Verlag und Autoren haben sich nach besten Kräften bemüht, die Quellen der hier wiedergegebenen Abbildungen zu ermitteln und anzugeben. Sollten dennoch Rechte-Eigentümer in Einzelfällen nicht genannte sein, werden sie um Verständnis und um nachträgliche Kontaktaufnahme mit dem Verlag gebeten. Personen- und Schiffsnamen entsprechen den Tatsachen und werden mit Einverständnis der Betroffenen genannt. Eine Ausnahme bilden die Kapitel 6, 10, 11 und 15; hier sind die wirklichen Namen den Autoren bekannt, sie mußten jedoch aus rechtlichen Gründen geändert werden.

Inhalt

 

Zum Geleit

Vorwort

Danksagung

 

TEIL EINS: DIE NASSE GRENZE

   1 Die unsichtbare Mauer

   2 Segeln an der langen Leine

   3 28 Jahre Flucht übers Meer

   4 Die Opfer

   5 „Wir sind doch keine blutgierigen Monster!“

Interview mit Konteradmiral a. D. Herbert Städtke

 

TEIL ZWEI: DIE SCHICKSALE

   6 Schwimmer unter Schnellfeuer

   7 Farnilienflucht im Paddelboot

   8 Die Erfindung des Aqua-Scooters

   9 24 Stunden im Wasser

10 Zollboot ZB 302 setzt sich ab

11 Flucht nach Osten

12 Bundesgrenzschutz rettet Katzenkopf

13 Kriegsschiff auf Westkurs

14 Das erste U-Boot aus Thüringen

15 Chartertörn ins Ungewisse

16 Mit dem Surfbrett durch den Herbststurm

17 Zwei-Mann-Torpedo mit Muskelantrieb

18 Ein Schlauchboot mit Hockeyschläger-Rigg

19 Geisterschiff WINGA

20 Die Gestrandeten von Klintholm

Hafenmeister Jensen erzählt

 

Erklärung der Abkürzungen

Literaturhinweis und Bildnachweis

Zum Geleit

Die bisherigen Daten über die Opfer des ostdeutschen Grenzregimes stimmen nicht mehr. Nachdem Christine und Bodo Müller die ehemals geheimen Unterlagen über Vorgänge an der DDR-Seegrenze eingesehen haben, muß die Statistik des Todes neu geschrieben werden.

Es ist ein Verdienst der Autoren, daß sie erstmals das erschreckende Ausmaß der Fluchtbewegung über die Ostsee dokumentiert haben. Die zum Teil dramatischen Fluchtgeschichten beleuchten ein tragisches Kapitel deutsch-deutscher Vergangenheit.

Dr. Rainer Hildebrandt

Museum Haus am Checkpoint Charlie, Berlin

Vorwort

28 Jahre lang stand an der Ostseeküste Mecklenburg-Vorpommerns eine unsichtbare Mauer. Der Ostseebesucher sah die Freiheit des Meeres, und doch war sie für ihn unerreichbar. Der ferne Horizont mit den fremden Schiffen, der Blick von Hiddensee über die Weite des Meeres zum weißen Felsen von Mön und schließlich das Wissen, daß man am anderen Ufer, falls man es je erreichen könnte, ein freier Mensch wäre, beflügelten Phantasie und Erfindergeist.

Die unsichtbare Mauer war 28 Jahre lang eine Herausforderung für Menschen, die sich ihren Freiheitswillen nicht brechen ließen und das Meer mit seinen bewaffneten Bewachern nicht fürchteten. Vor allem Wassersportler, aber auch ausgesprochene Amateure bauten in ihren Verstecken die kuriosesten Seefahrzeuge für eine abenteuerliche Flucht übers Meer. Andere versuchten es mit List und Tücke oder schwammen einfach um ihr Leben.

Auch wenn der Begriff „Freiheit oder Tod“ inzwischen sehr strapaziert wurde, so war er doch für viele Ostsee-Flüchtlinge das Leitmotiv. Sie hatten innerlich so sehr mit dem SED-Staat gebrochen, daß sie die unglaublichsten Gefahren auf sich nahmen, um ein elementares Menschenrecht durchzusetzen. Dabei vollbrachten manche Flüchtlinge Leistungen, die in keinem Buch der Rekorde stehen.

Gründliche Vorbereitung, Verschwiegenheit, gute Seemannschaft, Cleverneß, und nicht zuletzt eine große Portion Glück waren die wichtigsten Voraussetzungen, wenn das gefährliche Abenteuer gelingen sollte. Die Tragik der Geschichte ist, daß nur etwa einer von zehn Flüchtlingen die freien Ostseeküsten erreichte. Die anderen wurden für Jahre hinter Gitter gesteckt oder starben auf ihrem Weg in die Freiheit einen qualvollen Tod. 28 Jahre unsichtbare Mauer – das sind nicht nur Sehnsüchte und Hoffnungen. Das bedeutet vor allem Jagd auf wehrlose Menschen, Festnahmen, Schikanen, Demütigungen, Schüsse, Erschöpfung, Unterkühlung und Ertrinken. Der totalitäre SED-Staat hat die Menschen pervertiert. Junge Männer wurden in Uniformen gesteckt und mit verlogenen Heilslehren an der Küste und auf See zu Vollstreckern eines Unrechtsregimes gemacht. Menschlichkeit und Moral haben hier versagt. Geblieben sind unsagbares Leid, zerrissene Familien und die Frage nach der Veranwortung.

Wir haben dieses tragische Kapitel deutscher Geschichte aufgearbeitet, damit nicht vorsorglich der Mantel des Vergessens über das geschehene Unrecht gebreitet wird. Mit den ausgewählten Fluchtgeschichten, die stellvertretend für viele andere stehen, wollen wir den Mut derer würdigen, die über das Meer einen Weg in die Freiheit suchten. Und wir wollen all jenen ein Denkmal setzen, die dabei ihr Leben ließen.

Christine und Bodo Müller

Danksagung

Wir danken allen Personen, die durch ihre Aussagen, Hinweise und ihr aktives Mitwirken zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Ein besonderes Dankeschön gilt jenen ehemaligen DDR-Bürgern, die uns ihre Fluchtgeschichte erzählten und vorhandene Dokumente zur Verfügung stellten. Zudem bedanken sich die Autoren bei folgenden Behörden und Institutionen für die gewährte großzügige Unterstützung:

Arbeitsgemeinschaft 13. August, Museum

Haus am Checkpoint Charlie, Berlin

Bundesarchiv Koblenz

Bundesaufnahmestelle Gießen

Bundesgrenzschutz

Bundesministerium für Verteidigung

Gesamtdeutsches Institut Berlin

Hafenverwaltung Klintholm, Insel Mön, Dänemark

Kriminalpolizei Lübeck

Marinekommando Rostock

Militärisches Zwischenarchiv Potsdam

Militärarchiv Freiburg im Breisgau

Museum für Deutsche Geschichte, Berlin

Oberfinanzdirektion Rostock

Wasserschutzpolizei Travemünde

Zentrale Erfassungsstelle Salzgitter

Zollabteilung der Oberfinanzdirektion Rostock

TEIL EINS:

 

DIE NASSE
GRENZE

1

Die unsichtbare Mauer

Heute weiß nahezu jeder Deutsche, wie das SED-Regime den DDR-Bürgern den Landweg in die Freiheit versperrte. Über die Berliner Mauer und den Stacheldraht an der Westgrenze gibt es Dokumentationen in Fülle.

Doch nur wenige wissen, wie Herr Honecker seinen Landsleuten den freien Zugang zum Meer verwehrte. Während Grenztruppen und Stasi im Binnenland jede Pfütze Wasser ummauerten, die nur irgendwie die Westgrenze tangierte, konnte man vor der Ostsee keine Mauer bauen.

Dies hätte Herrn Honeckers Ansinnen, die DDR als „weltoffenes Land“ darzustellen, widersprochen. Alles sollte so aussehen, als sei die DDR-Küste frei und offen wie jede andere Küste auf der Welt: mit Badebetrieb am Strand, Schiffahrt und Sportbootverkehr.

Somit mußten sich die norddeutschen Handlanger der Ostberliner Führung damit begnügen, nur im westlichsten Abschnitt der Seegrenze – von der Halbinsel Priwall bis zum Dorf Brook – eine 13 km lange, hermetisch dichte Mauer nach Berliner Vorbild aufzustellen. Daß dabei den Bewohnern der Küstenorte Pötenitz, Rosenhagen, Barendorf, Groß Schwansee und Brook der Zugang zum Meer buchstäblich vermauert wurde, interessierte die Genossen nicht.

Der weitaus größere Teil der Außenküste zwischen der Lübecker Bucht im Westen und der Pommerschen Bucht im Osten blieb „offen“. Für dieses Gebiet schufen die Grenzbrigade Küste, die BDVP Rostock und die Stasi-Bezirksverwaltung Rostock mit einem ausgeklügelten Sicherheitssystem eine unsichtbare Mauer, die nicht weniger unmenschlich war als das bekannte Bauwerk in Berlin.

Die Schwierigkeit des Unterfangens lag in den geographischen Gegebenheiten: Eine stark zergliederte Außenküste mit einer Gesamtlänge von 602 km (alle Buchten Bodden und Wieken zählten mit zum Grenzgebiet) mußte abgeschottet werden. Selbst die begradigte Grundlinie hatte noch immer eine Länge von 278 km (150 sm). Und auf der seeseitigen äußeren Grenze der Territorialgewässer mußten 338 km (182 sm) bewacht werden.

In der Praxis war das weit schwieriger, als eine Mauer zu bauen und auf jeden zu schießen, der sie zu überwinden versuchte. Da sich im Urlaubsgebiet Ostseeküste jeder DDR-Bürger bis auf wenige Einschränkungen relativ frei bewegen konnte, gab es keine feste Demarkationslinie. Eine Person, die abends in die Ostsee sprang, konnte also nicht ohne weiteres beschossen werden, da sie möglicherweise ein braver Urlauber war.

Deshalb erstreckte sich die unsichtbare Mauer über einen weiten Bereich: vom Küstenvorland über die offene See bis zu den dänischen Hoheitsgewässern. Überwacht wurde dieses Gebiet von der 6. Grenzbrigade Küste (einer Einheit der DDR-Volksmarine), die dabei mit der SED-Bezirksleitung, der Staatssicherheit, der Deutschen Volkspolizei, dem Zoll und nicht zuletzt mit den Einheiten der Volksmarine kooperierte. Die Grenzsicherung bestand aus den Teilen „landseitiges System der Grenzsicherung“ und „seeseitiges System der Grenzsicherung“.

Das landseitige System der Grenzsicherung

Etwa 5 km südlich der eigentlichen Küste begann die militärisch organisierte Überwachung der einheimischen Bevölkerung und der Ostsee-Urlauber. Die südlichste Ausdehnung dieses „Grenzgebiets“ war in weiten Teilen des Bezirks Rostock identisch mit dem Verlauf der Küstenstraße F 105. Später wurde das System der flächendeckenden Überwachung noch weiter nach Süden ausgedehnt, und zwar auf das „grenznahe Hinterland“.

Während die militärischen Truppen der 6. Grenzbrigade Küste vorrangig an der unmittelbaren Küstenlinie (Ausnahme bei Fahndungen) im Einsatz waren, wurde das Hinterland von der Volkspolizei und einem zivilen Spitzeldienst sogenannter freiwilliger Grenzhelfer abgesichert. Jede der acht Kompanien der 6. Grenzbrigade Küste verfügte über durchschnittlich 30 Helfer aus der Zivilbevölkerung, die nach einem geheimen Dienstplan in ihren Ortschaften rund um die Uhr im Einsatz waren.

Diese Grenzhelfer wurden aus nahezu allen Bevölkerungskreisen rekrutiert. Praxis war es, im Dorf wohnende SED-Mitglieder als Grenzhelfer zu werben. Ein Genosse durfte einen solchen „wichtigen Auftrag im Klassenkampf“ nicht ablehnen. Üblich war es auch, daß in den Dörfern der Bürgermeister (oder dessen Stellvertreter) und ein Leitungsmitglied der LPG als freiwillige Grenzhelfer tätig waren. Typische Grenzhelfer waren die Parteisekretäre der Betriebe und Kommunen sowie Emporkömmlinge der FDJ.

Der freiwillige Grenzhelfer bekam für seinen Dienst keinen Lohn, denn es war ehrenamtliche gesellschaftliche Arbeit. Selbst wenn er einen Flüchtling faßte, erhielt er als Dank nur einen Präsentkorb (mit Delikatessen aus der Handelsgesellschaft der Nationalen Volksarmee) oder im Höchstfall 100 Mark Prämie. Die in der westdeutschen Boulevardpresse gern hochgespielte Version vom Kopfgeldjäger stimmt nicht. Der brave Biedermann hatte allerdings andere Vorteile: Der ehrenamtliche Grenzdienst beschleunigte seine Karriere in höhere berufliche und gesellschaftliche Funktionen. Dieser dienstbeflissene Mitläufer war der Prototyp des erfolgreichen DDR-Bürgers.

Noch 1984, also fünf Jahre vor dem Fall der Mauer, baute das SED-Regime das System der inneren Bespitzelung im DDR-Ostseebezirk aus. In dem geheimen Beschluß 43-5/84 des Rates des Bezirks Rostock vom 17.02.84 wurde festgelegt, daß zusätzlich zum bereits bestehenden Überwachungssystem in den Räten der „Städte und Gemeinden des Grenzgebietes und in Schwerpunktterritorien des grenznahen Hinterlandes“ eine „ständige Arbeitsgruppe Grenze“ gebildet werden mußte. Dieser Beschluß, der seinerzeit ohne Widerstand angenommen und durchgesetzt wurde, ist ein markantes Beispiel der Unterwürfigkeit damaliger Kommunalverwaltungen. Obwohl nahezu jeder DDR-Bürger wußte, daß die Freiheitsberaubung durch Grenzabschottung ein zum Himmel schreiendes Unrecht war, ließen sich weite Teile der Bevölkerung willenlos vor den Karren von Partei und Geheimdienst spannen.

Mit diesem Beschluß von 1984 wurde das „grenznahe Hinterland“ so weit erfaßt, daß selbst die Kommunalverwaltungen kleiner Dörfer, die weitab von der Küste lagen, Spitzeldienste verrichten mußten. Leiter der „Arbeitsgruppe Grenze“ war jeweils der Bürgermeister. Zu den Mitgliedern gehörten unter anderem: der Vorsitzende der Ständigen Kommission Ordnung und Sicherheit, der Leiter des VP-Gruppenpostens, der Sekretär der Ortsparteiorganisation und der Leiter der Kurverwaltung beziehungsweise des örtlichen Feriendienstes.

Erschreckend ist, wie viele zivile Seefahrer Spitzeldienste als freiwillige Grenzhelfer verrichteten. Aus einer geheimen Verschlußsache über eine Militärratssitzung vom 24. November 1987 geht unter anderem hervor, daß allein im Fischerei-Aufsichtsamt der DDR 53 Spitzel tätig waren. Auf acht Schiffen der Rostocker Bagger-, Bugsier- und Bergungsreederei verrichteten nebenbei 15 Grenzhelfer ihren ehrenamtlichen Dienst. Nahezu unfaßbar ist, daß selbst viele Fischer in geheimer Mission ihre eigenen Kollegen und andere potentielle See-Flüchtlinge observierten. Beim VEB Fischfang Saßnitz arbeiteten auf 42 Booten insgesamt 86 Spitzel. In der FPG Warnemünde verrichteten auf 14 Kuttern 15 freiwillige Grenzhelfer ihren Dienst. Und selbst in der kleinen FPG in Wismar leisteten 14 Fischer auf zwölf Booten nebenberufliche Spitzeldienste.

Wenn man heute die Verantwortung für die Opfer auch an der ehemaligen Ostseegrenze der DDR allein SED-Chef Honecker und Stasi-Chef Mielke zuspricht, ist das nur die eine Seite. Das Unrechtsregime wäre nicht möglich gewesen, hätte es nicht das Heer der zivilen Hilfskräfte gegeben.

Freiwillige Grenzhelfer observierten die Verkehrswege zur Küste und hielten Ausschau nach Fahrzeugen mit verdächtigen Zuladungen wie Surfbrettern und Schlauch- oder Paddelbooten. Auf den Bahnhöfen wurde das Reisegepäck nach eventuellen Fluchtmitteln durchschnüffelt. Auf den Campingplätzen bespitzelten die Grenzhelfer die Urlauber, wenn der Verdacht bestand, daß in einem Zelt heimlich ein Fluchtboot gebaut wurde. Auf diese Art konnten die meisten Flüchtlinge schon festgenommen werden, ehe sie überhaupt das Wasser erreichten. An der Küste, in den Häfen und auf See fungierten ausgewählte Fischer, Matrosen und selbst Kapitäne als verlängerter Arm der Staatsicherheit.

Erst unmittelbar an der See trat die 6. Grenzbrigade Küste in Erscheinung. Zwischen Pötenitz im Westen und Ahlbeck im Osten operierten insgesamt acht Grenzkompanien sowie zwölf technische Beobachtungskompanien. Jede Grenzkompanie bestand durchschnittlich aus 80 Mann, wovon etwa die Hälfte unmittelbar an der Grenze im Einsatz waren. Zu jeder technischen Beobachtungskompanie gehörten 24 Mann. Insgesamt zählten zum System der landseitigen Grenzsicherung 968 Mann in Uniform. Etwa die Hälfte davon stand ständig unter Waffen. Schwerpunkt war die Beobachtung der unmittelbaren Küstenlinie und der See.

Dazu wurden Mitte der siebziger Jahre entlang der Küste 38 Beobachtungstürme „BT 11“ (Betontürme von 11 m Höhe) aufgestellt. Sie waren mit Suchscheinwerfern (Reichweite etwa 500 m) und später auch mit Radargeräten ausgerüstet.

Wachturm „BT 11“ an der Steilküste bei Warnemünde

Außerdem waren die zwölf technischen Beobachtungskompanien mit speziellen Funkmeßtürmen ausgestattet. Von diesen aus wurde einerseits der Schiffsverkehr auf der Ostsee verfolgt, andererseits nach Flüchtigen gesucht. Die Türme standen (von West nach Ost) bei Pötenitz, Boltenhagen, auf der Insel Poel, bei Kühlungsborn, in Warnemünde, auf dem Fischland, auf Darßer Ort, in Barhöft, auf dem Dornbusch (Insel Hiddensee), auf Kap Arkona (Insel Rügen), auf den Kreidefelsen der Stubbenkammer (Rügen), in Sellin (Rügen), auf der Insel Ruden und der Insel Oie vor dem Greifswalder Bodden.

Um die Lücken dazwischen aufzufüllen, wurden an der Küste mobile Suchscheinwerfer auf russischen Militärfahrzeugen vom Typ SIL aufgestellt. Dies waren extrem starke Scheinwerfer mit Kohle-Lichtbogen, wie sie bei den Luftstreitkräften eingesetzt wurden. Die Suchscheinwerfer hatten eine Reichweite von 18 km. Mit starken Ferngläsern konnten bei ruhiger See im Scheinwerferkegel noch in einer Entfernung von 3 sm kleine Schwimmobjekte identifiziert werden. Diese Scheinwerfer hatten zusätzlich einen psychologischen Effekt: Die Soldaten ließen die Lichtkegel regelmäßig über See und Küste streichen, damit sich Flüchtlinge beobachtet fühlten und von ihrem Vorhaben abließen. Zusätzlich gingen Postenpaare in besonders gefährdeten Küstenabschnitten Streife.

Die landseitig eingesetzten Grenzsoldaten waren zum überwiegenden Teil Wehrpflichtige (Dienstzeit 18 Monate) aus dem Binnenland. Sie waren mit russischen Maschinenpistolen (Kalaschnikow) und scharfer Munition bewaffnet.

Das seeseitige System der Grenzsicherung

Zu den Fahrzeugen der 6. Grenzbrigade Küste gehörten insgesamt 34 Schiffe:

18 HMSR (Hochsee-Minensuch- und Räumschiffe mit je 24 Mann Besatzung),

10 GB 23 (Grenzboote von 23 m Länge mit je sechs Mann Besatzung),

6 Kutter (Fischkutter von 17 m Länge mit je sieben Mann Besatzung).

Insgesamt waren 534 Einsatzkräfte auf See. Zusammen mit dem Stab gehörten zur seeseitigen Grenzsicherung rund 800 Personen.

Am wirkungsvollsten war der Einsatz der HMSR. Diese von den eigenen Landsleuten auf der Wolgaster Peene-Werft gebauten Schiffe waren für DDR-Verhältnisse relativ gut ausgerüstet. Das betraf sowohl die Radargeräte, mit denen bei ruhiger See sogar Wasservögel ausgemacht werden konnten, als auch die Anlagen der Hydroakustik. Die Bewaffnung bestand aus Handfeuerwaffen (Kalaschnikow) für die Besatzung sowie einer 23-mm-Zwillingsflak.

HMSR-Schiffe im Militärhafen Hohe Düne bei Warnemünde

Im Normalfall waren immer vier HMSR gleichzeitig auf See, und zwar vor Klützhöved (etwa in der Mitte zwischen Lübecker Bucht und Wismarer Bucht), vor Kühlungsborn, vor Graal-Müritz und im Seegebiet zwischen Darßer Ort und Kap Arkona. Damit war die DDR-Küste westlich der Insel Rügen bis zur Lübecker Bucht unter ständiger Beobachtung. Zusätzlich waren die GB 23 und die Kutter (jeweils mit Handfeuerwaffen ausgerüstet) an solchen Stellen stationiert, wo es Verbindungen zwischen den geschützten Boddengewässern und der offenen See gab, insbesondere in der Wismarer Bucht, bei Barhöft, im Libben (nördlicher Ausgang der Boddengewässer zwischen Hiddensee und Rügen) und in der Ostansteuerung des Greifswalder Boddens.

Dieses System der Grenzüberwachung entsprach haargenau den Erfahrungen aus den bekannt gewordenen, erfolgreichen Grenzdurchbrüchen. Die meisten Fluchtversuche erfolgten an drei Schwerpunkten:

aus der westlichen Wismarer Bucht direkt nach Schleswig-Holstein,

ab Fischland/Darß zum internationalen Schiffahrtsweg,

ab Rügen oder Hiddensee zur dänischen Insel Mön.

Häufigste Fluchtzeiten waren Spätsommer und Herbst, wenn die Nächte lang genug und die Ostseegewässer noch warm waren. Die Nachtstunden an den Wochenenden waren Hauptzeiten für Fluchtversuche.

Dies wußte die Grenzbrigade Küste sehr genau und verließ samstags und sonntags in der Morgendämmerung mit Suchschiffen die DDR-Hoheitsgewässer, um auf der offenen See nach Fluchtbooten zu suchen, die sich über Nacht unentdeckt entfernt hatten. Zu diesem Zweck wurden zwei russische Kampfhubschrauber vom Typ Mi 4 der Volksmarine in Stralsund mit eingesetzt. Dabei hatten die Hubschrauber die Flüchtlinge zu orten und gegebenenfalls durch Tiefflug am Weiterfahren zu hindern, während über Funk das nächste Schiff der 6. Grenzbrigade Küste gerufen wurde. Waren ihre Schiffe zu weit vom „Ziel“ entfernt, wurden zusätzlich Einheiten der Volksmarine mit herangezogen. Die Jagd auf wehrlose Menschen wurde auch dann noch fortgesetzt, wenn die Flüchtlinge die DDR-Hoheitsgewässer schon längst verlassen hatten und theoretisch bereits in Freiheit waren.

Die Ostseeküste der ehemaligen DDR mit den Positionen der Grenzboote und Funkmeßtürme sowie den Standorten der Grenzbataillone

Im Grenzgesetz vom 25. März 1961 (Gbl. I, Nr. 11, S. 197) wurde im Schießbefehl § 27 die gezielte Anwendung der Schußwaffe „zur Ergreifung von Personen“ gerechtfertigt. Der § 31 (2) gestattete den Schußwaffengebrauch auch bei „Verfolgung von Wasserfahrzeugen über die Territorialgewässer hinaus“.

Das geheime Protokoll der Militärratssitzung vom 24. 11. 87 zeigt die erschreckende Anzahl von freiwilligen Grenzhelfern aus allen Bereichen der Zivilbevölkerung.

Das Gesetz rechtfertigte die Anwendung der Schußwaffe.

Die Dienststellen und Standorte der 6. Grenzbrigade Küste

Geheime Dienstkarte vom Grenzabschnitt Küste

 

 

 

∗ Erklärung der Abkürzungen am Schluß des Buches

2

Segeln an der langen Leine

Die DDR war ein sportfreundliches Land. Dies galt jedoch nicht für das Seesegeln. Da diese Sportart im Grenzgebiet Ostseeküste ausgeübt wurde, konnten sich die Hobby-Seeleute nicht der allgemeinen Sportförderung erfreuen. Im Gegenteil, die Seesegler waren den Grenzhütern immer suspekt und wurden darum im besonderen Maße reglementiert.

DDR-Segelyachten am Grenzkontrollpunkt Warnemünde

Dieses Mißtrauen der SED-Führung war aus ihrer Sicht durchaus berechtigt. Denn das Seesegeln als Freizeitbeschäftigung oder Sport übten vor allem solche DDR-Bürger aus, die sich dadurch im kleinkarierten SED-Staat ein Stückchen Freiheit schaffen wollten. Wenn die See auch Grenzen hatte, so war doch der Traum von der Freiheit des Meeres bei vielen ostdeutschen Crews stets mit an Bord. Viele Skipper gaben ihren selbstgebauten Yachten denn auch Namen wie SEVEN SEAS, PASSAT, KONTIKI, ATLANTIK oder gar FREEDOM. Den Genossen der Stasi muß das stets wie ein böses Omen vorgekommen sein.

Die SED-Führung reagierte mit Schärfe und reduzierte nach dem Bau der Mauer die Segelmöglichkeiten auf die sogenannten „inneren Seegewässer im Bereich der Grenzzone“. Das waren im wesentlichen alle Bodden und Haffs, die südlich der Basislinie der Territorialgewässer (Drei-Meilen-Zone, später Zwölf-Meilen-Zone) lagen. Frei segeln durfte man demnach nur in der Wismarbucht und den pommerschen Boddengewässern. Am härtesten gestraft waren die Rostocker Seesegler, die sich nur auf einem neun Meilen langen Stück der Unterwarnow bis Warnemünde frei bewegen konnten.

Als einzig attraktives Segelrevier blieben die pommerschen Bodden. Aber auch dort galten Einschränkungen aufgrund des überzogenen Sicherheitsbedürfnisses. So durfte man im grenznahen Gebiet nachts weder segeln noch ankern. Die ostdeutschen Segler mußten bei Sonnenuntergang im Hafen liegen. Weil viele Boote keine oder nur unzuverlässige Motoren hatten, erforderte das selbst im Urlaub eine genaue Zeitplanung in Abhängigkeit vom Wind.

Am Liegeplatz mußten die Yachten „mittels Kette oder Stahltrosse und Sicherheitsschloß“ arretiert werden (so festgelegt im Beschluß des Rates des Bezirks Rostock Nr. 43-5/84). Zusätzlich verlangt wurde die „Entfernung von Riemen, Dollen, Rudern, Segeln bzw. Zündquellen von Motoren und die verschlußsichere Aufbewahrung“.

Wollte jemand an der Außenküste innerhalb der Hoheitsgewässer segeln, durfte er das nur zu offiziellen Regatten (zum Beispiel „Rund Rügen“ oder „Internationale Ostseeregatta Warnemünde“) oder zur Überführung der Yachten von Wismar beziehungsweise Warnemünde zu den pommerschen Bodden und zurück.

Verhaltensmaßregeln für ostdeutsche Segler aus dem Rostocker Bezirksratsbeschluß vom 17. 2. 84

Viele Crews, die eigentlich wenig Lust auf Regattasegeln hatten, entschlossen sich nur deshalb zur Teilnahme an den offiziellen Wettfahrten, um einmal an der offenen Küste segeln zu dürfen. Daß diese Segler in Wirklichkeit, nur ein wenig Freiheit suchten, wurde nach dem Fall der Mauer offenbar. Die meisten pfiffen danach auf die offiziellen Veranstaltungen und segelten endlich dorthin, wohin sie schon immer gewollt hatten.

PM 18, Nachtsegelgenehmigung und PM 19

 

 

Doch selbst die Teilnahme an Regatten und Überführungen zu den Boddengewässern war nicht jedermann erlaubt. Um die Territorialgewässer befahren zu dürfen, benötigte jedes Crewmitglied eine „PM 18“. Hinter dieser Abkürzung steckt der Begriff „Paß und Meldewesen“ der Volkspolizei.

Um in den Besitz einer PM 18 zu kommen, mußte das Crewmitglied im Herbst des Vorjahres über seine Betriebssportgemeinschaft einen entsprechenden Antrag einreichen. Das Papier wurde dann kurz vor Saisonbeginn ausgegeben und trug das Dienstsiegel des jeweiligen Volkspolizei-Kreisamtes.

Antrag auf eine „PM 18“ zum Seesegeln an der DDR-Küste

Doch schon zu DDR-Zeiten war es ein offenes Geheimnis, daß über die Gewährung der PM 18 nicht von der Volkspolizei, sondern hinter den verschlossenen Türen der Staatssicherheit entschieden wurde. Damit sollte ausgeschlossen werden, daß nicht-systemkonforme Bürger an der Küste segeln durften. Eine falsche Bemerkung über den Staat oder der laut formulierte Wunsch nach mehr Segelfreiheit reichten aus, um einem segelbegeisterten DDR-Bürger die Genehmigung zu verweigern.

Seitens der Stasi wurde eigens zu diesem Zweck ein ausgeklügeltes System der Bespitzelung der Wassersportler eingerichtet. Diese sogenannte Sicherheitsüberprüfung erfolgte dann durch Stasi-Mitarbeiter lange vor der eigentlichen Segelsaison. Die meisten ehemaligen DDR-Segler ahnen selbst heute noch nicht, wie weit früher die Stasi mit konspirativen Mitteln in ihr Privatleben vordrang. Hier kann dies nur auszugsweise wiedergegeben werden, denn die gesamte Anweisung zur Bespitzelung einer Einzelperson umfaßt 31 Seiten!

Grundlage der Überwachung der Seesegler war die geheime Stasi-Anweisung Richtlinie Nr. 1/82 zur Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen (GVS MfS 0008-14/82). Wer sich dieser Sicherheitsüberprüfung zu unterwerfen hatte, wurde unter Punkt 3.2.2. genau definiert:

Sicherheitsüberprüfungen zu Personen, (…) die eine Erlaubnis bzw. Genehmigung zum Aufenthalt im Schutzstreifen an der Staatsgrenze zur BRD und in besonders gefährdeten Bereichen des Grenzgebietes zu Westberlin bzw. zum Befahren der Seegewässer außerhalb der Grenzzonen der DDR erhalten oder eine Tätigkeit ausführen sollen, die objektive Möglichkeiten zum widerrechtlichen Passieren der Staatsgrenze bietet, z. B. mit Luft- oder Wasserfahrzeugen.

Dabei mußte der Wassersportler, der nur mal ein Stück an der Küste entlang schippern wollte, nach folgenden Schwerpunkten mit konspirativen Mitteln bespitzelt werden:

Bindung an die gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR, Wertschätzung der sozialen Sicherheit, grundsätzliche Übereinstimmung persönlicher und gesellschaftlicher Interessen, Übereinstimmung in Wort und Tat;

– Bindung an Familie, an Verwandte und Freunde, an die berufliche Tätigkeit, und das Arbeitskollektiv;

– Bindung an vorhandene materielle Werte wie Wohnungseinrichtungen, Fahrzeuge, Wochenendgrundstücke, Ersparnisse und Vermögenswerte;