WELTENBUMMLER
UND IHR LEBEN NACH
DER REISE
Der Mensch bereist die Welt auf der Suche nach dem, was ihm fehlt.
Und er kehrt nach Hause zurück, um es zu finden.
(George Moore)
Für Jan und für Neuseeland
Vorsicht ist das, was wir bei anderen Feigheit nennen.
(Oscar Wilde)
Vorwort
Was bleibt, ist die Erinnerung –
Die Geschichte von Uta-Caecilia Nabert
Ausbruch und Aufbruch –
Die Geschichte von Valeska von Mühldorfer
Gastbeitrag: Auf der Flucht –
Die Geschichte von Helge Timmerberg, aus: Tiger fressen keine Yogis. Stories von unterwegs, Solibro Verlag
Die geilste Lücke im Lebenslauf –
Die Geschichte von Nick Martin
Das Hostel am Ende der Welt –
Die Geschichte von Ivan Kitson
Bloggen gegen das Fernweh –
Die Geschichte von Aylin und Stefan Krieger
Plötzlich hatte ich Flausen im Kopp –
Die Geschichte von Johannes Erdmann
Ja verdammt, ich arbeite! – Tacheles über Geld, Zeit und Reisen –
Die Geschichte von Sarah Bauer
Radeln, wo das Fernweh ist –
Die Geschichte von Jonas Deichmann
Ich war fremd im eigenen Land –
Die Geschichte von Sabine Wackenroder
Der härteste Teil ist die Rückkehr nach Hause –
Die Geschichte von Mihal Greener
Furcht vor der Heimkehr, Respekt vor dem Aufbruch –
Die Geschichte von Denis und Tanja Katzer
Gastbeitrag: Gehe langsam, wenn du es eilig hast –
Die Geschichte von Dr. Mark Weinert, aus: Doc Why Not: Der Arzt, dem die Kiwis vertrauen, Conbook Verlag
Verheerende Diagnose –
Die Geschichte von David Pattison
Zum Teufel mit dem Pflichtgefühl –
Die Geschichte von Stephanie Cordelia Butler
Angekommen auf dem Bauernhof –
Die Geschichte von Berit Hüttinger
Ich will Deutschland noch eine Chance geben –
Die Geschichte von Sofia Thalbach
Gastbeitrag: Heimkehr nach einem Highschool-Jahr –
Die Geschichte von Joachim Meyerhoff, aus: Alle Toten fliegen hoch, Teil 1: Amerika, KiWi Verlag
Ich habe einen Traum –
Die Geschichte von Dariane Aguiar
Gepackt von Australien, packen für Australien –
Die Geschichte von Stefanie Mayer
Morgen könnte es zu spät sein –
Die Geschichte von Alice Mason
Beim ersten Mal Rückkehr, beim zweiten Mal Heimkehr –
Und noch eine Geschichte von Uta-Caecilia Nabert
Heute hier, morgen dort –
Folksong von Hannes Wader
Zwischen Emanzipation und Abhängigkeit –
Die Geschichte vom kastrierten Hänschen klein
Heimkehr leicht(er) gemacht –
Die wichtigsten Tipps für die »Zeit danach«
Falls jede Hilfe zu spät kommt
(und du wieder auf Reisen gehen musst …)
Die WWWelt liegt dir zu Füßen –
Hilfreiche Seiten im World Wide Web
Für den Bücherwurm in dir –
Literatur, die dir jetzt weiterhilft
Am Anfang war die Heimkehr. Schnell folgte die Erkenntnis, dass der härteste Teil der Reise jetzt erst angefangen hatte. Keiner hatte mich davor gewarnt. In einer Nacht schrieb ich einen Nachruf auf die Zeit in Übersee. Und ich beschloss, auch anderen Heimkehrern eine Plattform zu bieten. Die Welt wird immer globaler, jährlich zieht es Millionen junger Menschen für eine Weile in die Ferne. Doch was geschieht, wenn sie nach Hause kommen? Die Vorfreude auf German bread, Freunde und Familie weicht schnell der Frage, wie es weitergehen soll. Nur eines ist sicher: Es kann nie wieder so werden, wie es war.
Aber wie wird es dann?
Dieses Buch kann nur in Teilen Antworten auf diese Fragen liefern, es ist keine Bedienungsanleitung. Sonst stünde auf dem Buchcover so etwas wie: »Heimkehr für Dummies« oder »Glücklich wieder zu Hause – Leicht gemacht in zehn Schritten«. Die meisten Reisenden, deren Geschichten ich aufgeschrieben habe, sind noch lange nicht angekommen. Sie probieren sich aus, suchen nach Wegen. Wie sie das machen, beschreiben sie in den Erzählungen.
Ich selbst kam an einem Sonntag zurück. Am nächsten Tag musste ich schon aufs Amt und meine Angelegenheiten als deutsche Staatsbürgerin regeln. Das Rädchen im System hatte wieder anzuspringen, so wollten es die Behörden. Mir fiel meine Wahrnehmungsschärfe auf, mit der ich meine Mitmenschen in der Bahn beobachtete, die Häuser ansah, die an mir vorbeizogen, das bisschen Natur betrachtete, das wir in Deutschland noch haben. Und ich fragte mich: Ist das noch mein Land? Gehöre ich noch hierher? Immerhin sah ich auch hier Menschen, die lächelten. Man konnte hier also glücklich sein? Diese Erkenntnis beruhigte mich irgendwie nicht.
Auch ich bin noch nicht angekommen, doch es hat mir geholfen, mit anderen Weltreisenden zu sprechen, denen es so geht wie mir, die im heimischen Großstadtdschungel den Tiger nicht finden, die sich zu Tode langweilen und sich nach »der Welt da draußen« sehnen – so sehr, dass es ihnen manchmal Tränen in die Augen treibt. Sie alle wünschen sich einen Post-Weltreiseführer. Und deswegen heißt eines der letzten Kapitel wirklich »Heimkehr leicht(er) gemacht« und ist eine Sammlung der wichtigsten Tipps für die »Zeit danach«. Ergänzt werden sie von Weblinks und Literaturanregungen, die den Neustart in der Heimat ebenfalls erleichtern sollen.
In diesem Sinne:
Willkommen zu Hause – du bist nicht allein!
»Sie will tatsächlich zurück nach Deutschland. Kannst du dir das vorstellen?«, sagt Ivan zu seinem Nachbarn. Beide stehen in ihrem Garten, eigentlich mehr ein Wald als ein Garten, jeder auf seiner Seite des Zauns. Sie lachen. Oben auf dem Hügel, man sieht es kaum hinter den Bäumen und Farnen auf ihren hohen Stämmen, steht Ivans Hostel. Er hat es selbst gebaut. Man möchte meinen, Hundertwasser habe neben ihm gestanden, als er die geschwungenen Wände mauerte, neben ihm am Boden gekniet, als er die Mosaiken verlegte, und ihm die Leiter gehalten, als er die Dächer bepflanzte. Gemeinsam mit seiner kleinen Gästeschar – so wenigen, dass es auch seine eigenen Kinder sein könnten, und so vielen, dass es ein Hostel ergibt – lebt Ivan in diesem Haus. Auch ich habe hier sehr lange gewohnt, zwischen Hibiskus und Ananaspflanzen, hinter mosaikverkleideten Wänden, unter Solarzellen. Bis heute. Doch jetzt verabschiede ich mich von ihm, während von der Veranda oben die vertrauten Klänge des Windspiels herunterwehen. Wie immer in diesem Jahr ist Jan an meiner Seite, meine Hand in seiner. Ich lache gemeinsam mit den Männern, bevor ich antworte: »Was soll ich machen? In zwei Tagen schmeißen sie mich raus aus Neuseeland. In Deutschland lassen sie gerade jeden rein, Flüchtlingswelle und so.« Wir schreiben das Jahr 2016.
Am nächsten Tag weine ich. Da stehe ich und weine, Jan vor mir, hinter uns die Schalter der Fluglinien. Aus irgendeinem Grund habe ich Gummibärchen dabei. Vielleicht weil ich weiß, wie sehr er sie mag. »Hier«, sage ich und halte ihm die Tüte hin, bevor ich ihm mit dem Daumen über den Wangenknochen fahre. Ein Träne rollt dagegen. In einer Stunde geht der Flieger, der mich zu meinem Verlobten bringen wird. Jan weiß das.
Nach dem Start schaue ich hinab auf die Wolken und zum ersten Mal überhaupt in meinem Leben habe ich keine Flugangst mehr. »Diesmal wäre es schon in Ordnung, wenn …«, denke ich. Mir kommt die Erkenntnis, dass ich in den letzten 365 Tagen alles erlebt habe, was ich erleben wollte: Ich war so frei und unbeschwert wie zuletzt in meiner Kindheit – beim Baden im Pazifik, beim Lagerfeuer am Meer, beim Kiwipflücken, beim Arbeiten im Café, beim Cruisen im weißen Mazda GLX 626 über die Küstenstraßen mit den gelben Mittelstreifen; hinten die Matratze im Kofferraum, auf der wir nachts die Sterne betrachteten. Ein Jahr lang einfach nur »Ich« sein unter dem Himmel Neuseelands, in den Wäldern Neuseelands, an den Stränden Neuseelands. An der Seite von Jan, meinem schönen Reisenden, dessen Wege die meinen für kurze Zeit kreuzten. Ich spüre noch die letzten 24 Stunden unseres Zusammenseins auf der Haut.
Ich war so frei und unbeschwert wie zuletzt in meiner Kindheit.
Ich hätte mich um die Verlängerung meines Visums kümmern können. Er hatte das vorgeschlagen. »Lass uns versuchen, hierzubleiben«, hatte er gesagt. »Dann bauen wir genau hier ein Haus.« Damals standen wir gerade auf einer Klippe, neben uns ein Schild: »For Sale – Zu verkaufen«. Vor uns lag die Unendlichkeit des blauen Pazifiks, hinter uns das Grün von Great Barrier Island. Er überlegte: »Allerdings gibt es hier auf der Insel keine High School.« – »Was ist?«, fragte ich spöttisch: »Willst du noch mal zur Schule gehen?« Dann drehte ich ihm den Rücken zu und lief zurück zu unseren Rädern, die am Rand eines Trampelpfads im Sand lagen. Wir sprachen nie wieder über das Thema. Ich hatte zu keiner Zeit an eine Zukunft mit ihm geglaubt. Er war zu schön und zu jung. Und ich zu verlobt.
Nachdem sie zurück in Deutschland war, wurde ihr schmerzlich bewusst, wie weit weg das Meer wieder ist. In Neuseeland schaute Uta fast täglich auf den Pazifik.
»Was willst du noch von mir?« Ich schaue aus dem Fenster, schaue in den geteerten Innenhof, in dem zwei zurechtgestutzte Gingkobäume ihre Blätter verlieren. Dahinter verbaut ein dreigeschossiger Klinkerbau, dem unseren nicht unähnlich, die Sicht. Unwillkürlich halte ich Ausschau nach Männern in gestreiften Pyjamas, die da unten ihre Runden drehen. Keiner da. Auch ich nicht, obwohl ich mir vorkomme wie eine Gefangene. Ich wende den Blick ab, richte ihn auf Milan. Da steht er neben dem Esstisch, den ich damals von Neuseeland aus im Internet ausgesucht hatte. Aus der Ferne hatte ich ihm so gut es ging geholfen, diese Wohnung hier für uns zu finden und einzurichten. Wie viel Mühe er sich gegeben hat – damit ich mich wohlfühlen würde, wenn ich wieder zurückkäme. Es fällt mir schwer, ihn anzusehen. Er ist groß, muskulös, hat extra für mich trainiert – damit er mir gefallen würde, wenn ich wieder zurückkäme. Zurück zu ihm. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ja, was will ich noch von ihm? Wir wollten einmal heiraten. Ich kann nicht zugeben, dass ich ihn nicht mehr liebe. Oder dass ich Jan so stark geliebt habe, dass da kein Platz mehr ist für ihn. Ich kann nicht zugeben, dass ich auch nicht sagen kann, ob ich wirklich Jan an sich so sehr geliebt habe, oder ob es an Neuseeland lag. Und dennoch. Wenn es überhaupt eine Zukunft gibt, dann liegt sie bei Milan. Sie muss dort liegen. Wo denn auch sonst? Der Gedanke, ihn jetzt aufzugeben – undenkbar.
Seit vier Monaten bin ich zurück in Deutschland. Gemeinsam haben wir uns auf zwei Hochzeiten blicken lassen. Um zu zeigen, dass wir noch nicht aufgegeben haben, dass wir es noch einmal miteinander versuchen werden. Milan weiß mittlerweile von Jan.
In den ersten Wochen nach meiner Heimkehr bin ich arbeitslos. Also kümmere ich mich um unseren Haushalt. Eines Nachmittags stehe ich vor einem Wäscheberg, der sich in der Enge zwischen Küchenzeile und Esstisch wie ein Gebirge auftürmt. Aus einer Bergflanke hängt der blaue Ärmel meines Pullis. Ich gebe ihm die Hand und sage: »Danke. Danke, dass du mich in den vergangenen zwei Jahren auf meiner Reise durch mehr als zehn Länder begleitet und gewärmt hast. Du, mein Freund, hast es wahrlich verdient, gewaschen zu werden. Ich meine, richtig gewaschen, nach allen Regeln der deutschen Ingenieurskunst, bei 40 °C, in einer Maschine, die sich 90 Minuten Zeit für dich nimmt.«
Ich verspreche ihm ein Waschpulver, das sich gewaschen hat, das es schaffen wird, Dreck und Flecken nicht nur in der Werbung zu entfernen, sondern auch aus diesem Pullover. Dass ein Waschmittel dazu im Stande sein kann, wenn man nur im richtigen Land ist, habe ich gestern an einer Strickjacke erlebt: Nach zwei Jahren Tortur in asiatischen und neuseeländischen Trommeln sah sie wieder aus wie neu. Dieser Vorher-Nachher-Wow-Effekt! Das brachte Glanz ins düstere Farbenspiel meines Post-Reise-Blues.
Dieser Vorher-Nachher-Wow-Effekt! Das brachte Glanz ins düstere Farbenspiel meines Post-Reise-Blues.
Zugleich war es auch ein wehmütiger Moment gewesen, ein »Good bye«-Sagen zum roten Sand des Outbacks, ein »Ka kite ano« zu den Kiwipollen Neuseelands, ein »Doswidanja« zum Rauch der herbstlich beheizten russischen Holzhäuser. Ich wusch die Welt aus meinen Kleidern – mit deutscher Gründlichkeit. Ich machte sie wieder alltagstauglich für das Leben in meiner Heimat. Dass es kein Waschmittel der Welt schaffen würde, dasselbe mit mir anzustellen, wusste ich damals noch nicht.
Ein halbes Jahr lang hielten wir es noch miteinander aus, Milan und ich. Mein Verlobter zeigte viel Geduld mit mir. Ich nahm meine Karriere wieder auf. Recht schnell fand ich einen Job als Redakteurin in unserer Stadt. Doch dann, sie hatten mich gerade eingestellt, verlor er die Geduld. Da standen wir uns gegenüber. Wieder neben dem Esstisch, den ich von Neuseeland aus ausgesucht hatte. Diesmal war es dunkel draußen. Der Gingko vor dem Fenster war mittlerweile kahl. Weihnachten stand vor der Tür. Wir lächelten uns an, wir umarmten uns, wir bedankten uns für die gute Zeit, die wir einmal miteinander gehabt hatten. Dann zog ich aus.
Mittlerweile ist es viele Jahre her, dass Uta in Neuseeland lebte. An den meisten Tagen ist ihr Herz noch heute dort.
Nun hatte ich keine Partner mehr, keinen Jan und keinen Milan. Dafür einen Job, der mir schon nach kurzer Zeit nichts Neues mehr zu bieten hatte – keine Überraschungen, viele Wiederholungen, ganz anders als meine Abenteuer in den Monaten zuvor, in denen jeder Tag anders war. Die Wälder und der Strand waren weit weg. Manchmal schien die Sonne, aber von meiner Küche aus konnte ich sie nicht sehen. Die Abende verbrachte ich allein, hatte sehr viel Zeit zum Nachdenken. »Tja«, ging es mir manchmal durch den Kopf.Du bezahlst jetzt dafür, dass du ein Jahr lang einfach nur glücklich warst. Rücksichtslos glücklich. Alles hat seinen Preis. Wie konntest du nur so naiv sein, nicht daran zu denken? Auf der anderen Seite: Hätte ich vorher gewusst, wie schwer es später werden würde, zurückzufinden – wäre ich trotzdem aufgebrochen? Ja.
Die Abende verbrachte ich allein, hatte sehr viel Zeit zum Nachdenken.
Für Jan und für Neuseeland.
Uta-Caecilia Nabert
•heute 38, Deutschland, Journalistin
•sechsmonatige Reise durch Russland, die Mongolei, China, Südostasien, Australien
•ein Jahr und drei Monate Working Holiday in Neuseeland
•zwei Jahre zu Hause (Redakteurin bei einer Zeitschrift für den Lebensmitteleinzelhandel)
•erneuter Aufbruch und Ausbruch: Reisen und Jobben in Kanada, freie Journalistin im zweitgrößten Land der Erde
•seit Februar 2021 zu Hause in Deutschland
•seit August 2021 Redakteurin bei der NGO »Christoffel-Blindenmission«, die die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen in Entwicklungsländern verbessert
•ehrenamtliche Texterin bei planted.green, einem Start-up, das Deutschlands Wälder aufforsten will
•www.ohwieschoenistkanada.com
Eigentlich habe ich mir das Leben geschaffen, das ich haben will: Ich liebe meinen Job, habe tolle Freunde, eine Eigentumswohnung. Ich liebe Berlin.
Ich muss wieder weg. Seit fünf Jahren kämpfe ich dagegen an und komme langsam zu dem Schluss, dass ich nicht gewinnen kann. Ich lege mich nicht mehr fest, schließe keine langfristigen Jobs ab, noch nicht mal langfristige Handyverträge. Ich führe eine Kalkulationstabelle: Wie gebunden bin ich? Welche laufenden Ausgaben habe ich, wie viele Rücklagen, wie viel braucht es noch, um wieder reisen zu können? Ich versuche, mein Leben so zu gestalten, dass da jederzeit ein Notausgang wäre. Ich weiß überhaupt nicht, was in sechs Monaten sein wird, habe keine Pläne, kein Lebensziel. Manchmal rührt mich das zu Tränen. Dann liege ich im Bett, will gar nicht wieder rauskommen.
Alles fing mit einem geregelten Leben an. Einer der Höhepunkte war das Abitur, ein zweiter der Vertrag bei Siemens, ein dritter der Abschluss meines dualen Studiengangs. Und dann ging es los: Depressionen. Ich saß heulend zu Hause und wurde immer fetter. Meine Mutter wunderte sich – »Warum?«, fragte sie. »Zahlen die schlecht? Du bist doch jetzt abgesichert. Es ist doch alles gut.« Man muss dazu wissen: Ich komme aus Augsburg. Mein Umfeld ist konservativ. Da heißt es: Erst machst du eine Ausbildung, dann gehst du arbeiten, und dann bist du glücklich.
Mir war selbst nicht klar, warum ich unglücklich war. Denn Siemens zahlte in der Tat gut. Sogar sehr gut. Damals – mit Anfang 20 – war mein Gehalt doppelt so hoch wie jetzt mit beinahe 30. Was sollte ich meiner Mutter sagen? Keine Ahnung. Und trotzdem sah ich mit 22 so aus wie mit 40 und saß regelmäßig beim Psychiater. 60-Stunden-Wochen füllten mein Leben mehr als aus, und dennoch war da diese Leere. Für wen oder was die ganze Arbeit und die ganze Kohle? Keine Ahnung. Eine Frage keimte in mir auf: »Wenn ich mich jetzt schon so alt fühle – wie wird das dann in 20 Jahren?«
Was ich mir antun musste für dieses Gehalt, dass mir das nicht guttat, war mir lange nicht klar. Ich hatte nie ein richtiges Studentenleben gehabt, keine Zeit zum Chillen, für Partys, Jungs, dafür, herauszufinden, was es noch so gibt im Leben. Wenn ich nicht studierte, arbeitete ich. Das Bachelorzeugnis war gerade aus dem Drucker gefallen, da bot mir Siemens schon einen Folgevertrag an. Ich war in einer Eliteblase gefangen, in der ich langsam zur Managerin herangezüchtet wurde.
Dann hörte ich von »Escape the City«, so einer Art Jobbörse für frustrierte Konzernarbeiter. Die war damals gerade gestartet. Es folgte ein kurzer Mailaustausch mit den Jungs in London. Mir ging es gar nicht darum, dass sie mir irgendeinen verrückten Job in Lateinamerika oder so vermitteln, aber ihre Antworten halfen schon. Sie führten mir vor Augen: Ich bin nicht die Einzige, und: Ich kann jederzeit kündigen. Das war ein Lernprozess, dass das geht, dass man einen Job kündigen kann – auch wenn er gut bezahlt ist.
Danach ging es los. Weltreise. Ein Jahr lang. Kanada, USA, Hawaii, Asien. Whatever. Danach die Rückkehr. Mein Leben back home? Es ist seit fünf Jahren dominiert von den immergleichen Gedanken. Es ist dieses ständige Gefühl des »Ich will hier wieder weg!« Und dann frage ich mich: »Will ich hier wirklich wieder weg? Kann ich dem trauen, oder ist das ein Wegrenn-Mechanismus? Und wenn ja, vor was?« Oh Gott, es geht so tief. Ja, es ist Fernweh. Latent war es immer da, aber seit dem Trip ist es ausgebrochen wie das Coronavirus. Es ist diese Idee, dass wegfahren besser wäre als bleiben. Und wenn man so will, hat für mich das Reisen auch nach der Heimkehr nicht wieder aufgehört: Von München ging es nach Schweden; von Schweden später nach Berlin. Ein anderes Phänomen: War ich früher nicht in der Lage, einen Job zu kündigen, bin ich nun nicht mehr in der Lage, einen Job länger als zwei Jahre zu behalten.
Es ist dieses ständige Gefühl des »Ich will hier wieder weg!«
Aber der Reihe nach. Ich komme von der Reise zurück. Aus dem Flieger steigt gemeinsam mit mir ein gut gebauter, blonder Schwede, den ich sehr liebe. Wir haben uns in Argentinien kennengelernt, und ich bin mir sicher: Unsere Zukunft liegt in Östersund – 50.000 Einwohner, Wasser, Wälder, Elche. Das Einzige, was mir ein bisschen Angst macht, ist die Kündigung bei Siemens. »Gehen Sie nicht, Frau von Mühldorfer«, hatte mein Chef mich damals gebeten. »Ich will eine gute Kraft wie Sie nicht verlieren. Machen Sie ein Sabbatical. Schauen Sie sich die Welt an, und dann kommen Sie zurück.« Nun also gehe ich die Flure meines ehemaligen Büros entlang. Vor mir die Tür meines Chefs. Nach dem Klopfen ein »Herein!«. Er sitzt am Schreibtisch. Er hat sich kaum verändert. Es freut mich, ihn zu sehen, und zugleich spüre ich einen Kloß im Hals. Ich mag ihn. Es schmerzt, als ich ihm nun den weißen Briefumschlag mit der Kündigung hinhalte. Undankbar komme ich mir vor. Er sieht mich an, nickt, weist mit der Hand auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch. Es sind immer noch die gleichen, die, in denen man so schön wippen kann. Wippe ich eben noch ein letztes Mal. Es wird ein gutes Gespräch. Er selbst werde die Firma in drei Wochen verlassen. Mühsam suche ich nach Worten. Was? Dass mein alter Boss jemals seine Abteilung verlassen würde, seine geliebte Abteilung. Undenkbar. Das war vor einem Jahr nicht abzusehen gewesen. Alles hat sich verändert. Alles verändert sich ständig. Alles ist unaufhörlich im Wandel.
Alles hat sich verändert. Alles verändert sich ständig. Alles ist unaufhörlich im Wandel.
Der nächste Gang ist der zu meiner alten Wohnung. Noch bevor der Schlüssel im Schloss steckt, kommen mir all die Kisten in den Sinn, die ich gleich werde packen müssen, und die ich eigentlich gar nicht packen will. Von mir aus könnte einfach alles hierbleiben. Materielles juckt mich nicht. Nichts davon wird mit nach Schweden kommen. All diese Möbel! Wird es mir gelingen, sie in den nächsten zwei Wochen zu verkaufen? Die Tür geht auf, ich gehe um die Ecke. Das Sofa ist nicht mehr da, das Bett fehlt auch. Die Wände sind jungfräulich weiß, auf dem Dielenboden zeichnet sich ein blasses Rechteck ab – dort lag einmal ein Teppich. Ich gehe ein paar Schritte zurück. Es hätte mir gleich auffallen müssen: Der Schuhschrank im Flur fehlt. Allmählich macht sich in meinem Kopf die Leere breit, die in dieser Wohnung herrscht. Beim Blick ins Bad wundere ich mich schon nicht mehr, dass der Duschvorhang fehlt. Die Einbauschränke in der Küche sind noch da, doch die geringelten Eierbecher, meine Lieblingstasse mit den blauen Punkten, die gelben Teller, nichts ist mehr drin, Töpfe, Besteck, Küchengeräte – alles weg. Langsam lasse ich mich auf einen einsamen Stuhl sinken, der aus irgendeinem Grund noch da ist. Ich atme ein, ich atme aus, ich atme auf. Ich bin frei! Meine Zwischenmieterin hat tatsächlich bis auf den hölzernen Vierbeiner unter mir alles mitgenommen. Alles. Der Stuhl findet sich kurz darauf auf dem Bürgersteig unter meinem alten Wohnzimmerfenster wieder. Ein Zettel daran: Zu verschenken. Mit zwei Taschen ziehe ich nach Schweden zu meinem Partner und fange noch einmal ein Studium an – diesmal mit Chillen, Liebesleben und Party. Wir lassen es krachen!
Mit zwei Taschen ziehe ich nach Schweden zu meinem Partner und fange noch einmal ein Studium an – diesmal mit Chillen, Liebesleben und Party. Wir lassen es krachen!
Zwei Jahre später, den Master gerade in der Tasche, macht mein Freund Schluss mit mir. Herzschmerz ohne Ende, mir geht es unendlich schlecht. Aber da ist noch etwas, nämlich die Erkenntnis, dass ich wieder frei bin! Der erste Impuls: Mich hineinstürzen. Mitten in die Welt, mitten ins Abenteuer. Ich will dorthin gehen, wo was geht. Von Östersund kann man das nicht gerade behaupten, also sind meine Bewerbungen die verzweifelt-euphorische Antwort auf Stellenausschreibungen in Tel Aviv, Delhi, San Francisco, London. Aber dann ruft mich meine Halbschwester, meine Vernunftstimme seit eh und je, an. Sie sagt: »Komm zur Ruhe, komm nach Berlin. Erhol dich. Dein Freund hat gerade mit dir Schluss gemacht. Kehr zu deinen Wurzeln zurück, leb mal wieder in deiner eigenen Kultur. Du musst deine Balance wiederfinden.« Zum ersten Mal nach Wochen des Kummers kann ich wieder lachen. Sehr laut. »Berlin als Kurort! Der war gut!«
Gruppenbild mit Dame: In Vietnam rannte ein Pulk lächelnder Schüler auf Valeska zu und bat sie, Englisch mit ihnen zu üben.
Dennoch höre ich auf sie, bewerbe mich in der Hauptstadt, erhalte nach nur wenigen Tagen die Einladung zu einem Bewerbungsgespräch. Meine paar Habseligkeiten sind schnell im Kofferraum verstaut, bevor es losgeht. 3.000 Kilometer und zwei Tage später verkündet das Navi: »Sie haben ihr Ziel erreicht, bekomme ich jetzt ein Eis?« Yup, das fragt es tatsächlich jedes Mal.
Gefühlt so lange wie es gedauert hat, nach Berlin zu fahren, dauert es nun, eine Parklücke zu finden. Nach einer Ewigkeit ziehe ich in dem blassen übermüdeten Gesicht, das mir im Rückspiegel entgegenblickt, Kajal und Lippenstift nach. Fünf Minuten und drei Häuserblocks später bringt mich ein für meinen Zustand viel zu heller Fahrstuhl zu zwei Niederländern mit modischen Frisuren in einen fünften Stock irgendwo in Berlin. Die Jungs schütteln mir schwungvoll die Hand, die kurz darauf einen Latte Macchiato hält. Sie erzählen ein bisschen über sich, stellen ihr Start-up vor, ein kleines Unternehmen, das Animationen für Erklärvideos erstellt. Das Interview läuft so gut, dass sie keine 30 Minuten später sagen: »Yeah, dann machst du am besten Deutschland.« »Yeah, mach ich eben Deutschland«, denke ich. »Und was heißt das jetzt?« Am Folgetag trocknet schon die Tinte auf dem Arbeitsvertrag, und für zwei Jahre »mache ich Deutschland«, bin ihre Geschäftsleiterin in Berlin, helfe ihnen, in »meiner Kultur«, wie meine Schwester es nennt, Fuß zu fassen. Hatte sie, meine Schwester, nicht auch gesagt, ich solle zur Ruhe kommen? Nun, für zwei Jahre gelingt mir das halbwegs, dann kommt die Unruhe zurück, packt zu, lässt nicht los. Wie gesagt, seit der Weltreise ist es die magische »Zwei«. Zwei Jahre und nicht länger.
Nun, für zwei Jahre gelingt mir das halbwegs, dann kommt die Unruhe zurück, packt zu, lässt nicht los.
Ich habe ein grundlegendes Problem: Egal, wie gut es mir in einem Job gefällt – als kleine Angestellte fühle ich mich extrem eingeengt. Vermutlich hat dieses Streben nach Freiheit schon immer in mir geschlummert, sonst wäre ich damals bei Siemens nicht so unglücklich gewesen. Diese kürzlich gewonnene Erkenntnis macht mich fast wahnsinnig. Letztens sagte ich zu einem Freund: »Ich würde gern zu einer Voodoo-Frau gehen, die mir erklärt, dass ich im letzten Leben Seefahrer war. Das würde es leichter machen, dieses ständige Verlangen nach Bewegung und Veränderung zu akzeptieren. Es würde es endlich erklären.« Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, kamen mir wie so oft in den letzten Jahren die Tränen. Da merkte ich: Wow, das alles belastet mich wirklich stark, dieser verdammte innere Konflikt! Von Geburt an bekommst du erzählt, dass es normal ist, durchgehend Arbeit zu haben und für immer an einem Ort zu bleiben. Und dann das!
Nach dem Start-up beginne ich eine einjährige Ausbildung zur Fotografin. Diesmal steht der Wandel unter dem Motto: Warum nicht mal etwas ganz anderes tun? In Schweden hatte ich dort angeknüpft, wo ich in München aufgehört hatte, hatte einen Master in Marketing und Management gemacht. Auch die Niederländer hatten mich wegen meiner Skills auf diesem Gebiet ins Unternehmen geholt. Bis heute macht mir diese Arbeit Spaß, dennoch sollte es jetzt etwas ganz anderes sein. Schon auf der Reise hatte ich gern Bilder gemacht, während der Shootings stand jedes Mal die Zeit still. Das gleiche Gefühl stellt sich nun während der Ausbildung ein, und von Anfang an kommen die Aufträge – für Hochzeitsfotografie und Porträtbilder – Gelegenheitsjobs, die wirklich Spaß machen!
Ja, man könnte meinen, damit wäre ich am Ende meiner Reise angekommen, das wäre die Lösung: als Freelancerin arbeiten. Der Begriff sagt doch echt alles: Freelancer. Free. Frei. Frei sein! Sich nicht eingeengt fühlen! Eine Zeit lang lebe ich so, habe immer mehrere Eisen gleichzeitig im Feuer: fotografiere, betreibe Projektmanagement, lese Korrektur, schreibe Buchzusammenfassungen. Das reicht zum Leben – obwohl meine Arbeitswoche weniger als 40 Stunden hat. Bis heute wären da genug Ideen, die ich freiberuflich verwirklichen könnte, aber aus tausend Gründen nicht umsetze. Ich weiß auch nicht. Alles klingt gut, aber nicht gut genug, um sich dafür wirklich reinzuhängen.
Irgendwann aber fehlt mir dann die Sicherheit, die Gewissheit, im nächsten Monat genug Geld auf dem Konto zu haben. Außerdem ist Homeoffice nichts für mich. Es vermittelt mir dieses Gefühl, dass ich den ganzen Tag im Pyjama bleiben kann. Erst abends, wenn man ausgeht, macht man sich dann mal zurecht.
Kurz und gut: Ich versuchte, wieder eine Stelle in meinem alten Beruf zu bekommen. Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir ernsthaft einen festen Fulltime-Job. Und zum ersten Mal in meinem Leben bekam ich keinen. Sechs Monate lang suchte ich – dann begann ich zu zweifeln: »Oh Gott, vielleicht wird das nie wieder was mit einer Stelle. Hätte ich doch die letzte behalten, die war doch gar nicht so schlecht.« Ich saß also im Schlafanzug in der Wohnung, starrte das Handy vor mir auf dem Tisch an, das einfach nicht klingeln wollte, war frustriert wie nie und völlig ohne Hoffnung.
Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir ernsthaft einen festen Fulltime-Job. Und zum ersten Mal in meinem Leben bekam ich keinen.
Eines Tages, an einem dieser zähen Pyjama-Vormittage, an denen ich gar nicht weiß, wofür ich mich aus dem Bett gequält habe, klingelt das Handy. Wie elektrisiert zuckt meine Hand nach vorn. »Jetzt wird alles gut!«, denke ich. »Wer auch immer mir einen Job anbietet, kann mich haben!« »Du klingst ja so gut gelaunt!«, lässt sich die Stimme einer Freundin vernehmen. »So habe ich dich seit Wochen nicht erlebt. Mein Chef sucht einen Fotografen für die Firmenfeier – Interesse?« »Bleib ich also Freelancerin«, denke ich und sage zu.
Wieder hält das Leben eine Überraschung für mich bereit: Auf der Party lande ich an der Bar zufällig neben dem Unternehmensgründer. Wir unterhalten uns, er fragt mich, was ich so mache, lädt mich zum Vorstellungsgespräch ein. Zunächst kassiert er eine Abfuhr, seine Jobangebote sind allesamt nicht mein Ding, und das sage ich ihm auch. Scheinbar beeindruckt von meiner Offenheit meldet er sich ein paar Wochen später wegen einer anderen Stelle bei mir. Und die passt. Ich hatte mich schon gewundert, denn diese Begegnung konnte doch kein Zufall gewesen sein.
Ja, und jetzt überwache ich seit vier Monaten den Bau eines Bürohauses, habe richtig viel Spaß und … fühle mich trotzdem eingeengt. Es ist zum Heulen! Ich habe gerade den geilsten Job der Welt, bin total verliebt in Berlin, doch in Gedanken schon wieder woanders. Am besten wären für mich wahrscheinlich Halbjahresprojekte. Dann wäre mir für eine gewisse Zeit das Gehalt sicher, die Herausforderung wäre garantiert, und nach Ablauf der Projektphase könnte ich auf etwas zurückblicken, das ich geschaffen habe. Und dürfte wieder gehen.
Zu Gast in einem Bauernhaus in Vietnam. Den Menschen so nahe zu kommen, machte Valeska glücklich. Die Erinnerungen daran lösen bis heute Fernweh in ihr aus.
Gehen. Ja, es ist Zeit. Nur soll es diesmal keine Reise sein, sondern ein Projekt im Ausland. Vielleicht könnte ich einer NGO helfen, mich an einem Kunst- oder Buchprojekt beteiligen oder irgendetwas Journalistisches machen. Ich muss nur noch das Richtige finden. Aber diesmal wird es schwer. Damals in München gab es nichts, das mich gehalten hätte. Doch jetzt sind da Berlin, der fantastische Job, die tollen Freunde. Manchmal wache ich auf und denke: »Geil, ich habe hier einfach alles. Warum nur will ich weg?« Aber langsam realisiere ich, dass ich ständig diesen inneren Schrei unterdrücke, diese Stimme, die mir sagt, dass ich wieder etwas ganz anderes tun und fortmuss. Das kann doch nicht gesund sein, das immer zu unterdrücken – nun schon seit fünf Jahren!
Da ist es hilfreich, dass ich derzeit keinen Partner habe, und dauernd denke ich: »Nur niemanden kennenlernen«, wenn ich durch die Straßen laufe, in Bars sitze oder an der Haltestelle stehe. Denn es ist nicht so, dass ich an Liebesdinge so herangehen würde wie an Jobs. Bei jedem Rendezvous keimt in mir die Hoffnung auf, dass das jetzt fürs Leben sein könnte. Dafür jedoch wäre jetzt einfach nicht der richtige Zeitpunkt.
Meine Eltern wissen noch nichts von den neuen Ausbruchplänen. Mittlerweile haben sie sich ein wenig an mein Leben gewöhnt. Klar, Eltern wollen ihre Kinder immer beschützen, und dann bringen sie auch mal Themen wie Altersarmut ein. Aber meistens sagt meine Mutter: »Du machst das schon«, wobei ich wünschte, sie würde mir manchmal etwas Input geben, die Dinge mit mir gedanklich durchspielen, so wie eine gute Freundin. Mein Vater ist meinem Lebensstil gegenüber immer noch skeptisch, aber auch er hat sich entspannt. Er meint, ich hätte ja in den letzten sechs Jahren bewiesen, dass ich ihm nicht auf der Tasche liege. Dennoch sucht er noch nach der Schublade, in die er mich einsortieren kann. Dabei ähneln wir uns sehr – vermutlich macht ihm genau das Angst. Mit meiner Rastlosigkeit lebe ich vieles aus, das er nie zugelassen hat.
Ob ich einmal Kinder möchte? Vielleicht. Ist gerade nicht in Planung, aber es sind ja auch noch zehn Jahre Zeit. Wenn es passiert, passiert es halt. Erst mal muss der Partner stimmen, der auf jeden Fall bereit sein muss, mit mir ins Ausland zu gehen. Wir könnten je zwei Jahre lang in einem Land leben, bevor wir weiterziehen.
Wie wäre es weitergegangen, wenn ich damals in München nicht ausgebrochen wäre? Sicherlich wäre ich ängstlicher. Heute betrachte ich alles mit Abstand, lasse mich von den Dingen nicht so sehr stressen, denn sie sind – global betrachtet – unbedeutend. Diese Erkenntnis ermöglicht es mir, Probleme in aller Ruhe anzugehen, sie zu lösen, und zu akzeptieren, wenn etwas nicht klappt – ein Vorteil meinen Mitarbeitern gegenüber. Die flippen schon aus, wenn mal eine Mail über den falschen Verteiler rausgeht. Ich frage dann: »So what?«
Mein Team kennt mich als Leaderin, die ruhig bleibt, auch in stressigen Situationen. Meine Freunde kennen mich als Heulsuse. Seit der Reise bin ich mir meiner Gefühle bewusster, mit meinem Bauchgefühl in ständigem Kontakt. Klar, das hat sich ja auch auf der Reise, in all den fremden Ländern, als nützlich erwiesen. Leider spüre ich seitdem aber auch meine Ängste und Sorgen deutlicher. Ganz klar bin ich weicher geworden. Wie gesagt, manchmal verstecke ich mich im Bett und breche in Tränen aus.
Seit der Reise bin ich mir meiner Gefühle bewusster, mit meinem Bauchgefühl in ständigem Kontakt.
Aber ich habe nicht nur für mich ein besseres Verständnis entwickelt, sondern auch für andere Kulturen. Im Büro ist das hilfreich, weil wir international arbeiten. Und noch etwas: Ich gehöre nicht zu denen, die nach Deutschland zurückkommen und auf Heimat und Gesellschaft schimpfen. Im Gegenteil: Ich habe gesehen, wie gut wir es haben. In Südamerika kann dein Geld von einem Tag auf den anderen nichts mehr wert sein, und wenn dein Bus vor einer roten Ampel steht, könnte es sein, dass ihn im nächsten Moment Männer stürmen, die Kameras und Bargeld wollen. Passiert dir hier nicht. In Ländern wie Vietnam sagten die Menschen zu mir: »Oh, du kommst aus Deutschland. Wie toll! Großartiges Land!« Tatsächlich war ich überrascht vom guten Ansehen unserer Heimat in der Welt. Wir können uns auf unsere Regierung verlassen. Mein Blick auf mein Zuhause hat sich durch die Weltreise verbessert. Damals, vor dem Aufbruch, war in meinen Augen alles hier schlimm. »Ich komme nie wieder«, schwor ich mir in jenen Tagen und kaufte einen Umschlag für meinen Pass, damit mich auf der Reise nicht andauernd irgendwelche »Mitbürger« in Tennissocken und Trekkingsandalen anquatschen würden.