Clive Cussler
Tiefsee
Roman
Übersetzt von Willy Thaler
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Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Deep Six« bei Simon & Schuster, New York.
E-Book-Ausgabe 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Copyright © der Originalausgabe 1984 by Clive Cussler Enterprises, Inc.
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Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1988 by Blanvalet Verlag,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
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HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-15219-2
V003
www.blanvalet.de
Für Tubby’s Bar und Grill in Alhambra,
Rand’s Roundup auf dem Wilshire Boulevard
den Black Knight in Costa Mesa
und Shanner’s Bar in Denver.
Vorbei – aber nicht vergessen
VORSPIEL
Die »San Marino«
15. Juli 1966
Pazifik
Eine dunkelhaarige junge Frau beschirmte mit der Hand ihre braunen Augen gegen die Sonne und starrte zu dem großen Sturmvogel hinauf, der über dem hinteren Ladebaum des Schiffes schwebte. Sie bewunderte für ein paar Minuten den eleganten Flug des Vogels, dann wurde es ihr langweilig, und sie setzte sich auf, sodass nun regelmäßige rote Streifen auf ihrem braun gebrannten Rücken zu sehen waren, die von den Latten eines Sessels auf dem alten Dampfer herrührten.
Sie blickte sich nach der Deckmannschaft um, die aber nirgends zu sehen war, und drückte den Busen in den Schalen ihres BHs in eine angenehmere Lage.
Infolge der heißen Tropenluft war ihr Körper erhitzt und schweißbedeckt. Sie strich mit der Hand über ihren straffen Bauch und spürte, wie der Schweiß aus den Poren drang. Sie lehnte sich beruhigt und entspannt wieder zurück, während das hämmernde Stampfen der alten Maschinen des Frachters und die drückende Hitze der Sonne sie schläfrig machten.
Die Angst, die in ihr getobt hatte, als sie an Bord gekommen war, hatte sich gelegt. Sie lag nicht mehr wach und horchte auf das Klopfen ihres Herzens, versuchte nicht mehr, in den Gesichtern der Besatzung Anzeichen irgendeines Verdachtes zu lesen, und wartete auch nicht mehr darauf, dass der Kapitän ihr mitteilte, er müsse sie in Gewahrsam nehmen. Sie verdrängte allmählich die Gedanken an ihr Verbrechen und begann an ihre Zukunft zu denken. Sie stellte erleichtert fest, dass Schuldgefühl letzten Endes nur eine vorübergehende Gemütsbewegung war.
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie die weiße Jacke des chinesisch aussehenden Messeboys, der bei der Treppe auftauchte. Er näherte sich ihr ängstlich, während sein Blick auf das Deck gerichtet war, als mache es ihn verlegen, ihre nahezu unbekleidete Gestalt anzusehen.
»Verzeihen Sie, Miss Wallace«, sagte er, »Kapitän Masters ersucht Sie höflich, heute Abend bitte mit ihm und seinen Offizieren zu Abend zu essen, das heißt, wenn Sie sich besser fühlen …«
Estelle Wallace war dankbar, dass ihre zunehmende Sonnenbräune ihr Erröten verbarg. Seit sie in San Francisco an Bord gegangen war, hatte sie eine Erkrankung vorgetäuscht und alle Mahlzeiten in ihrer Kabine eingenommen, um einem Gespräch mit den Schiffsoffizieren zu entgehen. Sie erkannte, dass sie sich kaum für immer absondern konnte. Es war an der Zeit, dass sie sich daran gewöhnen musste, mit einer Lüge zu leben. »Richten Sie Kapitän Masters aus, dass es mir viel besser geht. Ich freue mich darauf, mit ihm zu Abend zu essen.«
»Das wird er gern hören«, sagte der Messeboy mit breitem Lächeln, das eine große Lücke in seiner oberen Zahnreihe enthüllte. »Ich werde dafür sorgen, dass Ihnen der Koch etwas Besonderes zubereitet.«
Er machte kehrt und schlich in einer Haltung davon, die Estelle selbst bei einem Asiaten ein wenig zu unterwürfig vorkam.
Ihr Entschluss stand fest, und sie starrte zu den drei Decks des Mittelschiffsaufbaus der San Marino empor. Über der schwarzen Rauchwolke, die aus dem einzigen Schornstein aufstieg und sich scharf von der abblätternden weißen Farbe der Schotten abhob, war der Himmel von einem unwirklichen Blau.
»Ein seetüchtiges Schiff«, hatte der Kapitän geprahlt, als er sie in die Kabine führte. Er leierte die Geschichte und technischen Daten der San Marino herunter, als wäre Estelle ein ängstlicher Passagier bei der ersten Kanufahrt über die Stromschnellen.
Die San Marino war 1943 nach dem Standard der Libertyschiffe gebaut worden und hatte militärisches Nachschubmaterial über den Atlantik nach England befördert, wobei sie sechzehn Mal die Überquerung in beiden Richtungen geschafft hatte. Als sie einmal von dem Begleitschutz getrennt worden war, traf sie ein Torpedo, aber sie weigerte sich unterzugehen und schaffte es mit eigener Kraft bis nach Liverpool.
Nach dem Krieg hatte sie unter der Flagge Panamas als eines von dreißig Schiffen der Manx Steamship Company in New York die Weltmeere befahren und in den verschiedensten kleinen Häfen angelegt. Ihre Gesamtlänge betrug 132 Meter, sie hatte einen überhängenden Steven und ein Kreuzerheck, und sie tuckerte mit elf Knoten durch die Dünungen des Pazifik. Sie würde nur noch ein paar Jahre lang Gewinn abwerfen und dann schließlich verschrottet werden.
Roststreifen zeichneten ihre Stahlhaut. Sie sah so schäbig aus wie eine Hure auf der Bowery, doch in Estelles Augen wirkte sie jungfräulich und schön.
Estelles Vergangenheit rückte in immer weitere Ferne. Mit jeder Drehung der ausgeleierten Maschinen vergrößerte sich die Kluft zwischen Estelles eintönigem Leben voll Selbstverleugnung und der strahlenden Zukunft, die sie für sich anpeilte.
Arta Casilighios Metamorphose zu Estelle Wallace begann, als sie unter dem Sitz eines Autobusses auf dem Wilshire-Boulevard während der Stoßzeit einen verlorenen Pass entdeckte. Ohne eigentlich zu wissen warum, steckte ihn Arta in ihre Handtasche.
Auch mehrere Tage danach hatte sie das Dokument noch immer weder dem Busfahrer gegeben noch der rechtmäßigen Besitzerin zugeschickt. Sie studierte die Seiten mit den ausländischen Stempeln stundenlang. Das Gesicht auf dem Foto faszinierte sie. Obwohl die Passbesitzerin besser frisiert war, sah sie ihr erstaunlich ähnlich. Beide Frauen waren ungefähr im gleichen Alter, ihre Geburtstage lagen kaum acht Monate auseinander. Ihre braunen Augen entsprachen dem Passbild, und abgesehen vom Unterschied in Frisur und Haartönung hätte man sie für Schwestern halten können.
Sie begann sich so zu schminken, dass sie wie Estelle Wallace aussah, die ihr zweites Ich wurde, das zumindest im Geist an die exotischen Orte der Welt flüchten konnte, die für die schüchterne mausgraue Arta Casilighio unerreichbar waren.
Eines Abends nach Geschäftsschluss in der Bank, in der sie arbeitete, war ihr Blick auf die Bündel frisch gedruckter Geldscheine gefallen, die am Nachmittag von der Federal Reserve Bank im Geschäftsviertel von Los Angeles geliefert worden waren. Sie hatte sich in den vier Jahren ihrer Anstellung schon so sehr daran gewöhnt, mit großen Geldsummen zu arbeiten, dass sie der Anblick kaum erregte, eine Abstumpfung, die früher oder später bei allen Kassenbeamten eintritt. Doch unerklärlicherweise eröffneten diesmal die Bündel grüner gedruckter Zahlungsmittel eine ganz neue Dimension: Im Unterbewusstsein begann sie sich vorzustellen, dass sie ihr gehörten.
Arta fuhr an diesem Wochenende nach Hause und schloss sich in ihrer Wohnung ein, wo ihr Entschluss reifte und sie das Verbrechen plante, das sie begehen wollte; sie übte jede Bewegung, jede kleinste Geste ein, bis sie ihr glatt und reibungslos gelang. Die ganze Sonntagnacht über lag sie wach, bis der Wecker klingelte; sie war in kalten Schweiß gebadet, aber fest entschlossen, ihren Plan durchzuführen.
Die Bargeldsendung traf jeden Montag in einem Panzerwagen ein und belief sich gewöhnlich auf sechs- bis achthunderttausend Dollar. Nach nochmaligem Zählen wurden die Banknoten bis zur Verteilung am Mittwoch an die Zweigstellen der Bank im ganzen Stadtbereich von Los Angeles aufbewahrt. Sie hatte sich ausgerechnet, dass der Montagabend die richtige Zeit für ihren Coup war, während sie ihre Geldlade im Tresor deponierte.
Nachdem Arta am Morgen geduscht und sich geschminkt hatte, zog sie eine Strumpfhose an. Sie wickelte eine Rolle mit doppelseitigem Klebeband von der Mitte der Waden bis über die Oberschenkel um ihre Beine, wobei sie die äußere Schutzschicht des Klebestreifens nicht abzog. Diese merkwürdige Vorrichtung verdeckte sie mit einem langen Rock, der ihr fast bis zu den Knöcheln und noch einige Zentimeter über den Klebestreifen hinaus reichte.
Als Nächstes nahm sie sauber zurechtgeschnittene Päckchen festes Schreibpapier und schob sie in eine große Beuteltasche. Jedes zeigte auf der Außenseite einen frisch gedruckten, funkelnagelneuen Fünfdollarschein und war mit der blauweißen Originalbanderole der Federal Reserve Bank umwickelt. Bei flüchtigem Hinsehen würden sie daher durchaus echt wirken.
Arta stand vor einem bis zum Boden reichenden Spiegel und wiederholte immer wieder, »Arta Casilighio existiert nicht mehr. Du bist jetzt Estelle Wallace.« Die Autosuggestion wirkte. Sie spürte, wie sich ihre Muskeln entkrampften und ihr Atem langsamer, weniger hastig ging. Dann zog sie die Luft tief ein, straffte die Schultern und ging zur Arbeit.
Weil sie bemüht war, nicht aufzufallen, kam sie unabsichtlich zehn Minuten zu früh zur Bank, was eigentlich ein erstaunlicher Vorgang für alle, die sie näher kannten, hätte sein müssen, aber es war ein Montagmorgen und fiel daher niemandem auf. Sobald sie hinter ihrem Kassenschalter Platz genommen hatte, wurde ihr jede Minute zu einer Stunde, jede Stunde zu einem ganzen Leben. Sie fühlte sich merkwürdig losgelöst von der vertrauten Umgebung, doch die Vorstellung, den gefährlichen Plan aufzugeben, verdrängte sie rasch.
Glücklicherweise kamen weder Angst noch Panik bei ihr auf.
Als es endlich sechs Uhr war und einer der stellvertretenden Vizepräsidenten die massiven Eingangstüren schloss und versperrte, rechnete sie rasch ihre Geldkassette ab und verschwand unauffällig in die Damentoilette, wo sie in der Sicherheit einer Kabine die Außenschicht des Klebestreifens von ihren Beinen ablöste und sie die Toilette hinunterspülte. Dann nahm sie die falschen Geldpäckchen, klebte sie auf den Klebestreifen und stampfte auf, um sich zu vergewissern, dass keines herunterfallen würde, wenn sie ging.
Als sie sich davon überzeugt hatte, dass alles in Ordnung war, kam sie heraus und trödelte so lange in der Vorhalle, bis die anderen Kassierer ihre Bargeldladen im Tresor deponiert hatten und weggegangen waren. Sie brauchte nur zwei Minuten in der großen Stahlkammer allein zu sein, und diese zwei Minuten bekam sie.
Sie zog rasch den Rock hoch und tauschte die präparierten Pakete gegen solche mit echten Geldscheinen um. Als sie den Tresor verließ und dem stellvertretenden Vizepräsidenten zulächelte, der sie mit einem Nicken durch eine Seitentür hinausließ, konnte sie kaum glauben, dass ihr Coup tatsächlich gelungen war.
Sekunden nachdem sie ihre Wohnung betreten hatte, zog sie den Rock aus, nahm die Geldpakete von ihren Beinen und zählte sie. Ihre Beute betrug einundfünfzigtausend Dollar.
Das war bei Weitem zu wenig.
Eine Welle der bitteren Enttäuschung brandete in ihr auf. Sie brauchte mindestens das Doppelte, um außer Landes gehen und sich ein Minimum an Komfort leisten zu können, während sie den Löwenanteil durch Investitionen zu vermehren hoffte.
Die Mühelosigkeit der Unternehmung hatte sie kühn gemacht. Sie fragte sich, ob sie es wagen würde, ihren Fischzug im Tresor zu wiederholen? Das Geld der Federal Reserve Bank war schon gezählt und würde erst am Mittwoch an die Zweigstellen der Bank verteilt werden. Morgen war Dienstag. Sie hatte noch einmal die Möglichkeit zuzuschlagen, bevor der Verlust entdeckt wurde.
Warum nicht? Die Vorstellung, dieselbe Bank zweimal innerhalb von zwei Tagen zu berauben, erregte sie. Vielleicht fehlte es Arta Casilighio an dem nötigen Mut dazu, aber Estelle Wallace musste man keineswegs dazu überreden.
An diesem Abend kaufte sie in einem Trödlerladen einen großen, altmodischen Handkoffer und baute darin einen doppelten Boden ein. Sie verstaute darin das Geld zusammen mit ihren Kleidern und nahm ein Taxi zum Internationalen Flughafen von Los Angeles, wo sie den Koffer über Nacht in einem Schließfach verstaute und ein Ticket für die Dienstagabendmaschine nach San Francisco kaufte. Sie wickelte ihr unbenütztes Ticket für Montag Abend in eine Zeitung und warf sie in einen Abfallkorb. Somit war alles Notwendige getan, und sie fuhr nach Hause und schlief wie ein Murmeltier.
Der zweite Raub verlief ebenso glatt wie der erste. Drei Stunden nachdem sie die Beverly Wilshire Bank zum letzten Mal verlassen hatte, zählte sie das Geld in einem Hotel in San Francisco noch einmal. Der Gesamtbetrag machte nun einhundertachtundzwanzigtausend Dollar aus. Keine umwerfende Summe, wenn man die Inflation bedachte, aber mehr als ausreichend für ihre Bedürfnisse.
Der nächste Schritt war verhältnismäßig einfach. Sie suchte die Zeitungen nach Schifffahrtsplänen ab und fand die San Marino, einen Frachter, der um halb sieben am nächsten Morgen mit dem Bestimmungshafen Auckland, Neuseeland, in See stach.
Eine Stunde vor der Abfahrtszeit ging sie den Laufsteg hinauf. Der Kapitän meinte zwar, dass er nur selten Passagiere mitnähme, erklärte sich jedoch freundlicherweise bereit, sie für einen einvernehmlich ausgehandelten Fahrpreis an Bord zu nehmen, wobei Estelle annahm, dass das Geld in seiner Brieftasche und nicht in der Kasse der Schifffahrtsgesellschaft landen würde.
Estelle trat über die Schwelle der Offiziersmesse und verharrte einen Augenblick lang, als sie sich den sechs Männern gegenübersah, die sie abschätzend musterten.
Ihr kupferfarbenes Haar fiel auf ihre Schultern herab und passte gut zu ihrem gebräunten Teint. Sie trug ein langes, glattes rosa T-Shirt-Kleid, das ihre Figur an den richtigen Stellen betonte, mit einem weißen Elfenbeinarmband als einzigem Schmuck. Für die Offiziere war ihre schlichte Eleganz eine Sensation.
Kapitän Irwin Masters, ein hochgewachsener Mann mit graumeliertem Haar, kam auf sie zu und ergriff ihren Arm. »Miss Wallace«, begrüßte er sie mit freundlichem Lächeln, »es ist schön, dass Sie sich bei uns wohlfühlen.«
»Das Schlimmste habe ich überstanden.«
»Ich muss zugeben, ich begann schon, mir Sorgen zu machen. Dass Sie fünf Tage lang Ihre Kabine nicht verlassen haben, ließ mich schon das Schlimmste befürchten. Da wir keinen Arzt an Bord haben, hätten wir uns in einer unangenehmen Lage befunden, wenn Sie dringend ärztliche Behandlung gebraucht hätten.«
»Ich danke Ihnen«, sagte sie leise.
Er sah sie erstaunt an. »Sie danken mir, wofür?«
»Für Ihre Fürsorge.« Sie drückte sanft seinen Arm. »Es ist lange her, seit sich jemand meinetwegen Sorgen gemacht hat.«
Er nickte und zwinkerte ihr zu. »Dafür sind Schiffskapitäne ja da.« Dann wandte er sich an die anderen Offiziere. »Meine Herren, darf ich Ihnen Miss Estelle Wallace vorstellen, die uns mit ihrer entzückenden Anwesenheit beehrt, bis wir in Auckland anlegen.«
Sie wurde jedem der Reihe nach vorgestellt. Die Tatsache, dass die meisten der Männer mit Nummern bezeichnet wurden, belustigte sie: Der Erste Offizier, der Zweite Offizier, sogar ein Vierter war an Bord. Alle schüttelten ihr die Hand, als bestünde sie aus zartem Porzellan, alle außer dem Schiffsingenieur, einem kleinen, breitschultrigen Mann mit einem slawischen Akzent. Er verbeugte sich steif und küsste ihre Fingerspitzen.
Der Erste Offizier winkte dem Messeboy, der hinter einer kleinen Mahagonibar stand. »Miss Wallace, was würden Sie gerne trinken?«
»Könnte ich einen Daiquiri bekommen? Ich habe Lust auf etwas Süßes.«
»Selbstverständlich«, antwortete der Erste Offizier. »Die San Marino ist vielleicht kein Luxus-Kreuzfahrtschiff, aber wir haben die beste Cocktailbar auf dieser Breite im Pazifik.«
»Seien Sie ehrlich«, ermahnte ihn der Kapitän gutmütig. »Sie haben nicht erwähnt, dass wir wahrscheinlich das einzige Schiff in diesen Breitengraden sind.«
»Ein unwesentlicher Umstand.« Der Erste Offizier zuckte mit den Achseln. »Lee, einen deiner berühmten Daiquiris für die junge Dame.«
Estelle sah interessiert zu, wie der Messeboy fachmännisch die Limone ausdrückte und die Bestandteile zusammenmixte. Jede Bewegung erfolgte mit elegantem Schwung. Der schäumende Drink schmeckte gut, und sie musste ihr Verlangen bremsen, ihn in einem Zug zu leeren.
»Lee«, sagte sie, »du bist ein Wunderknabe.«
»Das ist er wirklich«, stimmte Masters zu. »Es war ein Glück, dass wir ihn angeheuert haben.«
Estelle trank noch einen Schluck. »Sie scheinen etliche Asiaten in Ihrer Mannschaft zu haben.«
»Ersatzleute«, erklärte Masters. »Zehn Mann von der Besatzung sind abgehauen, nachdem wir in San Francisco angelegt hatten. Zum Glück schickte uns die Arbeitsvermittlung Lee und seine neun koreanischen Kameraden vor unserer Weiterfahrt.«
»Alles verdammt merkwürdig, wenn Sie mich fragen«, brummte der Zweite Offizier.
Masters zuckte die Schultern. »Dass Besatzungsmitglieder in einem Hafen abspringen, kam schon vor, als der erste Cromagnon sein erstes Floß zusammenbastelte. Daran ist gar nichts merkwürdig.«
Der Zweite Offizier schüttelte zweifelnd den Kopf. »Einer oder zwei vielleicht, aber nicht zehn. Die San Marino ist ein seetüchtiges Schiff, und der Kapitän ist fair. Es gab keinen Grund für solch einen Massenexodus.«
»So ist es eben auf See«, seufzte Masters. »Die Koreaner sind ordentliche, schwer arbeitende Seeleute. Ich würde sie nicht für die halbe Fracht in unseren Laderäumen hergeben.«
»Das ist ein ziemlich hoher Preis«, murmelte der Schiffsingenieur.
»Ist es ungehörig«, fragte Estelle, »wenn ich mich erkundige, was für Ladung Sie befördern?«
»Keineswegs«, antwortete der sehr junge Vierte Offizier eifrig. »In San Francisco wurden unsere Frachträume mit …«
»Titanbarren vollgeladen«, unterbrach ihn Kapitän Masters.
»Sie sind acht Millionen Dollar wert«, fügte der Erste Offizier mit einem strengen Blick auf den Vierten hinzu.
»Noch einmal dasselbe, bitte«, bestellte Estelle und reichte dem Messeboy ihr leeres Glas. Dann wandte sie sich wieder an Masters. »Ich habe von Titan gehört, habe aber keine Ahnung, wofür es verwendet wird.«
»Wenn man es ordnungsgemäß in reiner Form verarbeitet, wird Titan haltbarer und leichter als Stahl, ein Vorteil, der es bei den Herstellern von Düsenflugzeugen sehr begehrt macht. Es wird außerdem für die Erzeugung von Farben, Kunstseide und Kunststoffen verwendet. Ich nehme an, Sie finden sogar Spuren davon in Ihren Kosmetika.«
Der Koch, ein anämisch aussehender Asiate mit weißer Schürze, schaute aus einer Seitentür heraus und nickte Lee zu, der daraufhin mit einem Mixlöffel an ein Glas klopfte.
»Das Abendessen ist bereit«, verkündete er in seinem stark akzentuierten Englisch und zeigte strahlend lächelnd seine Zahnlücke.
Es war eine fantastische Mahlzeit, und Estelle war davon überzeugt, sie nie zu vergessen. Sechs aufmerksame Männer in eleganten Uniformen umringten sie, und ihre weibliche Eitelkeit war zutiefst befriedigt.
Nach einer halben Tasse Kaffee entschuldigte sich Kapitän Masters und ging auf die Brücke. Die anderen Offiziere verschwanden nacheinander, um ihren Pflichten nachzugehen, und Estelle machte mit dem Schiffsingenieur eine Runde auf Deck. Er unterhielt sie mit Seemannsgarn, Geschichten von unheimlichen Ungeheuern der Tiefe und ausgesuchten Anekdoten über die Besatzung, die sie zum Lachen brachten.
Schließlich kamen sie zu ihrer Kabinentür, und er küsste ihr wieder galant die Hand. Als er sie bat, am nächsten Morgen mit ihm zu frühstücken, nahm sie seine Einladung dankend an.
Sie trat in die kleine Kabine, ließ das Türschloss einschnappen und knipste die Deckenbeleuchtung an. Dann zog sie den Vorhang über das einzige Bullauge des Raumes, zog ihren Koffer unter dem Bett hervor und öffnete ihn.
Der oberste Einsatz enthielt ihre Kosmetika und ihre sorglos hineingestopfte Unterwäsche; sie hob ihn heraus. Darunter lagen ordentlich gefaltete Blusen und Röcke. Sie nahm sie gleichfalls heraus, um später in der Dusche die Falten im Dampf zu glätten. Vorsichtig fuhr sie mit einer Nagelfeile die Kanten des falschen Bodens entlang und hob ihn hoch. Dann lehnte sie sich zurück und seufzte erleichtert. Das Geld war noch in seinem Versteck in mit der Banderole der Federal Reserve Bank umwickelten Bündeln. Sie hatte kaum etwas davon ausgegeben.
Sie stand auf und zog sich das Kleid über den Kopf – sie trug gewagterweise nichts darunter –, ließ sich auf das Bett fallen und verschlang die Hände hinter dem Kopf.
Sie schloss genüsslich die Augen und versuchte, sich den erschrockenen Gesichtsausdruck ihrer Vorgesetzten vorzustellen, wenn sie entdeckten, dass das Geld und die verlässliche kleine Arta Casilighio zugleich fehlten. Sie hatte sie alle hereingelegt!
Sie spürte eine seltsame, fast sexuelle Erregung, wenn sie daran dachte, dass das FBI sie auf seine Liste der dringend gesuchten Verbrecher setzen würde. Die mit der Untersuchung betrauten Beamten würden alle ihre Freunde und Nachbarn befragen, alle ihre alten Schlupfwinkel durchstöbern, tausendundeine Bank auf plötzliche große Einzahlungen von Banknoten mit laufender Nummerierung überprüfen, aber sie würden nichts finden. Arta, alias Estelle, war nicht dort, wo sie deren Meinung nach sein konnte.
Sie schlug die Augen auf und starrte auf die bereits vertrauten Wände ihrer Kabine. Seltsam, der Raum begann sich zu drehen. Die Gegenstände verschwammen vor ihren Augen und wurden wieder deutlich. Ihre Blase verlangte, dass sie eigentlich die Toilette aufsuchen sollte, doch ihr Körper verweigerte dem Befehl den Gehorsam – alle Muskeln schienen erstarrt zu sein. Dann ging die Tür auf, und der Messeboy Lee trat mit einem zweiten asiatischen Besatzungsmitglied ein.
Lee lächelte nicht mehr.
Das darf doch nicht wahr sein, sagte sie sich. Die Mannschaft würde es doch nicht wagen, sie zu stören, während sie nackt auf dem Bett lag. Dies musste ein verrückter Traum sein, verursacht durch die reichlichen Speisen und Getränke, ein Albtraum, den eine Magenverstimmung ausgelöst hatte.
Sie fühlte sich von ihrem Körper losgelöst, als beobachtete sie die unglaubliche Szene aus einer Ecke der Kabine. Die beiden Männer trugen sie sanft durch die Tür, den Korridor entlang und auf das Deck.
Dort waren etliche koreanische Besatzungsmitglieder anwesend, deren ovale Gesichter durch Flutlicht von oben beleuchtet wurden. Sie hoben große Bündel in die Höhe und warfen sie über die Reling. Plötzlich starrte eines der Bündel sie an. Es war das aschgraue Gesicht des jungen Vierten Offiziers, seine Augen waren in einer Mischung von Unglauben und Entsetzen weit aufgerissen. Dann verschwand auch er über die Reling.
Lee beugte sich über sie und machte sich an ihren Füßen zu schaffen. Sie spürte nichts, nur dumpfe Betäubung und Kraftlosigkeit. Er schien eine rostige Kette an ihren Knöcheln zu befestigen.
»Warum tat er das nur?«, fragte sie sich vage. Sie beobachtete apathisch, wie man sie in die Höhe hob. Dann wurde sie losgelassen und schwebte durch die Dunkelheit.
Etwas traf sie mit fürchterlicher Wucht, schlug ihr die Luft aus der Lunge. Eine kühle, nachgiebige Masse schloss sich über ihr, ein unbarmherziger Druck wirkte auf ihren Körper ein, zog sie nach unten und presste ihr Inneres wie in einem riesigen Schraubstock zusammen.
Ihre Trommelfelle platzten, und in diesem Augenblick reißenden Schmerzes wurde ihr Geist vollkommen klar, und sie wusste, dass es kein Traum war. Ihr Mund öffnete sich, um einen hysterischen Schrei auszustoßen. Sie brachte keinen Ton heraus. Der zunehmende Druck des Wassers presste ihr bald den Brustkorb ein. Ihr lebloser Körper trieb in die wartenden Arme des dreitausend Meter tiefen Abgrunds.
ERSTER TEIL
Die »Pilottown«
1
25. Juli 1989
Cook Meerenge, Alaska
Schwarze Wolken türmten sich drohend über dem Meer um die Insel Kodiak auf und färbten die dunkle blaugrüne Fläche bleigrau. Die orangefarbene Glut der Sonne wurde ausgelöscht wie der Schein einer Kerze. Im Gegensatz zu den meisten Stürmen, die vom Golf von Alaska herabfegten und Windgeschwindigkeiten vor 80 bis 160 Stundenkilometern erreichten, brachte dieser eine milde Brise. Regen setzte ein, zuerst nur einzelne Tropfen, dann zu einer wahren Sintflut anwachsend, die das Wasser zu weißem Gischt aufpeitschte.
Auf der Kommandobrücke des Kutters der Küstenwache Catawaba hielt Korvettenkapitän Amos Dover ein Fernglas und bemühte sich, den dichten Regenschleier mit seinem Blick zu durchdringen. Es war, als würde er durch einen schimmernden Bühnenvorhang starren. Nach 400 Metern war jegliche Sicht am Ende. Der Regen fühlte sich kalt auf seinem Gesicht an und noch kälter, als er an dem aufgestellten Kragen seiner wasserdichten Jacke vorbei seinen Hals hinunterlief. Schließlich spuckte er die wassertriefende Zigarette über die Reling und betrat die trockene Wärme des Ruderhauses.
»Radar!«, rief er mürrisch.
»Kontakt sechshundertfünfzig Meter voraus und näherkommend«, antwortete der Mann am Radarschirm, ohne von den kleinen Anzeigen auf dem Schirm aufzublicken.
Dover knöpfte seine Jacke auf und wischte sich mit einem Taschentuch die Nässe vom Hals. Probleme waren das Letzte, was er bei dem wilden Wetter erwartete.
Im Hochsommer kam es selten vor, dass ein Kutter der Fischfangflotte oder ein privates Vergnügungsschiff vermisst wurde, vielmehr war der Winter die Jahreszeit, in der sich der Golf heimtückisch und gefährlich zeigte. Kalte arktische Winde trafen auf wärmere, aus dem Alaskastrom aufsteigende Luft und lösten unglaubliche Stürme aus, türmten riesige Wellen auf, zermalmten Schiffsrümpfe und vereisten die Deckaufbauten, bis ein Schiff so sehr kopflastig wurde, dass es kenterte und wie ein Stein versank.
Sie hatten den SOS-Ruf eines Schiffes aufgefangen, das sich Amie Marie nannte. Ein rasches SOS-Signal, gefolgt von einer Loran-Positionsangabe und den Worten: »… glaube, alle sterben.«
Funksprüche mit dem Ersuchen um weitere Informationen wurden wiederholt ausgesandt, aber der Funker an Bord der Amie Marie meldete sich nicht mehr.
Eine Suche aus der Luft kam erst dann infrage, wenn das Wetter aufklarte. Jedes Schiff innerhalb von hundert Meilen änderte seinen Kurs und fuhr mit Volldampf auf die angegebene Position zu. Wegen der größeren Geschwindigkeit der Catawaba nahm Dover an, dass sie das in Seenot befindliche Schiff als Erste erreichen würde. Dank der riesigen, dröhnenden Dieselmotore war sein Kutter schon an einem Küstenfrachter und einem Golf-Linienschiff vorbeigezogen, die nun beide in seinem Kielwasser weitab dahinschaukelten.
Dover war ein bärenstarker Hüne, der im Seerettungsdienst seinen Mann gestanden hatte. Er hatte zwölf Jahre in den nördlichen Gewässern verbracht und sich hartnäckig gegen jede widerwärtige Wetterlaune gestemmt, der ihn die Arktik ausgesetzt hatte. Er war zäh und windgegerbt, bewegte sich langsam und schwankend, besaß jedoch einen Geist wie eine Rechenmaschine, der seiner Besatzung immer von neuem Ehrfurcht einflößte. Noch ehe die Schiffscomputer programmiert worden waren, hatte er im Kopf den Windfaktor und den Strömungsabtrieb schneller ausgerechnet und die Position ermittelt, an der das Schiff, Wrack oder etwaige Überlebende gefunden werden mussten, und hatte dann oft den Nagel auf den Kopf getroffen.
Das Summen der Maschinen unter seinen Füßen stieg zu einem schrillen, hohen Ton an. Die Catawaba schien wie ein von der Leine gelassener Spürhund die Witterung ihrer Beute aufzunehmen. Alle Besatzungsmitglieder wurden von Jagdfieber gepackt. Ohne sich um den Regen zu kümmern, standen sie auf den Decks und der Brücke.
»Vierhundert Meter«, schrie der Beobachter am Radarschirm.
Da begann auf einmal ein Seemann, der die Bugstange hielt, energisch in den Regen hinauszuzeigen.
Dover beugte sich aus der Tür des Ruderhauses und rief durch den Lautsprecher: »Hält sie sich über Wasser?«
»Schwimmt wie eine Gummiente in einer Badewanne«, brüllte der Matrose durch die um den Mund gelegten Hände zurück.
Dover nickte dem wachhabenden Leutnant zu. »Maschinen drosseln.«
»Maschinen ein Drittel Kraft«, bestätigte der Leutnant, während er eine Reihe von Hebeln am vollautomatischen Schiffssteuerpult betätigte.
Langsam tauchte die Amie Marie durch die Regenwand auf. Sie waren darauf gefasst, sie halb überflutet, kurz vor dem Sinken vorzufinden. Aber sie lag makellos im Wasser und trieb in der leichten Dünung ohne das geringste Anzeichen von Seenot. Eine unnatürliche, fast gespenstische Stille lag über ihr. Ihre Decks waren verlassen, und als Dover über den Lautsprecher hinüberrief, erfolgte keine Antwort.
»Sie sieht aus wie ein Krebsfänger«, murmelte Dover mehr zu sich als zu jemand Bestimmtem. »Stahlrumpf, etwa fünfunddreißig Meter Länge. Stammt wahrscheinlich aus einer Schiffswerft in New Orleans.«
Der Funker lehnte sich aus der Funkkabine und winkte Dover. »Aus dem Register, Sir: Der Besitzer und Kapitän der Amie Marie ist Carl Keating. Heimathafen ist Kodiak.«
Wieder rief Dover das merkwürdig stille Krebsschiff an, diesmal nannte er Keatings Namen. Immer noch keine Antwort. Alle wurden allmählich so nervös wie ein Junge bei seinem ersten Rendezvous, der sich fragt, wie es weitergeht.
Die Catawaba fuhr langsam einen Kreis und drehte bei, dann brachte sie die Maschinen zum Stillstand und trieb längsseits.
Die Stahlbehälter für die Krebse waren ordentlich auf dem verlassenen Deck gestapelt, eine dünne Rauchfahne stieg aus dem Schornstein und wies darauf hin, dass die Dieselmotoren im Leerlauf liefen. Durch die Bullaugen oder die Fenster des Ruderhauses waren keine menschlichen Wesen zu entdecken.
Das Team, das an Bord der Amie Marie gehen sollte, bestand aus zwei Offizieren, Fähnrich Pat Murphy und Leutnant Marty Lawrence. Sie zogen ohne das übliche Geplauder ihre Schutzanzüge über, die sie vor dem kalten Wasser schützen würden, falls sie zufällig ins Meer fielen. Sie wussten kaum mehr genau, wie viele Routineuntersuchungen ausländischer Fischereifahrzeuge sie durchgeführt hatten, die sich in die 200-Meilen-Fischereizone vor Alaska verirrt hatten, aber dieser Fall gehörte nicht zur üblichen Routine. Keine Mannschaft aus Fleisch und Blut stand an der Reling, um sie zu begrüßen. Sie stiegen in ein kleines, von einem Außenbordmotor angetriebenes Gummi-Zodiacboot und legten ab.
Bis zum Einbruch der Dunkelheit waren es nur mehr ein paar Stunden. Der Regen war in ein Nieseln übergegangen, doch der Wind hatte sich verstärkt und somit auch der Seegang. Unheimliche Stille lag über der Catawaba. Keiner sprach; es war, als hätten sie Angst davor, zumindest bis der Bann aus dieser Ungewissheit gebrochen war.
Sie beobachteten Murphy und Lawrence, während sie ihr kleines Boot an dem Krebsfänger vertäuten, sich auf Deck schwangen und durch eine Tür in die Hauptkabine verschwanden.
Mehrere Minuten schleppten sich dahin. Gelegentlich erschien einer der Suchenden auf Deck, verschwand jedoch gleich wieder in eine Luke. Das einzige Geräusch im Ruderhaus der Catawaba kam von Störgeräuschen in dem offenen Radiolautsprecher des Schiffes, der auf maximale Lautstärke aufgedreht und auf Notfrequenz eingestellt war.
Plötzlich, und so unvermittelt, dass sogar Dover überrascht zusammenzuckte, hallte Murphys Stimme laut durch das Ruderhaus.
»Catawaba, hier spricht Amie Marie.«
»Kommen, Amie Marie«, antwortete Dover in sein Mikrofon.
»Sie sind alle tot.«
Die Worte klangen so kalt, dass zunächst niemand ihren Inhalt erfasste.
»Wiederholen Sie.«
»Nicht der leichteste Pulsschlag in einem von ihnen. Sogar die Schiffskatze hat es erwischt.«
Das Enterteam hatte ein Totenschiff vorgefunden. Kapitän Keatings Leiche lag auf dem Deck, sein Kopf lehnte an einem Schott unter dem Radio. Im ganzen Schiff, in der Kombüse, dem Speisesaal und den Schlafräumen lagen die Leichen der Besatzungsmitglieder der Amie Marie herum. Ihre verzerrten Gesichter schienen vor Schmerz erstarrt, und ihre Glieder waren in grotesken Stellungen verkrümmt, als hätten sie in den letzten Augenblicken ihres Lebens heftig um sich geschlagen. Ihre Haut hatte eine merkwürdige schwarze Farbe angenommen, und aus allen Körperöffnungen war Blut ausgetreten. Die siamesische Katze des Schiffes lag neben einer dicken Wolldecke, die sie in ihrem Todeskampf zerfetzt hatte.
Dovers Gesicht spiegelte bei Murphys Beschreibung eher Verwunderung als Schrecken wider. »Können Sie die Todesursache feststellen?«, fragte er.
»Ich kann nicht einmal eine einigermaßen vernünftige Vermutung äußern«, antwortete Murphy. »Kein Hinweis auf einen Kampf. Keine Spuren auf den Leichen, aber sie haben geblutet wie geschlachtete Schweine. Sieht aus, als wären sie alle zugleich von derselben Todesursache betroffen worden.«
»Warten Sie.«
Dover drehte sich um und musterte die Gesichter um ihn, bis er den Schiffsarzt, Korvettenkapitän Isaac Thayer, erblickte.
Thayer war der beliebteste Mann an Bord. Er war ein Oldtimer des Küstenwachdienstes und hatte vor langer Zeit die luxuriösen Ordinationen und das hohe Einkommen der Ärzte an Land zugunsten des manchmal harten und beschwerlichen, jedoch den Lohn in sich tragenden Seerettungsdienstes aufgegeben.
»Was halten Sie davon, Doc?«, fragte ihn Dover.
Thayer zuckte die Schultern und lächelte. »Sieht so aus, als sollte ich einen Hausbesuch machen.«
Dover marschierte ungeduldig auf der Brücke auf und ab, während Doc Thayer ein zweites Zodiac bestieg und über die Strecke zwischen den beiden Schiffen brauste. Dover befahl dem Rudergast, die Catawaba so in Position zu bringen, dass sie das Krebsschiff ins Schlepptau nehmen konnte. Er konzentrierte sich auf das Manöver und bemerkte nicht, dass der Funker neben ihm stand.
»Soeben ist eine Meldung eingelangt, Sir, von einem Piloten, der ein Team von Wissenschaftlern auf der Insel Augustin von der Luft aus mit Nachschub versorgt.«
»Nicht jetzt«, wehrte Dover brüsk ab.
»Es ist dringend, Kapitän«, beharrte der Funker.
»Okay, lesen Sie das Wichtigste vor.«
»›Wissenschaftlerteam alle tot.‹ Dann kam etwas Unverständliches und etwas, das klingt wie ›… rettet mich!‹«
Dover starrte ihn verständnislos an. »Ist das alles?«
»Ja, Sir. Ich habe versucht, das Flugzeug noch einmal zu rufen, aber ich bekam keine Antwort.«
Dover musste keine Karte zu Rate ziehen, um zu wissen, dass Augustin, eine unbewohnte, vulkanische Insel, nur 50 Kilometer nordöstlich von seiner derzeitigen Position lag. Plötzlich schoss ihm eine schreckliche Erkenntnis durch den Kopf. Er griff nach dem Mikrofon und schrie in das Mundstück: »Murphy! Sind Sie da?«
Nichts.
»Murphy! … Lawrence! … können Sie mich hören?«
Wieder keine Antwort.
Er blickte durch das Brückenfenster und sah Doc Thayer über die Reling der Amie Marie klettern. Für einen Mann mit einer so hünenhaften Gestalt konnte sich Dover äußerst schnell bewegen. Er nahm das Megafon und rannte hinaus.
»Doc! Kommen Sie zurück, verlassen Sie sofort dieses Schiff!«, dröhnte seine Stimme über das Wasser.
Seine Warnung kam zu spät. Thayer war schon in eine Luke gestiegen und verschwunden.
Die Männer auf der Brücke starrten mit verständnislosem Blick ihren Kapitän an. Seine Gesichtsmuskeln verkrampften sich, er stürzte verzweifelt ins Ruderhaus zurück und ergriff das Mikrofon.
»Doc, hier spricht Dover, können Sie mich hören?«
Zwei Minuten verstrichen, zwei endlose Minuten, während Dover versuchte, seine Leute auf der Amie Marie zu erreichen. Sogar auf das ohrenbetäubende Geheul der Sirene der Catawaba erfolgte keine Antwort.
Endlich kam Thayers Stimme mit merkwürdig eisiger Ruhe aus dem Lautsprecher auf der Brücke.
»Ich muss leider berichten, dass Fähnrich Murphy und Leutnant Lawrence tot sind. Ich kann kein Lebenszeichen an ihnen mehr entdecken. Was immer die Ursache ist, sie wird mich ebenfalls treffen, bevor ich entkommen kann. Sie müssen dieses Schiff unter Quarantäne stellen. Verstehen Sie mich, Amos?«
Dover wollte nicht wahrhaben, dass er plötzlich kurz davor war, seinen alten Freund zu verlieren. »Verstehe nicht, werde mich aber fügen.«
»Gut. Ich werde die Symptome in der Reihenfolge ihres Auftretens beschreiben. Mir wird schon schwindlig. Puls steigt auf hundertfünfzig. Könnte mir die Ursache durch Hautabsorption zugezogen haben. Puls hundertsiebzig.«
Thayer machte eine Pause. Seine nächsten Worte kamen stockend.
»Zunehmende Übelkeit. Beine … können nicht mehr … tragen. Heftiges Brennen … in der Sinusgegend. Innere Organe fühlen sich an, als würden sie explodieren.«
Alle auf der Brücke der Catawaba beugten sich mit einem Mal näher zu dem Lautsprecher, denn sie wollten nicht verstehen, dass ein Mann, den sie alle kannten und verehrten, in geringer Entfernung von ihnen starb.
»Puls … über zweihundert. Schmerz … unerträglich. Schwärze engt Sehkraft ein.« Deutlich hörbares Stöhnen folgte. »Sagen … sagen Sie meiner Frau …«
Der Lautsprecher verstummte.
Man konnte den Schrecken geradezu spüren, ihn von den weit aufgerissenen Augen der Besatzung ablesen, als sie das Entsetzen erfasste.
Dover starrte stumpf zu dem Grab, das Amie Marie hieß, und presste seine Hände in Hilflosigkeit und Verzweiflung zusammen.
»Was geht dort drüben vor sich?«, murmelte er tonlos. »Was in Gottes Namen tötet dort alle?«