Marisa
Vom letzten Mietshaus in der Feldstraße am südlichen Stadt rand von Heimberg, in dessen Erdgeschoss Rolf Wegener seit fast achtzehn Jahren eine Zweizimmerwohnung mit Ellen teilte, bis nach Niederfelden, dem Kaff, in dem er aufgewachsen war, waren es sieben Kilometer über die Landstraße. Zu einer Seite lagen Felder, zur anderen dehnte sich über einige Hektar ein Waldstück aus, das seit Jahren als Naherholungsgebiet bezeichnet wurde.
Auf halber Strecke schlängelte sich etwa fünfhundert Meter weit ein gut ausgebauter Zufahrtsweg zwischen Bäumen und Büschen durch bis zu einer kleinen Brücke. Darunter verlief ein Bach, der die halbe Zeit kein Wasser führte. Hinter der Brücke wurde der Weg schmaler und war für den Verkehr gesperrt, was aber kaum jemanden davon abhielt, mit Mofas und Motorrädern, sogar mit Pkws in den Wald hineinzufahren.
In Wegeners Kindheit hatte es kurz vor der Brücke ein Ausflugslokal gegeben, die Waldschänke. Später, in seiner Jugend, war aus dem netten, idyllisch gelegenen Lokal für Waldspaziergänger und Sonntagsausflügler bereits die verrufene Disko geworden, in der er Ellen kennengelernt – besser gesagt, zum ersten Mal gesehen hatte. Wirklich kennengelernt hatte er sie erst am Dienstag nach Pfingsten. Aber eigentlich hätte er vom ersten Moment an in eine bestimmte Richtung denken müssen.
Die Disko hieß immer noch Waldschänke, und die einsame Lage prädestinierte sie zu einem beliebten Treffpunkt für den Abschaum der Gesellschaft. Es war ein Umschlagplatz für Drogen jeder Art, mit all den unangenehmen Begleiterscheinungen: Rauschgifthandel, Beschaffungskriminalität, Gelegenheitsprostitution. Ein paar Vergewaltigungen hatte es auch gegeben, von unzähligen Schlägereien und Messerstechereien ganz zu schweigen.
Die Razzia damals hatte dem wüsten Treiben ein Ende gesetzt und den Betreiber sowie einige seiner Stammgäste hinter Gitter gebracht. Wegen Steuerschulden fiel das Anwesen danach an die Stadt Heimberg, die nichts damit anzufangen wusste. Es meldeten sich wohl zu Anfang noch Kauf- oder Pachtinteressenten. Doch man wollte sich bei der Stadtverwaltung denselben Ärger nicht noch einmal einhandeln. Lieber ließ man das Gebäude verfallen.
Aber vor zehn Jahren war das Anwesen doch noch verkauft worden, an Marisa Behrend. Sie war noch keine dreißig, als sie nach Heimberg kam, beherrschte mehrere Sprachen, war sehr kultiviert, hatte genug Geld und, was noch wichtiger war, einen Fürsprecher im Heimberger Stadtrat, der sie mit den richtigen Leuten zusammenbrachte.
Der offiziellen Version zufolge hatte Marisa in der Hotelbranche gearbeitet. Auf zwei Jahre Ausbildung in Frankfurt war ein weiteres Jahr Ausbildung in Köln gefolgt. Danach hatte sie in Paris, Mailand, Madrid, zuletzt in Athen gearbeitet. Als sie sich danach sehnte, sesshaft zu werden, bot sich im beschaulichen Heimberg die Gelegenheit, mit dem Umbau der ehemaligen Waldschänke eine eigene Existenz aufzubauen.
In der Stadtverwaltung, beim Landratsamt und dem Landschaftsverband wurden einige Augen zugedrückt und Sondergenehmigungen erteilt. Marisa ließ das Gebäude von Grund auf sanieren. Das gesamte Innere wurde entkernt und entstand neu, außen wurde der schäbige Verputz durch rustikale Klinkersteine ersetzt und zwölf Monate später das Waldschlösschen eröffnet. Schänke konnte man es jetzt nicht mehr nennen. Jetzt war es ein exquisites Restaurant mit Bar.
Seitdem radelte Agnes Kalwin an sechs Tagen in der Woche morgens um acht Uhr von Heimberg hinaus zum Waldschlösschen, um die Räume im Erdgeschoss sauber zu machen. Das Gleiche tat sie anschließend auch in Marisas Wohnung. Nachmittags ging sie dann noch dem französischen Koch zur Hand, half ihm, die tägliche Lieferung des Delikatessenhändlers zu kontrollieren und im Kühlraum zu verstauen und den Dessertwagen vorzubereiten. Nach Hause fuhr Agnes Kalwin in der Regel erst wieder, wenn Bar und Restaurant um neunzehn Uhr abends geöffnet wurden.
Normalerweise fing sie also mit der Putzarbeit unten an, nur montags nicht. Montag war Ruhetag, da kam außer ihr niemand. Ab Mittag wurde das Restaurant gründlichst gereinigt. Beispielsweise wurde dann das komplette Silberbesteck poliert, dafür war an den anderen Tagen keine Zeit. Und diese Arbeit hatte Agnes Kalwin noch nie alleine erledigen müssen, obwohl ihr das nichts ausgemacht hätte, aber Marisa stand dabei immer an ihrer Seite.
Agnes war siebenundfünfzig Jahre alt und daran gewöhnt zu schuften. Im Waldschlösschen tat sie das gern, war rundum glücklich mit dieser Stelle und mehr noch mit ihrer Arbeitgeberin. Vom ersten Tag an hatte sie sich ausgezeichnet mit Marisa Behrend verstanden. Vorher hatte Agnes für andere Leute geputzt, da war sie noch verheiratet und für ihren Mann auch nicht mehr als eine Putzfrau gewesen, die ihren Lohn abzuliefern hatte, weil sie angeblich nicht mit Geld umgehen konnte.
Von alleine wäre sie nie auf die Idee gekommen, sich aus der Bevormundung zu befreien, auch nicht, als ihre Kinder längst auf eigenen Füßen standen. Sie hatte immer gedacht, sie käme allein nicht zurecht, sei mit jeder Art von Papierkram überfordert, ließe sich regelmäßig von Verkäufern, Vertretern und so weiter über den Tisch ziehen. Das war ihr jahrelang eingeredet worden. Marisa hatte sie vom Gegenteil überzeugt und ihr klargemacht, dass jeder Mensch die Verantwortung für das eigene Leben trug. Nur dank Marisas Unterstützung hatte Agnes es geschafft, ihren herrschsüchtigen Mann zu verlassen.
Für Marisa – selbstverständlich durfte Agnes ihre Arbeitgeberin seit Langem duzen – war sie keine »dumme Person«, bei der es sich nicht lohnte, ihr etwas zu erklären, wie ihr Mann stets behauptet hatte. Gut, sie war vielleicht ein wenig naiv und nicht sonderlich gebildet. Aber sie war eine der wenigen Personen im Kreis Heimberg, wahrscheinlich sogar die einzige, die vollständig mit Marisa Behrends bewegter Vergangenheit vertraut und sowohl in die pikanten als auch in die furchtbaren Details eingeweiht war.
Agnes wusste, dass Marisa ihr Geld zuletzt nicht in Athen, sondern in der Ägäis verdient hatte, auf Schiffen, als Hostess, wie Königin Silvia von Schweden, in ganz feiner Gesellschaft. Bis sie genug Geld beisammenhatte, um in Heimberg ein neues Leben zu beginnen.
Agnes war auch bekannt, dass Marisa nicht genau sagen konnte, von wem sie mit sechzehn schwanger geworden war. Vielleicht von irgendeinem Ekel, viel eher jedoch vom eigenen Bruder. Im Gegensatz zu den Freiern hatte der Bruder nämlich nie ein Kondom übergezogen.
Marisa war erst vierzehn gewesen, als der Widerling sie zum ersten Mal vergewaltigt hatte. Danach war das regelmäßig passiert. Und damit nicht genug. Beinahe täglich hatte ihr Bruder sie bei der Schule abgefangen und in Frankfurt auf den Babystrich geschickt. Sogar als sie hochschwanger gewesen war, hatte er sie noch an niederträchtige, perverse Kerle vermietet, denen so ein Babybauch erst den richtigen Kick gab.
Bei ihrer Mutter hatte Marisa keine Hilfe gefunden, die war machtlos gegenüber Mann und Sohn. Den Vater um Hilfe zu bitten verbot sich von selbst, der hätte wahrscheinlich mitgemacht.
Ganz auf sich allein gestellt war Marisa unmittelbar nach der Entbindung aus der Klinik verschwunden und untergetaucht. Dass sie ihr Baby zurückgelassen hatte, durfte man ihr nicht verübeln, fand Agnes. Welche Gefühle hätte sie denn haben sollen für ein Kind, das sie auf solch abscheuliche Weise empfangen hatte?
Aber ein paar Monate später hatte Marisa ihre Mutter angerufen und sich nach dem Jungen erkundigt. Als sie hörte, dass ihre Mutter das Baby aus der Klinik geholt hatte und sich um den kleinen Markus kümmerte, hatte Marisa Geld nach Hause geschickt, sooft sie etwas erübrigen konnte. Postlagernd, damit ihre Mutter es auch bekam und fürs Kind verwenden konnte, sonst hätte ihr Vater es garantiert versoffen, oder ihr Bruder hätte noch den letzten Pfennig verzockt.
»Ich wollte Markus nicht«, hatte sie Agnes Kalwin an einem Montagnachmittag beim Silberputzen erzählt. »Wenn ich nur an ihn dachte, sah ich meinen Bruder vor mir.«
So hatte Agnes sich vor zwei Jahren, als dieser junge Mann mit einem Koffer aufgetaucht war und nach Mutti gefragt hatte, denken können, wen sie vor sich hatte.
Zu dem Zeitpunkt war Markus Behrend zwanzig Jahre alt gewesen. Seine Oma war gestorben. Der Opa hatte sich schon vor Jahren totgesoffen. Markus wusste nicht, wohin; zum Onkel, der eigentlich sein Vater war – was der junge Mann allerdings nicht wusste –, wollte er nicht ziehen. Blieb nur Mutti.
Begeistert von seinem Erscheinen war Marisa verständlicherweise nicht, bot ihrem Sohn dennoch eine Ausbildung zum Koch an und stellte ein Gästebett ins Arbeitszimmer. Die Wohnung im ersten Stock, in der sie bis dahin alleine gelebt hatte, war zwar hundertvierzig Quadratmeter groß, hatte aber trotzdem nur drei Zimmer, Küche, Diele und ein Bad.
Marisa ließ umgehend das Dachgeschoss ausbauen. Nach Fertigstellung zog sie eine Etage höher und trat die über Restaurant und Bar gelegene Wohnung an ihren Sohn ab. Als erwachsener Mann, und das war er doch mit zwanzig, sollte er sein eigenes Reich haben, meinte Marisa. Sie legte ebenfalls großen Wert auf ihre Privatsphäre und eine gewisse Distanz.
Dass Marisa sich von den Umständen und den widerlichen Kerlen nicht hatte unterkriegen lassen, verdiente allen Respekt, fand Agnes Kalwin. Jede Chance, die sich ihr bot, mochte sie noch so winzig sein, hatte Marisa ergriffen und es mit eisernem Willen zu etwas gebracht.
Agnes Kalwin wäre nie der Gedanke gekommen, Marisa für ihren früheren Lebenswandel zu verurteilen – im Gegenteil. Wenn jemand eine abfällige Äußerung über diese Frau machte, vergaß Agnes Kalwin ihre Einfalt, nicht jedoch ihre Verschwiegenheit. Auf diese konnte man Hochhäuser bauen, die auch einem Erdbeben der Stärke zwölf standgehalten hätten.
Kurz vor ihrer Scheidung war sie von einer Nachbarin einmal folgendermaßen angesprochen worden: »Dein Mann hat behauptet, du putzt jetzt in dem Puff da draußen.«
Der Frau hatte sie aber ordentlich Kontra gegeben. Nur wegen der roten Leuchtschrift über dem Eingang durfte niemand eine so unverschämte Behauptung aufstellen. Das Waldschlösschen war ein Nobelrestaurant, in dem die oberen Zehntausend verkehrten, von denen es im Kreis Heimberg nur ein paar Hundert gab, aber das spielte ja keine Rolle.
Sogar der Landrat, der sympathische Doktor Reuther, von dem es hieß, er wolle demnächst als Abgeordneter in den Bundestag nach Berlin, verkehrte bei Marisa. Seit seine Frau ihn mitsamt den beiden Kindern verlassen hatte, weil die Politik ihn so in Anspruch nahm, dass kaum Zeit für die Familie blieb, kam er regelmäßig. Obwohl er inständig hoffte, dass seine Frau sich bald mit seinem beruflichen Engagement arrangierte und zurückkehrte.
Agnes Kalwin wusste, dass Marisa insgeheim vom genauen Gegenteil träumte. Nämlich, dass er blieb und dass sich etwas Ernsthaftes zwischen ihnen beiden entwickeln könnte. Aber ein ambitionierter Politiker, der sich vorgenommen hatte, den Kreis Heimberg demnächst in Berlin zu vertreten, und eine Frau, die als blutjunges Mädchen in Frankfurt auf dem Babystrich angeschafft und nach der Geburt eines ungewollten Kindes in Köln für eine sogenannte Begleitagentur gearbeitet hatte, daraus konnte wohl auf Dauer nichts werden, obwohl Agnes Kalwin ihr das von ganzem Herzen gegönnt hätte.
Sie wurde gut behandelt und gut bezahlt, bekam täglich das Gefühl vermittelt, für Marisa nicht bloß Arbeitskraft, sondern eine Vertraute zu sein, mit der man auch über private und intime Dinge sprach. Es war ja sonst niemand da, dem Marisa ihr Herz hätte ausschütten können. Und Agnes Kalwin revanchierte sich für jede Wohltat und das uneingeschränkte Vertrauen auf ihre Weise, mit kleinen Gefallen, bedingungsloser Ergebenheit und – sehr zum späteren Leidwesen der Polizei – mit gründlicher Arbeit.