Karen M. McManus

ONE OF US

IS NEXT

Aus dem Amerikanischen

von Anja Galić

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 by Karen M. McManus, LLC

Published by Arrangement with Karen M. McManus

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »One of us is next« bei Delacorte Press, an imprint of Random House Children’s Books, New York.

© 2020 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Amerikanischen von Anja Galić

Lektorat: Katarina Ganslandt

Umschlaggestaltung: © Suse Kopp, Hamburg, unter Verwendung mehrerer Motive von GettyImages (imagefruit, Westend61, Igor Ustynskyy)

he • Herstellung: MJ

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-24631-0
V002

www.cbj-verlag.de

Für Mom und Dad

ERSTER TEIL

Freitag, 6. März

REPORTERIN (steht am Rand einer gewundenen Straße, im Hintergrund ist ein großes weißes Stuckgebäude zu sehen): Guten Morgen. Liz Rosen hier, von Channel Seven News. Wir berichten live aus der Bayview Highschool, deren Schüler unter Schock stehen, nachdem einer ihrer Mitschüler gestern plötzlich verstorben ist. Es ist der zweite tragische Tod eines Jugendlichen innerhalb der letzten achtzehn Monate, den die Kleinstadt Bayview zu verkraften hat. Die Stimmung vor dem Schulgebäude hat etwas von einem erschütternden Déjà-vu.

(Kameraschwenk zu zwei Schülerinnen; eine wischt sich Tränen von den Wangen, die andere wirkt wie versteinert.)

WEINENDES MÄDCHEN: Das … das ist so schrecklich. Ich meine, mir kommt es fast so vor, als würde ein Fluch auf Bayview liegen. Zuerst Simon, und jetzt das.

STOISCHES MÄDCHEN: Das hier ist was ganz anderes als das, was mit Simon passiert ist.

REPORTERIN (hält ihr Mikro dem weinenden Mädchen hin): Hast du den verstorbenen Schüler gut gekannt?

WEINENDES MÄDCHEN: Na ja, gut nicht gerade. Eigentlich fast gar nicht. Ich bin in der Neunten und erst dieses Jahr auf die Highschool gekommen.

REPORTERIN (wendet sich an das andere Mädchen): Und was ist mit dir?

STOISCHES MÄDCHEN: Ich glaube nicht, dass wir mit Reportern reden sollten.

Zehn Wochen davor

Reddit, Subforum »Die Rache ist Mein«

Thread erstellt von Bayview2020

Hey.

Ist das hier dieselbe Gruppe, in der Simon Kelleher früher gepostet hat?

–Bayview2020

Glückwunsch.

Ein und dieselbe.

–Darkestmind

Warum seid ihr umgezogen? Und warum gibt es hier so gut wie keine Posts?

–Bayview2020

Zu viele Gaffer und Reporter im alten Forum.

Außerdem haben wir schärfere Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Lektion gelernt von unserem Freund Simon.

Schließe mal aus deinem Nutzernamen, dass du ihn kennst?

–Darkestmind

Jeder kennt Simon. Hat ihn gekannt. Aber es ist nicht so, als wären wir befreundet gewesen.

–Bayview2020

Okay. Was führt dich dann hierher?

–Darkestmind

Weiß nicht. Bin bloß zufällig drüber gestolpert.

–Bayview2020

Von wegen. Das ist kein Forum, über das man einfach so stolpern kann. Wir sind nicht leicht zu finden. Immerhin geht es hier um Rache.

Du bist aus einem bestimmten Grund hier.

Wegen was? Oder sollte ich lieber sagen: wegen wem?

–Darkestmind

Wem ist schon richtig.

Dieser Jemand hat etwas Schreckliches getan.

Es hat mein Leben zerstört. Und das von vielen anderen.

Aber er ist einfach damit durchgekommen.

Und ich kann nichts dagegen tun.

–Bayview2020

Kenne ich.

Wir haben viel gemeinsam.

Es ist zum Kotzen, wenn ein Mensch, der dein Leben zerstört hat, einfach so weiterlebt wie immer.

Als ob das, was er getan hat, keine Rolle spielt.

Aber ich muss deiner Schlussfolgerung widersprechen.

Man kann immer etwas tun.

–Darkestmind

1

Meine Schwester hält mich für eine Slackerin. Sie spricht es nicht offen aus – oder, genauer, schreibt es mir so nicht in ihren Textnachrichten –, aber ich kann es deutlich zwischen den Zeilen lesen:

Hast du dir die Liste mit den Colleges schon angeschaut, die ich dir geschickt habe?

Klar, du hast noch ein gutes halbes Jahr bis zur Zwölften, aber es ist trotzdem nicht zu früh, schon jetzt mit der Suche anzufangen. Eigentlich bist du fast schon ein bisschen spät dran.

Wir könnten uns zusammen ein paar Colleges anschauen, wenn ich zu Ashtons Junggesellinnenabschied nach Hause komme.

Ich finde ja, du solltest dich irgendwo komplett außerhalb deiner Komfortzone bewerben.

Wie wäre es zum Beispiel mit der University of Hawaii?

Ich schaue von den Nachrichten auf, die in kurzen Abständen auf meinem Handy eingehen, und begegne Knox Myers’ fragendem Blick. »Bronwyn ist der Meinung, ich soll mich an der University of Hawaii bewerben«, berichte ich, worauf er sich fast an der Empanada verschluckt, von der er gerade abgebissen hat.

»Ihr ist aber schon klar, dass Hawaii eine Inselgruppe ist, oder?« Er greift hastig nach einem Glas Wasser und trinkt es in einem Zug halb leer. Die Empanadas im Café Contigo sind geradezu legendär in Bayview, aber auch eine Herausforderung, wenn man nicht an scharfes Essen gewöhnt ist. Was Knox, der in der Middle School aus Kansas hierhergezogen ist und immer noch am liebsten Aufläufe mit Pilz-Sahnesoße isst, definitiv nicht ist. »Hat sie vergessen, dass du Strände hasst?«

»Ich hasse sie nicht«, protestiere ich. »Ich bin nur kein Fan von Sand. Oder zu viel Sonne. Oder gefährlichen Strömungen. Oder Meerestieren.« Knox’ Augenbrauen klettern bei jedem Satz ein Stück höher. »Was? Du bist doch derjenige gewesen, der mich dazu gebracht hat, Das Grauen aus der Tiefe zu schauen«, erinnere ich ihn. »Meine Thalassophobie ist also hauptsächlich deine Schuld.« Letzten Sommer war ich ein paar Monate mit Knox zusammen. Er war mein erster und bis jetzt auch einziger fester Freund. Leider waren wir beide zu unerfahren, um zu merken, dass wir eigentlich gar nicht richtig ineinander verliebt waren. Wir haben die meiste Zeit damit verbracht, irgendwelche Dokus auf dem Science Channel zu schauen, was uns viel früher hätte klarmachen sollen, dass wir als gute Freunde deutlich besser taugen.

»Du hast mich überzeugt«, gibt Knox trocken zurück. »Bewirb dich für Hawaii. Ich freue mich jetzt schon drauf, dein mit Sicherheit aus tiefstem Herzen kommendes Bewerbungsschreiben zu lesen, wenn du es einreichen musst …« Er beugt sich vor und schiebt mit Nachdruck hinterher: »Nächstes Jahr

Ich seufze und trommle mit den Fingern auf der mit bunten Mosaiksteinchen besetzten Tischplatte. Das Café Contigo ist ein argentinisches Lokal, die Wände sind dunkelblau gestrichen, die Decke ist mit geprägten Zinnplatten verkleidet, und eine aromatische Mischung aus süßen und pikanten Düften erfüllt die Luft. Von zu Hause brauche ich nur knapp zehn Minuten hierher. Seit Bronwyn in Yale studiert und es bei uns plötzlich viel zu still wurde, ist es zu meinem Stammcafé geworden. Ich mag die freundliche Geschäftigkeit, die hier herrscht, und dass sich niemand daran stört, wenn ich drei Stunden lang nur Kaffee bestelle, während ich Hausaufgaben mache. »Bronwyn findet, dass ich schon spät dran bin«, sage ich zu Knox.

»Klar. So wie ich Bronwyn einschätze, hatte sie ihre Uni-Bewerbung bestimmt auch schon seit dem Kindergarten fix und fertig in der Schublade liegen«, sagt er. »Entspann dich. Wir haben noch jede Menge Zeit.« Mit seinen siebzehn Jahren ist Knox genau wie ich älter als die meisten anderen in der elften Jahrgangsstufe. In seinem Fall liegt das daran, dass er im Kindergarten ziemlich klein für sein Alter war, weshalb seine Eltern ihn später eingeschult haben. In meinem, dass ich meine halbe Kindheit mit Leukämie im Krankenhaus verbracht habe.

»Davon muss man wohl ausgehen.« Ich greife nach Knox’ leerem Teller, um ihn auf meinen zu stellen, und stoße dabei aus Versehen den Salzstreuer um. Ohne nachzudenken, nehme ich sofort eine kleine Prise der auf dem Tisch verstreuten Kristalle zwischen Daumen und Zeigefinger und werfe sie mir über die Schulter, um Unglück abzuwenden, wie Ita es mir beigebracht hat. Meine Großmutter ist extrem abergläubisch. Einige ihrer Rituale hat sie aus Kolumbien mitgebracht, die übrigen hat sie sich in den dreißig Jahren angeeignet, die sie mittlerweile schon hier lebt. Ich habe mich immer strikt an ihre Regeln gehalten, als ich noch jünger war – vor allem, während der Zeit, in der ich so krank gewesen bin. Wenn ich das Perlenarmband trage, das Ita mir geschenkt hat, wird diese Untersuchung nicht wehtun. Wenn ich nicht auf die Risse im Asphalt trete, wird die Anzahl meiner weißen Blutkörperchen normal sein. Wenn ich an Silvester um Mitternacht zwölf Weintrauben esse, werde ich dieses Jahr nicht sterben.

»Es wäre auch nicht das Ende der Welt, wenn du nicht sofort anfangen würdest zu studieren.« Knox lehnt sich in seinem Stuhl zurück und schiebt sich eine Strähne seiner dichten braunen Haare aus der Stirn. Er ist so dünn und knochig, dass er selbst nach seiner eigenen Portion Empanadas und der Hälfte von meiner immer noch ausgehungert aussieht. Wenn er mich zu Hause besucht, versuchen meine Eltern ihn jedes Mal zu mästen. »Gibt viele Leute, die sich erst mal Zeit lassen.« Sein Blick wandert durch den Raum und landet auf Addy Prentiss, die gerade aus der Küche kommt und auf einer Hand ein Tablett balanciert.

Ich schaue einen Moment zu, wie Addy sich ihren Weg durch das Café bahnt und mit geübter Leichtigkeit Teller mit Essen vor die Gäste stellt. An Thanksgiving hat die True-Crime-Nachrichtenshow Mikhail Powers Investigates eine Sondersendung mit dem Titel »Die Bayview Four: Was aus ihnen geworden ist« ausgestrahlt, in der sich auch Addy das erste Mal öffentlich zu Wort gemeldet hat. Ich nehme an, sie hat geahnt, dass die Produzenten vorhatten, sie als diejenige aus der Gruppe zu präsentieren, die am wenigsten Ambitionen hat – meine Schwester hat es nach Yale geschafft, Cooper hat ein schlagzeilenträchtiges Sportstipendium an der Cal State Fullerton bekommen, sogar Nate hat sich an einem Community College eingeschrieben –, und dagegen wollte sie sich wehren. Ich war echt stolz auf sie. Adelaide Prentiss hat ihnen keine Chance gegeben, sie mit der Schlagzeile »Die besten Tage der ehemaligen Schönheitskönigin der Bayview High sind anscheinend gezählt« zu verheizen.

»Wenn man weiß, wie es nach dem Abschluss für einen weitergehen soll, ist es großartig, gleich ein Studium zu beginnen«, sagte sie in dem Interview, das im Café Contigo gedreht wurde. Sie saß auf einem Hocker, hinter sich die Tafel, auf der mit bunter Kreide die Tagesgerichte aufgelistet waren. »Aber warum soll man ein Vermögen für ein Diplom ausgeben, mit dem man möglicherweise nie etwas anfängt, weil man noch gar nicht weiß, was man später mal wirklich machen will? Es ist keine Schande, mit achtzehn noch nicht sein ganzes Leben durchgeplant zu haben.«

Oder mit siebzehn. Ich spähe argwöhnisch zu meinem Handy. Ist garantiert nur eine Frage der Zeit, bis Bronwyn ihre nächste Nachrichtensalve abfeuert. Ich liebe meine Schwester über alles, aber ihr Perfektionismus ist unmöglich zu toppen.

Mittlerweile ist es Abendessenszeit und das Café beginnt sich zu füllen. Als alle Tische bis auf den letzten Platz besetzt sind, schaltet jemand auf den an den Wänden montierten Flatscreens zur Übertragung des Saisonauftakts der Cal-State-Fullertons-Baseballmannschaft. Addy hält mit ihrem fast leeren Tablett inne, schaut sich im Lokal um und lächelt, als sie meinem Blick begegnet. Sie steuert auf unseren Ecktisch zu und stellt einen kleinen Teller mit Alfajores zwischen uns. Die mit Dulce de leche gefüllten Doppelkekse sind eine Spezialität des Hauses und das Einzige, was Addy in den neun Monaten, die sie hier jetzt schon arbeitet, sogar gelernt hat, selbst zu backen.

Knox und ich strecken gleichzeitig die Hände nach der Köstlichkeit aus. »Kann ich euch sonst noch was bringen?«, fragt Addy und streicht sich eine Strähne ihrer silberpink leuchtenden Haare hinters Ohr. Sie hat im letzten Jahr verschiedene Farben ausprobiert, kehrt aber immer wieder zu Pink oder Violett zurück. »Falls ja, solltet ihr eure Bestellung besser jetzt gleich aufgeben. Sobald Cooper seinen Einsatz hat, legen wir alle eine kleine Pause ein.« Sie wirft einen Blick auf die Uhr an der Wand. »Also in ungefähr fünf Minuten.«

Ich schüttle den Kopf. Knox steht auf und wischt sich ein paar Krümel von seinem grauen Lieblingssweatshirt. »Danke, für mich auch nicht, aber gut, dass du mich erinnerst. Dann gehe ich vorher noch schnell auf Toilette.« Er sieht mich an. »Hältst du mir meinen Platz frei, Maeve?«

»Klar.« Ich lege meine Tasche auf seinen Stuhl.

Addy schaut zu einem der Bildschirme und lässt beinahe ihr Tablett fallen. »Oh mein Gott! Da ist er ja schon!«

Jeder Flatscreen im Restaurant zeigt dasselbe Bild: Cooper Clay, der zum Mound läuft, um sich als startender Pitcher für sein erstes Baseballspiel am College aufzuwärmen. Ich habe Cooper zuletzt an Weihnachten gesehen, das ist noch nicht mal zwei Monate her, aber er wirkt irgendwie größer, als ich ihn in Erinnerung habe. So attraktiv wie eh und je, aber mit einem entschlossenen Funkeln in den Augen, das ich noch nie so an ihm gesehen habe. Wobei ich zugeben muss, dass ich Cooper bei seinen Spielen bisher auch noch nie in Großaufnahme beobachten konnte.

Ich kann den Kommentator über das Stimmengewirr im Café nicht verstehen, mir aber ungefähr vorstellen, was er sagt. Coopers Debut ist aktuell das Topthema im College-Baseball und schlägt auch in den Medien so große Wellen, dass ein lokaler Kabelsportsender das komplette Spiel überträgt. Ein Teil des Rummels um seine Person ist sicher der traurigen Berühmtheit der Bayview Four und der Tatsache geschuldet, dass er einer der wenigen Baseballspieler ist, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekennen, aber davon abgesehen hat er sich während der Trainingsphase in absoluter Höchstform gezeigt. Die Sportanalysten spekulieren sogar schon darüber, ob er nicht vielleicht Chancen hat, in die Profiliga aufzusteigen, bevor er seine erste College-Saison beendet hat.

»Unser Superstar geht endlich seiner Bestimmung nach«, sagt Addy mit liebevollem Blick, als Cooper auf dem Bildschirm seine Kappe zurechtrückt. »Okay. Ich muss noch eine letzte Runde an meinen Tischen drehen, dann setze ich mich zu euch.« Das Tablett unter den Arm geklemmt und den Bestellblock in der Hand, bahnt sie sich einen Weg durch das Restaurant, aber die Aufmerksamkeit im Raum hat sich bereits vom Essen auf das Baseballspiel verlagert.

Mein Blick ist auch auf den Fernseher geheftet, obwohl inzwischen von Cooper zu einem Interview mit dem Coach der gegnerischen Mannschaft geschaltet wurde. Wenn Cooper gewinnt, wird es ein gutes Jahr werden. Ich versuche diesen Gedanken sofort wieder aus meinem Kopf zu verbannen, weil ich es nicht schaffen werde, das Spiel zu genießen, wenn ich es als Wette gegen das Schicksal benutze.

Neben mir schrappt ein Stuhl über den Boden und eine vertraute schwarze Lederjacke streift meinen Arm. »Alles klar, Maeve?«, fragt Nate Macauley, während er sich setzt. Sein Blick wandert über die mit Natriumchloridkristallen übersäte Tischplatte. »Oh-oh. Salzmassaker. Wir sind dem Untergang geweiht, oder?«

»Ha … ha«, sage ich, muss mir aber ein Grinsen verkneifen. Nate ist für mich zu so einer Art großem Bruder geworden, seit er und Bronwyn vor fast einem Jahr zusammengekommen sind, da gehören kleine Frotzeleien einfach dazu. Unser Verhältnis ist ungetrübt, obwohl sie gerade zum dritten Mal, seit Bronwyn ihr Studium angefangen hat, »eine Beziehungspause« einlegen. Nachdem die beiden sich den ganzen letzten Sommer den Kopf darüber zerbrochen haben, ob eine Fernbeziehung über dreitausend Meilen überhaupt funktionieren kann, haben sie einen Modus für sich gefunden, in dem sie abwechselnd immer wieder für eine Weile unzertrennlich sind, irgendwann anfangen sich zu streiten, Schluss machen und sich am Ende wieder versöhnen. Seltsam, aber für sie scheint es zu funktionieren.

Nate grinst bloß und wir versinken in einvernehmlichem Schweigen. Mit ihm ist es immer total unkompliziert, genau wie mit Addy und den anderen Freunden von Bronwyn. Unseren Freunden, wie sie immer betont, aber das stimmt so nicht. Es sind zuerst ihre Freunde gewesen und ohne sie wären sie sicher nicht meine geworden.

In diesem Moment geht auf meinem Handy eine weitere Nachricht von ihr ein. Hat das Spiel schon angefangen?

Geht gleich los, tippe ich. Cooper hat sich gerade warm gemacht.

Was für ein Mist, dass die das auf ESPN nicht übertragen. Ich würde es mir so gern auch anschauen!!! Pacific Coast Sports Network strahlt sein Programm leider nicht in New Haven, Connecticut aus, sondern nur im Großraum San Diego.

Ich nehme es doch für dich auf, erinnere ich sie.

Schon, aber das ist nicht dasselbe.

Ich weiß :(

Ich stecke mir den letzten Keks in den Mund und starre so lange auf die drei tanzenden grauen Punkte in ihrer Sprechblase, bis ich mir sicher bin, dass ich weiß, was als Nächstes kommt. Bronwyn tippt Nachrichten normalerweise in Lichtgeschwindigkeit. Sie zögert nur dann, wenn sie kurz davor ist, etwas zu schreiben, von dem sie denkt, dass sie es besser nicht schreiben sollte – und im Moment gibt es nur eine Sache auf der Liste von Dingen, über die sie sich Stillschweigen auferlegt hat.

Und prompt: Ist Nate auch da?

Meine Schwester wohnt zwar nicht mehr im Zimmer neben meinem, aber das heißt nicht, dass ich ihr nicht trotzdem noch das Leben schwer machen kann. Wer soll das sein?, antworte ich und schaue dann zu Nate rüber. »Soll dich von Bronwyn grüßen«, sage ich.

Seine dunkelblauen Augen blitzen auf, aber seine Miene bleibt ausdruckslos. »Grüße zurück.«

Ich glaube, ich verstehe ihn. Egal wie viel einem ein Mensch bedeutet – wenn er plötzlich so weit weg ist, ist es nicht mehr dasselbe. Mir geht es mit Bronwyn irgendwie auch so. Aber Nate und ich reden nicht über die Dinge, die uns im tiefsten Inneren beschäftigen. Das haben wir nie getan – außer mit Bronwyn –, deswegen schneide ich bloß eine Grimasse und sage: »Du weißt schon, dass es ungesund ist, seine Gefühle zu verdrängen.«

Bevor Nate antworten kann, kommt Knox an unseren Tisch zurück. Addy zieht einen Stuhl zu uns heran, und vor mir materialisiert sich wie aus dem Nichts ein Teller mit einem Riesenberg Tortillachips, der mit Rindfleischstreifen und Chimichurri bedeckt und mit Käse überbacken ist – die Nacho-Version des Café Contigo.

Als ich den Kopf hebe und in die Richtung schaue, aus der sie gekommen ist, begegne ich tiefbraunen Augen. »Nervenfutter fürs Spiel«, sagt Luis Santos und wirft sich das Geschirrtuch, mit dem er den heißen Teller getragen hat, über die Schulter. Luis ist Coopers bester Freund und war bis zu ihrem Abschluss letztes Jahr als Catcher sein Partner im Baseballteam der Bayview High. Das Contigo gehört seinen Eltern. Er jobbt hier neben seinem Studium am City College, und seit ich diesen Ecktisch zu meinem zweiten Zuhause auserkoren habe, sehe ich Luis öfter als zu den Zeiten, als wir noch zusammen zur Schule gingen.

Knox stürzt sich auf die Nachos, als hätte er vor fünf Minuten nicht schon anderthalb Portionen Empanadas und einen Teller Kekse verputzt. »Vorsicht heiß«, warnt Luis und setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber. Mir schießt sofort ein Oh ja, das bist du zweifellos durch den Kopf. Leider habe ich eine peinliche Schwäche für gut aussehende Sportler, bei deren Anblick sofort das zwölfjährige Fangirl in mir erwacht. In der Neunten habe ich mal für einen Typen aus dem Basketballteam geschwärmt, der meine Gefühle bedauerlicherweise nicht erwiderte, was mir einen zutiefst demütigenden Post in Simon Kellehers Gerüchte-App eingebracht hat. Man sollte meinen, ich hätte aus dieser Episode gelernt, habe ich aber anscheinend nicht.

Obwohl ich eigentlich total satt bin, ziehe ich ein Tortilla-Chip aus dem Berg. »Danke, Luis«, sage ich und lecke das Salz von einer Ecke.

Nate stößt mich an und grinst. »Was hast du gerade noch mal übers Verdrängen von Gefühlen gesagt, Maeve?«

Mein Gesicht fängt an zu brennen, und mir fällt keine bessere Reaktion ein, als mir den Chip in einem Stück in den Mund zu schieben und aggressiv in Nates ungefähre Richtung zu kauen. Ich weiß manchmal wirklich nicht, was meine Schwester an ihm findet.

Verdammt. Meine Schwester. Mich durchzuckt ein schlechtes Gewissen, als ich auf dem Display meines Handys die lange Reihe trauriger Emojis sehe, die Bronwyn geschickt hat. Sorry! Hab natürlich nur Spaß gemacht. Nate sieht total unglücklich aus, antworte ich. Das tut er zwar nicht, weil niemand die »Mir doch alles egal«-Attitüde so meisterhaft beherrscht wie Nate Macauley, aber ich bin überzeugt, dass er es ist.

Phoebe Lawton, die in unserem Jahrgang ist und ebenfalls im Contigo als Kellnerin jobbt, stellt uns eine Karaffe Wasser hin und verteilt Gläser, bevor sie sich ans andere Tischende setzt – genau in dem Moment, in dem der erste Pitcher der gegnerischen Mannschaft zur Home Plate schlendert. Die Kamera zoomt auf Coopers Gesicht, als er seinen Handschuh hebt und die Augen verengt. »Komm schon, Coop«, murmelt Luis und klappt instinktiv die Finger seiner linken Hand zusammen, als würden sie im Handschuh eines Fängers stecken. »Zeig’s ihnen!«

Zwei Stunden später erfüllt das ganze Café ein einziges, aufgeregtes Stimmengewirr. Cooper hat eine nahezu makellose Performance hingelegt: acht Strike-outs, ein Walk, ein Hit, und kein einziger Run in sieben Innings. Die Cal State Fullerton Titans gehen mit drei Punkten Vorsprung in Führung, wofür sich aber niemand mehr groß interessiert, als Cooper jetzt gegen den ersten Relief Pitcher ausgewechselt wird.

»Das freut mich echt so für ihn.« Addy strahlt. »Er hat das so was von verdient nach … ihr wisst schon …« Ihr Lächeln verblasst. »Allem.«

Allem. Das Wort ist viel zu klein, um wiederzugeben, was passiert ist, nachdem Simon Kelleher vor knapp achtzehn Monaten beschlossen hat, seinen eigenen Tod zu inszenieren und ihn meiner Schwester, Cooper, Addy und Nate als Mord anzuhängen. In der Sondersendung von Mikhail Powers Investigates sind noch mal sämtliche schmerzhaften Details neu aufbereitet worden: von Simons Plan, dafür zu sorgen, dass er und die vier zur selben Zeit nachsitzen mussten, bis zu den dunklen Geheimnissen, die dann nach und nach durch seine App About That gelüftet wurden, damit es so aussah, als hätte jeder der anderen Nachsitzer einen triftigen Grund gehabt, seinen Tod zu wollen.

Ich habe mir die Sondersendung zusammen mit Bronwyn angeschaut, als sie über Thanksgiving zu Hause war, und fühlte mich sofort wieder ins letzte Jahr zurückkatapultiert, als die Geschichte zu einer Art landesweiten Obsession wurde und sich jeden Tag Übertragungswagen in unserer Einfahrt gedrängt haben. Ganz Amerika wusste, dass Bronwyn sich vorab die Prüfungsfragen besorgt hatte, um ihren Chemietest zu bestehen, dass Nate gedealt hatte, während er wegen Handels mit Drogen auf Bewährung war, und dass Addy ihren Freund Jake betrogen hatte – der sich als so großer Kontrollfreak entpuppte, dass er sich von Simon zu seinem Komplizen machen ließ. Cooper wurde fälschlicherweise beschuldigt, Steroide genommen zu haben, und anschließend geoutet, bevor er von sich aus so weit gewesen wäre, seiner Familie und seinen Freunden zu sagen, dass er schwul ist.

Das allein war schon ein absoluter Albtraum, aber nicht annähernd so schlimm, wie unter Mordverdacht zu stehen.

Gegen die vier wurden Ermittlungen eingeleitet, und alles entwickelte sich beinahe exakt so, wie Simon es geplant hatte – nur eins hatte er nicht vorausgeahnt: Bronwyn, Cooper, Addy und Nate wendeten sich nicht gegeneinander, sondern verbündeten sich. Schwer zu sagen, wie der heutige Abend aussehen würde, wenn sie sich damals nicht zusammengetan und auf eigene Faust Ermittlungen angestellt hätten. Ich glaube nicht, dass Cooper dann in seinem ersten College-Baseballspiel fast einen No-Hitter geworfen oder dass Bronwyn es nach Yale geschafft hätte. Nate würde jetzt wahrscheinlich im Gefängnis sitzen. Und Addy … ich will mir gar nicht vorstellen, was mit Addy wäre. Hauptsächlich deswegen, weil ich fürchte, dass sie dann gar nicht mehr da wäre.

Ich schaudere, und mein Blick fällt auf Luis, der mit entschlossenem Blick sein Glas hebt, als wäre er nicht bereit, sich von diesen düsteren Erinnerungen den Triumph seines besten Freundes vermiesen zu lassen. »Auf das Karma. Und auf Coop, der in seinem ersten College-Spiel allen gezeigt hat, wo der Hammer hängt.«

»Auf Cooper«, stimmt der restliche Tisch mit ein.

»Wir sollten alle zusammen mal zu einem Spiel von ihm fahren!«, ruft Addy. Sie zupft Nate am Ärmel, der sich gerade umschaut, als würde er nach einer Möglichkeit suchen, sich schleunigst wieder zu verziehen. »Und du kommst auch mit. Kneifen ist nicht.«

»Das ganze Baseballteam wird mitwollen«, sagt Luis, und Nate verzieht resigniert das Gesicht, weil Addy eine Naturgewalt ist, wenn sie es sich in den Kopf gesetzt hat, ihn aus seinem Schneckenhaus zu holen.

Phoebe, die näher an Knox und mich herangerutscht ist, nachdem ein paar andere aufgestanden sind, schenkt sich ein Glas Wasser ein. »Bayview ist anders ohne Simon, aber irgendwie auch wieder … nicht. Versteht ihr, was ich meine?«, sagt sie so leise, dass nur Knox und ich es hören. »Die Leute sind nicht netter geworden, nachdem der erste Schock vorbei war. Es gibt bloß keine About-That-App mehr, die uns jede Woche auf dem Laufenden hält, wer wieder irgendwas Skandalöses angestellt hat.«

»Ist nicht so, als würden seine Nachfolger nicht in den Startlöchern stehen«, gibt Knox zurück. Nach Simons Tod hat es eine Zeit lang tatsächlich ziemlich viele Nachahmer gegeben. Die meisten hielten sich nicht länger als ein paar Tage, wobei sich ein Blog – »Simon sagt …« – letzten Herbst fast einen Monat lang behaupten konnte, bevor die Schulleitung Wind davon bekam und dafür sorgte, dass er gelöscht wurde. Allerdings hatte das Ganze sowieso niemand wirklich ernst genommen, weil der Schüler, der den Blog ins Leben gerufen hatte – einer von den stillen Außenseitern, die kaum jemand kennt –, kein einziges Gerücht in Umlauf gebracht hatte, von dem nicht ohnehin schon alle wussten.

Genau das hat bei Simon Kelleher den Unterschied gemacht: Simon kannte Geheimnisse, von denen sonst niemand etwas ahnte, und wartete geduldig ab, bis er mit seinen Enthüllungen den dramatischsten Effekt und den größten Schmerz erzeugen konnte. Dabei ist es ihm perfekt gelungen, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er seine Mitschüler an der Bayview High gehasst hat; der einzige Ort, an dem er seinen Gefühlen freien Lauf ließ, war das Racheforum, auf das ich gestoßen bin, als ich nach seinem Tod anfing, ihm ein bisschen hinterherzuschnüffeln. Mir ist damals beim Lesen seiner Posts richtig schlecht geworden. Manchmal kriege ich jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich daran denke, wie wenig uns bewusst war, was es heißt, jemanden wie Simon zum Feind zu haben.

Es hätte alles auch ganz anders kommen können.

»Hey.« Knox stupst mich sanft an und holt mich ins Hier und Jetzt zurück. Ich blinzle, bis sein Gesicht wieder scharf gestellt ist. »Schau nicht so ernst. Was vorbei ist, ist vorbei. Ist doch so, oder?«

»Ist so«, sage ich und drehe mich auf meinem Stuhl um, als plötzlich ein lautes Stöhnen durch die Menge im Contigo geht. Es dauert ein paar Minuten, bis ich verstehe, was passiert ist, und mir wird das Herz schwer: Der Pitcher, der für Cooper eingewechselt wurde, hat die Läufer während des neunten Innings nicht von ihren Bases geholt und wurde gegen einen weiteren Pitcher ausgewechselt, der gerade einen Homerun vergeben hat. Ganz plötzlich hat sich der Vorsprung der Cal State in einen Walk-off mit einem Punkt Rückstand verwandelt. Die Spieler der gegnerischen Mannschaft umringen ihren Hitter auf der Homebase und werfen sich auf ihn, bis sie als fröhlicher Haufen am Boden liegen. Cooper muss auf seinen ersten Sieg im College-Baseball verzichten, obwohl er traumhaft gepitcht hat.

»Neeeeiiiin.« Luis vergräbt stöhnend den Kopf in den Händen, als würde ihm der Anblick körperliche Schmerzen bereiten. »Das ist doch Scheiße

Phoebe seufzt schwer. »Oh Mann, was für ein Pech. Aber nicht Coopers Fehler.«

Mein Blick findet den des einzigen Menschen am Tisch, auf dessen ungefilterte Reaktion ich mich immer verlassen kann: Nate. Er schaut von meinem angespannten Gesicht zu dem Salz, das immer noch auf dem Tisch verstreut ist, und deutet ein Kopfschütteln an, als wüsste er, welche abergläubische Wette ich mit mir selbst abgeschlossen hatte. Ich kann die Geste so klar deuten, als würde er laut sagen: Das hat absolut nichts zu bedeuten, Maeve. Es ist bloß ein Spiel.

Natürlich hat er recht. Trotzdem. Ich hätte mir so gewünscht, dass Cooper gewinnt.