Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de
Der Autor dankt folgenden Personen und Organisationen für die freundliche Unterstützung: LMF Stiftung für liberale Medienförderung, Gamaraal Foundation, Stiftung Irène Bollag-Herzheimer, Saly Frommer Foundation, Ruth und Paul Wallach Stiftung, Dr. Josef Bollag im Auftrag einer Stiftung.
© Piper Verlag GmbH, München 2020
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Covermotiv: imago images/ZUMA Press; picture alliance / Everett Collection
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
Als ich Benjamin B. Ferencz im März 2018 das erste Mal traf, hätten wir beide nicht gedacht, dass sich daraus eine intensive Zusammenarbeit und schließlich sogar eine Biografie entwickeln würde. Vermittelt durch die damalige liechtensteinische Außenministerin Aurelia Frick, die Ferencz von seinem völkerrechtlichen Engagement bei der UNO in New York kannte, besuchte ich ihn für einen Zeitschriftenartikel an seinem Zweitwohnsitz in Delray Beach, Florida. Er wohnte dort in den Wintermonaten in einer Seniorensiedlung mit kleinen Bungalows und künstlich angelegten Teichen. Doch die Gespräche mit ihm verliefen gleich so animiert, dass er bald die beiläufige Bemerkung fallen ließ, ich hätte ja schon fast das Material für ein ganzes Buch beisammen. Das war zwar reichlich optimistisch, aber der Gedanke ließ mich nicht mehr los. Der alte Mann war mir auf Anhieb sympathisch, und die Faszination, aber auch der Respekt für sein außergewöhnliches Leben wuchsen, je mehr ich davon erfuhr. Das positive Echo auf den journalistischen Bericht über ihn ermunterte mich dann dazu, das Projekt in Angriff zu nehmen. Ferencz sicherte sofort seine Unterstützung zu, obwohl er wusste, dass es auch für ihn einige Arbeit bedeuten würde. Dabei ging es ihm nie um seine Person – er war in seiner langen Karriere schon genug im Rampenlicht gestanden –, sondern um die Weiterverbreitung seiner Ideen und Anliegen.
Was er propagierte, ging unmittelbar aus seinen eigenen Erfahrungen hervor. Im Jahr 1947 – mit gerade einmal siebenundzwanzig – war er nämlich Chefankläger im größten Mordverfahren der Geschichte geworden. Bei den Nürnberger Nachfolgeprozessen brachte er hochrangige SS-Offiziere vor Gericht, die im Zweiten Weltkrieg mit ihren Killerkommandos – den sogenannten Einsatzgruppen – in der von der Wehrmacht eroberten Sowjetunion über eine Million Menschen ermordet hatten. Mit der Verfolgung der Täter sah der brillante Jurist seine Mission jedoch mitnichten als beendet an. Er setzte sich in der Nachkriegszeit im Rahmen der Wiedergutmachungspolitik der Bundesrepublik vehement für die Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus ein und gehörte zu den maßgeblichen Promotoren des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Das alles gehörte für ihn untrennbar zusammen. Nürnberg war ein Meilenstein der Rechtsgeschichte – aber die damals angestoßene Entwicklung musste weitergehen.
Der Ideenreichtum und die Konsequenz, mit denen Ferencz seine weit gesteckten Ziele verfolgte, beeindruckten mich tief. Ich empfand es als Privileg, einem der letzten großen Augenzeugen der Weltkriegsepoche zu begegnen, der, wie er selbst sagt, einen »Blick in die Hölle« getan hat – und seither alles daransetzte, eine Wiederholung solcher Gräuel zu verhindern. Hörte ich ihm zu, wie er auf seine unverwechselbar lebendige und anschauliche Art den ungeheuren Erfahrungsschatz seines beinahe hundertjährigen Lebens ausbreitete, kam es mir vor, als ob ich im Theater der Geschichte in der ersten Reihe säße.
Die Darstellung in diesem Buch beruht – neben Ferencz’ Studien und den autobiografischen Aufzeichnungen, die er unter dem Titel Benny Stories im Internet veröffentlicht hat – auf zwei Hauptquellen. Zum einen auf ebenjenen Gesprächen, die ich im März 2018 und nochmals Ende Januar 2019 mit Ferencz in Florida geführt habe. In den mehrtägigen Treffen verblüffte er mit seiner mentalen Frische und einem annähernd fotografischen Gedächtnis. Im Hintergrund lauschte seine Frau Gertrude, die an Alzheimer litt. Er kümmerte sich liebevoll um sie, nebst einer Krankenpflegerin, die regelmäßig vorbeikam. An den Diskussionen beteiligte sie sich nicht mehr; aber wenn er etwas Lustiges erzählte, lachte sie unverhofft mit. Sie kannten und liebten sich nun schon seit über achtzig Jahren. Zu diesem Zeitpunkt war Ferencz längst der letzte lebende Chefankläger der Nürnberger Prozesse und ihr lebendiges Symbol. Es ist nicht unbedingt selbstverständlich, dass er mich in diesem hohen Alter empfangen hat – und so die Leserinnen und Leser an seinen Erinnerungen und Gedanken teilhaben lässt.
Die zweite wichtige Quelle ist das umfangreiche Privatarchiv, das Ferencz dem United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington vermacht hat. Es umfasst Briefe, Tagebücher, offizielle Dokumente, Zeitungsausschnitte, Fernseh- und Radiointerviews, Fotografien und anderes. Im Januar 2019 durfte ich mich während des »Government Shutdown« in die dort lagernden Schätze vergraben, Originale sichten und Mikrofilme kopieren.
In Amerika genießt Ben Ferencz so etwas wie einen Kultstatus – zum Beispiel als Held mehrerer Fernseh- und Kinodokumentationen. Da sein Werdegang aber aufs Engste mit der deutschen Geschichte verknüpft ist, scheint es an der Zeit, dass er nun auch im deutschen Sprachraum jene Aufmerksamkeit erhält, die er meiner Ansicht nach verdient. Ben Ferencz selbst hofft, dass dieses Buch zukünftige Leser »informieren, unterhalten und inspirieren« werde.
Wenn Ferencz im Zusammenhang mit einer Geschichte, deren Dreh- und Angelpunkt der Holocaust an den europäischen Juden ist, von »unterhalten« spricht, ist das kein Zufall – und auch kein Fauxpas. So fürchterlich die Verbrechen waren, deren Zeuge er wurde, so unerschütterlich sind sein Humor und sein Glaube an die Werte von Toleranz und Mitgefühl. Als Handelnder und Chronist eines Zeitalters der Extreme verbindet sich in ihm die große Geschichte mit vielen kleinen Anekdoten. Sie erheitern den Geist und sorgen für Entspannung. »Das Leichte schwer, das Schwere leicht«, ist ein ästhetischer Grundsatz, dem er sicher ohne Zögern zustimmen würde.
Verschiedene Personen haben bei der Realisierung des Projekts entscheidend mitgeholfen. Wertvolle Unterstützung erhielt ich jederzeit von Donald Ferencz, Benjamins Sohn; er war Reiseleiter und Türöffner in Amerika. Henry Mayer, Liviu Carare, Nancy Hartman, Anatol Steck und Anna Cave vom United States Holocaust Memorial Museum leisteten unverzichtbare Dienste bei den Recherchen in der »Benjamin B. Ferencz Collection«. Mayer stellte sich auch als Chauffeur zur Verfügung, um den Teil der Akten zu erreichen, die im Shapell Center aufbewahrt werden, einem modernen Archiv- und Forschungszentrum im Niemandsland außerhalb von Washington. Inga Huber begleitete den Schreibprozess administrativ und inhaltlich. Last but not least bleibt »Ben« – wie er allgemein genannt wird – selbst zu erwähnen. Ohne seine aktive Mitwirkung und geduldige Bereitschaft, die Geschichte seines bewegten Lebens zu erzählen, wäre Jahrhundertzeuge Ben Ferencz in dieser Form nicht möglich gewesen. Seine fesselnden Schilderungen und sein gewinnendes, charmantes Wesen werde ich nie vergessen. Wenn etwas davon auch auf den folgenden Seiten aufschiene, wäre das mehr als nur ein schöner Anfang.
Lenzburg, im Februar 2020
Philipp Gut
Es begann mit einer Falschmeldung. Als Benjamin Berell Ferencz, von seiner Familie »Benny« genannt, am 29. Januar 1921 auf Ellis Island vor New York landete, registrierte ihn die Einwanderungsbehörde irrtümlicherweise als vier Monate altes Mädchen namens Bela. Außer dem Zivilstand – unverheiratet – stimmte daran nichts. Er hieß erstens nicht Bela, war zweitens kein Mädchen und drittens nicht vier Monate alt – sondern schon bald einjährig. Geboren worden war er am 11. März 1920 in einem einfachen Bauernhaus im Ort Şomcuta Mare (deutsch Großhorn) in Transsilvanien. Das Gebiet, in dem eine relativ starke jüdische Minderheit lebte, gehörte ursprünglich zum Königreich Ungarn. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde es Rumänien zugeschlagen. Aus den Erzählungen seiner Verwandten erfuhr Ben später, dass der verbreitete Antisemitismus ein Grund für die Emigration nach Amerika gewesen sei. Der andere war die Armut. Da half auch der Name Ferencz nichts, den die Familie mit dem Habsburgerherrscher Franz Josef teilte; denn Ferencz, üblicherweise ein Vorname, bedeutet so viel wie Franz.
Der kleine Blondschopf mit den wachen blauen Augen reiste in Begleitung seines Vaters, seiner Mutter, seiner Schwester Pepi, die knapp zwei Jahre älter war als er, und eines Onkels namens Leppold. Die winterliche Atlantiküberfahrt in der dritten Klasse war furchtbar gewesen. Ben heulte die ganze Zeit, vor Hunger oder Kälte oder beidem zusammen. Das ständige Geschrei brachte den Vater derart außer sich, dass er in seiner Verzweiflung das Baby beinahe über Bord geworfen hätte. Leppold, der älteste der fünf Brüder von Bens Mutter, konnte ihn im letzten Augenblick daran hindern.
Der Vater trug schweres Gepäck mit sich: Amboss, Hammer, Spezialwerkzeug. Er war Schuhmacher und stolz darauf, aus einem einzigen Stück Kuhhaut ein Paar Stiefel herstellen zu können. Obwohl er in seiner Kindheit ein Auge verloren und kaum Schulbildung genossen hatte, hoffte er, in der Neuen Welt Erfolg zu haben. Doch wie er bald feststellen musste, verlangte in New York niemand nach seinen handgefertigten Produkten in alteuropäischem Stil. Die Amerikaner trugen moderne Schuhe, massenhaft von Maschinen fabriziert, die er nicht zu bedienen wusste. Nachdem eine jüdische Hilfsorganisation den Ankömmlingen einige Wochen lang ein Dach über dem Kopf zur Verfügung gestellt hatte, war der Vater deshalb froh, eine Stelle als Hauswart in einem alten New Yorker Mietshaus zu finden. Es lag in einem Distrikt, der als Hell’s Kitchen, Teufelsküche, bekannt war. Die Bezeichnung kam nicht von ungefähr – die Gegend war berüchtigt für ihre hohe Kriminalitätsrate. Die Familie bezog eine kleine, dunkle Wohnung im Kellergeschoss.
Es war der Ort, an dem Bens Erinnerungen an die Welt begannen. »Ich war etwa drei Jahre alt, als mein Geist aus seinem Kokon schlüpfte.« In seinem Kopf speicherten sich Bilder eines Herds mit Holzfeuerung, eines Spülbeckens, in dem Lumpen, Kleider und Kinder gewaschen wurden, oder eines Gaslichts, das mit einem Zündholz zu entfachen war. Nischen dienten als Schlafplätze, auch für zahlende Gäste. Um etwas zusätzliches Geld zu verdienen, beherbergte die Mutter nämlich europäische Einwanderer für einen bescheidenen Preis. Sein Bett musste Ben nicht selten mit seiner Schwester oder gar den Fremden teilen. Andere Teile des Kellers dienten als Rückzugsort für »Alkoholiker und streng riechende Vaganten«. Die Mutter, die Jiddisch mit ihm sprach, wenn sie nicht gerade auf Ungarisch oder Rumänisch mit ihm schimpfte, mahnte Ben, sich von den »Faulenzern« fernzuhalten. »Ich lernte, dass ›leben und leben lassen‹ die beste Politik war.«
In diese Tage der frühen Kindheit reichen auch seine ersten religiösen Erfahrungen zurück. Die Eltern waren orthodox; der Vater ging jeden Morgen in die Synagoge. Der aufgeweckte, rebellische Junge hingegen war »skeptisch von Beginn an«. In einem Regal am Fuß seines Bettes flackerten kleine Lichter in merkwürdig geformten Gläsern. Sie reflektierten die Seelen von lieben Verstorbenen, und dies sei ein Mittel, um sich an sie zu erinnern und mit ihnen zu kommunizieren, erklärte ihm die Mutter. »Ich verstand, was sie sagte, war aber nicht recht überzeugt davon. Ich beobachtete die Flammen sehr vorsichtig, entdeckte jedoch nie eine Seele oder einen Geist.« Auf die Bemerkung der Mutter, der Rauch der Kerzen, die sie für die Verstorbenen anzündete, steige in den Himmel hinauf, antwortete er: »Aber da ist kein Loch in der Decke.«
Die Zweifel am Glauben begleiteten ihn sein Leben lang. Die schrecklichen Erfahrungen, die er später als amerikanischer Ermittler in deutschen Konzentrationslagern machte, verstärkten sie nur. »Ich fragte: ›Gott, wo warst du, als Millionen unschuldiger Männer, Frauen und Kinder ermordet wurden?‹ Ich warte immer noch auf eine Antwort.«
Hell’s Kitchen war ein hartes Pflaster. Die Bevölkerung bestand hauptsächlich aus irischen und italienischen Einwanderern. Der männliche Nachwuchs teilte sich in rivalisierende Banden auf, »deren Lieblingsbeschäftigung darin zu bestehen schien, sich gegenseitig eins aufs Dach zu geben«. Ben navigierte geschickt zwischen den Fronten. »Ich wurde von beiden Seiten als Maskottchen angenommen. Wenn wir uns nicht gerade einen Bandenkrieg lieferten, verübten wir eifrig kleinere Diebstähle. Auf dem Bürgersteig gegrillte Kartoffeln schmeckten erst dann gut, wenn sie zuvor aus einem Gemüseladen stibitzt worden waren.« Zum Zeitvertreib in diesem Milieu gehörten verschiedene Formen von Geldspielen. »Wenn wir auf dem Asphalt knieten, beteten wir nicht – wir würfelten.« Bens Aufgabe, die er mit Stolz und einer Portion Durchtriebenheit erfüllte, bestand darin, Wache zu stehen und die kleinen Zocker vor der Polizei zu warnen. Kaum hatte er seinen Warnruf ausgestoßen, rannten sie davon – und der Polizist hinter ihnen her. Kehrte dieser später zurück, um den Gewinn für sich selbst einzustreichen, fand er meist keinen Penny mehr vor. »Ich sammelte alles ein, was die Flüchtenden hastig zurückgelassen hatten. First come, first served.«
Viele vergnügliche Stunden verbrachte er – gern mit seiner Schwester – im Kino »Chalona« in der neunten Straße. Nicht, dass die Eltern eine besondere cineastische Neigung in ihnen hätten wecken wollen. Der Grund war prosaischer. Einen Babysitter konnten sie sich nicht leisten, und Krippen gab es damals noch nicht. Das Kino bot sich in dieser Situation als preisgünstige Alternative an. Der Eintritt kostete nur einen Dime – also zehn Cents –, und wenn ein Erwachsener die Kinder hineinführte, durften sie anschließend so lange allein drinbleiben, bis sie wieder abgeholt wurden. Es war die Ära des Stummfilms; vorgeführt wurden vor allem Westernstreifen »mit vielen Schießereien und Kämpfen«. »Cowboys jagten Indianer, während der Klavierspieler in der ersten Reihe Musik oder Geräusche produzierte, die die Handlung auf der Leinwand widerspiegeln sollten.« Einmal geschah es, dass der Vater Ben im Kino nicht mehr fand. Er bedaure – eine Suche im Vorführsaal sei erst möglich, wenn der letzte Film vorüber sei, teilte ihm der Betreiber mit. Es ging auf Mitternacht zu, als Ben schlafend unter einem Sessel gefunden wurde. »Wenn die Szenerie voller Mord und Totschlag ist, kann ein gutes Schläfchen sehr erfrischend sein.«
Im Allgemeinen war er ein aktives Kind, das nie still sitzen konnte. Um ihn davon abzuhalten, irgendwelchen Unfug zu treiben, trugen ihm die Eltern verschiedene häusliche Pflichten auf. Als Hilfskraft seines Vaters, der im Quartier »Joe the Janitor« (»Hausmeister-Sepp«) genannt wurde, beteiligte er sich an der Entsorgung des Abfalls, der mit einem handbetriebenen Lift auf jeder Etage eingesammelt und anschließend weggebracht wurde. »Es gab keinen Kühlschrank in jenen Tagen, und man konnte immer riechen, wenn wir den Müll herunterkurbelten.« Ein besonderes Augenmerk warf Ben auf die leeren Milchflaschen. Brachte er sie dem Lebensmittelhändler zurück, erhielt er zwei oder drei Cents dafür. Weniger glorreich verlief sein Einstieg ins Pressegeschäft. Nachdem er beobachtet hatte, wie andere Jungen in den Straßen erfolgreich die Daily News verkauften, sagte er sich, das könne er doch auch. Im Keller hatte er Stapel alter Zeitungen aufgehäuft. Er nahm einen Packen voll unter den Arm, stellte sich draußen auf und pries sie als die neuesten Nachrichten an. Die vorbeieilenden Passanten griffen zu, ohne genauer hinzuschauen, und ließen die Pennys in Bens Hand rieseln. Lange ging es nicht gut. Der Schwindel fiel einem Herrn auf, der den falschen Newsboy zur Rede stellte. Der Ertappte setzte ein entschuldigendes Lächeln auf und erstattete den Kaufpreis zurück. Der Gentleman bestand darauf, ihn nach Hause zu begleiten, und berichtete dort, was geschehen war. Vater versprach dem Geprellten, den Übeltäter zu züchtigen, und beschlagnahmte sämtliche Einkünfte. »Ich erkannte, dass nicht jedes Unternehmen zum Erfolg führt – besonders wenn man sich nicht an die Regeln hält.«
Die Jahre einer entbehrungsreichen, aber glücklichen Kindheit endeten abrupt, als Ben sechs war. »Die Eltern verbrachten die meiste Zeit damit, sich gegenseitig anzuschreien.« Ihre Ehe war arrangiert worden – sie waren Cousins zweiten Grades –, »und die Armut und die harte Arbeit machten die Dinge nicht einfacher«. Die Mutter hatte schon vor der Geburt von Bens Schwester zwei Fehlgeburten erlitten, jetzt erwartete sie ein weiteres Kind – was die Spannungen zwischen ihr und ihrem Mann noch erhöhte. Damit sie sich in Ruhe auf die Geburt vorbereiten konnte, wurden Ben und Pepi zu Onkel Leppold geschickt, der in Port Jervis im Bundesstaat New York einen kleinen Bauernhof betrieb. Als sie nach einiger Zeit zurückkehrten, rannte Ben in die dunkle Ecke am Ende der Kellerwohnung, um das Neugeborene – es war ein Mädchen – zu begrüßen. »Aber da war keine Spur von ihr. Meine Mutter erklärte sanft, das Baby sei im Himmel und werde nie zurückkehren. Ich weinte und erinnerte mich an die Gläser mit den flackernden Kerzen.« Die Kleine war an Lungenentzündung gestorben.
Es war der letzte Akt in der Ehe von Bens Eltern. Sie »passten einfach nicht zusammen« und ließen sich scheiden. Einen Vertrag, der die Eigentumsverhältnisse regelte, brauchte es nicht, »weil kein Eigentum vorhanden war«. Sie einigten sich einvernehmlich darauf, dass die beiden Kinder in die Obhut der Mutter übergingen. Alle zogen aus dem Kellerloch aus. Das Trio musste eine neue Bleibe suchen und sich gleichzeitig irgendwie über Wasser halten. »Öffentliche Gelder zur Unterstützung bedürftiger Kinder gab es nicht, das System der sozialen Sicherheit war noch nicht erfunden worden. In schwierigen Zeiten galt der Leitspruch: ›Hilf dir selbst, so hilft dir Gott.‹« Glücklicherweise hatte die Mutter eine ältere Schwester, die mit ihrem Mann ein Haus in Brooklyn besaß. Tante Fanny und Onkel Sam Isaac nahmen Ben und Pepi vorübergehend bei sich auf. Ein halbes Jahr nach der Scheidung heiratete Vater eine »hübsche transsilvanische Frau« mit Namen Rose Fried, die er via Zeitungsinserat kennengelernt hatte. Wenige Wochen darauf vermählte sich auch Mutter wieder. Der Neue hieß Dave Schwartz, stammte aus Budapest und war einst ihr Lieblingsgast in der Kellerunterkunft gewesen.
In Brooklyn begann auch Bens glänzende Schulkarriere – obwohl es am Anfang gar nicht danach aussah. Sein Vater hatte ihn schon mit sechs in Manhattan in eine öffentliche Schule schicken wollen, doch der Rektor lehnte ihn ab, weil er ungewöhnlich klein gewachsen war und fast nur Jiddisch sprach. Als er nun bei Tante Fanny in Brooklyn in die erste Klasse aufgenommen wurde, hatte er immer noch Schwierigkeiten mit der englischen Sprache. Das Lesen fiel ihm schwer; dafür half ihm sein außerordentliches Gedächtnis: »Hatte ich einmal eine Geschichte gehört, konnte ich sie wörtlich wiederholen. Der Lehrer erwischte mich eines Tages dabei, wie ich korrekt von der falschen Seite ›las‹.«
Nachdem Ben und Pepi etwa ein Jahr bei Tante Fanny und Onkel Sam verbracht hatten, konnte sich die Mutter gemeinsam mit Dave Schwartz endlich eine kleine Mietwohnung in der Bronx leisten. Die Kinder kehrten zu ihr zurück. Den Vater und seine wachsende neue Familie – Rose gebar bald zwei Söhne – besuchten sie in unregelmäßigen Abständen. Doch kaum war die private kleine Welt wieder einigermaßen in Ordnung, geriet die große draußen in schwere Turbulenzen. Am 24. Oktober 1929 brach unter den Anlegern an der New Yorker Börse Panik aus. Es begann die Große Depression, die erst 1932 ihren Tiefpunkt erreichte. Millionen Amerikaner verloren ihre Arbeit. Von den Vereinigten Staaten griff die Finanz- und Wirtschaftskrise auf Europa und die ganze Welt über. In Deutschland überließen die ratlosen, den Parlamentarismus verachtenden Eliten um Reichspräsident Paul von Hindenburg dem sendungsbewussten Emporkömmling Adolf Hitler das Feld. Nachdem er am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden war, versetzte der zu allem entschlossene Naziführer der jungen Demokratie den Todesstoß.
Bens Familie bekam die Krise mit voller Wucht zu spüren. Die Mutter suchte vergebens nach einer Stelle als Schneiderin oder Hutmacherin, Dave nach einem Job als Werkzeugmacher, Wachmann oder was auch immer der ausgetrocknete Arbeitsmarkt hergab. Der Vater bot seine Dienste als Flachmaler an; aber wer konnte unter diesen Umständen schon sein Haus renovieren oder gar eines bauen? Um nicht zu hungern, waren viele Amerikaner auf die Fürsorge der Regierung angewiesen, deren Mittel allerdings beschränkt waren. Ben wurde losgeschickt, um rationierte Mengen an Brot, Butter oder Käse zu holen – eine Aufgabe, die er hasste. Einmal wurde ihm ein grüner Wollpullover abgegeben. Doch er benutzte ihn lieber nicht. »Ich schämte mich, ihn zu tragen, weil alle anderen Kinder dasselbe Stück anhatten und die Quelle erkennen konnten.« Da sie die monatliche Miete nicht mehr bezahlen konnten, zogen sie ständig um – ein verbreitetes Phänomen während der Großen Depression. Manche Vermieter boten deshalb weitreichende Konzessionen: Die ersten paar Monatsraten entfielen. Statt zu bleiben, zogen viele dann aber einfach wieder weiter; so auch Ben mit seinen Verwandten.
Die unstete Lebensweise führte dazu, dass er in kurzer Zeit verschiedene öffentliche Schulen in der Bronx besuchte. Er blieb nie lange genug, um richtige Freunde zu gewinnen. Seine geringe Körpergröße erschwerte seine Teilnahme an populären Sportarten wie Basket-, Foot- oder Baseball. Seine Mutter fand sowieso, solche »gewalttätigen Spiele« gehörten sich nicht für einen anständigen Judenjungen. Dafür entdeckte Ben seine Leidenschaft für das Lesen. Er besaß eine Mitgliederkarte für öffentliche Bibliotheken, die er ausgiebig benutzte. In ihm war etwas erwacht, was es in seiner Umgebung bisher nicht gegeben hatte: eine ausgeprägte Intellektualität. Das merkten auch seine Lehrer. Obwohl die häufigen Schulwechsel sicher keine idealen Lernvoraussetzungen boten, blieben ihnen seine geistigen Fähigkeiten nicht verborgen. Sie beschleunigten seine Schulkarriere, indem sie ihm erlaubten, einige Klassen zu überspringen.
Wenn das Versprechen des American Dream in unbeschränkter sozialer Mobilität besteht, dann lebte Ben diesen Traum spätestens, seitdem er das achte Schuljahr an der Public School 80 in der Bronx absolvierte. Damals geschah etwas, das »den Lauf meines Lebens veränderte«. Seine Lehrerin war eine freundliche irische Dame, Mrs. Connelly. »Sie kümmerte sich um alle ihre Schüler, als ob es ihre eigenen Kinder gewesen wären.« Eines Tages bat sie Ben, seine Eltern mitzubringen – sie sollten den Schulvorsteher treffen. »Ich fürchtete das Schlimmste.« Er erklärte der Lehrerin, dass sein Vater nicht mehr verfügbar sei; die Mutter werde allein kommen müssen. »Zur vereinbarten Stunde war mein wirres Haar gekämmt, waren meine schmutzigen Schuhe poliert, und Hand in Hand erschienen meine Mutter und ich zum Treffen mit dem Rektor und der Lehrerin meiner Abschlussklasse. Sie sagten, langsam und vorsichtig, dass sie über meine Zukunft reden wollten. Es klang unheilvoll.« Er sei ein »ungewöhnliches Kind«, sagten sie – und beide, Ben wie seine Mutter, erwarteten eine Lektion, wie der ungezogene Bengel zu disziplinieren sei. Doch es kam ganz anders. Mrs. Connelly und ihr Chef eröffneten ihnen, dass sie Ben in eine spezielle Schule für »begabte Jungen« schicken wollten.
Gemeint war eine einzigartige Erziehungsinstitution: Die Townsend Harris High School im Stadtteil Queens garantierte – einen erfolgreichen Abschluss vorausgesetzt – einen beschleunigten direkten Zugang zum College of the City of New York. Sie gehörte zu den renommiertesten Highschools in ganz Amerika. Ihr Besuch war – entscheidend für die prekären finanziellen Verhältnisse, in denen Ben aufwuchs – kostenfrei. Das Angebot kam völlig unerwartet. »Niemand in der Familie meiner Eltern hatte je studiert. Alle, die wir kannten, fingen an zu arbeiten, sobald sie einen Job gefunden hatten.« Die Mutter wirkte überfordert. »Sie drückte ihre Dankbarkeit aus und sagte, sie müsse den Entscheid, welche Schule ihr Sohn besuchen solle, den Lehrern überlassen.« Auch Ben war überrascht: »Wie und warum ich ausgewählt wurde, wusste ich nicht.« Die Verantwortlichen ließen jedoch keinen Zweifel daran, dass dies der richtige Weg für ihn sei. Seine Mutter nickte, und Ben strahlte. Nicht seine Herkunft, seine Fähigkeiten entschieden über seine Zukunft. »So etwas ist nur in Amerika möglich! Seither bin ich immer ein dankbarer Patriot gewesen.«
Da die »Townsend Harris High« in der 23. Straße in Manhattan lag und der tägliche Schulweg zu weit gewesen wäre, wurde ein erneuter Umzug nötig. Die findige Mutter entdeckte ein elegantes Stadthaus in der Nähe in einer guten Nachbarschaft, das sich die Familie eigentlich nicht leisten konnte. Es bestand aus zehn möblierten Zimmern. Sie bewohnten das Erdgeschoss – und vermieteten die übrigen Räume mit Gewinn weiter.
Bens neuer Schulort war nun nur eine kurze Busfahrt entfernt, die Lexington Avenue hinunter. Das Erste, was er dort lernte, war, dass er lernen musste – besonders in Mathematik und Französisch. Vorher war dies nie erforderlich gewesen. Einen Schub beim Erlernen der fremden Sprache gaben ihm Kinobesuche von Filmen mit der französischen Schauspielerin Danielle Darrieux, »einem Ingrid-Bergman-Typ«. Der vierzehnjährige Junge »verliebte« sich in sie. »Während ich ihrer wohltönenden französischen Stimme lauschte, hing ich mit einem Auge an ihren Lippen und verfolgte mit dem anderen die englischen Untertitel.« Auf diese »leicht schielende« Weise machte er rasche Fortschritte. Später konnte er seine Kenntnisse als Übersetzer in der US-Armee brauchen. Und als der Krieg vorüber war, dolmetschte er in den USA für René Cassin, den französischen Diplomaten und Juristen, der als einer der Hauptautoren der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« von 1948 gilt. 1965 wurde Cassin Präsident des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. 1968 erhielt er den Friedensnobelpreis.
Trotz seiner hervorragenden Leistungen wäre Ben nach kurzer Zeit beinahe von der Schule geflogen. Um sein Mittagessen bezahlen zu können, verdiente er sich sein Geld mit Glückslosen, die er an seine Kameraden verkaufte. Dabei sorgte er dafür, dass seine Einkünfte die totale Gewinnsumme um mindestens fünfzehn Cents überstiegen. Damit konnte er sich einen Hamburger und Kartoffelbrei kaufen. Das Geschäft lief so gut, dass er – der ehemalige Verkäufer alter Zeitungen – ganz vergaß, welche Konsequenzen unsaubere Deals haben konnten. Der Schulvorsteher, Dr. Robert Chastney, bekam Wind von der Sache und bestellte Ben in sein Büro. Am nächsten Morgen in der Früh erwarte er hier seinen Vater. »Noch ein Wort, und du fliegst raus!« Ben wagte nicht zu erwähnen, dass er seinen Vater mehr als ein Jahr lang nicht gesehen hatte. Er rief ihn an und bat ihn dringend, herzukommen. Das sei er seinem Erstgeborenen schuldig. Am folgenden Tag setzte Dr. Chastney seine Tirade in Anwesenheit des verdutzten Vaters fort. »Auf meinen Rat hin hörte er ruhig zu und nickte einfach, obwohl er nicht recht verstand, was die ganze Aufregung sollte.« Er führe keine Schule für Hasardeure und Gauner, donnerte der Dean. Glücksspiele seien illegal. Väter sollten ihre Söhne dazu erziehen, den Gesetzen zu gehorchen. Er entließ die beiden mit der Warnung, dies sei Bens letzte Chance. In den Benny Stories heißt es dazu: »In Zeiten der Not mag man Dinge tun, für die man sich später schämt. Das war mir mit vierzehn nicht so klar, gleichwohl zog ich den Schluss, dass es klüger sein würde, das Spielgeschäft sein zu lassen und mein Vermögen durch gesetzmäßigere Aktivitäten zu erwerben.«
Es war nicht der letzte Zusammenstoß mit dem strengen Schulvorsteher. Kurz bevor die drei Highschooljahre vorüber waren, zitierte Dr. Chastney Ben erneut in sein Büro. Er hatte erfahren, dass er die Turnlektionen über Mittag schwänzte. Vergeblich erklärte Ben, dies sei die einzige Stunde, wo er seinen Lunch einnehmen könne. Er trainiere dafür oft zu anderen Zeiten. Chastney drohte mit einem Ultimatum: Entweder Ben besuche ab sofort wieder die ordentlichen Turnlektionen, oder er erhalte kein Diplom! Ben schaltete auf stur (»Ich liebe weder Ultimaten noch Bürokraten«), fand aber trotzdem einen Ausweg aus der misslichen Lage. Am nächsten Tag ging er zum Leiter des City College, der für Zulassungsfragen zuständig war: Ob er nicht aufgenommen werden könne, ohne die Gymnastikstunden absolviert zu haben? »Wir würden uns freuen, dich bei uns zu haben«, antwortete der Professor, »ein heiterer Ire«, der den Bittsteller offenbar für einen Landsmann hielt. Chastney wurde »rot vor Wut«, als Ben ihm davon berichtete. »Du wirst kein Diplom von unserer Schule erhalten!«, schrie er. Doch der freundliche Ire hielt sein Wort. So kam es, dass Ben 1937 ans College wechselte, ohne einen formellen Highschoolabschluss in der Tasche zu haben.
Das College of the City of New York war die nächste herausragende Bildungsinstitution, die er besuchte. Auch dieses verlangte von seinen ausschließlich männlichen Studenten keine Studiengebühren. Zugelassen wurden nur akademisch vielversprechende Talente. Viele stammten aus Einwandererfamilien. »Sie waren rough and tough. Für sie war das College eine Chance, den amerikanischen Traum zu leben; nicht ein Ort für Spaß und Spiele.« Manche Professoren – etwa der Philosoph und Jurist Morris Raphael Cohen – zählten zu den bekanntesten Gelehrten ihrer Zeit. Er habe »gängige Meinungen mit einem jiddischen Akzent herausgefordert«, erinnert sich Ben an den außergewöhnlichen Lehrer. Durch sein Engagement trug Cohen – der selbst einst mit zwölf aus Weißrussland in die USA gezogen war – maßgeblich dazu bei, dass das City College seinen Ruf als »Harvard für Arme« festigte. Zugleich galt es als Brutstätte für radikale Linke. Einer der angebotenen Kurse, den Ben besuchte, war »Dialektischer Materialismus«. Er befasste sich mit den Debatten zwischen Bolschewiken und Menschewiken, mit Bucharin, Sinowjew und anderen Protagonisten der Russischen Revolution. Ben konnte damit wenig anfangen: »Ich gab den Kurs auf. Revolutionen und Revolutionäre waren nicht mein Ding.« Das hinderte ihn nicht daran, mit kritischem Interesse dem Schlagabtausch beizuwohnen, den sich »Junge Kommunisten« mit »Jungen Sozialisten« in einem Alkoven des City College lieferten, der als »Kreml« bekannt war. Er spitzte seine Ohren ganz besonders, als die Hitzköpfe darüber stritten, wie der Friede in der Welt zu erhalten sei. Die wachsenden Spannungen in Europa waren den amerikanischen Studenten nicht verborgen geblieben. Das Deutsche Reich rüstete massiv auf und vergrößerte sein Territorium mit Einschüchterung und Gewalt. Nach dem »Anschluss« Österreichs im März 1938 beschwor Hitler die Sudetenkrise herauf – mit dem heimlichen Ziel, sich die ganze Tschechoslowakei einzuverleiben. Das Münchner Abkommen vom September 1938 sollte den deutschen Machthunger stillen, indem das Sudetenland ans Reich überging. Der britische Premierminister Neville Chamberlain verkündete danach, es bringe »Frieden für unsere Zeit«. Er täuschte sich epochal. Die Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler verfehlte ihre Wirkung; er griff nach der »Rest-Tschechei« und errichtete das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren. Es war der Anfang vom Ende eines freien Europas. Mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 ging die nationalsozialistische Expansionspolitik in offenen Krieg über.
In der Auseinandersetzung der radikalen Studenten geriet Ben zwischen die Fronten. »Da der Friede ein Thema war, das mich ansprach, beteiligte ich mich an den Debatten. Soweit ich feststellen konnte, bestand das Hauptziel der Kommunisten darin, die Sozialisten umzubringen – und umgekehrt. Was immer ich sagte, beide Seiten nannten mich einen ›Trotzkisten‹. Ich wusste nicht, dass Leo Trotzki ein führender Konterrevolutionär war, dessen Karriere abrupt endete, als er im Exil in Mexiko von einem Agenten Stalins mit einem Eispickel getötet wurde.« Dennoch nahm Ben an einem Demonstrationszug seiner Kommilitonen für den Weltfrieden teil, der auf das Gelände der Columbia University führte. »Wir hofften auf die Unterstützung anderer Intellektueller. Doch als wir dort ankamen, warfen die Columbia-Studenten Kreidestücke und Tafelschwämme aus den Fenstern hinunter.« Ben machte sich so seine Gedanken. »Ich bemerkte, dass es voneinander abweichende Ansichten gibt, wie die Welt zu regieren ist, und dass es undankbar, ja, gefährlich sein kann, für den Erhalt des Friedens einzutreten.«
In diesen Abschnitt der Adoleszenz fallen zwei Ereignisse, die Bens weiteres Leben prägen sollten – beruflich wie privat. Erstens fing er an, Gertrude zu daten, seine spätere Frau. Getroffen hatte er sie schon zuvor einmal, da war sie noch ganz neu in der Stadt gewesen. »Du bist ein Greenhorn«, sagte Ben zu ihr, worauf sie mit einem »Was für ein alberner Junge!« erhobenen Hauptes davonzog. Nun kamen sie sich näher, begünstigt durch die etwas komplizierten Patchwork-Familienbande. Einmal besuchte Gertrude, genannt »Gertie«, ihre Tante, die zugleich Bens Stiefmutter war. Gemeinsam nahmen sie das Abendessen ein, als auch noch seine leibliche Mutter dazustieß. Sie war aufgebracht, weil Ben die Wohnungstür abgeschlossen und den Schlüssel mitgenommen hatte, sodass sie nicht hineinkonnte. Es folgte ein Disput, in dessen Verlauf er seiner Mutter wortreich, aber respektvoll erklärte, was er sich dabei gedacht hatte. »Gertie war augenscheinlich gerührt von meinem sanften und überzeugenden Plädoyer. So mochte ich dabei meinen wichtigsten Fall gewonnen haben.« Sie waren beide fast gleich alt, stammten ursprünglich aus derselben Gegend aus Osteuropa und teilten viele gemeinsame Interessen. Ben beeindruckten ihre Sprachkenntnisse, ihr Wissen und ihr Fleiß. Tagsüber arbeitete sie als Näherin in einer Kleiderfabrik, und danach ging sie in die Abendschule. Sie wollte Sozialarbeiterin werden – ein Ziel, das sie schon bald erreichte. Sie nahm eine Stelle in einem Spital in der Bronx an. In ihrer spärlichen Freizeit besuchten Ben und Gertrude Vorlesungen am Cooper Union College (»Sie waren erhellend und gratis«) oder gingen zusammen in den Bronx-Zoo, »wo wir umsonst die Affen anschauten«. Manchmal konnte er sie sogar auf ein Eis in der Tremont Avenue einladen.
Die zweite wichtige Weichenstellung, die er damals traf, gab die Richtung vor, in die sich seine Berufskarriere entwickeln sollte. »Aus Gründen, die ich nie erforscht habe, wusste ich immer schon, dass ich Anwalt werden wollte.« Dabei spielten die Erfahrungen eine Rolle, die er in Hell’s Kitchen gemacht hatte. »Ich hielt nach einer Laufbahn Ausschau, die mich befähigen würde, Jugendliche vor Straffälligkeit zu bewahren. So wählte ich Soziologie als mein Hauptfach.« Am City College belegte Ben auch erste Kurse in Kriminologie. Das Gelernte konnte er in den Semesterferien in einem Heim für jugendliche Delinquenten in Dobbs Ferry am Hudson River anwenden. Es beherbergte »Ausreißer, Schulverweigerer, Diebe und sogar Mörder. Eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen bestand darin, Zuckerwürfel in die Benzintanks der Autos von Gästen zu werfen«. Ben war nur wenige Jahre älter als manche der ihm anvertrauten Zöglinge. Einmal brachte er einen Sack mit Süßigkeiten mit. Noch bevor er sie verteilen konnte, wurden sie aus seinem Zimmer gestohlen. Da seine Aufforderungen, der Täter solle sich stellen, ungehört blieben, stellte er ihm eine Falle. »Das nächste Mal besorgte ich stark riechende Pfefferminzbonbons. Der Köder wurde sofort geschluckt.« Ben ließ ein halbes Dutzend Verdächtige antraben und in einer Reihe aufstellen. Jeder musste kräftig ausatmen. Die Identität des Diebs stand – für alle riechbar – sogleich fest. Ben überließ es den Zimmerkameraden, den Schuldigen zu bestrafen. »Er mochte für eine Weile Mühe mit dem Sitzen gehabt haben, aber das Vergehen kam nie mehr vor. Erfahrung ist oft der beste Lehrer. Ich merkte mir, dass Frieden und Gerechtigkeit Hand in Hand gehen.«
Die Ausbildung am City College beinhaltete ein Praktikum im New Yorker Justizsystem. Dabei bestand seine Aufgabe darin, die Gutachten von Psychologen oder Psychiatern zu kompilieren. So erhielt er Einblicke in die Hintergründe spektakulärer Kriminalfälle. »Ich war überrascht und schockiert, als ich entdeckte, dass sehr respektable Bürger zu den grausamsten Verbrechen fähig waren.« Dieselbe Erfahrung sollte er später in Nürnberg machen. Die SS-Offiziere, die er vor dem amerikanischen Militärtribunal anklagte, stammten aus gutem Haus und übten angesehene bürgerliche Berufe aus. Viele waren akademisch gebildet.
Wenn er nicht gerade lernte oder mit Gertie Hand in Hand durch die Parks von New York schlenderte, trainierte Ben regelmäßig seinen drahtigen Körper. Mit seinen 115 Pfund versuchte er sich als Boxer in der Bantamgewichtsklasse. Die ihm an Körperlänge überlegenen Gegner hatten eine deutlich größere Reichweite als er. Sein Coach riet ihm deshalb, abzunehmen, damit er im Fliegengewicht an den Start gehen könne. Er erzählte dies zu Hause und stieß auf heftigen Widerstand. »Keine jüdische Mutter könnte je davon überzeugt werden, dass ihr Kind Gewicht verlieren müsse. Sollte ich nicht gehorchen, drohte mir Mom mit einigen Boxlektionen, die ich nie vergessen würde. Dieses Risiko wollte ich nicht eingehen. Meine Boxkarriere war beendet.«
Eine Freizeitbeschäftigung, die erst noch etwas Geld einbrachte, war die Tätigkeit als Ghostwriter für Studenten anderer Hochschulen. Ein älterer Kommilitone am City College hatte ein florierendes Unternehmen aufgezogen, das Semesterarbeiten und sogar Dissertationen über alle möglichen Themen anbot. Ben fungierte als Subunternehmer. »Ich nahm jeden Auftrag in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen an.« Er holte dabei jeweils einen Stapel Bücher aus der Bibliothek, breitete sie auf dem Boden seines Schlafzimmers aus und verfasste – meist übers Wochenende – die gewünschten Arbeiten, für eine Summe von 100 Dollar. Der Nutzen, den er selbst daraus zog, war beträchtlich: »Ich konnte so nicht nur meinen Lebensunterhalt verdienen, sondern entwickelte auch eine besondere Fähigkeit, schnell zu lesen und zu schreiben – und ich lernte mehr, als ich je in der Schule aufgenommen hatte.«
Im Jahr 1940, im Alter von zwanzig, verließ Ben das City College mit einem Bachelor in Sozialwissenschaften. Seine Noten waren exzellent; in allen Fächern, die ihn interessierten, gehörte er zu den Klassenbesten. »Was nun? Ich kannte keinen Anwalt und hatte keine Ahnung von den juristischen Fakultäten. Meine Eltern waren nicht in der Lage, mir zu helfen. Ich fühlte, dass ich – wollte ich mein ärmliches Milieu verlassen und entsprechend qualifiziert sein, um meine Ziele zu erreichen – versuchen musste, der beste Student an der besten juristischen Hochschule der Welt zu werden.« Das war die Harvard Law School. Dorthin schickte Ben seine Bewerbung. Zu seiner Überraschung klappte es auf Anhieb. »Ich habe nie herausgefunden, warum mich die elitäre Institution akzeptierte, wurde aber in die Klasse von 1941 aufgenommen.«
Er bezog auf dem Harvard-Campus bei Boston eine kleine Studentenbude und fieberte dem ersten Tag seines Rechtsstudiums entgegen. Doch der Beginn war frostig. Der Fakultätsvorsteher begrüßte die versammelten Neulinge mit einer schneidenden Erklärung: »Schaut nach rechts, dann nach links. Am Ende dieses Semesters wird einer von euch dreien nicht mehr da sein.« Das untere Drittel würde automatisch ausgesiebt werden. Ben drehte den Kopf nach beiden Seiten und musterte verstohlen seine Sitznachbarn. »Wir waren alle steif gefroren.«
In ähnlichem Stil ging es weiter. »Das Erste, was ich in Harvard lernte, war die Furcht.« Mit besonders sadistischen Methoden tat sich Professor Edward Warren hervor, der Eigentumsrecht lehrte. Die Studenten nannten ihn »Bull Warren« (»Stier-Warren«). Einmal rief er einen Klassenkameraden von Ben nach vorn, drückte ihm ein Zehncentstück in die Hand und befahl ihm, seine Eltern anzurufen. Er solle ihnen mitteilen, dass sie nur ihr Geld verschwendeten, denn er würde niemals Anwalt werden. »Die anderen Kommilitonen heulten auf vor Lachen und einiger Besorgnis. Ich sah diesen Studenten nie wieder.« Auch wenn Ben die besten Zensuren vom »Bullen« bekam, taten ihm die Kameraden leid, die unter seinem Zorn litten. Aber auch er bekam seine cholerische Ader einmal zu spüren. Eines Morgens erschien er gerade rechtzeitig zur Eigentumsklasse, um festzustellen, dass die Lektion ausnahmsweise in einem anderen Gebäude stattfand. Er eilte zum neuen Veranstaltungsort und öffnete vorsichtig die Tür. Warren hatte die Lektion schon begonnen. Als er Ben erblickte, stoppte er seinen Vortrag. »Du dort! Raus! Raus! Raus mit dir!«, schrie er. Ben rannte davon, »als ob der Teufel mich jagte«. Warren erwähnte den Vorfall nicht mehr. Als er aber am Ende des Semesters, wie üblich, die ungenügenden Noten derjenigen verlas, die er demütigen wollte, führte der Name »Benjamin Ferencz« die Liste an. Nach der Stunde ging Ben zu ihm. Es müsse ein Missverständnis vorliegen. »Ich erwähnte, dass er oft ausgerufen habe, ich erhielte ein ›A‹, und jetzt verlese er lauter ›D‹.« Er sei damals zu spät gekommen, erklärte Warren. »Ich habe alle deine ›A‹ gestrichen, um dir eine Lektion zu erteilen.«
Der Abgestrafte bekam es in Harvard aber auch mit großartigen Professoren zu tun, die ihn mit ihrem Wissen, ihrem Intellekt und Charakter inspirierten. »Lon Fuller schärfte meinen juristischen Geist und verpasste ihm den Feinschliff.« Das Leibthema des Rechtsphilosophen war das Verhältnis von Recht und Moral. Seine Überlegungen prägten das Werk seines berühmtesten Schülers Ronald Dworkin. Ben profitierte von Fullers durchdringendem analytischen Verstand: »Fuller konnte jedes juristische Problem so zerlegen, dass die Kerngedanken vernünftige Menschen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen führten.« Dies habe positive Auswirkungen auf das Zusammenleben gehabt: »Den Standpunkt des Mitmenschen zu verstehen, egal, wie sehr du auch von ihm abweichst, ist eine unschätzbare Fähigkeit, die manchmal hilft, das Leben erträglich zu machen.« Diese Eigenschaft, die für eine funktionierende Demokratie unverzichtbar sei, kultivierte Ben sein Leben lang. »Ich habe immer versucht, die Argumente des Gegners nachzuvollziehen und ihre Rationalität zu ergründen. Das heißt nicht, dass ich sie billigen muss.« Auch von Professor Zechariah Chafee, der Ethik lehrte, erhielt Ben wichtige Impulse: »Er förderte die Menschenrechte, lange bevor sie als Studienfach auf dem Programm standen. Von ihm lernte ich Toleranz und dass man alle Menschen gerecht behandeln muss.«
Als »gelehrtesten« aller seiner Professoren hat er Roscoe Pound in Erinnerung, der als Botaniker begonnen hatte und sich einen Namen als einflussreicher Rechtsgelehrter machte. Die Encyclopædia Britannica zählt Pounds fünfbändige Jurisprudence (1959) zu den »umfassendsten juristischen Werken des 20. Jahrhunderts«. Seine Theorie einer »soziologischen Rechtsprechung« forderte, dass überkommene Rechtstraditionen angepasst werden müssten, um die sozialen Bedingungen der Gegenwart zu reflektieren. Sie wurde herangezogen, um die Gesetze von Franklin D. Roosevelts »New Deal« in den 1930er-Jahren zu rechtfertigen. Die groß angelegten ökonomischen und sozialen Reformen waren die Antwort des Präsidenten auf die Weltwirtschaftskrise. Von Pound schwärmt Ben: »Seine Fähigkeit, sämtliches Wissen in juristische Systeme einzuordnen, und sein ungeheures Gedächtnis waren phänomenal.« Als er seine Vorlesungen besuchte, war der von ihm verehrte Professor bereits ein alter Mann. Er konnte kaum mehr sehen. »Wenn er aus seinen Notizen las, war er ein Langweiler. Als Rechtsgelehrter war er unvergleichlich und anregend.« Fuller, Chafee und Pound erteilten Ben sämtlich die Bestnote. »Ich war ihnen dankbar als große Lehrer. Sie gaben mir auch das Selbstvertrauen, daran zu glauben, dass ich den Besten der Besten ebenbürtig sein konnte, wenn ich mich darauf konzentrierte.« Er wusste, dass das Harvard-Studium »meine große Chance war, etwas aus mir zu machen«. Zugleich empfand er es als »Plackerei«. Seine Mittel reichten kaum aus, um regelmäßig zu essen. Das Commander Hotel unweit der Law School bot sonntags ein Brunchbüfett à discretion – ein All-you-can-eat-Angebot – für fünfzig Cents an, da griff er jeweils zu. Um seinen Hunger an den übrigen Tagen zu stillen, arbeitete er als Hilfskellner in der Cafeteria der Divinity School, dem Fachbereich für Theologie an der Harvard University. Dafür, dass er nach den Mahlzeiten die Tische reinigte, durfte er sich nach Belieben an den Speiseresten bedienen. »Ich war so dankbar, dass ich – Jahre später – einiges Geld für die Mahlzeiten schickte, die ich als armer Rechtsstudent konsumiert hatte.« Seither setzten ihn die Theologen auf den Verteiler ihrer religions- und konfessionsübergreifenden Bulletins. Er liest sie bis heute: »Nahrung für den Geist ist manchmal noch wichtiger als jene für den Magen.«
Mit seiner spartanischen Lebensweise blieb er ein Außenseiter unter den Harvard-Studenten. Viele stammten aus altehrwürdigen und begüterten Familien. »Sie hatten Namen, die mit einer Initiale begannen und mit einer römischen Ziffer endeten, trugen Socken mit Schottenmuster in braunen Schlüpfschuhen und gehörten Bruderschaften an, wo sie Cocktails tranken. An Sonntagen fuhren sie auf dem Charles River Stechkahn.« Von seinem Dachfenster beobachtete Ben, dass einige seiner Klassenkameraden schicke rote Cabriolets steuerten. Wenn er selbst auf Urlaub nach Hause fuhr, trampte er. Die sozialen Unterschiede nagten nicht an ihm. »Ich war nie neidisch. Der Schlüssel zum Glück bestand darin, mir meiner Alternativen gewärtig zu sein.« Die Möglichkeiten des Studiums, die sich ihm in Harvard als einer der weltbesten Universitäten boten, schöpfte er voll aus. »Meine Vorstellung des Paradieses war, in den Magazinen der Bibliothek der Harvard Law School vergessen zu werden.« In den Büchern von Richtern und Rechtswissenschaftlern wie Benjamin N. Cardozo, Billings Learned Hand oder Oliver Wendell Holmes Jr. entdeckte er für sich eine »neue Welt«. Als er später nach seiner Rückkehr aus Deutschland in New York seine erste Kanzlei eröffnete, hängte er Porträts dieser »inspirierenden juristischen Giganten« an die Wand über dem Schreibtisch. Und als ein Besucher einmal bemerkte, die drei Größen schauten auf ihn nieder, antwortete er: »Nein, ich schaue zu ihnen auf.«
Seinen Unterhalt konnte er etwas aufbessern, als er in das Board of Student Advisers gewählt wurde. In dieser Funktion führte er jüngere Studenten in das wissenschaftliche Forschen und Schreiben ein. Bald darauf entdeckte er ein Bundesprogramm, das kleine Stipendien an Assistenten vergab. Prompt bot er seine Dienste Professor Pound an. »Ich hatte ihn oft in der Bibliothek gesehen, während er sich, ein Cap mit grünem Mützenschirm auf dem Kopf, über einen alten Text beugte. Ich schlug ihm vor, dass ich Bücher für ihn finden und lesen oder alles andere tun könnte, das nützlich wäre.« Der große Gelehrte lehnte höflich ab. »Er erklärte, dass Wissen nicht secondhand durch den Kopf von jemand anderem übermittelt werden könne.« Ben trat darauf an Professor Sheldon Glueck heran, der Kriminologie unterrichtete. Seine zusammen mit seiner Frau Eleanor verfassten Studien über Jugenddelinquenz verhalfen ihm zu internationalem Ansehen. Ben glaubte an seine Chance, denn das war ja auch sein Thema. Nun betonte er gegenüber Glueck, dass seine Assistenz den Professor nichts kosten würde, da der Bund dafür aufkäme. Er erhielt den Job.
War Criminals. Their Prosecution and PunishmentThe Nuremberg Trial and Aggressive War