Über das Buch

Die wahre Geschichte einer der letzten Überlebenden des Holocausts. Rena Finders eindrücklicher Zeitzeugenbericht ist ein Appell, Antisemitismus und Hass keine Chance zu geben.

Kurz nachdem die Nationalsozialisten Polen überfallen haben, werden die elfjährige Rena und ihre Familie gezwungen, in das jüdische Ghetto von Krakau zu ziehen. Hunger und harte Arbeit bestimmen den Alltag, und Rena muss immer wieder mitansehen, wie Freunde und Familie deportiert werden. Durch eine glückliche Fügung kommen ihre Mutter und sie in der Fabrik von Oskar Schindler unter. Ihre Namen landen auf der Liste, die später als »Schindlers Liste« weltweit bekannt werden wird, und sie überleben. Dieses Buch ist Renas Zeitzeugenbericht, eindrücklich und bestürzend und doch auch voller Hoffnung auf bessere Zeiten.

Rena Finder
Joshua M. Greene

Ich überlebte

Ein Mädchen auf Schindlers Liste

Aus dem Englischen von Manuela Knetsch

Hanser

In Liebe und Dankbarkeit Margot Stern Strom gewidmet, der Mitbegründerin der Organisation »Facing History and Ourselves«. Sie gab Überlebenden einen Ort, an dem sie ihre Geschichten mit anderen teilen können.

Vorwort

Aus einem kleinen Buch mit rot-weiß kariertem Einband wurde eines der erfolgreichsten Bücher weltweit: Das Tagebuch der Anne Frank wird seit 1955 in Deutschland und vielen Teilen der Welt von Jugendlichen und Erwachsenen gelesen. Zu ihrem dreizehnten Geburtstag im Juni 1942 hatte Anne Frank das kleine, in Stoff gebundene Buch geschenkt bekommen, in dem sie noch am selben Tag in niederländischer Sprache zu schreiben begann. Anne war in Frankfurt geboren worden, aber im Alter von vier Jahren mit ihrer Familie vor den Nazis nach Amsterdam geflohen. Das Tagebuch wurde zu einem Dokument der Verfolgung ihrer Familie und aller in Amsterdam lebenden Jüdinnen und Juden. Denn kurz nach Annes Geburtstag sollte die Familie sich zur Deportation nach Deutschland melden. Die Eltern ahnten, was das bedeutete, und der Vater organisierte mithilfe von Freunden und Mitarbeitern ein Versteck im Hinterhaus seiner Firma an der Prinsengracht. Zwei Jahre lang ging alles gut, und die Familie überlebte diese Zeit gemeinsam mit einigen anderen im Versteck. Zwar mussten sie mit wenig Essen auskommen, auf engstem Raum leben und waren tagsüber zum absoluten Stillhalten gezwungen, aber immerhin waren sie zusammen und für den Moment sicher. Anne vertraute ihrem Tagebuch all ihre Sorgen, Wünsche und Hoffnungen an — und ihre Aufzeichnungen fanden nach dem Krieg nicht nur eine große Leserschaft, sondern wurden auch verfilmt und in Graphic Novels nacherzählt.

Annes Geschichte hatte kein Happy End, und ihr Tagebuch endet plötzlich im August 1944. Damals wurden die Bewohner des Hinterhauses verraten und in das Durchgangslager Westerbork verschleppt. Im Herbst 1944 kam Anne gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Margot und den Eltern in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz.

Etwa zur selben Zeit kam auch Rena Finder mit ihrer Mutter in Auschwitz an. Wie Anne hatte auch sie das Glück, bereits fünfzehn Jahre alt zu sein und damit bei ihrer Ankunft zur Zwangsarbeit eingeteilt und nicht in die Gaskammer geschickt zu werden.

Rena Finders Geschichte beginnt dort, wo Anne Franks Tagebuch endet. Zufällig waren die beiden Mädchen fast gleich alt. Wie Anne wurde Rena im Jahr 1929 geboren, allerdings nicht in Deutschland, sondern im polnischen Krakau, nicht weit entfernt von Auschwitz — Oświęcim, einem Ort, der einmal eine jüdische Gemeinde beherbergt hatte. Rena und Anne hätten sich im Herbst 1944 in Auschwitz-Birkenau begegnen können, und vielleicht taten sie das auch? Vielleicht hätten sie einander über alle Sprachbarrieren hinweg gemocht? Beide verband, dass sie nur einige Wochen in der Todesfabrik Auschwitz blieben. Anne verließ das Lager auf einem »Todesmarsch«, einem Zug von Häftlingen, die von der SS durch Winter und Kälte, unzureichend gekleidet und fast verhungert, nach Westen getrieben wurden. Die Befreiung durch die Alliierten erlebte sie nicht mehr. Sie und ihre Schwester Margot starben im Winter 1945 an Krankheit und Hunger im Lager Bergen-Belsen, nicht weit von Hannover.

Rena hätte beinahe dasselbe Schicksal wie Anne ereilt, wäre da nicht Oskar Schindler gewesen. Gemeinsam mit seiner Frau Emilie rettete er Rena, ihre Mutter und viele andere Jüdinnen und Juden. Ihm ist einer der berühmtesten Spielfilme über den Holocaust gewidmet: Schindlers Liste.

Der Regisseur, Steven Spielberg, ließ den Gewinn dieses sehr erfolgreichen Films in ein weltweites Interviewprojekt fließen, die Shoa-Foundation. Seit 1994 wurden in diesem Rahmen über 52.000 Menschen aus 56 Ländern in 32 Sprachen interviewt, unter ihnen auch Rena Finder. Die Menschen erzählen in diesen Gesprächen von den Städten und den Wohnungen, in denen sie aufgewachsen sind, von ihrem Leben, bevor Hitler in Deutschland an die Macht kam und fast ganz Europa in einen zerstörerischen Krieg verwickelte, von ihrer Verfolgung und von ihren ermordeten Angehörigen. Manche von ihnen wurden verfolgt, weil sie jüdisch waren oder der Volksgruppe der Roma und Sinti angehörten, andere weil sie homosexuell waren oder weil sie mit einer Behinderung oder Krankheit geboren worden waren — wiederum andere, weil sie sich gegen Hitler und die Nationalsozialisten aufgelehnt haben. Manche von ihnen hatten in Griechenland gelebt oder in Spanien, andere in Frankreich oder Italien. Oder sie stammten, wie Rena, aus Polen, wo vor dem Krieg besonders viele Juden gelebt hatten.

Renas Heimatstadt Krakau war ein jüdisches Zentrum, ebenso wie die Hauptstadt der Republik Polen, Warschau. Dort gab es jüdische Zeitungen, Verlage, Bibliotheken, Theater und Schulen. Viele Menschen lebten auch auf dem Land, in Kleinstädten, dem »shtetl«, wie es auf Jiddisch heißt, wo die Mehrheit der Bevölkerung jüdisch war. Jiddisch war die Muttersprache vieler polnischer Juden, eine Sprache, die im Mittelalter aus Deutsch, Hebräisch und slawischen Sprachen entstanden war. Oft waren die Juden in Polen fromm und sehr arm, andere wie Renas Familie waren weder arm noch reich, sie feierten die jüdischen Feiertage und waren zugleich ganz zu Hause in Polen. Viele sprachen auch Deutsch und waren begeisterte Fans von deutscher Literatur, Musik und Theater.

Rena Finders Geschichte erzählt von ihnen, und von den Abertausenden Kindern und Jugendlichen, die nichts hinterlassen haben — oder deren Aufzeichnungen nicht so bekannt sind wie Anne Franks Tagebuch: Kinder, die wie Rena gezwungen wurden, in Ghettos zu ziehen, mit anderen Familien in einem Zimmer zu hausen, und die schon als Kinder Zwangsarbeit für die Deutschen leisten mussten. Denn die Nazis hatten ein riesiges System von unfreiwilliger Arbeit aufgebaut: Rund 20 Millionen Menschen mussten in Deutschland und in den besetzten Gebieten überall in Europa umsonst für deutsche Firmen arbeiten — in der Landwirtschaft und der Industrie, in Fabriken und Lagern, für bekannte Firmen, die es auch heutzutage noch gibt. Worüber wir bis heute wenig wissen, ist, dass rund eine Million jüdischer Kinder Zwangsarbeit leisten mussten — bis 1944 ab dem vierzehnten Lebensjahr, danach waren sie zum Teil erst zehn Jahre jung. Nur wenige von ihnen haben die Gräuel dieser Ausbeutung überlebt, man vermutet nicht mehr als 175.000.

Rena Finder hatte das große Glück, dass sie und ihre Mutter von Oskar und Emilie Schindler gerettet wurden. Oskar Schindler war kein Heiliger — wie viele andere Unternehmer wollte er in erster Linie von dem Sklavensystem profitieren, das im »Dritten Reich« eingerichtet wurde. Doch von Jahr zu Jahr begann er sich mehr um seine jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter zu sorgen. Er fuhr nach Ungarn und traf sich mit ungarischen Juden, um mit ihnen über Rettungsmöglichkeiten zu sprechen.

Die Schindlers wurden unterstützt von Itzhak Stern, Oskars Buchhalter, und von Mieczysław Pemper. Mietek, wie ihn alle nannten, stammte wie Rena aus Krakau. Im Lager Plaszow musste er als Schreiber für den brutalen Lagerkommandanten Amon Göth arbeiten. Er ließ Oskar Schindler und Itzhak Stern wichtige Informationen zukommen. Nach dem Krieg lebte Mietek Pemper in Augsburg, seine Erinnerungen trugen wesentlich dazu bei, den Film Schindlers Liste zu drehen. Ihm ist zu verdanken, dass Oskar Schindler und die Menschen, die er gerettet hat, nicht vergessen sind.

Insgesamt 1200 »Schindlerjuden«, Frauen, Männer und Kinder, überlebten dank Oskar Schindlers Liste die Lager. Wie Rena gründeten sie Familien, hatten Kinder oder Enkelkinder — in den USA, in Israel, manche, wie Mietek, sogar in Deutschland. Sie gehörten zum »Rest der Geretteten«, den »Sche’erit ha-pleta«, wie sich die wenigen jüdischen Überlebenden des Holocaust nach dem Krieg nannten. Die Kinder unter ihnen, wie Rena, gehören heute zu den allerletzten Zeitzeugen, die ihre Geschichte erzählen können. Oskar Schindler wurde nach dem Krieg in Israel für seine Rettungsaktion geehrt, in Deutschland erinnerte man sich erst an ihn, als in Hollywood während der 1960er-Jahre zum ersten Mal über eine Verfilmung seines Lebens gesprochen wurde. Gemeinsam mit seiner Frau Emilie gehörte er zu den wenigen Menschen, die Jüdinnen und Juden vor dem sicheren Tod gerettet haben. Ohne die Hilfe solcher »Gerechten unter den Völkern« war ein Überleben fast unmöglich, denn zu überleben war die Ausnahme. Davon erzählt Renas Geschichte — und über vieles mehr.

Mirjam Zadoff

München, im November 2021

1

Oktober 1944 Vernichtungslager Auschwitz

Bitterkalt war es an jenem Abend, als deutsche Polizisten mich und meine Mutter zwangen, in einen Viehwaggon zu steigen, und uns vom polnischen Plaszow nach Auschwitz schickten, dem größten aller Todeslager der Nazis. Der Zug bestand aus zwei Viehwaggons. In jedem der beiden Wagen drängten sich einhundertfünfzig Frauen dicht an dicht. Ich war fünfzehn Jahre alt, eine der Jüngsten. Spät in der Nacht erreichten wir Auschwitz. Aufseher rissen die Türen der Waggons auf und befahlen uns schreiend, hinauszuspringen. Dann ließen sie uns bis zu einer langen, hölzernen Baracke marschieren, an deren Innenwänden Bänke aufgereiht waren.

»Zieht all eure Kleider aus!«, schrien die Aufseher. »Ihr werdet später hierher zurückgebracht, damit ihr eure Sachen holen könnt — nach eurer Dusche.«

Sie schoben uns in einen Raum, der etwa sechs Meter breit und sechs Meter lang war. Es war finster dort, doch wir sahen, dass Rohrleitungen entlang der Decke verliefen. Zu Hause in Krakau hatten wir schaurige Gerüchte darüber gehört, was mit den Juden in den Konzentrationslagern geschah. Was für eine Art Dusche war das hier? Würden wir sterben?

Wenn man nicht da gewesen ist, im Todeslager von Auschwitz, dann kann man es sich nicht vorstellen, und ich kann es auch nicht wirklich beschreiben. Dennoch habe ich den Großteil meines Erwachsenenlebens versucht, so gut es ging über den Holocaust zu berichten — in Schulen und Colleges, vor Kirchengruppen und in Synagogen. Wie viele andere Überlebende fühle auch ich mich dazu verpflichtet, meine Geschichte wieder und wieder zu erzählen.

Der Holocaust war die wissenschaftlich geplante, staatlich finanzierte Ermordung des jüdischen Volkes durch Nazi-Deutschland und seine Verbündeten. Der Holocaust sollte niemals in Vergessenheit geraten, und Derartiges darf niemals wieder geschehen — doch wie können wir uns dagegen absichern? Ihr, liebe Leserinnen und Leser, könnt dabei helfen. Wenn auch nur eine Person mutig genug ist, sich für Unschuldige einzusetzen, kann das bereits eine Menge verändern.

Ich sollte es wissen. Mein Überleben habe ich einem Menschen zu verdanken, der sich weigerte, einfach nur zuzuschauen und nichts zu tun. Sein Name war Oskar Schindler.