CIA-Spitzenagent Harry Lennox ermittelt unter strengster Geheimhaltung gegen die gefährliche Nazivereinigung »Bruderschaft der Wacht«. Er lässt sich dort einschleusen und gelangt an Informationen, die vor ihm niemand zu Gesicht bekam. Doch er wird enttarnt und verschwindet danach spurlos. Als er eines Tages wieder bei der CIA auftaucht, hat er ein Dokument in der Tasche, dessen Inhalt eine Gefahr für die westliche Welt darstellt. Es ist eine Liste, auf der die Namen hochrangiger Persönlichkeiten aufgeführt sind, die alle Parteigänger der Bruderschaft sind. Dieser politische Sprengstoff könnte das demokratische System der westlichen Staaten aus den Angeln heben. Aber ist die Liste echt? Und wer steckt dahinter? Die Suche nach der Wahrheit wird ein Wettlauf gegen die Zeit, der fast nicht zu gewinnen ist.
Der Autor
Robert Ludlums Romane wurden in über dreißig Sprachen übersetzt und er gilt als »größter Thrillerautor aller Zeiten« (The New Yorker). Robert Ludlum verstarb im März 2001 in seiner Heimatstadt Naples, Florida. Die Romane aus seinem Nachlass erscheinen bei Heyne.
Lieferbare Titel
Der Tristan-Betrug – Die Paris-Option – Das Genessee-Komplott – Das Bourne-Imperium – Das Sigma-Protokoll – Der Gandolfo-Anschlag – Der Janson-Befehl – Der Cassandra-Plan – Die Bourne-Identität – Der Prometheus-Verrat – Der Altman-Code – Der Ikarus-Plan – Das Jesus-Papier – Das Scarlatti-Erbe
Eine Bemerkung des Autors
Ich habe selten eine Widmung geschrieben, die länger als zwei oder drei Zeilen war. Das ist hier anders, und der Grund dafür liegt auf der Hand.
Für Mary, meine geliebte Frau in über vierzig Ehejahren, und unsere Kinder, Michael, Jonathan und Glynis, die die ganze Zeit Stärke, Entschlossenheit und unverzagte gute Laune (eine der Stützen unserer Familie) an den Tag gelegt haben. Ich hätte sie mir nicht besser wünschen können, und ich weiß nicht, wie ich meine Liebe und meine Dankbarkeit für sie ausreichend zum Ausdruck bringen kann.
»Ihr Vater ist jetzt vom Operationstisch runter.« »Und wer hebt ihn wieder auf?«
Für den brillanten Kardiologen Jeffrey Bender, M.D., und den hervorragenden Herz-Lungen-Chirurgen Dr. John Elefteriades und das ganze Operationsteam und all jene im Yale-New Haven Hospital, deren Fähigkeiten und Fürsorge jedes erdenkliche Maß übersteigen. (Obwohl man natürlich behaupten könnte, daß ich auch ein großartiger Patient war – nur leider ohne große Überzeugungskraft.)
Für unseren Neffen, Dr. Kenneth M. Kearns, ebenfalls ein hervorragender Chirurg, der seinen keineswegs heiligmäßigen Onkel mit einer Toleranz erträgt, wie sie sonst nur Märtyrer aufbringen. Und, Ken, vielen Dank für das »Listerin«. Und auch seinem Bruder Donald Kearns, Ph.D. Nuklearmedizin. (Wie habe ich es nur geschafft, in eine so talentierte Familie hineinzuheiraten?) Danke, Don, für deine täglichen Anrufe und Besuche. Und ihre Kollegen, Dres. William Preskenis und David »the Duke« Grisé vom Lungenteam. Ich habe verstanden, Ihr Mordskerle, und gebe mir verdammte Mühe, brav zu sein.
An unsere Vettern I.C. »Izzy« Ryducha und seine Frau Janet, die immer da waren, wenn wir sie brauchten.
An Dres. Charles Augenbraun und Robert Greene von der Notstation im Norwalk Hospital, Connecticut, und all die großartigen Leute, die einem ziemlich kranken Fremden das Gefühl vermitteln konnten, daß er vielleicht doch noch den nächsten Sonnenaufgang erleben würde. Keine Kleinigkeit.
Zuallerletzt und trotz aller Mühe, die ganze Geschichte nicht an die große Glocke zu hängen, an all die vielen Leute, Freunde und viele andere, die ich nie kennengelernt habe, die ich aber ganz sicherlich als Freunde betrachte: vielen Dank für all die Karten und Briefe mit Ihren guten Wünschen. Sie haben mir gutgetan, und ich bin für sie dankbar.
Aber jetzt wollen wir wieder fröhlichere Töne anschlagen; es gibt immer etwas zu lachen, selbst wenn die Zeiten noch so schlimm sind. Ein oder zwei Tage nach der Operation war eine freundliche Schwester damit beschäftigt, mich zu waschen, und dabei drehte sie mich mit großer Würde und blitzenden Augen auf meinem Bett herum und sagte: »Keine Angst, Mr. L., ich werde am Morgen immer noch Respekt vor Ihnen haben.«
Amen. Und allen noch einmal meinen tiefempfundenen Dank. Ich fühle mich stark genug, beim nächsten Marathonlauf mitzumachen.
Für jeden normal denkenden Menschen war es immer ein unergründliches Rätsel, wie das Naziregime so systematisch Böses tun konnte. Wie ein schwarzes Loch der Moral scheint es den Naturgesetzen zu widersprechen und ist doch auch Teil jener Natur.
David Ansen Newsweek, 20. Dezember 1993
In dieser Höhe herrscht noch Winter, und unten im Tal ist schon Frühling … Kommen Sie, unser Fahrzeug ist da. Folgen Sie mir.«
In der Ferne konnte man Motorengeräusch hören; die beiden Männer gingen schnell zwischen den Bäumen zu einer kleinen Lichtung, wo ein an einen Jeep erinnerndes Fahrzeug stand, nur viel größer und schwerer, auf dicken Ballonreifen mit tiefen Profilen.
»Was für ein Monstrum«, sagte der Amerikaner.
»Sie sollten stolz darauf sein, das ist ein amerikanisches Modell! Nach unseren Angaben in Ihrem Bundesstaat Michigan gebaut.«
»Was haben Sie denn gegen Mercedes?«
»Zu nahe und zu gefährlich«, erwiderte der Deutsche. »Wenn man so dicht vor seiner Haustür eine versteckte Festung bauen will, greift man nicht auf seine eigenen Hilfsmittel zurück. Was Sie in Kürze zu sehen bekommen werden, ist das Produkt der gemeinsamen Bemühungen mehrerer Länder – ihrer habgierigeren Geschäftsleute, das gebe ich zu, Geschäftsleute, die bereit sind, ihre Kunden und ihre Lieferungen als Gegenleistung für außergewöhnlich hohe Profite geheimzuhalten. Sobald die ersten Lieferungen erfolgt sind, werden diese Profite zu einem zweischneidigen Schwert; die Lieferungen müssen dann fortgesetzt werden, und es kommen vielleicht noch ein paar exotischere Dinge dazu. Aber das ist der Lauf der Welt.«
»Ganz sicher«, sagte Lassiter lächelnd und nahm seine Pelzmütze ab, um sich den Schweiß vom Haaransatz zu wischen. Er war knapp einen Meter achtzig groß, ein Mann in mittleren Jahren, dessen Alter die grauen Strähnen an den Schläfen und die feinen Fältchen um seine tiefliegenden Augen bestätigten; das Gesicht selbst war schmal und scharfgeschnitten. Jetzt setzte er sich ein paar Schritte hinter seinem Begleiter in Richtung auf das Fahrzeug in Bewegung. Was freilich weder sein Begleiter noch der Fahrer des überdimensionierten Vehikels sehen konnten, war, daß er immer wieder in die Tasche griff, unauffällig die Hand wieder herauszog und Metallkügelchen in das vom Schneesturm zerzauste Gras fallen ließ. Er hatte das die ganze letzte Stunde über getan, seit sie auf einer Bergstraße zwischen zwei Dörfern aus einem Lkw geklettert waren. Die Metallkugeln waren vorher einer Strahlung ausgesetzt worden, die man ohne Mühe mit Handscannern orten konnte. An der Stelle, wo der Lkw angehalten hatte, hatte er einen elektronischen Transponder aus seinem Gürtel geholt und so getan, als würde er straucheln, und das kleine Gerät zwischen zwei Felsbrocken geschoben. Die Spur war jetzt klar; das Peilgerät der Leute, die nach ihm kamen, würde an dem Punkt ausschlagen und durchdringende Pieplaute von sich geben.
Der Mann, den sein Begleiter mit Lassiter angesprochen hatte, übte einen höchst riskanten Beruf aus. Er sprach mehrere Sprachen, war als Agent für den amerikanischen Nachrichtendienst tätig und hieß Harry Lennox. In den sakrosankten Gemächern der Agency lautete sein Deckname Sting.
Die Reise in das Tal hinunter war für Lennox faszinierend. Er hatte mit seinem Vater und seinem jüngeren Bruder schon ein paar Berge bestiegen, aber das waren unbedeutende, völlig undramatische Gipfel in New England gewesen, mit dem hier in keiner Weise zu vergleichen. Hier war, je tiefer sie ins Tal kamen, der Wandel um so deutlicher – andere Farben, andere Gerüche, eine wärmere Brise. Allein auf der Ladebrücke des großen, offenen Wagens sitzend, entfernte er die heißen Kugeln aus seiner Tasche und bereitete sich auf die gründliche Durchsuchung vor, die er erwartete; er war sauber. Und er befand sich in Hochstimmung. Es war da! Er hatte es gefunden! Dennoch war selbst Harry Lennox, als sie schließlich die Talsohle erreicht hatten, überrascht von dem, was er wirklich gefunden hatte.
Bei den knapp acht Quadratkilometern, die das Tal umfaßte, handelte es sich in Wirklichkeit um einen nahezu perfekt getarnten Militärstützpunkt. Die Dächer der verschiedenen einstöckigen Bauwerke waren so gestrichen, daß sie praktisch in ihre Umgebung übergingen, und größere Partien der Felder waren mit einem fünf Meter hohen Gitterwerk aus Seilen und Tauen überdacht. Unter diesem Netzwerk gab es mit grüner Tarnplane aus Plastik überspannte Korridore, durch die graue Motorräder mit Beiwagen jagten. Die Fahrer und ihre Passagiere trugen Uniform, und dahinter konnte man Gruppen von Männern und Frauen bei allen möglichen Übungen sehen. Was Harry Lennox besonders auffiel war, daß sich offenbar alles in ständiger Bewegung befand. Von dem ganzen Tal ging eine geradezu furchterregende Intensität aus, aber das galt natürlich auch für die ganze Bruderschaft, und dies hier war der Schoß, aus dem sie kroch.
»Beeindruckend, nicht wahr, Herr Lassiter?« schrie der Deutsche, der neben dem Fahrer saß, als sie das Tal erreicht hatten und in einen mit grüner Tarnplane überdachten Korridor fuhren.
»Unglaublich«, pflichtete der Amerikaner ihm bei. »Alle Achtung.«
Der Deutsche lächelte Alexander Lassiter, alias Harry Lennox aus Stockbridge, Massachusetts, mit ausdrucksloser Miene an. »Wir begeben uns direkt zum Oberbefehlshaber. Der Kommandant ist sehr erpicht darauf, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
Zweiunddreißig Monate aufreibender Arbeit würden jetzt bald Früchte tragen, dachte Lennox. Beinahe drei Jahre, in denen er ein Leben aufgebaut, ein Leben gelebt hatte, das nicht seines war, würden jetzt zu Ende gehen. Die aufreibenden Reisen durch Europa und den Nahen Osten, wo er sich mit dem Abschaum der Erde hatte treffen müssen – Waffenhändlern ohne Gewissen, deren Profite in Tankerladungen voll Blut gemessen wurden; Drogenbaronen, die Generationen von Kindern auf der ganzen Welt zum Tod oder zu einem Krüppeldasein verurteilten, käuflichen Politikern, ja Staatsmännern, die Gesetze beugten und manipulierten – das alles war vorbei. Die hektischen Bewegungen gigantischer Geldbeträge durch Schweizer Konten würden ein Ende haben, und all die geheimen Nummern und Spektrographen-Unterschriften, die alle zu den tödlichen Spielen des internationalen Terrorismus gehörten. Harry Lennox’ persönlicher Alptraum, so wichtig er auch war, war vorbei.
»Wir sind da, Herr Lassiter«, sagte Lennox’ deutscher Begleiter, als das Fahrzeug an einer Barackentür unter dem Tarnnetz hoch über ihnen anhielt. »Jetzt ist es viel wärmer, viel angenehmer, nicht wahr?«
»Kann man wohl sagen«, antwortete der Agent und stieg aus dem Wagen. »Ich schwitze jetzt sogar unter meiner Kleidung.«
»Wir können drinnen die Schutzkleidung ausziehen und sie trocknen lassen, damit Sie sie für die Reise zurück wieder haben.«
»Da wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ich muß heute abend wieder in München sein.«
»Ja, das wissen wir. Kommen Sie, der Kommandant erwartet Sie.« Als die beiden Männer auf die schwere, schwarz lackierte Holztür mit dem roten Hakenkreuz in der Mitte zugingen, war über ihnen in der Luft ein zischendes Geräusch zu hören. Durch das Tarnnetz konnte man ein weißes Segelflugzeug erkennen, das sich kreisend ins Tal heruntersenkte. »Wie gefällt Ihnen das, Herr Lassiter? Das Mutterflugzeug hat den Segler in einer Höhe von etwa vierhundert Metern abgesetzt. Der Pilot muß natürlich erstklassig ausgebildet sein, denn die Thermik ist hier gefährlich und unberechenbar. Man setzt solche Segler nur im äußersten Notfall ein.«
»Wie es runterkommt, kann ich sehen. Aber wie kommt es wieder hinauf?«
»Dieselbe Thermik, in dem Fall nur durch Startraketen unterstützt, die dann abgeworfen werden. In den dreißiger Jahren haben wir Deutschen die fortschrittlichsten Segelflugzeuge entwickelt, die es damals auf der Welt gab.«
»Wirklich erstaunlich«, sagte Lassiter, als sein Begleiter die Tür öffnete. »Man muß Ihnen allen wirklich gratulieren. Wirklich hervorragende Geheimhaltung. Exzellent!« Lennox sah sich mit gespielter Nonchalance in dem großen Saal um. Es wimmeln geradezu von modernsten Computeranlagen, einer Unzahl von Bildschirmen und Schaltkonsolen an den Wänden, vor denen uniformiertes Bedienungspersonal, allem Anschein nach Männer und Frauen gleichmäßig verteilt, tätig war. Männer und Frauen – da war etwas Eigenartiges, zumindest war es nicht ganz normal. Aber was war es? Und dann wußte er es; jeder einzelne der Uniformierten war jung, meist Mitte Zwanzig, überwiegend blond oder hellhaarig mit sonnengebräunter Haut. Als Gruppe wirkten sie geradezu auffällig attraktiv, wie von einer Werbeagentur zusammengetrommelte Fotomodelle, die vor den Computerprodukten eines Klienten posieren sollten, um die Botschaft zu vermitteln, potentielle Kunden dieser Firma könnten auch so aussehen, wenn sie die Ware kauften.
»Jeder einzelne von ihnen ist Experte, Mr. Lassiter«, sagte eine ihm unbekannte Stimme hinter Lennox. Der Amerikaner fuhr herum. Der Mann, der gesprochen hatte, war mit ihm etwa gleichaltrig und trug einen Tarnanzug und eine Offiziersmütze der Wehrmacht; er war lautlos aus einer offenen Tür zur Linken getreten. »General Ulrich von Schnabe«, fuhr er fort und streckte ihm die Hand hin. »Ich betrachte es als ein Privileg, die Bekanntschaft einer lebenden Legende machen zu dürfen.«
»Sie sind zu liebenswürdig, Herr General. Ich bin lediglich ein internationaler Geschäftsmann, aber wenn Sie so wollen, mit einer ausgeprägten ideologischen Überzeugung.«
»Zu der Sie zweifellos in all den Jahren gelangt sind, in denen Sie das internationale Geschehen beobachtet haben?«
»Das könnte man allerdings sagen. Es heißt, Afrika sei die Wiege der Menschheit gewesen, aber während die anderen Kontinente sich im Lauf der Jahrtausende entwickelt haben, ist Afrika der schwarze Erdteil geblieben, die Heimat minderwertiger Menschen.«
»Gut formuliert, Mr. Lassiter. Und doch haben Sie Millionen, manche sagen sogar Milliarden, damit verdient, indem Sie diese dunkelhäutigen Rassen bedient haben.«
»Warum nicht? Gibt es für einen Menschen wie mich denn eine größere Befriedigung, als den Untermenschen dabei zu helfen, sich gegenseitig abzuschlachten?«
»Hervorragend formuliert … Sie haben unsere Leute hier studiert, ich habe Sie dabei beobachtet. Sie können selbst sehen, daß sie alle, jeder einzelne von ihnen, von arischem Geblüt sind. Das gilt für alle, die hier in unserem Tal leben. Sie alle sind sorgfältig ausgewählt, und ihre Herkunft ist überprüft worden. Ihre Loyalität ist absolut und über jeden Zweifel erhaben.«
»Der Traum des Lebensborns«, sagte der Amerikaner leise, beinahe ehrfürchtig. »Die Zuchtanstalten, wo die besten SS-Offiziere mit starken teutonischen Frauen gepaart wurden -«
»Eichmann hat Studien veranlaßt. Dabei ergab sich, daß die nordgermanische Frau nicht nur die beste Knochenstruktur in Europa und außergewöhnliche Kräfte besitzt, sondern auch eine ausgeprägte Unterwürfigkeit dem Mann gegenüber an den Tag legt«, unterbrach ihn der General.
»Die wahre Herrenrasse«, schloß Lassiter bewundernd. »Möge der Traum in Erfüllung gehen.«
»Das ist er in großem Maß, erklärte von Schnabe ruhig. »Wir glauben, daß viele, wenn nicht sogar die Mehrzahl der hier Anwesenden, die Kinder jener Kinder sind. Wir haben Listen vom Roten Kreuz in Genf an uns gebracht und jahrelang jede einzelne Familie recherchiert, denen man Lebensbornsäuglinge zugeteilt hatte. Diese und andere, die wir noch in ganz Europa rekrutieren werden, sind die Sonnenkinder, die Erben des Reichs!«
»Unvorstellbar.«
»Unsere Hand reicht weit, und die von uns Ausgewählten melden sich von überall her, weil die Umstände dieselben sind. So wie in den zwanziger Jahren der Würgegriff des Versailler Friedensdiktats zum wirtschaftlichen Zusammenbruch der Weimarer Republik führte und damit bewirkte, daß unerwünschte Elemente nach Deutschland strömten, hat auch der Zusammenbruch der Berliner Mauer zum Chaos geführt. Wir sind eine Nation, die in hellen Flammen steht, minderwertige Nichtarier dringen in Strömen über unsere Grenzen, nehmen uns die Arbeit weg, beschmutzen unsere Moral und machen unsere Frauen zu Huren. Dem muß ein Ende gemacht werden! Sie stimmen mir doch zu?«
»Warum wäre ich sonst hier, General? Ich habe Millionen über die Banken von Algier und Marseille zu Ihnen geschleust. Mein Kennwort war Frères – Brüder – und ich hoffe, es ist Ihnen vertraut.«
»Aus diesem Grunde umarme ich Sie auch aus ganzem Herzen, so wie die ganze Bruderschaft.«
»Dann lassen Sie mich Ihnen jetzt mein abschließendes Geschenk übergeben, General, abschließend sage ich, weil Sie mich nicht mehr brauchen werden … sechsundvierzig Marschflugkörper aus den Arsenalen Saddam Husseins, von seinem Offizierskorps vergraben, weil sie glaubten, er würde nicht überleben. Ihre Sprengköpfe können auch chemische Ladung tragen – Gase, die ganze Stadtviertel bewegungsunfähig machen können. Diese Sprengköpfe werden natürlich ebenso wie die Abschußrampen mitgeliefert. Ich habe fünfundzwanzig Millionen Dollar dafür bezahlt. Zahlen Sie mir, was Sie können, und wenn es weniger ist, werde ich meinen Verlust in Ehren hinnehmen.«
»Sie sind wahrhaftig ein Mann von großer Ehre, Herr Lassiter.«
Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Mann in einem schneeweißen Overall trat ein. Er sah sich um, bis sein Blick auf von Schnabe fiel, und ging dann mit schnellen Schritten auf ihn zu, salutierte und überreichte dem General einen verschlossenen Umschlag. »Das ist es«, sagte der Mann in deutscher Sprache.
»Vielen Dank«, erwiderte von Schnabe, öffnete den Umschlag, und entnahm ihm einen kleinen Plastikbeutel. »Sie sind ein guter Schauspieler, Herr Lassiter, aber ich glaube, Sie haben etwas verloren. Unser Pilot hat es mir gerade gebracht.« Der General ließ den Inhalt des Beutels in seine Hand fallen. Es war der Transponder, den Harry Lennox am Rand der Bergstraße zwischen Felsbrocken geschoben hatte. Die Jagd war zu Ende. Harrys Hand fuhr schnell an sein rechtes Ohr. »Festhalten!« schrie von Schnabe, aber der Pilot hatte Lennox’ Arm schon gepackt und ihn ihm im Polizeigriff auf den Rücken gebogen. »Für Sie wird es kein Zyankali geben, Mr. Harry Lennox aus Stockbridge, Massachussetts. Wir haben andere Pläne für Sie, brillante Pläne.«
1
Die Morgensonne blendete, so daß der alte Mann beim Kriechen durch das Gebüsch mehrere Male blinzeln mußte, und sich immer wieder etwas zittrig mit dem rechten Handrücken über die Augen fuhr. Von der kleinen Kuppe aus konnte man auf einen eleganten Landsitz im Loiretal hinunterblicken. Die mit Steinplatten belegte Terrasse, zu der ein von Blumen gesäumter, ebenfalls mit Platten belegter Weg führte, lag knapp hundert Meter unter ihm. Die linke Hand des alten Mannes hielt einen Karabiner fest, dessen Schulterriemen gestrafft war. Das Visier der Waffe war auf die exakte Entfernung eingestellt. Die Waffe war schußbereit. Bald würde sein Ziel – ein Mann, der noch älter war als er – im Fadenkreuz des Zielfernrohrs erscheinen. Das Monster würde in seinen wallenden Morgenrock gehüllt seinen morgendlichen Spaziergang zur Terrasse machen, und als Belohnung für seine sportliche Leistung würde ihn sein Morgenkaffee mit einem Schuß erlesenen Cognacs erwarten. Eine Belohnung freilich, die er an diesem Morgen nicht mehr würde genießen können. Stattdessen würde er sterben, würde zwischen den Blumen zusammenbrechen: der Tod des Inbegriffs des Bösen inmitten von Schönheit, eine passende Ironie des Schicksals.
Jean-Pierre Jodelle, achtundsiebzig Jahre alt und einstmals ein leidenschaftlicher Anführer der Résistance, hatte fünfzig Jahre gewartet, um ein Versprechen zu erfüllen, eine Verpflichtung, die er vor sich und seinem Gott eingegangen war. Vor Gericht war er gescheitert; nein, nicht gescheitert, beleidigt hatte man ihn, alle hatten sie über ihn gelacht und ihm gesagt, er solle doch seine albernen Phantasievorstellungen in eine Zelle in einer Irrenanstalt mitnehmen, wo er hingehörte. Der große General Monluc war ein wahrer Held Frankreichs, ein enger Gefährte Charles André de Gaulles, des glanzvollsten aller Soldaten und Staatsmänner, der während des ganzen Krieges über die Radiofrequenzen der Untergrundbewegung mit Monluc in Verbindung geblieben war.
Es war alles merde! Monluc war ein Wendehals, ein Feigling und ein Verräter! Dem arroganten De Gaulle hatte er Belanglosigkeiten geliefert, die er als nachrichtendienstliche Erkenntnisse hinstellte, und sich zugleich die eigenen Taschen mit dem Gold der Nazis gefüllt. Und dann, als alles vorüber war, hatte le grand Charles voll euphorischer Begeisterung Monluc als einen Mann, dem Ehre gebührte, bezeichnet. Für ganz Frankreich kam das einem Befehl gleich.
Merde! Wie wenig De Gaulle doch gewußt hatte! Monluc hatte die Exekution von Jodelles Frau und seines ersten Sohnes, eines fünfjährigen Kindes, angeordnet. Ein zweiter Sohn, ein sechsmonatiger Säugling, war verschont worden, vielleicht wegen der verdrehten Logik des Wehrmachtsoffiziers, der gesagt hatte: »Er ist kein Jude, vielleicht findet ihn jemand.«
Es fand ihn jemand. Ein Mitkämpfer aus der Résistance, ein Schauspieler von der Comédie Française. Er fand das schreiende Baby inmitten des verwüsteten Hauses am Rande von Barbizon, wo er sich am Morgen darauf zu einem Geheimtreffen hätte einfinden sollen. Der Schauspieler hatte das Kind seiner Frau nach Hause gebracht, einer gefeierten Schauspielerin, die die Deutschen verehrten – eine Zuneigung, die sie nicht erwiderte, denn ihre Auftritte waren befohlen, nicht etwa freiwillig geleistet. Und als der Krieg zu Ende ging, war Jodelle ein Skelett seines früheren Ichs, physisch nicht mehr wiederzuerkennen und geistig nicht mehr herzustellen, und das wußte er auch. Drei Jahre in einem Konzentrationslager, in dem er die Leichen vergaster Juden, Zigeuner und »Unerwünschter« aufeinandergestapelt hatte, hatten ihn beinahe zu einem Idioten gemacht, einem Mann mit einem beständigen nervösen Tic am Hals, unkontrollierbarem Blinzeln, plötzlichem kehligen Aufschreien und all dem anderen, das mit solch schweren psychischen Schäden einherging. Er hatte sich seinem überlebenden Sohn oder den »Eltern«, die ihn aufgezogen hatten, nie zu erkennen gegeben. Stattdessen beobachtete Jodelle auf seinen Zügen durch die Eingeweide von Paris, bei denen er immer wieder seinen Namen wechselte, aus der Ferne wie das Kind langsam zum Mann heranwuchs und nach und nach einer der populärsten Schauspieler Frankreichs wurde.
Und Monluc, das Monstrum, das sich jetzt auf das Fadenkreuz in Jodelles Zielfernrohr zubewegte, hatte diese Trennung und diesen unerträglichen Schmerz verursacht. Nur Sekunden noch und das Versprechen würde erfüllt sein, das er vor Gott abgelegt hatte.
Plötzlich war ein schrecklicher Knall zu hören, und Jodelles Rücken stand in Flammen, so daß er den Karabiner fallen ließ. Er fuhr herum und blickte erschreckt auf die zwei Männer in Hemdsärmeln, die auf ihn herunterblickten und von denen einer eine Bullenpeitsche in der Hand hielt.
»Es wäre mir ein Vergnügen, dich zu töten, du kranker alter Idiot, aber dein Verschwinden würde nur zu Komplikationen führen«, sagte der Mann mit der Peitsche. »Mit deinem vom Wein umnebelten Verstand plapperst du ja unentwegt Blödsinn. Besser, du gehst nach Paris zurück zu den anderen betrunkenen Landstreichern. Verschwinde hier, sonst stirbst du!«
»Wie …? Woher wußtet ihr …?«
»Du bist doch reif für die Klapsmühle, Jodelle, oder wie du dich auch sonst gerade nennst«, sagte der Wachmann neben dem Mann mit der Peitsche. »Meinst du, wir hätten dich die letzten zwei Tage nicht beobachtet, wie du mit deinem Karabiner durchs Gebüsch gekrochen bist? Früher warst du viel besser, hat man mir erzählt.«
»Dann bringt mich doch um, ihr Schweinehunde! Ich würde lieber hier sterben, nachdem ich ihm so nahe gekommen bin, als weiterleben.«
»Oh nein, das wäre dem General nicht recht«, sagte der Mann mit der Peitsche. »Du könntest ja anderen gesagt haben, was du vorhast, und wir wollen nicht, daß man auf diesem Besitz nach dir oder deiner Leiche sucht. Du bist verrückt, Jodelle, das weiß jeder. Das haben die Gerichte ja festgestellt.«
»Die sind doch korrupt!«
»Und du bist paranoid.«
»Ich weiß, was ich weiß!«
»Und ein Säufer bist du auch, das bestätigen ein Dutzend Cafés am Rive Gauche, die dich rausgeworfen haben. Trink dich doch zur Hölle, aber verschwinde hier, ehe ich dich jetzt dorthin schicke. Steh auf! Und dann lauf weg, so schnell dich deine krummen Beine tragen!«
Der Vorhang senkte sich nach der letzten Szene der Aufführung, einer französischen Übersetzung von Shakespeares Coriolanus, neu belebt von Jean-Pierre Villier, dem fünfzigjährigen Schauspieler, der jetzt der König der Pariser Bühne ebenso wie der französischen Leinwand war und den man kürzlich nach auf seinem ersten in den Vereinigten Staaten gedrehten Film für einen Oscar nominiert hatte. Der Vorhang hob sich wieder, senkte sich herab und hob sich erneut, als der große, breitschultrige Villier sich lächelnd und mit leichtem Händeklatschen bei seinen Zuschauern bedankte. Niemand schien auf den Akt des Wahnsinns vorbereitet, der kurz bevorstand.
Aus den hinteren Reihen des Theaters taumelte ein alter Mann in zerfetzter, schäbiger Kleidung den Mittelgang herunter und schrie so laut seine heisere Stimme das erlaubte. Plötzlich hatte er ein Gewehr in der Hand, und von den Wänden des Theaters hallten Entsetzensschreie wider. Villier bewegte sich schnell, schob die paar Schauspieler und Bühnentechniker beiseite, die neben ihm an die Rampe getreten waren.
»Einen wütenden Kritiker kann ich akzeptieren, Monsieur!« donnerte er und trat so dem abgerissenen alten Mann entgegen, der sich der Bühne näherte. »Aber das ist verrückt!« dröhnte seine markante Stimme, die jeden Zuhörer in ihren Bann zwang. »Legen Sie Ihre Waffe weg, dann reden wir!«
»Für mich gibt es nichts mehr zu reden, mein Sohn! Mein einziger Sohn! Ich habe dich und deine Mutter im Stich gelassen, ich bin nutzlos, ein Nichts! Du sollst nur wissen, daß ich es versucht habe … ich liebe dich, mein Sohn, und ich habe es versucht, aber ich habe es nicht geschafft!«
Mit diesen Worten drehte der alte Mann sein Gewehr herum, schob sich den Lauf in den Mund und seine rechte Hand griff nach dem Abzug. Als er abdrückte, riß es ihm die hintere Kopfhälfte weg, und Blut und Gehirnmasse bespritzten alle um ihn herum.
»Wer, zum Teufel, war dieser Mann?« rief Jean-Pierre Villier in seiner Garderobe erschüttert aus. Seine Eltern standen neben ihm. »Er hat so verrücktes Zeug geredet und sich dann selbst getötet. Warum?«
Die beiden Villiers, die jetzt Ende der Siebzig waren, sahen einander an. Dann nickten sie.
»Wir müssen mit dir reden«, sagte Catherine Villier und massierte dem Mann, den sie als ihren Sohn großgezogen hatte, den Nacken. »Vielleicht sollte deine Frau auch dabei sein.«
»Das ist nicht nötig«, fiel ihr der Vater ins Wort. »Das kann er selbst entscheiden, wenn er es für nötig hält.«
»Du hast recht, mein Lieber. Es ist seine Entscheidung.«
»Wovon redet ihr beiden eigentlich?«
»Wir haben dir viele Dinge vorenthalten, mein Sohn. Dinge, die dir damals in deiner Jugend vielleicht hätten schaden können -«
»Mir schaden?«
»Wir waren ein besetztes Land, und der Feind suchte dauernd nach denen, die sich insgeheim den Siegern widersetzten. In vielen Fällen haben sie ganze Familien, die sich verdächtig machten, eingesperrt und gefoltert.«
»Natürlich, die Résistance«, unterbrach Villier. »Ihr wart ja beide in der Résistance, das habt ihr mir erzählt, wenn ihr mir auch nie gesagt habt, was ihr im einzelnen gemacht habt.«
»Es ist besser, das zu vergessen«, sagte die Mutter. »Es war eine schreckliche Zeit – so viele, die man als Kollaborateure angeprangert und geschlagen hat, haben in Wirklichkeit nur ihre Familie beschützt.«
»Aber dieser Mann im Theater, dieser verrückte Clochard! Er hat mich als seinen Sohn bezeichnet … Ich kann mich ja mit einem gewissen Maß an übertriebener Hingabe abfinden – das muß man in diesem Beruf, wenn es auch noch so unsinnig ist – aber sich vor meinen Augen umzubringen? Das ist doch Wahnsinn!«
»Er war wahnsinnig, von all dem, was er durchlitten hat, in den Wahnsinn getrieben«, sagte Catherine.
»Ihr habt ihn gekannt?«
»Ja, sehr gut sogar«, erwiderte der alte Schauspieler Julian Villier. »Er hieß Jean-Pierre Jodelle, er war einmal ein vielversprechender junger Bariton an der Oper und wir, deine Mutter und ich, haben uns nach der Niederlage von 1940 verzweifelt bemüht, ihn zu finden. Aber es gab keine Spur von ihm. Und da wir wußten, daß die Deutschen ihn entdeckt und in ein Konzentrationslager geschickt hatten, nahmen wir an, daß er wie Tausende andere auch tot war.«
»Warum habt ihr versucht ihn zu finden? Was hat er euch bedeutet?«
Die einzige Mutter, die Jean-Pierre je gekannt hatte, kniete neben seinem Garderobenstuhl nieder; ihre feingeschnittenen Züge ließen auch heute noch den großen Star erkennen, der sie einmal gewesen war; ihre blaugrünen Augen unter ihrem vollen weißen Haar bohrten sich förmlich in die seinen. »Nicht nur uns, mein Sohn«, sagte sie leise, »auch dir. Er war dein leiblicher Vater.«
»Oh mein Gott! … Dann seid ihr -«
»Deine leibliche Mutter«, unterbrach ihn Villier père ruhig, »war ein Mitglied der Comédie -«
»Ein hervorragendes Talent«, unterbrach ihn Catherine, »sie wußte in jenen schrecklichen Jahren nicht, ob sie mehr die jugendliche Naive war, wie ihre Rollen es von ihr verlangten, oder eine Frau. Und es war wirklich eine schreckliche Zeit mit den Besatzungssoldaten überall. Sie war ein reizendes Mädchen, und für mich war sie wie eine jüngere Schwester.«
»Bitte!« rief Jean-Pierre und sprang auf, während die Frau, die er bisher als seine Mutter betrachtet hatte, aufstand und sich neben ihren Mann stellte. »Das kommt alles so schnell, ist so erschütternd! Ich … Ich kann nicht denken!«
»Manchmal ist es besser, eine Weile das Denken einzustellen, mein Sohn«, sagte der ältere Villier. »Bleib einfach eine Weile starr und betäubt, bis dein Verstand dir sagt, daß er bereit ist, das Neue aufzunehmen.«
»Das hast du mir vor vielen Jahren häufiger gesagt«, sagte der Schauspieler mit einem betrübten und zugleich warmen Lächeln zu Julian, »immer hast du das gesagt, wenn ich Probleme mit einer Szene oder einem Monolog hatte und ich sie nicht richtig begreifen konnte. Du hast dann immer gesagt ›Lies die Worte einfach immer wieder, ohne dich so zu bemühen. Dann kommt es von allein.‹«
»Das war ein gutgemeinter Rat, Julian.«
»Ich war immer als Lehrer besser denn als Schauspieler.«
»Richtig«, sagte Jean-Pierre leise.
»Wie bitte? Du gibst mir recht?«
»Ich meinte nur, Vater, daß du, wenn du auf der Bühne warst, du … du -«
»Da war immer ein Stück von dir, das sich auf die anderen konzentriert hat«, kam ihm Catherine Villier zu Hilfe und tauschte wissende Blicke mit ihrem Sohn – der nicht ihr Sohn war.
»Ah, ihr beiden verschwört euch wieder gegen mich, das geht ja schon seit Jahren so, wie? Zwei große Stars, die zu einem kleineren Talent nett sind … Gut! Das hätten wir dann hinter uns … Jetzt haben wir ein paar Augenblicke nicht an heute abend gedacht. Jetzt können wir vielleicht reden.«
Schweigen.
»Um Himmels willen, sagt mir, was passiert ist!« rief Jean-Pierre schließlich aus.
In diesem Augenblick klopfte es an der Tür; gleich darauf trat der alte Nachtwächter des Theaters ein. »Entschuldigen Sie die Störung, aber ich dachte, Sie sollten das erfahren. An der Bühnentür warten immer noch Reporter. Sie wollen weder der Polizei noch mir glauben. Wir haben gesagt, Sie seien schon vor einer Weile durch den Haupteingang weggegangen, aber sie lassen sich nicht überzeugen. Sie können jedenfalls nicht herein.«
»Dann werden wir noch eine Weile hierbleiben, wenn nötig die ganze Nacht – ich zumindest werde das. Im Nebenzimmer ist eine Couch, und ich habe bereits meine Frau angerufen. Sie hat alles in den Nachrichten gehört.«
»Sehr wohl, Monsieur … Madame Villier und auch Sie, Monsieur, trotz der schrecklichen Umstände ist es wirklich eine große Freude, Sie beide wiederzusehen. Wir alle erinnern uns sehr gerne an Sie.«
»Vielen Dank, Charles«, sagte Catherine. »Sie sehen gut aus, mein Freund.«
»Noch besser würde ich aussehen, wenn Sie wieder auf der Bühne wären, Madame.« Der Mann nickte und schloß die Tür hinter sich.
»Weiter, Vater. Was ist damals geschehen?«
»Wir waren alle in der Résistance«, begann Julian Villier und nahm auf einem kleinen Sofa Platz, »Künstler, die sich gegen einen Feind zusammengetan hatten, der jede Kunst zerstören würde. Und wir verfügten über gewisse Talente, die uns dienlich waren. Musiker übermittelten Nachrichten, indem sie einzelne Phrasen einfügten, die nicht in der Partitur enthalten waren; Bühnenmaler produzierten die Plakate, die die Deutschen verlangten, und benutzten auf subtile Weise Farben und Bilder, die ebenfalls als Codes dienten. Und wir im Theater veränderten beständig die Texte, ganz besonders die von wohlbekannten Stücken und gaben auf die Weise häufig direkte Instruktionen an die Saboteure -«
»Ja, ja«, sagte Jean-Pierre ungeduldig. »Ich habe die Geschichten alle gehört. Aber danach frage ich jetzt nicht. Ich weiß, es ist für euch genauso schwierig wie für mich, aber bitte sagt mir, was ich wissen muß.«
Die beiden alten Leute sahen einander tief in die Augen; dann nickte die Frau, als sie sich so fest bei der Hand nahmen, daß die Venen hervortraten. »Jodelle wurde entdeckt«, sagte ihr Mann, »ein junger Kurier, der der Folter nicht widerstehen konnte, hat ihn verraten. Die Gestapo umringte sein Haus und wartete eines Abends auf seine Rückkehr. Aber er konnte nicht kommen, weil er in Le Havre war und dort in der frühen Planungsphase der Invasion mit britischen und amerikanischen Agenten den Kontakt herstellte. Es hieß, der Anführer der Gestapo-Einheit sei, als schließlich der Morgen dämmerte, wütend geworden. Das Haus wurde gestürmt und deine Mutter und dein älterer Bruder, ein fünfjähriges Kind, wurden exekutiert. Jodelle griffen sie einige Stunden später auf; wir konnten ihn verständigen, daß du überlebt hattest.«
»Oh … mein Gott!« Der gefeierte Schauspieler wurde bleich und seine Augen schlossen sich, als er in seinen Sessel sank. »Diese Ungeheuer! … Nein, wartet, was habt ihr da gerade gesagt? ›Es hieß, der Anführer der Gestapo -‹ Es hieß? Das ist nicht bestätigt?«
»Du begreifst sehr schnell, Jean-Pierre«, stellte Catherine fest. »Du hörst zu, deshalb bist du ein großer Schauspieler.«
»Zur Hölle damit, Mutter! Was hast du gemeint, Vater?«
»Es war bei den Deutschen nicht üblich, die Familien von Résistance-Kämpfern zu töten, egal ob ihre Zugehörigkeit zur Widerstandsbewegung nun erwiesen oder nur vermutet war. Sie hatten andere Verwendung für sie – man folterte sie, um an Informationen zu gelangen, oder benutzte sie als Köder für andere, und dann gab es immer Zwangsarbeit, Frauen für das Offizierskorps, eine Kategorie, in die deine leibliche Mutter mit Sicherheit gekommen wäre.«
»Warum hat man sie dann getötet? … Nein, zuerst ich. Wie habe ich überlebt?«
»Ich kam auf dem Weg zu einem Treffen im Wald von Barbizon, das in den frühen Morgenstunden stattfinden sollte, an eurem Haus vorbei, sah die eingeschlagenen Fenster, die eingetretene Tür, und hörte ein kleines Kind weinen. Dich. Mir war sofort alles klar, und das Treffen fiel natürlich aus. Ich brachte dich nach Hause, fuhr mit dem Fahrrad auf Nebenstraßen nach Paris.«
»Dir dafür zu danken, ist es heute ein wenig spät, aber noch einmal: Warum hat man meine – meine leibliche Mutter und meinen Bruder erschossen?«
»Jetzt hast du nicht richtig aufgepaßt, mein Sohn«, sagte der ältere Villier.
»Was?«
»In dem Schock, den dir das alles bereitet haben muß, hast du nicht so genau hingehört, wie vorher, als ich die Ereignisse jener Nacht schilderte.«
»Hör jetzt auf, Papa! Sag, was du meinst!«
»Ich habe gesagt ›exekutiert‹, du hast gesagt ›erschossen‹.«
»Ich verstehe nicht …«
»Jodelle erwähnte gegenüber einigen wenigen von uns, daß es einen Mann in der Résistance gab, der so weit oben stand, daß man von ihm wie von einer Legende nur im Flüsterton sprach; seine wahre Identität war eines der bestgehüteten Geheimnisse der Bewegung. Jodelle behauptete nun, er habe erfahren, wer dieser Mann sei und daß eben dieser Mann in Wirklichkeit kein großer Held, sondern vielmehr ein Verräter sei.«
»Und wer war er?« bohrte Jean-Pierre.
»Das hat er uns nie gesagt. Er sagte lediglich, der Mann sei ein General in unserer Armee und davon gab es Dutzende. Er sagte, wenn er recht habe, und einer von uns den Namen des Mannes verlauten ließe, würden wir von den Deutschen erschossen werden. Wenn er Unrecht hätte und jemand in diffamierender Weise von ihm redete, dann würde es heißen, unser Flügel sei nicht stabil, und man würde uns nicht mehr vertrauen.«
»Und was wollte er dann tun?«
»Falls es ihm gelingen sollte, seinen Verdacht eindeutig zu beweisen, würde er den Mann selbst beseitigen. Er schwor, daß er dazu in der Lage sei. Wir nahmen an – und ich glaube bis zum heutigen Tage, zu recht – daß der Verräter, wer auch immer er war, irgendwie von Jodelles Verdacht erfuhr, und Anweisung gab, ihn und seine Familie hinzurichten.«
»Und das war alles? Sonst nichts?«
»Du mußt versuchen, die damaligen Umstände und die Zeit, in der das damals geschah, zu verstehen, mein Sohn«, sagte Catherine Villier. »Ein falsches Wort, ja sogar ein feindseliger Blick oder eine Geste, konnten zur sofortigen Festnahme führen und zur Folge haben, daß man ins Gefängnis gesteckt oder deportiert wurde. Die Besatzungsstreitkräfte, ganz besonders die ehrgeizigen subalternen Offiziere, hegten geradezu fanatischen Argwohn gegenüber allem und jedem. Jede neue Aktion der Résistance schürte ihre Wut. Es war niemand sicher. Eine Hölle, wie sie nicht einmal Kafka hätte erfinden können.«
»Und ihr habt ihn bis heute abend nie wieder zu Gesicht bekommen?«
»Wenn wir ihn gesehen hätten, hätten wir ihn nicht erkannt«, erwiderte Villier père. »Ich hatte Mühe, seine Leiche zu identifizieren.«
»Vielleicht war er es gar nicht. Ist das möglich, Vater?«
»Nein, es war Jodelle. Seine Augen waren im Tod geweitet und immer noch so blau, so strahlend blau wie ein wolkenloser Himmel am Mittelmeer – wie die deinen, Jean-Pierre.«
»Jean-Pierre …?« wiederholte der Schauspieler leise. »Ihr habt mir seinen Namen gegeben?«
»Es war auch der Name deines Bruders«, korrigierte ihn die Schauspielerin mit leiser Stimme. »Das arme Kind brauchte ihn nicht mehr, und wir dachten, daß du ihn Jodelle zu Ehren tragen solltest.«
»Das war sehr fürsorglich von euch -«
»Wir wußten, daß wir dir die wahren Eltern nie würden ersetzen können«, fuhr die Schauspielerin schnell, beinahe bittend fort, »aber wir haben uns die größte Mühe gegeben, mein Liebling. In unserem gemeinsamen Testament haben wir alles festgehalten, was geschehen ist. Aber bis heute abend hatten wir beide nicht den Mut, es dir zu sagen. Wir lieben dich so.«
»Hör um Gottes willen auf, Mutter. Sonst fange ich zu heulen an. Wer auf dieser Welt könnte sich bessere Eltern als euch beide wünschen? Ich werde nie wissen, was ich nicht wissen kann, aber ihr seid für alle Zeit mein Vater und meine Mutter, und das wißt ihr.«
Das Telefon klingelte und ließ sie alle zusammenzucken. »Die Presse hat doch diese Nummer nicht?« fragte Julian.
»Nicht, daß ich wüßte«, erwiderte Jean-Pierre und drehte sich zu dem Telefon auf dem Garderobentisch herum. »Nur ihr habt sie, Giselle und mein Agent. Nicht einmal mein Anwalt oder, da sei Gott vor, die Besitzer des Theaters … Ja?« sagte er in gutturalem Ton.
»Jean-Pierre?« tönte die Stimme seiner Frau Giselle aus dem Hörer.
»Natürlich, meine Liebe.«
»Ich war nicht sicher -«
»Ich auch nicht, deshalb habe ich meine Stimme verstellt. Mutter und Vater sind hier, und ich komme nach Hause, sobald die Journalisten die Belagerung hier aufgegeben haben.«
»Ich denke, du solltest möglichst bald nach Hause kommen.«
»Was?«
»Hier ist ein Mann, der dich sprechen will -«
»Um diese Zeit? Wer ist es denn?«
»Ein Amerikaner, und er sagt, er muß dich sprechen. Es ist wegen heute abend.«
»Heute abend … hier im Theater?«
»Ja, Liebster.«
»Du hättest ihn vielleicht gar nicht hereinlassen sollen, Giselle.«
»Ich fürchte, ich hatte da keine Wahl. Er ist mit Henri Bressard gekommen.«
»Henri? Was hat das, was heute abend geschehen ist, mit dem Quai d’Orsay zu tun?«
»Unser lieber Freund Henri sitzt mir gegenüber und lächelt und versprüht seinen ganzen Diplomatencharme, ist aber nicht bereit, mir etwas zu sagen, bevor du kommst … Stimmt das, Henri?«
»Allerdings, meine allerliebste Giselle«, hörte Villier schwach die Antwort im Hintergrund. »Ich weiß selbst wenig bis gar nichts.«
»Hast du es gehört, Liebling?«
»Ganz deutlich. Was ist mit dem Amerikaner? Ist er ein Rüpel? Antworte nur mit Ja oder Nein.«
»Ganz im Gegenteil. Obwohl in seinen Augen, wie ihr Schauspieler sagen würdet, eine heiße Flamme brennt.«
»Was ist mit Mutter und Vater? Sollen sie mitkommen?«
Giselle wandte sich den beiden Männern im Raum zu und wiederholte die Frage. »Später«, sagte der Mann von Quai d’Orsay so laut, daß man ihn über das Telefon hören konnte. »Wir werden später mit ihnen sprechen, Jean-Pierre«, fügte er noch etwas lauter hinzu. »Nicht heute abend.«
Der Schauspieler und seine Eltern verließen das Theater durch den Haupteingang, nachdem der Nachtwächter der Presse mitgeteilt hatte, daß Villier in Kürze an der Bühnentür erscheinen würde. »Sag uns Bescheid, was da los ist«, bat Julian, als er und seine Frau ihren Sohn umarmt hatten, und zu dem ersten der beiden Taxis gingen, die sie telefonisch von der Garderobe aus bestellt hatten. Jean-Pierre stieg in das zweite Taxi und gab dem Fahrer seine Adresse im Parc Monceau.
Die Vorstellung des Amerikaners war knapp und beunruhigend. Henri Bressard, Erster Sekretär für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Frankreich und seit über zehn Jahren ein enger Freund des jüngeren Villier, sprach mit ruhiger Stimme und deutete dabei auf seinen amerikanischen Begleiter, einen hochgewachsenen Mann Mitte Dreißig mit dunkelbraunem Haar, scharf geschnittenen Gesichtszügen und klaren grauen Augen, die auf geradezu verstörende Art lebendig waren und einen ausgeprägten Kontrast zu seinem sanften Lächeln bildeten. »Jean-Pierre, das ist Drew Lennox. Er ist Sonderbeamter einer Abteilung des amerikanischen Nachrichtendienstes, die lediglich unter der Bezeichnung Consular Operations bekannt ist, eine Einheit, die, wie unsere eigenen Gewährsleute festgestellt haben, sowohl dem amerikanischen Außenministerium als auch der Central Intelligence Agency untersteht … Mein Gott, wie die beiden es geschafft haben, zusammenzuarbeiten, übersteigt mein diplomatisches Begriffsvermögen!«
»Das ist auch nicht immer einfach, Mr. Secretary«, sagte Lennox freundlich, wenn auch ein wenig stockend in gebrochenem Französisch, »aber irgendwie schaffen wir es.«
»Vielleicht sollten wir englisch sprechen«, bot Giselle Villier an. »Wir sprechen es alle fließend.«
»Vielen Dank«, erwiderte der Amerikaner in englischer Sprache. »Ich möchte nicht mißverstanden werden.«
»Das werden Sie nicht«, sagte Villier, »aber bitte nehmen Sie zur Kenntnis, daß wir – vor allem ich – verstehen müssen, weshalb Sie heute hierher gekommen sind. An diesem schrecklichen Abend. Ich habe heute Dinge gehört, die ich nie zuvor gehört habe -wollen Sie da noch etwas hinzufügen, Monsieur?«
»Jean-Pierre«, sagte Giselle abrupt, »wovon redest du da?«
»Laß ihn antworten«, sagte Villier und fixierte den Amerikaner mit seinen großen blauen Augen.
»Vielleicht – vielleicht auch nicht«, erwiderte der Agent. »Ich weiß, daß Sie mit Ihren Eltern gesprochen haben, aber ich kann nicht wissen, worüber Sie geredet haben.«
»Natürlich nicht. Aber ist es möglich, daß Sie in etwa ahnen, welche Richtung unser Gespräch hatte, wie?«
»Offen gestanden ja, obwohl ich nicht weiß, wieviel man Ihnen schon früher gesagt hat. Die Ereignisse des heutigen Abends lassen vermuten, daß Sie nichts von der Existenz Jean-Pierre Jodelles wußten.«
»Ganz richtig«, sagte der Schauspieler.
»Die Sûreté, die ebenfalls nichts weiß, hat Sie ausführlich verhört, und war überzeugt, daß Sie die Wahrheit gesprochen haben.«
»Warum nicht, Monsieur Lennox? Ich habe die Wahrheit gesagt.«
»Gibt es jetzt eine andere Wahrheit, Mr. Villier?«
»Ja, allerdings.«
»Würdet ihr beide aufhören, euch im Kreis zu drehen!« rief die Frau des Schauspielers. »Was ist das für eine Wahrheit?«
»Ganz ruhig, Giselle. Wir liegen auf derselben Wellenlänge, wie die Amerikaner sagen.«
»Sollten wir an dem Punkt aufhören?« fragte der Beamte von Consular Operations. »Würden Sie es vorziehen, unter vier Augen zu sprechen?«
»Nein, selbstverständlich nicht. Meine Frau hat ein Recht darauf, alles zu wissen, und Henri ist einer unserer engsten Freunde und ein Mann, der gelernt hat zu schweigen.«
»Wollen wir uns nicht setzen?« fragte Giselle mit fester Stimme. »Das ist alles viel zu wirr, als daß man es sich stehend anhören kann.« Als sie alle Platz genommen hatten, Giselle neben ihrem Mann, fügte sie hinzu »Bitte fahren Sie fort, Monsieur Lennox, und bitte drücken Sie sich klarer aus.«
»Verzeih mir, Giselle«, sagte der Schauspieler. »Ich würde gerne wissen, weshalb Monsieur Lennox es für richtig gehalten hat, sich Henris Vermittlung zu bedienen, um an mich heranzukommen.«
»Ich wußte, daß Sie Freunde sind«, antwortete der Amerikaner darauf. »Als ich übrigens Henri gegenüber vor ein paar Wochen erwähnte, daß ich keine Karten für Ihr Stück bekommen könne, waren Sie so liebenswürdig, zwei an der Kasse für mich hinterlegen zu lassen.«
»Ah ja, jetzt erinnere ich mich … Ihr Name kam mir irgendwie bekannt vor, aber heute ist so viel geschehen, daß ich nicht gleich daraufkam. ›Zwei Karten auf den Namen Lennox …‹ Ja, ich erinnere mich.«