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Für Bettina, Christian und Johann

 

Mit 69 farbigen und 110 Schwarz-Weiß-Abbildungen

 

Bildnachweis

Fotos im Bildteil: Dieter und Juliana Kreutzkamp, außer Gerd Brauner (S. 2 Mitte, 6 oben und Mitte), VW Nutzfahrzeuge Presse (S. 7 oben, 19 oben, 20 oben und Mitte, 23 oben, 25, 26 oben und Mitte, 27 Mitte, 28/29, 31 Mitte und unten, 32 oben), Volkswagen Aktiengesellschaft (S. 10 oben), Kurt Moeri (S. 11 unten), Cornelia Boss und Fabian Zumbrunnen (S. 15 Mitte), Armando Barbieri (S. 16), Karl-Heinz Forytta/VWN (S. 27 unten)
Fotos im Text: Dieter und Juliana Kreutzkamp, außer Peter Oberbeck (Kapitel Bulli-People Foto 2), VW Nutzfahrzeuge Presse (Kapitel Goin’ Mobile; Legenden auf vier Rädern Foto 1,2,3, 4, 6; Steckbrief T2; Steckbrief T3; Kapitelaufmacher Exkurs zu den Luftgekühlten; Weltreise nach Hannover; Steckbrief T5; Lothar Brune Foto 1, 2, 3, 4; Steckbrief T6; Terry John Whitbread Foto 1, 2), Volkswagen Aktiengesellschaft (Steckbrief T1 Foto 2; Von zehn Millionen Bullis Foto 1, 2), Gerd Brauner (Kapitel Gerd Brauner Foto 2, 3, 4), Ulf Kaijser (Kapitel Bulli-Urgestein Manfred Klee Foto 2), Archiv Steinke (Kapitel Michael Steinke), Kurt Moeri (Kapitel Monika und Kurt Moeri), Joachim Wichmann (Kapitel Joachim Wichmann), Armando Barbieri (Kapitel Armando), Karl-Heinz Forytta/VWN (Kapitel Mister California), Andrea und Dominique Glaus (Kapitel T4), Hans-Peter Boldt (Epilog Foto 1), Pon Historisch Bedrijfsarchief (Steckbrief T1)

 

Das Zitat am Anfang des Epilogs stammt aus:
GOING MOBILE (Pete Townshend)
© Fabulous Music Ltd
Mit freundlicher Genehmigung von ESSEX MUSIKVERTRIEB GMBH, Hamburg

 

© Piper Verlag GmbH, München 2020
Redaktion: Boris Heczko, Berlin
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas
Coverfotos: Dieter und Juliana Kreutzkamp
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

 

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Prolog

Bulli zu verschenken!

Kathmandu, 1977: In wenigen Tagen werden wir unserem abenteuerlichen Leben eine neue Richtung geben. 777 Tage ist es her, dass Juliana und ich im Bulli von daheim aufgebrochen sind, unsere Familien, die Berufe, kurz, das alte Leben komplett hinter uns gelassen haben.

Mehr als zwei Jahre lang war der T1 unser Zuhause. Zweimal haben wir mit ihm Afrika durchquert, haben uns später im bitterkalten Winter über verschneite Pässe durchs wilde Afghanistan vorgearbeitet und dann über Indien und Ceylon zum Himalaja-Staat Nepal durchgeschlagen.

Es fällt schwer, uns hier in Kathmandu von unserem Bulli Methusalem zu trennen.

Doch unser nächstes Ziel ist Australien. Manche Grenzen dorthin sind für Autoreisende geschlossen, und die Inseln Asiens mit dem Auto zu bereisen wäre kompliziert, vor allem aber wegen der Schiffspassagen zu teuer …

Wir hatten über den Verkauf unseres T1 nachgedacht. Vermutlich hätte das geklappt – allerdings nicht legal. Und das wollen wir nicht. Um die offiziellen Ausreisestempel in unsere Papiere zu bekommen, haben wir uns entschieden, den Bulli der nepalesischen Zollbehörde zu schenken. Eine durchaus übliche Praxis in diesen Tagen.

Gestern Abend haben wir unseren ganz persönlichen Abschied vom Bulli zelebriert: stilvoll mit Kerzen und Blumen. Dazu gab es gebratenen Reis mit Zwiebeln, Erbsen, Paprika und Karotten. Ein würdiger Festschmaus für Globetrotter, die gut zwei Jahre am Stück on the road sind. Zur Feier des Tages haben wir uns statt Tee etwas Stärkeres gegönnt: Kukri Special, einen Schnaps, so scharf wie ein Gurkha-Messer. Kostenpunkt laut Julianas akribisch geführter Einkaufsstatistik: 2 Mark 64 Pfennige.

Zwanzig Stunden später: Wir hocken auf dem Fußboden unseres leer geräumten T1 und machen eine letzte Bestandsaufnahme. Die originalen Westfalia-Sitzbänke und -Schränke habe ich heute Morgen ausgebaut und für umgerechnet 100 Mark an andere Traveller verkauft. Auch vieles andere haben wir verhökert: die schweren Sandbleche, den in Afrika immer wieder zusammengebrochenen und geschweißten Dachgepäckträger. Selbst die selten benutzte klobige Eberspächer-Standheizung fand einen Abnehmer.

 

Dort, wo während unzähliger Reisekilometer unsere rot bezogene Westfalia-Sitzbank stand, sieht man jetzt auf das nach innen gewölbte metallene Halbrund der Reserveradhalterung. Ich schieße mit meiner Minolta-Spiegelreflexkamera noch schnell ein Selbstauslöserfoto von uns beiden inmitten dieses Idylls. Vielleicht erwartet man in diesem Moment Abschiedsschmerz. Natürlich: Wir wissen, dass wir mit diesem Bulli ein besonderes Kapitel unseres Lebens geschrieben haben. Unvergesslich zwar … Jetzt aber blicken wir nach vorn!

Am Tag darauf geht eine Nachricht der nepalesischen Zollbehörde bei uns ein: Man ist auf unsere Anfrage hin bereit, unseren T1, Baujahr 1961, kostenfrei zu übernehmen. Als Gegenleistung erhalten wir den offiziellen Ausreisestempel in das internationale Zolldokument Carnet de Passages.

Am 9. Juni 1977 liefern wir unseren VW-Bus beim Zollamt am Flughafen von Kathmandu ab. Bei der Schlüsselübergabe kriege ich dann doch weiche Knie. »Keine Sentimentalitäten!«, rufe ich mich zur Ordnung und fasse Julianas Hand.

Als wir am 12. Juni in der Propellermaschine nach Rangun in Burma sitzen und einen letzten Blick auf das Zollgelände mit dem einsamen Bulli erhaschen, wische ich mir verstohlen eine Träne aus dem Auge.

 

Über vierzig Jahre ist das her. Born to be free war schon damals das Motto unseres Lebens, Mobilität und Freiheit unser Lebenselixier. Und derjenige, mit dem wir die ersten großen Abenteuer unseres Lebens erlebt haben, spielt noch immer eine zentrale Rolle: der Bulli, egal ob als T1, T2, T3, T4 oder T5.

Als wir kürzlich in Argentinien am Aconcagua standen, dem höchsten Berg des amerikanischen Doppelkontinents, erfuhren wir per WhatsApp, dass unser zuvor gekaufter T5 bei einem Profiausbauer daheim erfolgreich zum Offroad-Camper mutiert war. Für Juliana und mich war das an diesem Tag das zweitschönste Geschenk. Das allerschönste: Wir feierten gerade auf halber Höhe des (Fast-)Siebentausenders unseren 50. Hochzeitstag, zünftig vor atemberaubender Bergkulisse. Nur wir beide. Ausgelassen zum Beat der Rolling Stones! Vielleicht klingt das ein wenig verrückt. Aber so war unser Leben immer. Denn seit fünfzig Jahren sind wir gemeinsam on the road.

Und du, Bulli, warst während der spannendsten und prägendsten Momente unseres Lebens dabei. Mit dir erfuhren wir die Welt!

Bulli-People

Ich schreibe diese Zeilen unmittelbar nach Rückkehr von einer zweijährigen Südamerikareise. Während dieses Abenteuers zwischen Feuerland, Amazonas und Anden begegneten wir vielen, die wie wir das unbekannte Neue hinter dem Horizont suchen. Auch Bulli-Fahrer mit den frühen Modellen T1 und T2 waren dabei.

Wir trafen aber auch Menschen, für die der Bulli noch immer ein Lastesel im Alltag ist. So wie kürzlich spätabends in Rio de Janeiro am Strand von Copacabana, wo gut gelaunte Arbeiter die Tische eines Straßencafés zusammenklappten und auf dem Dach ihres T2-VW-Busses stapelten. Der »Kombi«, wie er hier genannt wird, ist noch immer allgegenwärtig: als rollender Eis- oder Sandwich-Kiosk, zumeist jedoch als Verkaufs- oder Werkstattwagen kleiner Handwerker, aber auch größerer Versorgungsunternehmen. Als leiser Wassergekühlter mit dem Gesicht eines T2 (so was gibt es nur in Brasilien!) oder als Klassiker mit dem markanten Boxer-Sound des Luftgekühlten. Der Kombi do Brazil (den Begriff Bulli kennt dort keiner) erledigt heute zuverlässig noch genau das, was bei seinem Urahn vor siebzig oder sechzig Jahren im Nachkriegsdeutschland zu dessen Alleinstellungsmerkmal führte. In Brasilien wird dieser Weltbürger liebevoll velha senhora genannt: alte Dame!

 

Dies ist der Bericht über ein Auto, das seit siebzig Jahren die Welt begeistert. Es ist aber auch ein Kaleidoskop bunter Eindrücke über höchst unterschiedliche Menschen: solche mit dünnen oder dicken Geldbeuteln, Leute mit den verschiedensten Berufen, Menschen mit Träumen, die genug Abenteuerlust besaßen, auf den eigenen vier Rädern die Welt zu erobern. Bei manchen meiner Bulli-Gesprächspartner meldete ich mich vorher an, andere traf ich zufällig. Sie alle erzählen Geschichten, bei denen es letztlich immer wieder um einen geht: den Bulli!

Ein Kosename, der sich im Volksmund bei uns durchsetzte und vermutlich eine nette Verballhornung von »Bus« und »Lieferwagen« ist. Heute spricht jeder vom Bulli. Anfangs war dieser Begriff jedoch keineswegs gängig. Offiziell gehört der Name erst seit 2007 als geschützte Marke zu Volkswagen. Da nämlich erwarb der Konzern die Namensrechte von der Firma Kässbohrer, die seit 1969 den Namen »Pisten-Bully« für ein Spezialfahrzeug zum Präparieren von Skipisten und Loipen verwandt hatte. Vor zwei, drei Jahrzehnten wäre auch keiner jenseits der Klassiker T1 und T2 auf die Idee gekommen, den T3, T4 oder später gar den T5 als Bulli zu bezeichnen. Heute hingegen prangt der Schriftzug »Bulli« höchst offiziell auch auf einigen der neuesten T6-Modelle. Das eint die große, bunte VW-Bus-Familie noch mehr. Über die Jahre ist die Szene typübergreifend zusammengewachsen. Am meisten aber staune ich über das Phänomen, dass für den knuffigen T1 mit dem rustikalen Charme der mobilen VW-Anfangszeit Sammler und Liebhaber heute durchaus schon mal 20 000 Euro mehr auf den Tisch legen als für die schickste Variante des mit allen technischen Finessen ausgestatteten T6 Multivan.

 

 

Für dieses Buch sammelte ich Bulli-Geschichten. Dazu gehören auch die Geschichten jener, die dabei waren, als der VW-Bus nach dem viel zitierten Summer of Love vor über fünfzig Jahren zu jenem Vehikel wurde, mit dem sich auf einmal fast jeder die Welt erschließen konnte.

Am Anfang steht eine bunte Schar kalifornischer Hippies auf dem Weg zur kollektiven Selbstverwirklichung. Abenteurer, Aussteiger und Träumer, Greenhorns unterschiedlichster Couleur, zu denen auch Juliana und ich gehörten, folgten diesem Impuls. Wir brachen mit einem prickelnden Mix aus Vision, Wagemut und Blauäugigkeit in fremde Kontinente auf und glaubten, mit einem freundlichen Lächeln die Welt erobern zu können. Meist hat’s geklappt … Ich glaube, keiner von uns wollte damals ins »Guinness-Buch der Rekorde« fahren. Wir brachen auf, weil wir neugierig und abenteuerlustig waren und die Freiheit auf der »Straße nach Irgendwo« suchten.

In diesem Zusammenhang wird neben der Flower-Power-Bewegung von San Francisco auch oft das Woodstock-Festival von 1969 genannt, wo Joe Cocker sang und Pete Townshend von The Who auftrat, der gern nach dem letzten Akkord von »We’re Not Gonna Take It« seine Gitarre zu Kleinholz schlug. Derselbe Pete Townshend, der 38 Jahre später beim großen Bulli-Fest in Hannover die Fans mit »Magic Bus« zum Siedepunkt führte.

Klar, die Hippiebewegung hatte für viele junge Menschen Impulse gesetzt, sich selbst zu verwirklichen. Und die Rahmenbedingungen dazu stimmten Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre! Trotz kleiner Dellen ging’s wirtschaftlich aufwärts, und der »kleine Mann« war auf einmal so mobil wie nie zuvor.

 

Aber ein guter Cocktail hat mehrere Zutaten … Bei uns hatte auf unpolitische Weise ein frischer Wind das Trauma der Kriegs- und die Mühsal der Nachkriegsjahre fortgepustet und uns Neugier und Optimismus unter die Flügel geblasen. Aufbruchsstimmung lag in der Luft. In die Musik der Beatles mischten sich indische Sitar-Klänge, und es war schlichtweg in, wie die Pilzköpfe im indischen Rishikesh zu meditieren. Da lag es doch auf der Hand, über Land nach Indien zu reisen … Für uns Junge war diese Idee befreiend, die Älteren verstanden die Welt nicht mehr.

Ein paar von uns fuhren damals im Hanomag Henschel, Ford Transit, Mercedes-Kastenwagen, Land Rover, Unimog. Und der »knittrige« Citroën-Wellblechtransporter Typ H war gelegentlich auch dabei. Jedes dieser Fahrzeuge hatte mindestens zehn, fünfzehn Jahre auf dem Buckel. Die heutigen rollenden Luxusvillen mit Satellitenschüssel, Waschmaschine und integrierter Garage für den mitgeführten Zweitwagen waren jenseits jeglicher Vorstellung. Das Flaggschiff dieser in die Welt aufbrechenden Flotte war der von seinen Fahrern oft fantasievoll hergerichtete VW-Bus.

Wir fuhren mit 30 oder 34 PS (wer es sich leisten konnte, war schon mit satten 47 Pferdestärken unterwegs) in eine Welt, die noch nicht über vernetzte und im Internet sekundenschnell kontaktierbare Servicestellen verfügte. Es war eine Zeit, in der die Überlandrouten oft miserable Erd-, Sand- oder kaum passierbare Schlammpisten waren. Über die brausten wir ohne Google Maps, ohne iOverlander-App, ohne Wikipedia und WhatsApp.

Nur mit drei Michelin-Karten auf dem Schoß machten auch Juliana und ich uns auf den unbekannten Weg durch Afrika. Von dem Kontinent wussten wir kaum mehr, als was wir in den Filmaufnahmen und unterhaltsam vorgetragenen Forschungsberichten in Bernhard Grzimeks filmischem Meisterwerk »Serengeti darf nicht sterben« gesehen hatten.

Und bei fast allen von uns hatte das Abenteuer ein Happy End!

 

Die Bilder meines Bulli-Kaleidoskops reichen allerdings bis ins Heute. So sprach ich unlängst mit einem Mann, der mit seinem großen Erfahrungsschatz als Wüsten-Rennfahrer und Inhaber eines Rennteams dem T5 und T6 eine extreme Offroad-Tauglichkeit verleiht: Von Peter Seikel ist die Rede. Aber da ist auch »Mister California«, der im wirklichen Leben Karl-Heinz Forytta heißt: Dreißig Jahre lang legte er an maßgeblicher Stelle Hand an, damit der VW California so wurde, wie ihn heute jeder kennt. Und dann sind da auch Udo und Josef, die mit 30 PS und diesem Mix aus Wagemut und Gottvertrauen zunächst die Sahara und dann Zentralafrika durchquerten.

 

»Nichts ist unmöglich«, sagten sie sich, »schließlich fahren wir ja Bulli.«

Kurzum: Es war mir ein Vergnügen, auf Entdeckungsreise zu gehen und mich auf die Suche nach den schönsten VW-Bus-Geschichten zu machen. Natürlich mit Juliana, denn mit ihr sitze ich nahezu ein Leben lang – buchstäblich – im selben Bulli.

Goin’ Mobile!

Wer kann schon für sich in Anspruch nehmen, dass eine riesige Fangemeinde gleich zweimal bunt und ausgelassen seinen Geburtstag feiert? Noch dazu zu unterschiedlichen Zeitpunkten.

Das bedarf einer Erklärung. Für die einen schlug seine Geburtsstunde 1947, als ein Holländer namens Ben Pon aus dem Handgelenk eine Skizze in sein Notizbuch hinwarf, die mit etwas Fantasie auch als Buckel einer Schildkröte durchgehen kann, in Wirklichkeit aber die Vision des ersten Bullis war. Wir werden Ben Pon in diesem Buch noch begegnen. Denn wer weiß, ob es ohne ihn den VW-Bus in der weltbekannten Form überhaupt geben würde …

Das zweite Geburtsdatum ist schon verlässlicher, weil historisch belegt: der 8. März 1950. An diesem Tag verließ der erste Volkswagen Transporter das Werk in Wolfsburg. Siebzig Jahre ist er jetzt alt. Jeder andere wäre längst in Rente, aber der Bulli läuft und läuft und läuft.

 

Feste soll man bekanntlich feiern, wie sie fallen. Und so sind wir natürlich mit Vergnügen immer bei beiden Geburtstagen dabei. Auch als Volkswagen Nutzfahrzeuge (VWN) Anfang Oktober 2007 das Scheckbuch zückte und unter Federführung von Harald Schomburg, dem damaligen Vorstand für Vertrieb und Marketing, der 60. Geburtstag (also die Geburt der Idee!) auf dem Messegelände in Hannover gefeiert wurde. Eine Riesensause, bei der auch Juliana und ich bei vielen Shows und Interviews mitmischten!

Mit 5000 angerollten VW-Bussen und 71 000 Besuchern war es das erste vom Werk veranstaltete Bulli-Festival der Superlative. Als größte ausländische Gruppe waren die Niederländer mit 200 Bussen vertreten. Auch aus Großbritannien kamen mehrere Dutzend Bullis. Deren Anblick war oft gewöhnungsbedürftig, weil im Ratlook: »Rostlaube« würde manch einer dazu sagen. Aber das stimmt nur auf den ersten Blick, denn die Optik dieser »Ratten« ist so gewollt, als Abgrenzung zum »Normalen«. Oft sind die Wagen zudem so tief gelegt, dass die Stoßstangen über den Asphalt kratzen. Dafür punkten sie aber auch schon mal mit Porschemotor und Scheibenbremsen.

 

Am Abend des 6. Oktober 2007 zog die Kultband The Who, die schon rockte, als in Hannover noch der T1 vom Band lief, bei den Titeln »My Generation« und »Going Mobile« alle Register. Passt doch! Auch dies ein Meilenstein in der VW-Bus-Geschichte, denn seitdem nimmt man den Bulli stärker wahr denn je: Bulli ist Aufbruchsstimmung, Freiheit, Lebensgefühl – und spätestens seit 2007 ist er auch Kult!

Folgerichtig wurde der 70. Geburtstag der Idee zehn Jahre später, also 2017, mit 20 000 Bulli-Fans aus 18 europäischen Ländern bei einer großen Open-Air-Party auf dem Werksgelände von Volkswagen Nutzfahrzeuge in Hannover gefeiert.

Aber nun mal Hand aufs Herz und ganz ehrlich: Wer käme ernsthaft auf den Gedanken, den Geburtstag seines Kindes am Tag von dessen Zeugung zu feiern – keiner. Und so feierten wir am 8. März 2020, dem Tag der ersten Serienfertigung im Werk Wolfsburg, erneut den 70. Bulli-Geburtstag. Wir lassen gern Jahr für Jahr zweimal die Korken knallen!

Steckbrief T1

 

Eine Ikone »Made in Germany« wird geboren

Es ist einiges los im Jahr 1950:

Weinend schleicht die brasilianische Elf nach dem Finale der Fußballweltmeisterschaft vom Platz, nachdem das kleine Uruguay den Fußballgiganten mit einem 2:1 auf den zweiten Platz geschossen hat.

In Südafrika zeigt derweil die Apartheid grimmige Züge: Die Trennung der Siedlungsgebiete von Schwarzen und Weißen wird beschlossen.

In Westdeutschland werden Nachrichten und Schlager ab jetzt auch auf Ultrakurzwelle gesendet. Man kann René Carols Schnulze »Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein« ab sofort also auch auf UKW hören. Ich, der es in diesem Jahr schon schaffe, über die Tischkante zu blicken, finde den Song der Kilima Hawaiians viel besser, »Es hängt ein Pferdehalfter an der Wand«: Dieser Ohrwurm der Fünfzigerjahre beflügelte meine Fantasie – Wilder Westen, da musste ich einfach hin! Und dann erblicken in diesem Jahr 1950 einige reizende Babys das Licht der Welt, von denen unter anderem die Skifahrerin Rosi Mittermaier und der Moderator Thomas Gottschalk die Bundesdeutschen vor die bald in allen Haushalten vertretenen Fernseher locken werden.

Ein Datum dieses Jahres interessiert mich aber ganz besonders, der 8. März 1950: In Wolfsburg geht der Volkswagen Transporter, im Fachjargon T1, in Produktion. Was allerdings für den Starttag nicht mehr und nicht weniger als zwei fertiggestellte Transporter bedeutet. Das eine Auto findet Verwendung für hausinterne Aufgaben, das andere geht an einen Kölner Volkswagenhändler. Die Anfänge sind bescheiden.

Schauen wir an dieser Stelle kurz zur deutsch-holländischen Grenze, denn dort, in Rammelbeek bei Denekamp, waren bereits am 13. März 1947 die ersten neun VW-Käfer, von Wolfsburg kommend, über die Grenze gerollt. Ihr Ziel: Pon’s Automobielhandel, offizieller VW-Importeur für die Niederlande und gleichzeitig weltweit erster Volkswagenimporteur überhaupt.

Ben und sein Bruder Wijnand Pon hatten den ursprünglichen Betrieb in Amersfoort – 1898 als Gemischtwarenladen gegründet – von ihrem Vater übernommen und 1928 einen Automobilhandel ins Leben gerufen. 1939 – kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges – trafen Ben und Wijnand Pon bei der Automobilausstellung in Berlin-Charlottenburg Ferdinand Porsche, der sie mit dem Import des KdF-Wagens (»Kraft durch Freude«, so hieß der Käfer bis 1945 nach der gleichnamigen NS-Organisation) in die Niederlande betrauen wollte. Der Krieg machte einen Strich durch die Pläne – bis zu jener ersten Käfer-Lieferung 1947.

Bei einem seiner Nachkriegsbesuche in Wolfsburg sieht Ben Pon den sogenannten Plattenwagen. Ein simples, funktionales Gefährt, das bei einem Schönheitswettbewerb für Autos garantiert den letzten Platz gewonnen hätte. Der Fahrer sitzt hinten über dem Motor, vor ihm die Ladefläche, das war’s auch schon. Aber: Dieser Plattenwagen funktionierte bestens als Lastesel, und seine Bauteile hatten sich längst im VW-Käfer bewährt. Ben Pon zückt sein Notizbuch, und es entsteht freihändig jene Konstruktionsskizze, die ihn für die Nachwelt zum »Erfinder des Bullis« werden lässt.

Eine hübsche Geschichte, aber natürlich war damit der Transporter noch längst nicht konstruiert. Und der Erfolg hatte viele Väter. Die Vision aber war da …

Es gelingt Ben Pon, Heinrich Nordhoff, den Generaldirekter der Volkswagen AG, zu überzeugen, dieses Auto zu bauen. Nordhoff definiert die Eckpunkte für den Transporter: günstiger Preis, Wirtschaftlichkeit, Wendigkeit und ein großer Laderaum. 1949 präsentiert er der Öffentlichkeit vier Prototypen: zwei Kastenwagen, einen Kombi und einen Kleinbus.

Der Rest ist Geschichte!

In den Anfangstagen der Massenproduktion muss man sich in Wolfsburg erst warmlaufen; im April dieses Startjahres 1950 produzieren die Arbeiter nur zehn Transporter am Tag. Aber dann ist es, als hätte man den Stöpsel gezogen und den guten Geist aus der Flasche gelassen: Der Bulli startet durch, die Produktionszahlen steigen rasant.

 

Dabei mutet er, zumindest aus heutiger Sicht, recht bescheiden an: 4,10 Meter ist er lang, der Transporter von 1950. Sein Radstand beträgt wie der des VW-Käfers 2,40 Meter. Überhaupt verdankt er viel dem Käfer, von dem auch die Achsen und der Motor übernommen werden. Mit 1131 Kubikzentimeter Hubraum, bei 18 Kilowatt (gut 24 PS) und 3300 Umdrehungen pro Minute hält sich die Leistung in Grenzen. Aber immerhin schafft es seine Tachonadel bis auf 80 Stundenkilometer. Allemal schnell genug für die Straßen im Nachkriegsdeutschland.

Der Begriff »Nutzfahrzeug« steht nicht von ungefähr in seinem Logo. Er wird in den kommenden Jahren die Trümmer und den Schutt des Krieges, Mauersteine und Mörtel für den Wiederaufbau, aber auch Brötchen, Zigarren, Zeitungen und Bierkisten, also einfach alles abfahren und anliefern, was im Nachkriegseuropa von Bedeutung ist. Immerhin darf er bei einem Leergewicht von 990 Kilo stattliche 750 Kilo Nutzlast buckeln. Das soll dem Tausendsassa erst mal einer nachmachen. Und mit 5850 Mark ist er erschwinglich. In den ersten Produktionsmonaten ist er wahlweise grundiert oder in blauer Farbe und auch nur als Kastenwagen zu erhalten. Doch nur einige Monate später wird das Modellprogramm um VW-Bus und Kombi ergänzt. Am Ende des Jahres 1950 blickt Volkswagen schon auf 8059 gefertigte T1 zurück.

 

Die Verkaufszahlen schießen in die Höhe: Vier Jahre nach der Premiere läuft in Wolfsburg der 100 000. Transporter vom Band. 1962 sind es bereits eine Million. Als 1967 der Modellwechsel vom T1 auf den T2 erfolgt, hat VWN insgesamt 1,82 Millionen Transporter des ersten Typs (T1) verkauft.

Er war der zuverlässige Lastesel des Wirtschaftswunders und damit Teil der deutschen Erfolgsgeschichte nach 1945. Danke, Bulli!

 

Bevor er aber Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre zum Standardoutfit der Hippiegeneration gehört, hat er bereits rasante Entwicklungsschritte – eher Riesensprünge – in andere Richtungen vollzogen:

Schon 1951 wird der Samba-Bus vorgestellt, ausschließlich für Personenbeförderung konzipiert, mit Zweifarblackierung und reichlich Chrom. »25 Fenster und ein Schiebedach«, wirbt Volkswagen. Über den Daumen: pro PS ein Fenster. Ein Novum! Seit der ersten Stunde ist der Samba ein Hingucker. Und heute ist er, als gut erhaltenes Sammlerstück, für Otto Normalverbraucher fast unbezahlbar …

Im Jahr 1952 erfolgt eine weitere Weichenstellung: Jemand bestellt eine bescheidene Wohneinrichtung für seinen VW-Transporter. Ein Input, der bald schon in der »Campingbox« weiterlebt. Aber wir reden nicht von einem Massengeschäft, Anfang der Fünfzigerjahre hat man andere Sorgen, als sich mit mobiler Freizeit zu beschäftigen. Doch die Idee fällt auf fruchtbaren Boden. Sie ist der Wegbereiter zum »VW-Campingwagen« mit der Westfalia-Einrichtung und nicht zuletzt die Vorlage für den schicken VW California von heute.

Volkswagen Nutzfahrzeuge drängt nun auch auf den internationalen Markt. Rund drei Jahre nach der Geburtsstunde des Bullis wird am 23. März 1953 Volkswagen do Brazil S.A. bei São Paulo gegründet. Weitere drei Jahre später entsteht Volkswagen of South Africa PTY.

In diesem Jahr 1956 wird auch das neue Transporterwerk in Hannover fertiggestellt. Von Hannover-Stöcken, verkehrsmäßig günstig nahe dem Kreuz der Nord-Süd- und Ost-West-Autobahnen und dem Mittellandkanal gelegen, gehen die VW-Bullis in alle Welt. Vor allem in die USA, wo später beim T2-Camper ein regelrechtes Bulli-Fieber diagnostiziert wird.

So fühlt sich Freiheit an: Mein erster VW-Bus

Meine Geschichte beginnt zu einer Zeit, als mancher unter Autotuning verstand, die Weißwandreifen seines Wagens auf Hochglanz zu polieren. Man hängte sich ein Fuchsschwanz-Imitat an die Antenne und schraubte – schier unglaublich – an den rechten Kotflügel Bordsteintaster, die wie Schnurrbarthaare eines Katers aussahen. Wer genug Geld in der Tasche hatte, verwöhnte sein Auto mit ein paar Zusatzscheinwerfern von Bosch. Unter meinen versierten Kumpels fachsimpelte man über den negativen Sturz der Hinterachse und darüber, wie man beim Abarth-Tuning seinem kleinen Auspuff den Sound klanggewaltiger Fanfaren verpassen könnte. Das fand ich zwar ganz spannend, aber eigentlich war es nicht mein Ding.

Mein Interesse galt eher dem Fahrzeug als Fortbewegungsmittel – um dorthin zu gelangen, wo meine Jugendträume schon längst angekommen waren. 1964, als Achtzehnjähriger, brannte ich aufs Abenteuer. Mir war klar, dass ich meinen Weg zu den aufregendsten Orten der Welt gehen würde. Ich wusste nur noch nicht, wie …

An einen Bulli dachte ich anfangs noch nicht. »Eine Nummer zu groß«, würde man wohl sagen. Stattdessen leistete ich mir ein Motorrad, eine 250er BMW. Nach ein paar Monaten erstand ich einen Steib-Seitenwagen, baute ihn an und überquerte mit dem BMW-Gespann die Alpen. Und wenn ich ins Tessin oder nach Südtirol kam, war mir, als hätte ich den Schlüssel ins Tor zur weiten Welt gesteckt. Es duftete hier anders … nach Süden, und das war für mich damals schon »weite Welt«. Ein Stück Exotik, in das ich mich schon immer gern hineingeträumt hatte.

Im zweiten Jahr meiner Motorradreise lernte ich ein Mädchen kennen – mit dem ich seitdem durch dick und dünn gehe. Und nach einem Intermezzo mit einem VW-Käfer fanden Juliana und ich unseren Schlüssel zur Welt in einem Bulli.

Der Zeitpunkt dafür war so gut wie seit Jahrzehnten nicht. Land und Leuten ging es gut, die Wirtschaft brummte, die Jungen machten seit dem Summer of Love und Woodstock schon längst nicht mehr nur das, was die Alten wollten. Der Bulli war inzwischen so etwas wie der »Dienstwagen« der Hippiegeneration. Mit Flower-Power-Motiven und dem Peace-Zeichen. Ein Motto lautete: Make love, not war! Für die Älteren war das provokativ. Wir fanden es gut. Die Welt war offener, zugänglicher geworden. Vor allem in unseren Köpfen. Und so war klar, dass wir genau das Auto für dieses Abenteuer kaufen würden, das in Deutschland und vielen anderen Ländern Europas an jeder Ecke als Polizei-, Feuerwehr-, Postfahrzeug, als Baustellenkipper, Personen- oder Tiertransporter, als Getränkelieferant, Behördenfahrzeug oder Eiswagen stand. Und im Hippieparadies an der Westküste Amerikas hatte man es uns ja vorgemacht, wie gut es sich im Bulli leben lässt. Also los! Unser Ziel hatten wir klar definiert: die ganze Welt!

Überschaubare Testfahrten sollten uns durch die Sahara bringen und dann nach Indien und zurück. Danach, so spekulierte ich, wären wir fit für eine Reise rund um den Globus.

Das mag blauäugig klingen, vielleicht ein wenig vermessen. Aber wir waren schließlich jung, und eine meiner Devisen lautete: The sky is the limit. Nichts ist unmöglich!

Doch zunächst einmal machten wir beide uns auf die Suche nach dem richtigen Auto. Der eine VW-Bus war recht neu und demzufolge zu teuer, der andere zu abgewrackt. Eines Tages kamen wir in die Kleinstadt Springe bei Hannover. Der ortsansässige VW-Händler Albert Mensenkamp hatte seinen privaten T1 mit Wohneinrichtung inseriert. Wir trafen ihn zu Hause, sahen seinen VW-Bus, inspizierten die tolle Einrichtung und lauschten den Geschichten über die Urlaube, die er damit verbracht hatte. Das Auto war unten siegellackrot, das Oberteil beige-grau. Für mich die schönste Farbkombination, die den Bulli in seinen siebzig Lebensjahren geschmückt hat!

 

Man merkt’s meinen Worten an: Das war Liebe auf den ersten Blick. Es gab kein Zurück. Die Westfalia-Einrichtung war aus Holz, eine SO23, wie ich erst bei den Recherchen für dieses Buch herausfand. Damals interessierten mich solche Details nicht wirklich. Wichtiger war, dass alles funktional und der Bulli technisch in Ordnung war. Sein großer, integrierter Wassertank war genau das, was uns für unsere Weltreise vorschwebte. Ohne Pumpe. Wo gibt’s denn das heute noch? Wir hielten den Schlauch einfach aus der Seitentür, öffneten den kleinen Wasserhahn aus Kunststoff, und das Wasser lief. Schwerkraft ist das simple Geheimnis. Bei späteren Selbstausbauten an anderen Fahrzeugen habe ich dieses Prinzip gelegentlich übernommen. Getreu dem Motto: Technik, die man nicht hat, geht auch nicht kaputt.

Der VW-Camper war technisch tipptopp und optisch makellos. Mit rund 35 000 Kilometern Laufleistung war auch sein Herz jung. Generell sagte man damals, dass die Lebenserwartung eines VW-Motors bei rund 100 000 Kilometern läge. Also war schon beim Kauf klar, dass wir vor dem Start zur großen Reise den Motor vorsichtshalber wechseln lassen würden. Wir zahlten für den VW-Bus 5500 Mark, eine Menge Geld Ende Mai 1971.

Wir beide liebten unseren Bulli. Nach wenigen Tagen hatte er – als Hommage an sein Alter – seinen Namen weg: Methusalem.

Am 4. Juni 1971 wurde der T1 mit der Fahrgestellnummer 696 828 bei der Landeshauptstadt Hannover auf mich umgeschrieben.

 

Ausweislich des vor mir liegenden alten Kfz-Briefs hatte das Fahrzeug inklusive Campereinrichtung ein Leergewicht von 1300 Kilo. Das zulässige Gesamtgewicht betrug 1865 Kilo. Laut Adam Riese hatten wir legal also 565 Kilo Zuladung. Zieht man unser beider Körpergewicht von damals zusammen 130 Kilo ab, blieben letztlich 435 Kilo Zuladung. Das ist beachtlich und einiges mehr als das, was manches große Wohnmobil heute laden darf. Dennoch, an eine Situation fünf Jahre nach dem Kauf erinnere ich mich noch mit fast ungläubigem Staunen.

 

Schauplatz der Begebenheit ist Bangui, Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik:

Ein Durchkommen nach Ostafrika ist für uns wegen bürokratischer Hürden nahezu unmöglich; es bleibt nur die Obo-Piste in Richtung Sudan. Aber auf der gibt es auf rund 2500 Kilometern keinen Sprit zu kaufen. Also bunkern wir in eilig zusammengekauften Kanistern und Fässern 485 Liter Benzin und verstauen sie im Fahrzeuginnern. Allein damit überschreiten wir das zulässige Gesamtgewicht unseres Busses um runde 50 Kilo. Zähle ich Dachgepäckträger samt Staukästen, mehrere Reservereifen, Werkzeuge, Ersatzteile, Lebensmittel, Trinkwasser und die Ausrüstung für ein jahrelanges Leben on the road dazu, kommen wir locker auf eine Überladung von 250 Kilo.

Aber du, Bulli, hast uns all das verziehen!

 

Da ich manchmal die Sammelleidenschaft eines Eichhörnchens habe, grub ich dieser Tage in meinen Schätzen ein gebundenes, mit Schreibmaschine getipptes und dann vervielfältigtes Heft von einem Ehepaar Fürst aus. Herausgegeben wurde es im November 1970. Sein Titel: »Im Wagen nach Asien – Erfahrungen, Tipps, Ratschläge«.

So also sah es in der guten alten analogen Welt aus, wo auf 74 Seiten ein Erfahrungsbericht von Globetrottern für Globetrotter geschrieben worden war. Auf einem beigelegten Ergänzungsblatt vom Mai 1971 war sogar die Aktualisierung erfolgt: »Seite 27, Absatz 2: auf der Nordroute über Maschhad (Anmerkung: Iran) sind es statt 400 nur noch 150 Kilometer unbefestigte Straße.«

Wir hatten diese aktualisierte Ausgabe wahrscheinlich zum Zeitpunkt des T1-Kaufs, also im Sommer 1971, erworben. Gleich auf Seite 8 fühlten wir uns bestätigt: »Der VW-Bus gilt allgemein als ein ideales Fahrzeug für eine solche Reise.« Mut machte uns auch der Hinweis auf Seite 48, dass wir im Falle einer Panne nicht ganz hilflos sein würden: »VW hat beispielsweise an der großen Eisenhower Avenue, die zum Flugplatz (Anmerkung: Teheran) führt, eine sehr gute Kundendienst-Werkstatt. Wir wurden dort von zwei deutschen VW-Ingenieuren sehr hilfsbereit empfangen.«

»Dieses Heft ist Gold wert«, sagte ich zu Juliana, die schon begann, das Relevante für uns zu notieren, während ich weiterlas: »Aufgrund unserer Erfahrungen würden wir das nächste Mal mitnehmen: Schwarzbrot in Dosen, geräucherte Hartwurst, einige Suppen und Brühen, Maizola-Öl zum Braten.«

Wir lernten auch, dass man sich unterwegs für 4 Mark pro Person und Tag verpflegen kann. Die Auflistung der Gesamtkosten der beiden Autoren für ihre Hinreise nach Indien 1970 sah wie folgt aus: »Verpflegung, Übernachtung, Wagenservice, Souvenirs und so weiter für 2 Pers./6 Monate: ca. 4000 Mark.«

 

Zwei Monate nach dem Kauf unseres T1 starteten wir mit ihm unsere erste Testfahrt: durch Europa südwärts nach Marokko und dann durch die algerische Nordsahara. Über Tunesien und Italien ging es zurück nach Deutschland. Der Bulli lief ohne jeden Aussetzer!

Unsere Eltern hatten Angst um uns, als wir beide in Richtung Sahara aufbrachen. Auch mein Vater, der als 19-Jähriger gleich nach der Schlosserlehre als Soldat an der Ostfront kämpfen musste. Für ihn gab es damals kein Wenn und Aber, er musste von zu Hause fortziehen. Wir beide aber machten das freiwillig. Mein Vater hat nie verstanden, dass ich nicht anders konnte, als in die Welt zu ziehen, und bereit war, die Sicherheit meines Berufs als Beamter aufzugeben.

Die Entscheidung, im Bulli aufzubrechen, hatten Juliana und ich gemeinsam getroffen. Wir waren bereit, sie auch gemeinsam zu verantworten. Unsere erste »Schnuppertour« durch die Nordsahara hatte ja bestens geklappt, und wir kehrten ohne Blessuren heim. Von Italien über Österreich kommend, steuerte ich unseren VW-Bus Richtung Berchtesgaden, wo meine Eltern Urlaub machten.

»Ich muss mal für einen Moment hinter dem Busch dort verschwinden …«, sagte Juliana. Ich fuhr zur Seite, und sie sprang raus. Es dauerte keine zwei Minuten bis sie weinend und mit den Armen rudernd zurückkam. Sie war in ein Wespennest geraten. Wir zählten später knapp ein Dutzend Wespenstiche. Ihr Gesicht glich schon bald einem Ballon – und als wir meine Eltern in ihrer Pension erreichten, führte uns der erste Weg ins Krankenhaus.

Juliana hatte viel Glück. So etwas kann sehr böse ausgehen. Ich hätte nun meinem Vater sagen können: »Siehst du – in der Sahara lief alles glatt, und ausgerechnet auf den ersten Kilometern in Deutschland passiert ein Unglück!«

Ich habe es nicht getan …

Zwei Greenhorns im Bulli auf dem Hippie Trail

Wir waren eine bunte Schar junger Leute, die zumeist für wenig Geld und auf sehr unterschiedliche Art und Weise reisten: Da waren solche mit oder ohne Auto, manche fuhren im öffentlichen Bus oder auf den hölzernen Sitzbänken alter Bedford Overland Trucks, die in der Regel von London in Richtung Indien oder Südafrika gestartet waren. Einige überführten auch Autos von Europa nach Persien, wie der Iran damals noch hieß. Eine gute Möglichkeit, die Welt zu sehen und gleichzeitig in Teheran beim Autoverkauf die Reisekasse aufzubessern.

Die klassische »Hippie-Route« führte von Europa über die Türkei durch Persien, Afghanistan, Pakistan nach Indien und Nepal. Das bevorzugte Fahrzeug: der Bulli. Neben Deutschen, Schweizern, Holländern und Engländern waren einige Amerikaner, Australier und Neuseeländer mit von der Partie. Darunter auch ein gewisser Tony Wheeler mit seiner jungen Frau Maureen. In London waren die beiden mit einem alten Auto gestartet, für das sie dem Verkäufer 65 britische Pfund in die Hand gedrückt hatten. In Kabul verkauften sie die alte Kiste und machten dabei noch 5 Pfund Gewinn. Anschließend reisten sie mit dem Rest ihres Ersparten nach Australien. Abgebrannt wie sie waren, ermunterten Freunde sie, einen Erfahrungsbericht über ihre Reise zu schreiben und zu veröffentlichen. Also verfassten sie »Across Asia on the Cheap«. Ihr dafür gegründeter Verlag hat seitdem 150 Millionen Bücher verkauft. Ich spreche von Lonely Planet.

Doch über den Hippie Trail werden ja nicht nur Loblieder gesungen, die vielen Gräber der jungen Drogentoten von damals sprechen Bände. Und Konflikte zwischen den Ländern, die wir durchquerten, gab es auch. Ich will nicht verhehlen, dass wir etwas beunruhigt waren, als die Nachricht von zwei in Afghanistan ermordeten Amerikanern die Runde machte. Noch wirkten der Schah von Persien (allerdings mithilfe seines berüchtigten Geheimdienstes Savak) und der afghanische König irgendwie als Stabilitätsfaktoren. Noch konnten wir Bilder sehen, die schon bald hinter dem Feuer und Rauch von Bomben für immer verblassen würden. Für uns war diese Reise vor den Umbrüchen eine besondere Lebenserfahrung, auch wenn auf dieser Bulli-Reise im Jahre 1972 nicht immer alles glatt verlief …

Zunächst verschoben wir den Reisestart um einen Tag, da aus einer Bremstrommel unseres VW-Busses merkwürdige Geräusche drangen. In einer Werkstatt wurde die Sache behoben. Tagelang goss es bei der Fahrt über die löchrigen Straßen der Ostblockländer Ungarn und Rumänien wie aus Eimern. »Verrottete Tankstellen, miserabler Service. Zu kaufen gibt es kaum etwas, stattdessen Regen, Regen, Regen!«, heißt es in unserem Tagebuch.

5. August 1972: Die Städte im kommunistischen Ostblock waren grau, desolat, unansehnlich. Alles spielte sich an diesem Tag unter tiefgrauem Himmel ab, aus dem in grauen Fäden Wasser auf eine ebenso graue Landschaft platschte. Dementsprechend war unsere Gemütsverfassung.

»Dahinten ist ein kleiner Laden. Halt mal. Ich kaufe noch schnell etwas ein.« Juliana nahm den Regenschirm und griff nach ihrer Tasche mit der Geldbörse. »Wo ist das Geld?« Sie suchte, ich suchte. Wir wurden nervös. Aber das Portemonnaie war nicht mehr da. Beim Stopp an einer Tankstelle oder bei der letzten kleinen Backstube musste der Geldbeutel aus dem Bulli gefallen sein. Über ein paar Mark hätten wir uns nicht aufgeregt. Aber über 600 Mark schon, denn die waren darin gewesen. Ein halbes Nettomonatsgehalt! Wir fuhren 130 Kilometer im strömenden Regen zurück, stoppten immer wieder dort, wo wir meinten, ausgestiegen zu sein. Durchwühlten Pfützen mit den Händen. Nichts! Der Verlust traf uns, gefährdete aber zum Glück nicht unseren Traum von der Freiheit im Bulli auf dem Hippie Trail.

 

Tags darauf überquerte unser VW-Bus die Grenze nach Bulgarien. Die Grenzbeamten waren hier freundlicher als in den beiden Ländern zuvor, der Himmel klarte mit einem Mal auf, und unsere Stimmung besserte sich. Ich stoppte, als zwei Anhalter die Daumen rausstreckten: zwei Burschen aus der DDR, so alt wie wir. Eigentlich war unser Bulli schon voll, aber die beiden passten samt ihren großen Rucksäcken noch rein. Abends saßen wir auf einem Campingplatz am Lagerfeuer und plauderten. Vier junge Leute; dieselbe Kultur, dieselbe Sprache, bis vor wenigen Jahren dieselbe Nation, dieselbe Geschichte. Aber morgen würden wir unterschiedliche Wege gehen … Ich, der ich keine Verwandtschaft in Ostdeutschland habe, hatte bislang keine Berührung mit DDR-Bürgern. Es bewegte mich, als die beiden sagten, spätestens an der Grenze zur Türkei sei ihre Reise zu Ende …

Ich hoffe, dass die beiden nach dem »Wind of Change« und dem Mauerfall von 1989 ihren Traum von Indien doch noch live erleben konnten.

 

Als wir, über die Türkei und Persien kommend, die afghanische Grenze erreichten, wechselten schlagartig die Bilder: ärmliche Grenzgebäude; »die Zöllner in verwaschenen alten Rotarmisten-Uniformen«, steht in unserem Tagebuch. »Im Gebäude der Grenzbeamten ist es voll, und es stinkt. Links und rechts in der Hütte hocken ausgeflippte Europäer. Offenbar unter Drogeneinfluss: eingefallene Gesichter, lange ungepflegte Haare, verlauste Kleidung, einer sogar ohne Hemd.« So sah unsere erste Begegnung mit einigen jener traurigen Gestalten auf dem Hippie Trail aus, die die Route nach Indien manchmal auch in Verruf brachten. Es war selbstverständlich für uns, dass Hitchhiker bei uns im Bulli willkommen waren. Aber wir nahmen sie nie über Grenzen mit. Es gab VW-Busse, die ungewollt zu Drogenkurieren wurden.

 

Die Bilder von Herat waren anders als alles, was wir je zuvor gesehen hatten. Eine archaische Welt. Vollverschleierte Frauen, Männer mit Turbanen, die auf Knien über die Straße rutschten, um den Kot von Pferden und Eseln als Brennmaterial zusammenzukehren. Zerlumpte Jungen, die »Limonaden« in leuchtendem Gelb, knalligem Rot oder Giftgrün in alten Cola-Flaschen verkauften. So zeigen es heute noch immer die flimmernden Bilder meines Schmalfilms. Schon beim Zoll hatte einer der Mitarbeiter versucht, uns Haschisch zu verkaufen. In den Straßen Herats wollten zehnjährige Bengel uns Hanf andrehen. Herat wirkte auf mich wie ein schläfriges, aber ungemein malerisches großes Wüstendorf. Dabei war es eine Stadt von 100 000 Einwohnern (heute sind es weit mehr als eine halbe Million). Der Autoverkehr war gering, und wenn einer der in der Mitte der Straßenkreuzung dösenden Verkehrspolizisten uns nahen sah, sprang er auf, trillerte wild auf seiner Pfeife und ruderte hektisch mit den Armen, um uns durchzuwinken.