach Hinweisen. Ich befrage Dutzende von Experten und Eltern. Ich belausche sie schamlos, wenn ich die Kinder in den Kindergarten bringe oder im Supermarkt einkaufe. Und irgendwann glaube ich zu wissen, was die französischen Eltern anders machen.

Wenn ich von »den französischen Eltern« spreche, ist das natürlich eine grobe Verallgemeinerung. Jedes Elternpaar ist anders. Die meisten Eltern aus meinem Bekanntenkreis leben in Paris und Umgebung, sind Akademiker und verdienen überdurchschnittlich gut. Sie sind nicht superreich und gehören auch nicht zur Elite. Aber es sind gebildete Menschen aus der (oberen) Mittelschicht. Dasselbe gilt für die Amerikaner, mit denen ich sie vergleiche.

Trotzdem fällt mir auf meinen Reisen durch Frankreich auf, dass sich die Erziehungsansichten einer Pariserin aus der Mittelschicht nicht groß von denen einer Mutter aus der Arbeiterschicht, die mit ihrer Familie in der Provinz lebt, unterscheiden. Ich finde es erstaunlich, dass französische Eltern angeblich nicht wissen, was sie tun, dabei allerdings alle mehr oder weniger das Gleiche tun. Gut betuchte Anwälte, Erzieherinnen in Tageseinrichtungen, Lehrer an öffentlichen Schulen und alte Damen, die mich im Park zurechtweisen – sie alle nennen mir genau dieselben Prinzipien. Sie stehen auch in jedem französischen Erziehungsratgeber oder in jeder französischen Elternzeitschrift. Schnell wird klar, dass man sich in Frankreich nicht einer bestimmten, dogmatischen Erziehungsphilosophie verschreiben muss. Jeder hält ein paar grundlegende Regeln für selbstverständlich, und allein das nimmt einem schon so manche Sorge ab.

Warum ausgerechnet Frankreich? Ich bin wirklich niemand, der Frankreich verherrlicht. Au contraire, ich weiß nicht mal, ob ich gern hier lebe. Und eines möchte ich auf keinen Fall, nämlich dass aus meinen Kindern arrogante Pariser werden. Aber trotz allem ist Frankreich das perfekte Vorbild, wenn es um heutige Erziehungsprobleme geht. Einerseits leben die Franzosen nach Werten, die mir sehr bekannt vorkommen: Sie lieben es, von ihren Kindern zu erzählen, sie vorzuzeigen und ihnen aus Büchern vorzulesen. Sie bringen sie zum Tennisunterricht, zum Malkurs und nehmen sie in interaktive Technikmuseen mit.

Andererseits schaffen sie es jedoch, sich um ihre Kinder zu kümmern, ohne es zu übertreiben. Sie finden nicht, dass gute Eltern ständig nur für ihre Kinder da sein müssen, und haben auch kein schlechtes Gewissen, wenn sie es nicht tun. »Ich finde, die Abende sind den Eltern vorbehalten«, sagt mir eine Pariser Mutter. »Meine Tochter kann uns Gesellschaft leisten, aber ab dieser Uhrzeit sind die Erwachsenen dran.« Französische Eltern wollen ihre Kinder fördern, aber nicht ständig. Während manche amerikanischen oder deutschen Kleinkinder schon vor der Einschulung Lesen und Mandarin lernen, tun französische Kinder, was Kleinkinder eigentlich tun sollten: ungestört miteinander spielen.

Und es sind viele Kinder, die in Frankreich so erzogen werden: Während die Nachbarländer unter einem Bevölkerungsrückgang leiden, erleben die Franzosen einen regelrechten Babyboom. In der EU haben nur die Iren eine höhere Geburtenrate.5

Die Franzosen bekommen viel Unterstützung vom Staat, was es attraktiver und leichter macht, Kinder zu haben. Eltern zahlen nichts für die Vorschule, sie müssen sich keine Sorgen wegen der Krankenversicherung machen und auch nicht für die Uni sparen.

Aber das allein ist keine Erklärung. Die Franzosen scheinen einen ganz anderen cadre für Kindererziehung zu haben, einen ganz anderen Bezugsrahmen. Wenn ich französische Eltern frage, wie sie es schaffen, ihre Kinder zu disziplinieren, brauchen sie eine Weile, bis sie verstehen, was ich damit meine: »Ah, Sie meinen, wie wir sie erziehen?«, fragen sie dann. »Disziplin«, so merke ich bald, ist ein viel zu eng gefasster, in Frankreich selten gebrauchter Begriff, der eher nach Bestrafung klingt. »Erziehung« dagegen ist etwas, um das sie sich ihrer Meinung nach ohnehin ständig kümmern.

Seit Jahren macht der Niedergang unserer Kindererziehung Negativschlagzeilen. Es gibt Dutzende von Ratgebern mit hilfreichen Theorien. Ich dagegen kann keine Theorie anbieten. Was ich hier in Frankreich vor mir sehe, ist eine funktionierende Nation von kleinen Durchschläfern und Gourmets und von völlig entspannten Eltern. Davon ausgehend forsche ich nach, wie die Franzosen das geschafft haben. Wie sich bald herausstellt, braucht man dafür nicht nur eine andere Erziehungsphilosophie, sondern muss auch die Kinder mit anderen Augen sehen.

1 In einer Umfrage aus dem Jahr 2002 stimmten 90 Prozent der Franzosen folgender Aussage zu: »Mitzuerleben, wie die eigenen Kinder groß werden, und ihnen beim Aufwachsen zuzusehen ist das Schönste überhaupt.« In den Vereinigten Staaten waren es 85,5 Prozent, in Großbritannien 81,1 Prozent und in Deutschland 90,2.

2 Joseph Epstein, »The Kindergarchy: Every Child a Dauphin«, Weekly Standard vom 9. Juni 2008.

3 Judith Warner beschreibt dieses Phänomen in Perfect Madness: Motherhood in the Age of Anxiety, Riverhead Books, New York 2005.

4 Alan B. Krueger, Daniel Kahneman, Claude Fischler, David Schkade, Norbert Schwarz und Arthur A. Stone, »Time Use and Subjective Well-Being in France and the US«, Social Indicators Research 93 (2009): S. 7–18.

5 Laut den Zahlen der OECD aus dem Jahr 2009 beträgt die Geburtenrate in Frankreich 1,99, in Belgien 1,83, in Italien 1,41, in Spanien 1,4 und in Deutschland 1,36 pro Frau.

»Erwarten Sie ein Kind?«

Es ist zehn Uhr morgens, als mich der Verlagsleiter in sein Büro ruft und mir sagt, ich solle besser meine Zähne noch mal grundreinigen lassen. Meine von der Firma getragene Zahnzusatzversicherung ende nämlich mit dem letzten Arbeitstag, und der wäre in fünf Wochen.

An diesem Tag verlieren mehr als zweihundert Kollegen mit mir ihren Job. Die Nachricht lässt den Aktienkurs unserer Muttergesellschaft kurzfristig emporschnellen. Ich besitze ein paar Firmenanteile und überlege, sie zu verkaufen – eher aus Zynismus als aus Profitgier, um sozusagen an meiner eigenen Entlassung zu verdienen.

Doch stattdessen laufe ich wie betäubt durch Manhattan. Passenderweise regnet es. Ich stelle mich unter und rufe den Mann an, mit dem ich abends verabredet bin.

»Ich wurde soeben gefeuert«, sage ich.

»Bist du nicht am Boden zerstört?«, fragt er. »Willst du trotzdem mit mir essen gehen?«

In Wahrheit bin ich sogar erleichtert: Endlich bin ich den Job los, den ich nach fast sechs Jahren bloß nicht gewagt habe zu kündigen. Ich war Auslandsreporterin bei einer New Yorker Zeitung und habe über Wahlen und Finanzkrisen in Lateinamerika berichtet. Oft wurde ich ohne Vorankündigung ins Ausland geschickt und musste dann wochenlang aus dem Koffer leben. Eine Zeitlang erwarteten meine Chefs große Dinge von mir. Sie sprachen über zukünftige Leitungsfunktionen und bezahlten mir sogar einen Portugiesisch-Kurs.

Bis sie plötzlich gar nichts mehr von mir erwarten. Und seltsamerweise macht mir das nicht das Geringste aus. Ich habe Filme über Auslandskorrespondenten immer gemocht, aber es ist etwas vollkommen anderes, selbst einer zu sein. In der Regel war ich allein mit zähen Recherchen beschäftigt und musste mich am Telefon mit meinen Herausgebern herumschlagen, die nie zufrieden waren. Meine männlichen Kollegen schafften es wenigstens, Costa-Ricanerinnen und Kolumbianerinnen aufzugabeln, die sie anschließend auf ihren Reisen begleiteten. Bei ihnen stand zumindest das Essen auf dem Tisch, wenn sie sich spätabends nach Hause schleppten. Die Männer, mit denen ich anbandelte, waren weniger fürsorglich. Außerdem blieb ich nur selten lang genug in einer Stadt, um es bis zum dritten Date zu schaffen.

Obwohl ich froh bin, der Zeitung den Rücken kehren zu können, bin ich nicht darauf gefasst, dass man mich plötzlich meidet. In der Woche nach der Kündigung, in der ich nach wie vor ins Büro gehe, behandeln mich meine Kollegen, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Leute, mit denen ich jahrelang zusammengearbeitet habe, schweigen oder machen einen Riesenbogen um meinen Schreibtisch. Eine Kollegin lädt mich zum Abschied zum Mittagessen ein, will aber anschließend beim Betreten des Bürogebäudes nicht mit mir gesehen werden. Lange nachdem ich meinen Arbeitsplatz geräumt habe, will mein Vorgesetzter, der verreist war, als die Entscheidung fiel, dass ich für ein demütigendes Abschlussgespräch zurückkomme. Bei dem er mir vorschlägt, mich auf eine niedrigere Position zu bewerben, um dann anschließend zum Mittagessen zu eilen.

Auf einen Schlag werden mir genau zwei Dinge klar. Erstens: Ich will nicht mehr über Politik und Geld schreiben. Und zweitens: Ich will einen Freund. Ich stehe gerade in meiner winzigen Küche und überlege, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen soll, als Simon anruft. Wir haben uns vor einem halben Jahr in Buenos Aires kennen gelernt, als ihn ein gemeinsamer Freund zu einem Auslandskorrespondententreffen mitbrachte. Er ist ein britischer Journalist, der ein paar Tage in Argentinien war, um einen Artikel über Fußball zu schreiben. Ich war entsandt worden, um über den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes zu berichten. Wie es der Zufall so wollte, saßen wir im selben Flieger nach New York. Für ihn bin ich die Frau, die den Abflug verzögert hat, weil mir erst auf der Gangway auffiel, dass ich meine Duty-Free-Einkäufe in der Abflughalle vergessen hatte, und darauf bestand, sie zu holen. (Damals erledigte ich meine Besorgungen überwiegend auf Flughäfen.)

Simon war genau mein Typ: dunkel, muskulös, clever. Ich kannte ihn erst wenige Stunden, als ich begriff, dass »Liebe auf den ersten Blick« bedeutet, sich auf Anhieb wohl in Gegenwart des anderen zu fühlen. Doch damals sagte ich nur: »Wir dürfen auf keinen Fall miteinander schlafen.«

Simon war gerade vom Londoner Immobilienmarkt geflohen und hatte sich eine günstige Wohnung in Paris gekauft. Ich pendelte zwischen Südamerika und New York hin und her. Eine Fernbeziehung mit jemandem, der auf einem dritten Kontinent lebt, war mir dann doch ein bisschen zu kompliziert. Wir schrieben uns hin und wieder eine E-Mail. Aber ich ließ nicht zu, dass mehr daraus wurde, und hoffte auf dunkle, clevere Männer in meiner eigenen Zeitzone.

Als Simon sieben Monate später völlig überraschend anruft und erfährt, dass ich soeben gefeuert wurde, macht er kein Drama daraus und behandelt mich auch nicht wie ein rohes Ei. Im Gegenteil, er scheint sich zu freuen, dass ich jetzt plötzlich mehr Zeit habe. Er meint, wir hätten da doch noch etwas »in der Schwebe«, und er würde mich gern in New York besuchen.

»Das ist keine gute Idee«, sage ich. Was soll das? Er kann nicht nach Amerika ziehen, weil er über europäischen Fußball schreibt. Und ich spreche kein Französisch und habe noch nie davon geträumt, in Paris zu leben. Obwohl ich auf einmal ziemlich flexibel bin, möchte ich mich lieber nicht in das Universum eines Fremden saugen lassen.

Simon taucht in derselben abgewetzten Lederjacke bei mir in New York auf, die er schon in Argentinien anhatte. In der Hand hält er einen Bagel mit Räucherlachs, den er im Deli unweit meiner Wohnung gekauft hat. Einen Monat später lerne ich seine Eltern in London kennen. Ein halbes Jahr später verkaufe ich fast alle meine Besitztümer und lasse den Rest nach Frankreich verschiffen. Sämtliche Freunde sagen, ich handle viel zu überstürzt. Ich höre nicht auf sie und verlasse mein mietgebundenes New Yorker Miniapartment mit drei Riesenkoffern und einer Dose südamerikanischer Münzen. Die schenke ich dem pakistanischen Taxifahrer, der mich zum Flughafen fährt.

Und schwupp! bin ich Pariserin. Ich ziehe zu Simon, in seine Zweizimmer-Junggesellenwohnung. Sie liegt in einem früheren Handwerkerviertel im Pariser Osten. Da ich noch Arbeitslosengeld beziehe, gebe ich endlich mein Dasein als Finanzjournalistin auf und recherchiere für ein eigenes Buch. Simon und ich arbeiten zu Hause, jeder in einem anderen Zimmer.

Unsere Romanze verliert jedoch rasch ihren Glanz, hauptsächlich, weil wir uns über die Einrichtung streiten. Ich habe mal in einem Feng-Shui-Ratgeber gelesen, dass haufenweise auf dem Boden herumliegende Gegenstände auf eine Depression schließen lassen. Doch Simon scheint einfach nur eine Abneigung gegen Regale zu haben. Er hielt es für schlau, in einen riesigen, unbehandelten Holztisch zu investieren, der beinahe das ganze Wohnzimmer einnimmt, sowie in eine primitive Gasheizung, die dafür sorgt, dass wir ab und zu mit warmem Wasser rechnen können. Besonders stört mich seine Angewohnheit, das Wechselgeld aus seinen Hosentaschen auf dem gesamten Fußboden zu verteilen, wo es sich irgendwie in den Zimmerecken sammelt. »Schaff dieses Geld weg!«, flehe ich ihn an.

Außerhalb der Wohnung finde ich auch kaum Trost. Obwohl es sich bei Paris um die Welthauptstadt der Gastronomie handelt, weiß ich einfach nicht, was ich essen soll. Wie die meisten Amerikanerinnen bin ich mit sehr speziellen Ernährungsgewohnheiten nach Paris gekommen. (Ich bin Low-Carb-Vegetarierin.) Auf meinen Spaziergängen fühle ich mich regelrecht umzingelt von Bäckereien und fleischlastigen Restaurants. Eine Weile ernähre ich mich ausschließlich von Omelette und Salat mit Ziegenkäse. Wenn ich die Kellner bitte, mir das Dressing separat zu servieren, sehen sie mich an, als wäre ich nicht ganz dicht. Ich verstehe nicht, warum französische Supermärkte alle amerikanischen Frühstücksflocken vorrätig haben, nur nicht meine Lieblingssorte mit Trauben und Nüssen. Geschweige denn, warum man in Cafés keine fettarme Milch bekommen kann.

Ich weiß, es klingt undankbar, nicht von Paris zu schwärmen. Vielleicht finde ich es auch bloß dämlich, sich nur deshalb in eine Stadt zu verlieben, weil sie so schön aussieht. Die Städte, die mich bis dahin begeistert haben, waren alle ein bisschen … na ja, düsterer: São Paolo, Mexiko City, New York. Die lehnen sich nicht bequem zurück und lassen sich bewundern.

Der Teil von Paris, in dem wir wohnen, ist nicht mal besonders schön. Und der Alltag voller kleiner Enttäuschungen. Niemand erwähnt, dass der »Pariser Frühling« nur deshalb eine solche Berühmtheit genießt, weil es in den sieben Monaten davor eiskalt und grau ist. Und obwohl ich fest davon überzeugt bin, mich noch gut an mein Schulfranzösisch erinnern zu können, haben die Pariser einen anderen Namen für die Sprache, die ich spreche: Spanisch.

Es gibt aber auch Vieles, das ich an Paris mag: Mir gefällt, dass die Metrotüren sich schon wenige Sekunden, bevor der Zug steht, öffnen. Das lässt darauf schließen, dass die Stadt ihre Einwohner wie Erwachsene behandelt. Mir gefällt auch, dass nach einem halben Jahr so gut wie sämtliche Freunde und Bekannte aus Amerika bei uns zu Besuch waren, darunter Leute, die ich später als »Facebook-Freunde« verbuche. Irgendwann entwickeln Simon und ich strikte Zugangsbeschränkungen sowie ein Bewertungssystem für unsere Gäste. (Nur ein kleiner Tipp am Rande: Wer eine Woche bleiben will, sollte ein Geschenk dalassen.)

Die berüchtigte Pariser Ruppigkeit macht mir nichts aus, denn die beruht auf Gegenseitigkeit. Mehr zu schaffen macht mir die französische Gleichgültigkeit. Bis auf Simon scheint sich niemand über meine Anwesenheit zu freuen. Und der ist oft unterwegs, um in seinen eigenen Paris-Fantasien zu schwelgen, die so schlicht sind, dass sie überlebt haben. Soweit ich das beurteilen kann, war Simon noch in keinem einzigen Museum, beschreibt das Zeitunglesen im Café allerdings als eine fast transzendentale Erfahrung. Eines Abends gerät er in einem Ecklokal unglaublich ins Schwärmen, als der Kellner eine Käseplatte vor ihn hinstellt.

»Genau das ist der Grund, warum ich in Paris lebe!«, verkündet er. Wenn ich ihn liebe, und er Käse liebt, heißt das anscheinend, dass ich wegen dieser stinkenden Käseplatte in Paris leben muss.

Aber ich will nicht ungerecht sein und denke, dass das wohl eher an mir als an Paris liegen muss. In New York mag man neurotische Frauen. Sie dürfen gern ein intellektuelles, charmantes, kompliziertes Chaos um sich herum verbreiten wie Meg Ryan in Harry und Sally oder Diane Keaton in Der Stadtneurotiker. Obwohl sie nichts Schlimmeres als Liebeskummer haben, geben viele meiner New Yorker Freunde mehr Geld für den Therapeuten als für die Miete aus.

Solche Menschen gedeihen nicht in Paris. Die Franzosen mögen zwar Woody-Allen-Filme, aber im wirklichen Leben ist die Pariserin gelassen, diskret, leicht unterkühlt und extrem entscheidungsfreudig: Sie bestellt, was auf der Speisekarte steht. Sie spricht nicht über ihre Kindheit oder über Diäten. Während es in New York nur so wimmelt von Frauen, die über die neuesten Katastrophen in ihrem Leben und ihre Selbstfindungsaktivitäten reden, geben in Paris Frauen den Ton an, die nichts bereuen – zumindest nach außen hin. In Frankreich besitzt das Wort »neurotisch« keine selbstironische Note. Das ist nichts, womit man angeben kann, sondern eine Krankheit.

Sogar Simon, der bloß Brite ist, staunt über meine Selbstzweifel und mein zwanghaftes Bedürfnis, über unsere Beziehung zu reden.

»Woran denkst du?«, frage ich ihn immer wieder, meist wenn er gerade Zeitung liest.

»An holländischen Fußball«, sagt er dann jedes Mal.

Ich weiß nicht, ob er das ernst meint. Ich habe festgestellt, dass Simon ständig ironisch ist. Alles was er sagt, selbst »Ich liebe dich«, geht mit einem kleinen Grinsen einher. Nur Lachen tut er fast nie, nicht einmal wenn ich versuche, einen Witz zu machen. (Es gibt enge Freunde, die nicht mal wissen, dass er Lachgrübchen hat.) Simon besteht darauf, es sei typisch britisch, nicht zu lachen. Aber ich bin mir sicher, schon einmal lachende Engländer gesehen zu haben. Außerdem finde ich es entmutigend, wenn mir jemand, mit dem ich endlich Englisch reden kann, gar nicht richtig zuhört.

Seine Weigerung zu lachen, verweist auf eine weitere kulturelle Kluft zwischen uns: Als Amerikanerin muss ich immer alles klipp und klar gesagt bekommen. Auf der Heimfahrt von Simons Eltern frage ich ihn, ob sie mich wohl mögen.

»Natürlich mögen sie dich, merkst du das denn nicht?«, fragt er.

»Aber haben sie dir auch gesagt, dass sie mich mögen?«

Um neue Kontakte zu knüpfen, treffe ich mich mit Freunden von Freunden aus Amerika. Die meisten sind ebenfalls Expats, und keiner klingt begeistert, wenn er von einem weiteren Neuankömmling hört. Viele scheinen aus der Tatsache, dass sie in Paris leben, eine Art Beruf gemacht zu haben, denn genau so lautet in der Regel ihre Antwort auf meine Frage: »Und was machst du so?«. Viele kommen zu spät, so als wollten sie mir beweisen, wie gut sie sich schon eingelebt haben. (Später erfahre ich, dass Franzosen bei Zweiertreffen in der Regel pünktlich sind. Nur bei Gruppenevents gilt es als chic, zu spät zu kommen, dazu zählen allerdings auch Kindergeburtstage.)

Meine Versuche, französische Freunde zu finden, gestalten sich noch frustrierender. Auf einer Party unterhalte ich mich angeregt mit einer Kunsthistorikerin in meinem Alter, die hervorragend Englisch spricht. Aber als ich sie zum Tee besuche, stellt sich heraus, dass wir unter »sich anfreunden« etwas ganz Unterschiedliches verstehen. Als Amerikanerin bin ich ganz wild auf Geständnisse unter Freundinnen, darauf, »Ich auch, ich auch!« zu rufen. Doch sie serviert formvollendet Petit Fours und spricht über Kunsttheorien. Als ich gehe, bin ich immer noch hungrig und weiß noch nicht mal, ob sie einen Freund hat.

Das einzige »Ich auch!«, das mir vergönnt ist, bescherte mir Edmund White, ein amerikanischer Schriftsteller, der in den 1980er-Jahren in Frankreich lebte. Er ist der Erste, der mir bestätigt, dass es völlig normal ist, sich niedergeschlagen und verloren zu fühlen, wenn man in Paris lebt. »Stellen Sie sich vor, Sie sind gestorben und überaus dankbar, weil sie in den Himmel gekommen sind, doch eines Tages (oder Jahrhunderts) dämmert Ihnen, dass Ihre hauptsächliche Stimmung die der Melancholie war, obwohl Sie die ganze Zeit überzeugt schienen, das Glück würde gleich hinter der nächsten Ecke auf Sie warten. Etwas Vergleichbares spürt man, wenn man Jahre oder sogar Jahrzehnte in Paris lebt. Es ist eine sanfte Hölle, so gemütlich, dass sie einem erscheint wie der Himmel.«

Trotz meiner Zweifel an Paris habe ich an Simon keine Zweifel. Ich habe mich damit abgefunden, dass »dunkel« zwangsläufig mit »unordentlich« einhergeht. Außerdem lerne ich langsam, seine Mikro-Mimik zu interpretieren. Ein Lächeln, das kurz über sein Gesicht huscht, bedeutet, dass er meinen Witz verstanden hat. Ein breites, wenn auch seltenes Lächeln bedeutet großes Lob. Manchmal sagt er sogar monoton: »Das war lustig.«

Ermutigend finde ich auch, dass Simon für einen Griesgram ziemlich viele nette, langjährige Freunde hat. Vielleicht, weil er hinter seiner ironischen Maske rührend hilflos ist. Er kann nicht Auto fahren, keinen Luftballon aufblasen und auch keine Kleidung zusammenfalten, ohne seine Zähne zu Hilfe zu nehmen. Er füllt unseren Kühlschrank mit unangebrochenen Konservendosen. Weil es so praktisch ist, gart er alles auf höchster Flamme. (Später erzählen mir College-Freunde, dass er für Hähnchenschlegel bekannt ist, die außen verkohlt und innen roh sind.) Als ich ihm zeige, wie man aus Öl und Essig ein Salatdressing macht, notiert er sich das Rezept und holt es Jahre später immer noch hervor, wenn er das Abendessen zubereitet.

Für Simon spricht auch, dass ihn nichts, was mit Frankreich zu tun hat, zu stören scheint. Als Ausländer ist er ganz in seinem Element. Seine Eltern sind Anthropologen, die ihn überall auf der Welt großgezogen und von Geburt an daran gewöhnt haben, die jeweiligen nationalen Gepflogenheiten zu lieben. Mit zehn hatte er bereits in sechs verschiedenen Ländern gelebt. Er erwirbt Sprachen, wie ich Schuhe erwerbe.

Simon zuliebe beschließe ich, Frankreich eine echte Chance zu geben. Wir heiraten vor den Toren von Paris in einem Château aus dem 13. Jahrhundert. Es ist von einem Burggraben umgeben (eine Symbolik, die ich ignoriere). Um des lieben Ehefriedens willen mieten wir uns eine größere Wohnung. Ich bestelle Regale bei Ikea und versuche, mich auf meine praktischen Fähigkeiten statt auf meine Neurosen zu konzentrieren. Ich lerne, in Restaurants Gerichte direkt von der Speisekarte zu bestellen, und knabbere hin und wieder an etwas foie gras. Mein Französisch hört sich nicht mehr nach hervorragendem Spanisch, sondern nach furchtbarem Französisch an. Es dauert nicht lange, und ich habe mich mehr oder weniger eingelebt: Ich arbeite von zu Hause aus, habe einen Buchvertrag, ja sogar ein paar neue Freunde.

Simon und ich haben das Kinderthema angesprochen. Wir wollen beide Kinder, ich für meinen Teil sogar drei. Mir gefällt die Vorstellung, sie in Paris zu bekommen, wo sie automatisch zweisprachig aufwachsen. Ich habe Angst, nicht schwanger werden zu können. Beinahe mein ganzes Erwachsenenleben lang habe ich höchst erfolgreich versucht, nicht schwanger zu werden. Ob ich im Gegenteil ebenso gut bin, weiß ich nicht. Doch wie sich herausstellt, geht bei uns alles genauso schnell wie unser Kennenlernen. Kaum habe ich »Wie wird man schwanger?« gegoogelt, starre ich auch schon auf zwei rosa Linien auf einem französischen Schwangerschaftstest.

Ich bin begeistert. Aber nicht nur Glücksgefühle, sondern auch Ängste überrollen mich. Mein Entschluss, mich weniger an Carrie Bradshaw, dafür mehr an Catherine Deneuve zu orientieren, lässt sich nicht durchhalten. Das ist kein guter Zeitpunkt, mich in eine waschechte Französin zu verwandeln. Ich bin von der Vorstellung besessen, meine Schwangerschaft kontrollieren und alles perfekt machen zu müssen. Wenige Stunden nachdem ich Simon die freudige Nachricht überbracht habe, gehe ich ins Internet, um mir alle möglichen Schwangerschaftsseiten anzusehen. Ich sause los und kaufe mir in der englischen Buchhandlung beim Louvre einen Stapel Ratgeber zu Schwangerschaft und Geburt. Ich möchte in meiner eigenen Sprache lesen, worauf ich mich gefasst machen muss.

Wenige Tage später schlucke ich vorsorglich Vitaminpillen, bin süchtig nach allen Infos über mögliche Gefahren und Risiken während der Schwangerschaft und bin Dauergast in zahllosen Eltern-Blogs. Ist es in der Schwangerschaft unbedenklich, etwas anderes als Biolebensmittel zu essen? Ist es vertretbar, ständig am Computer zu sitzen? Ist es ungefährlich, Schuhe mit hohen Absätzen zu tragen, sich mit Halloween-Süßigkeiten vollzustopfen oder Urlaub hoch über dem Meeresspiegel zu machen?

Die Amerikanerinnen aus meinem Bekanntenkreis finden auch, dass eine Schwangerschaft – und die anschließende Mutterschaft – mit zahlreichen Hausaufgaben verbunden ist. Die erste Aufgabe besteht darin, sich zwischen unzähligen Erziehungsstilen zu entscheiden. Jede, mit der ich spreche, schwört auf einen anderen Ratgeber. Ich kaufe Unmengen davon. Doch statt das Gefühl zu haben, damit besser vorbereitet zu sein, werden mir Babys durch die vielen widersprüchlichen Informationen immer rätselhafter und unergründlicher. Was das für Wesen sind und was sie brauchen, scheint ganz davon abzuhängen, welches Buch man liest.

Meine Freundinnen und ich entwickeln uns auch zu Experten für alles, was schiefgehen kann. Eine schwangere New Yorkerin, die sich Paris ansieht, verkündet beim Mittagessen, das Risiko für eine Totgeburt sei fünf zu eintausend. Sie wisse, es sei fürchterlich und nutzlos, das zu sagen, aber sie könne einfach nicht anders. Eine andere Freundin, die leider Medizin studiert hat, verbringt den Großteil des ersten Schwangerschaftstrimesters damit herauszufinden, wie hoch das Risiko ist, dass sich das Baby alle möglichen Krankheiten holt.

Dass solche Ängste auch bei anderen Nationalitäten sehr verbreitet sind, merke ich, als wir Simons Familie in London besuchen. (Ich habe beschlossen zu glauben, dass seine Eltern begeistert von mir sind.) Ich sitze gerade in einem Café, als mich eine gut gekleidete Frau anspricht und sagt, eine neue Studie habe ergeben, dass ein hoher Koffeinkonsum das Risiko für eine Fehlgeburt steigere. Um ihre Glaubwürdigkeit zu unterstreichen, behauptet die Frau, mit einem Arzt verheiratet zu sein. Dabei ist mir vollkommen egal, was ihr Mann beruflich macht. Mich ärgert nur, dass sie zu glauben scheint, ich hätte noch nicht von dieser Studie gehört. Natürlich habe ich das! Ich versuche, deshalb ja auch, mit einer Tasse Kaffee pro Woche auszukommen.

Bei so viel Hausaufgaben und Ängsten kommt mir das Schwangersein zunehmend wie ein Vollzeitjob vor. Ich arbeite immer seltener an meinem Buch, das ich abgeben muss, bevor das Baby kommt. Stattdessen kommuniziere ich mit anderen Schwangeren in »Bald-ist-es-so-weit«-Chatrooms. Genau wie ich sind diese Frauen daran gewöhnt, dass sich alle nach ihren Bedürfnissen richten, und sei es nur, dass sie Sojamilch in ihren Kaffee wollen. Und genau wie ich müssen sie begreifen, dass sich die primitive Säugetierentwicklung, die in ihnen vor sich geht, erschreckenderweise ihrer Kontrolle entzieht. Viele Schwangerschaftszeitschriften konzentrieren sich deshalb auf das Einzige, was eine Schwangere eindeutig kontrollieren kann, nämlich ihre Nahrungsaufnahme. »Vor dem Essen sollten Sie überlegen: Ist dies das optimale Essen für mein Baby? Können Sie mit ›Ja‹ antworten, dann dürfen Sie munter kauen …«.

Ich weiß sehr wohl, dass die Verbote in diesen Ratgebern nicht alle gleich wichtig sind: Zigaretten und Alkohol sind eindeutig schädlich, während Schalentiere, rohes Fleisch, rohe Eier und Rohmilchkäse nur gefährlich sind, wenn sie mit so seltenen Bakterien wie Listerien oder Salmonellen verseucht sind. Um auf Nummer sicher zu gehen, nehme ich jedoch jedes Verbot wörtlich. Es fällt mir nicht weiter schwer, auf Austern und foie gras zu verzichten. Aber da ich nun mal in Frankreich lebe, habe ich Panik vor Käse. »Ist der Parmesan auf meiner Pasta pasteurisiert?«, frage ich die verblüfften Kellner. Simon erträgt tapfer meine geballten Ängste. Jeder Bissen scheint potenziell gefährlich zu sein. Ganz zu schweigen von Hunger: Sollte ich gegen Ende des Tages zu wenig Proteine zu mir genommen haben, muss ich mir laut diesem Buch kurz vor dem Schlafengehen noch eine Portion Eiersalat einverleiben.

Dabei hatte ich das Diätmachen eigentlich aufgegeben. Nach Jahren voller Reduktionsdiäten ist es aufregend, nun eine Diät zu machen, um zuzunehmen. Das kommt mir vor wie eine Belohnung für all die Jahre, in denen ich dünn genug sein musste, um einen Ehemann abzubekommen. In meinen Online-Foren wimmelt es nur so von Frauen, die rund zwanzig Kilo mehr zugenommen haben als empfohlen. Natürlich würden wir alle lieber so aussehen wie diese kompakten Promi-Schwangeren in Designerroben. Ein paar Frauen aus meinem Bekanntenkreis sehen auch tatsächlich so aus. Doch die freundliche Autorin von Beim ersten Kind gibt’s tausend Fragen: Alles, was Ärzte nicht sagen, Männer nicht wissen und nur die beste Freundin verraten kann, das ich seit Neuestem mit ins Bett nehme, rät: »Los, ESSEN Sie«. So nach dem Motto, »Welche Freuden hält das Leben für uns Schwangere denn sonst parat?«

Bezeichnenderweise ist es während der Schwangerschaftsdiät erlaubt, hin und wieder mit einem Cheeseburger oder einem zuckergussüberzogenen Donut zu »sündigen«. Eine Schwangerschaft scheint in unserem Land eine einzige Sünde zu sein: Die Auflistung von Schwangerschaftsgelüsten liest sich wie eine Aufzählung all der Lebensmittel, die sich Frauen bei uns seit ihrer Pubertät versagen: Käsekuchen, Milchshakes, Makkaroniauflauf, Eistorten. Ich habe vor allem Lust auf Zitrone und auf riesige Brotlaibe.

Jemand erzählt mir, dass Jane Birkin, die britische Schauspielerin, die in Paris Karriere gemacht und den legendären französischen Sänger Serge Gainsbourg geheiratet hat, sich nie merken konnte, ob es nun un baguette oder une baguette heißt, weshalb sie einfach immer deux baguettes (zwei Baguettes) verlangte. Ich kann das Zitat nirgendwo finden, aber immer wenn ich zum Bäcker gehe, übernehme ich ihre Strategie. Doch anders als die zierliche Birkin esse ich sie auch wirklich beide auf.

Ich verliere während meiner Schwangerschaft nicht nur meine gute Figur, ich verliere auch mich selbst – die Frau, die sich einst zum Abendessen verabredet und sich Sorgen um die Palästinenser gemacht hat. Inzwischen verbringe ich meine gesamte Freizeit damit, nach den neuesten Kinderwagen Ausschau zu halten und mögliche Gründe für Koliken bei Säuglingen auswendig zu lernen. Diese Entwicklung von der »Frau« zur »Mutter« scheint unausweichlich zu sein. Eine Modestrecke in einer Schwangerschaftszeitschrift, die ich mir auf einer Reise in die Heimat kaufe, zeigt dickbäuchige Frauen in weiten Blusen und Männerschlafanzughosen. Dieses Outfit könne man angeblich den ganzen Tag tragen. Als Vermeidungsstrategie, nicht an meinem Buch weiterschreiben zu müssen, ergehe ich mich in Tagträumen, in denen ich den Journalismus aufgebe und eine Ausbildung zur Hebamme mache.

Richtiger Sex ist der letzte symbolische Dominostein, der fällt. Obwohl Sex theoretisch erlaubt ist, gehen Bücher wie Ein Baby kommt davon aus, dass Sex in der Schwangerschaft grundsätzlich riskant ist, auch wenn rhetorisch gefragt wird: »Warum sollte nun dieser Vorgang, durch den Sie schwanger wurden, jetzt zu einem Ihrer größten Probleme werden?«. Dann zählen die Autorinnen achtzehn Faktoren auf, die das Liebesleben beeinträchtigen können, einschließlich der Angst, dass der Penis eine Infektion verursacht. Ertappt sich frau dennoch dabei, Sex zu haben, empfehlen sie einen neuen absoluten Tiefpunkt des Multitaskings: Man solle den Sex nutzen, um die Beckenbodenmuskeln zu trainieren und sich so auf die Geburt vorbereiten.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Frauen gibt, die alle diese Ratschläge beherzigen. Wahrscheinlich geht es den meisten wie mir: Sie verinnerlichen einfach nur den besorgten Tonfall und die dazugehörige Geisteshaltung. Selbst wenn man im Ausland lebt, ist das ansteckend. Angesichts der Tatsache, dass ich extrem beeinflussbar bin, kann ich froh sein, eine gewisse räumliche Distanz dazu zu haben. Vielleicht hilft mir das, die Elternschaft aus einer anderen Warte zu betrachten.

Schon jetzt dämmert mir, dass das Aufziehen eines Kindes in Frankreich völlig anders aussehen wird. Sitze ich mit Babybauch in Paris im Café, springt niemand herbei, um mich vor den Gefahren von Koffein zu warnen. Im Gegenteil, man zündet sich direkt neben mir eine Zigarette an! Das Einzige, was mich Fremde fragen, wenn sie meinen Bauch bemerken, ist: »Vous attendez un enfant«? Ich brauche eine Weile, bis ich begreife, dass sie nicht glauben, ich sei mit einem sechsjährigen Schulschwänzer verabredet.

Ich erwarte ein Kind. Wahrscheinlich ist das das Bedeutendste, was ich je getan habe. Trotz meiner Zweifel an Paris hat es auch seine Vorteile, an einem Ort schwanger zu sein, an dem ich praktisch immun gegen Einmischung von außen bin. Obwohl Paris eine der kosmopolitischsten Städte der Welt ist, bin ich dort irgendwie komplett außen vor: Mit französischem Namedropping kann ich nichts anfangen, genauso wenig wie mit irgendwelchen Schulnamen oder anderen kleinen Hinweisen, die einem Franzosen sofort die soziale Stellung und Bedeutung seines Gegenübers signalisieren. Und da ich Ausländerin bin, kann man meinen sozialen Status ebenfalls nicht einschätzen.

Als ich meine Sachen gepackt habe und nach Paris gezogen bin, habe ich nicht geglaubt, dass das von Dauer ist. Jetzt mache ich mir langsam Sorgen, dass Simon etwas zu gern Ausländer ist. Da er in so vielen verschiedenen Ländern aufgewachsen ist, ist das für ihn völlig selbstverständlich. Er gesteht mir, dass er sich vielen Menschen und Städten verbunden fühlt und kein offizielles Zuhause braucht. Er bezeichnet seinen Lebensstil als »freistehend«, so als sei er eine Immobilie.

Einige unserer englischsprachigen Freunde haben Frankreich bereits wieder verlassen, meist weil sie den Job gewechselt haben. Aber unsere Jobs erfordern nicht, dass wir hier leben. Von der Käseplatte einmal abgesehen, gibt es keinen Grund, hier zu sein. Und »kein Grund« plus ein Baby kommt mir bald vor wie der wichtigste Grund überhaupt.