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Handlung und Gespräche beruhen auf wahren Begebenheiten. Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte wurden Namen, Orte und Personen verändert.
© Piper Verlag GmbH, München 2020
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: Alpha STORYTELLING by Kai Kapitän; FinePic®, München
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Dem Guten
Meinen Beruf habe ich selbst erfunden. Ich bin Herkunftsberaterin und Menschenaufspürerin. Seit ich im Jahr 2000 den ersten privaten Personensuchdienst Deutschlands gründete, habe ich gemeinsam mit meinem Team über 4000 Menschen für meine Klienten gefunden. Ich habe schon als Kind gerne Gedulds- und Knobelspiele gespielt und es geliebt, festgezogene Knoten wieder aufzudröseln.
Die Freundin aus Kindertagen, die aus den Augen verlorene Urlaubsbekanntschaft, die leiblichen Eltern, weit entfernt lebende Geschwister oder eine alte Liebe. Meine Suchaufträge erhalte ich in der Regel von denjenigen, die einen für sie wichtigen Menschen aus den Augen verloren haben oder noch nie kennengelernt haben. Oft sind es Schicksalsschläge, die diese Menschen getrennt haben, manchmal aber auch aktive Entscheidungen oder die Flucht vor Konsequenzen. Häufig sind es historische Ereignisse oder Gegebenheiten – die Mauer, der Eiserne Vorhang, der Zweite Weltkrieg, die Alliiertenstationierung im Deutschland der Nachkriegszeit –, die Menschen zusammenführten, aber auch voneinander trennten. Und nicht selten sind es gesellschaftliche Konventionen, die etwa Mütter in den konservativen 50er- und 60er-Jahren dazu brachten, ihre nicht ehelichen Kinder zur Adoption freizugeben.
Entsprechend unterschiedlich gestalten sich auch die Suchen. Es gibt solche, da reicht der Blick ins Melderegister, um einen Kontakt herzustellen. Es gibt jedoch auch andere, die so verzwickt sind, dass jeder einzelne Schritt Wochen dauert. Das beginnt bei der Schreibweise des Namens des Gesuchten: Heißt er/sie nun Meier, Maier, Mayer, Meir, Meyr, Mayr oder Mair? Um hier auf die richtige Fährte zu kommen, muss ich viel umfangreicher recherchieren: Ich suche in alten Adressbüchern, kontaktiere die Archive der Meldeämter, löchere Standesbeamte, wälze akademische Arbeiten in Universitäten, klicke mich durchs Internet, schaue auf Google Maps, befrage Nachbarn oder Bekannte der Gesuchten. Dabei habe ich stets den Datenschutz im Hinterkopf und weiß, welche Formulierungen ich verwenden muss, um möglichst weit zu den gewünschten Informationen vorzudringen. Im Ausland sind die gesetzlichen Vorgaben zum Datenschutz anders als hier in Deutschland, was meine Arbeit in manchen Ländern schwerer und in anderen, wie zum Beispiel den USA, einfacher macht. Bei meinen Recherchen hilft mir mittlerweile ein internationales Netzwerk an Menschen, die ihre Büros rund um die Welt haben.
Jede Geschichte ist anders. In den meisten Fällen finde ich die gesuchte Person, und die Freude ist oft groß. Aber es gibt auch Suchen, bei denen der Mensch, um den es geht, bereits verstorben, mit einem anderen Menschen verheiratet oder einfach nicht bereit für eine Begegnung ist. Ein »Happy End« gibt es aber auch in diesen Situationen, denn quälende offene Fragen können endlich beantwortet und Schmerzen in einer Trauerphase verarbeitet werden. Denn nun hat man ja alles Menschenmögliche getan – diese Gewissheit verschafft den Suchenden innere Ruhe. Ich habe jedes Mal großen Respekt, wenn meine Klienten sich auf die Suche nach ihren biologischen Wurzeln machen. Denn diese Suche ist oft sehr aufreibend, emotional sowie zeitlich beanspruchend. Doch wie sie auch immer ausgeht: Letztlich ist sie heilend, weil sich Kreise schließen und der Blick nach vorne wieder offen ist.
Ich erhalte von Jahr zu Jahr mehr Anfragen. Das hat sicher auch damit zu tun, dass die Medien immer wieder über meine Arbeit berichten und die seit 2016 laufende Dokumentationsreihe Die Aufspürerin zusätzlich für Bekanntheit sorgt.
In diesem Buch beschreibe ich 17 der schönsten und bewegendsten Geschichten aus meinem Berufsalltag. Wie kommt es zu der gemeinsamen Motorradtour eines Rentnerpaares, das sich 40 Jahre lang nicht gesehen hat? Ist es möglich, dass Zwillinge, die zur Adoption freigegeben worden waren, jahrzehntelang nicht wussten, wer und wo ihre Mutter war? Gibt es eine größere Freude, als die alte Jugendliebe aus Norwegen in den Armen zu halten, die einem der Krieg erst zugetragen und dann wieder weggenommen hat? Wer rechnet schon damit, nicht nur von unbekannten Verwandten aufgespürt zu werden, sondern dann auch noch ein stattliches Erbe antreten zu dürfen? Welches dunkle Geheimnis ließ sich durch die Zusammenführung einer deutsch-niederländischen Familie lüften?
Dieses Buch handelt vom Suchen und Finden von ersehnten Menschen, davon, wie wichtig es ist, die eigenen Wurzeln zu kennen, und wie befreiend es sich anfühlt, sich Klarheit über die offenen Fragen in seinem Leben zu verschaffen.
Was im Jahr 2000 als fixe Idee begann, hat sich als meine Berufung entpuppt. Als ich mit 34 Jahren den Sprung in die Selbstständigkeit wagte, hatte ich noch keine Vorstellung davon, dass einmal mehr als 80 Prozent meiner Suchen Familiensuchen sein würden. Dass ich als ausgebildete Mediatorin in meinem Arbeitsalltag Genogramme zeichnen und mich mit familiensystemischen Fragen befassen würde. Ganz zufällig war meine Berufswahl übrigens nicht: Auch ich habe meinen leiblichen Vater erst mit 18 Jahren richtig kennengelernt. Zwar habe ich nicht darunter gelitten, dass ich ihn so lange nicht kannte, weil ich einen präsenten und liebevollen Stiefvater hatte. Aber als ich meinen biologischen Vater dann traf, war es doch eine unerwartet große Freude, die bis heute trägt. Es ist eine harmonische Vater-Tochter-Beziehung entstanden. Diese und andere persönliche Erfahrungen bilden die emotionale Grundlage für meine Arbeit. Trotz aller Professionalität berühren mich die teils sehr dramatischen, auch verwirrenden, manchmal verschreckenden, gar absurden Begegnungen und Erfahrungen bis heute zutiefst. Meine Tätigkeit hat oft einen therapeutischen Effekt für meine Klienten. Obwohl die Aufklärung ihrer biologischen Abstammung ihnen oft viel Kraft abverlangt. Ich kann gut nachvollziehen, was meine Klienten empfinden. Und so freue ich mich auch jedes Mal mit ihnen, wenn ich ein Wiedersehen oder ein erstes Treffen möglich machen konnte. Als Wegbegleiterin und Beraterin helfe ich Menschen, fehlende Bausteine in ihrer Identität zu finden und einzufügen, damit sie sich in ihrem Leben ganz zu Hause fühlen können. Ich empfinde das nicht nur als große Verantwortung, sondern auch als persönlich erfüllend für mich.
Eine Herkunftsklärung verläuft normalerweise in mehreren Phasen: Als Erstes lasse ich mir von meinem Klienten die gesamte Geschichte erzählen und versuche, alle relevanten Zusammenhänge zu verstehen und einzuordnen. Die zweite Phase verläuft in zwei parallelen Strängen: Einerseits die konkrete Suche nach der Person in Verzeichnissen von Ämtern, Archiven und Datenbanken sowie bei Menschen, die sie kennen könnten – dabei kann es vorkommen, dass ich schon mal ein ganzes Hamburger Viertel mit der Frage abtelefoniere, ob 1978 eine niederländische Tresenmitarbeiterin bekannt gewesen sei, deren Bruder eine Wurstfabrik gehabt habe. Andererseits suche ich in dieser Phase nach Dokumenten, die eher unwichtig erscheinen, aber Interessantes zur Biografie des Klienten und der sich damals zugetragenen Geschichte preisgeben können, so zum Beispiel Heirats- und Scheidungsunterlagen oder auch Nachlassakten, Geburts- oder Sterbeurkunden. In einer dritten Phase bereite ich die Anbahnung des Kontakts vor. Habe ich die aktuelle Adresse ermittelt, ist es wichtig, das soziale Gefüge um den nun Gefundenen zu berücksichtigen. In welchem Umfeld lebt der Mensch? Ist er verheiratet? Wenn ja, wie lange schon? Gibt es weitere Kinder? An dieser Stelle spielt die Beratung meiner Klienten eine besonders große Rolle. Ich begleite sie dabei, diplomatisch in den Erstkontakt zu gehen, durch den ja oft an lang gehüteten Familiengeheimnissen gerührt wird. Die letzte Phase ist die tatsächliche Kontaktaufnahme, die meist schriftlich erfolgt. Den Brief muss ich in einem Gleichgewicht aus Transparenz und Diskretion formulieren. Eine Antwort darauf enthält oft Fragen und, wenn Zweifel herrschen, den Wunsch nach Beweisen. Manche brauchen aber einfach nur Zeit, bis sie bereit sind, sich mit der neuen Situation zu konfrontieren.
Es gibt seit jeher Familien, in denen die rechtliche und die biologische Elternschaft nicht übereinstimmen. Angefangen von dem als Säugling am Nilufer ausgesetzten Mose bis hin zu Marilyn Monroe und Steve Jobs. Gerichte befassen sich immer wieder mit der Frage, wie weit Kindern der Zugang zu ihren biologischen Wurzeln ermöglicht werden muss. So ist international in der UN-Menschenrechtskonvention der Rechte der Kinder[1] und in einer Bundesverfassungsgerichtsentscheidung[2] in Deutschland verbrieft, dass jeder Mensch das »Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung« hat. Die Durchsetzung dieses Rechts ist im Laufe der Jahre zu einem echten Herzensanliegen von mir geworden. Wenn man, wie ich, mehrere Tausend Menschen gesprochen und erlebt hat, die nicht wissen, von wem sie abstammen, wächst ein Verständnis dafür, was es bedeuten muss, nichts oder nur die Hälfte über den eigenen Genpool zu wissen.
Einige werden sich vielleicht fragen: Wie verliert man seine Wurzeln?
Viele Aufträge betreffen die Suche nach dem leiblichen Vater. Die Suchenden, die zu mir kommen, stammen teilweise aus ungeplanten Schwangerschaften der Mutter. Hintergründe sind beispielsweise Seitensprünge, sogenannte One-Night-Stands und im schlimmsten Fall Vergewaltigungen.
Manchmal ist der leibliche Vater auch unbekannt, weil sich die Eltern sehr früh getrennt haben und ein anderer Mann die Vaterrolle übernommen hat. In manchen Familien wurde offener, in anderen weniger offen damit umgegangen.
Bei vielen Aufträgen sind die Klienten adoptiert und die Wurzeln sind aus diesem Grund nicht bekannt. Hier gibt es Fälle, bei denen das Jugendamt Kinder zugunsten des Kindeswohls aus der Herkunftsfamilie nehmen musste. Meist ist Überforderung in Verbindung mit einer eigenen belastenden Biografie der leiblichen Eltern Grund dafür.
Der Tod eines oder beider Elternteile, Krieg und Vertreibung sind weitere Gründe, aus denen Menschen ihre biologische Abstammung teilweise nicht bekannt ist.
Jüngere Betroffene haben durch ihre Entstehung mittels der Reproduktionsmedizin offene Fragen zu ihrer Herkunft. Hier wurde und wird das Thema Samenbanken öffentlich viel diskutiert. Aber auch die in Deutschland verbotene Leihmutterschaft kann später zu Fragen nach der eigenen Herkunft führen.
Obwohl es in unserer Gesellschaft recht häufig vorkommt, dass ein Kind nicht bei seinen leiblichen Eltern aufwächst, wird das Thema der erschwerten Identitätsfindung relativ wenig öffentlich diskutiert. Es wird kaum darüber gesprochen, was es für einen als Baby adoptierten Menschen bedeutet, wenn er erfährt, dass ihm seine wahre Identität vorenthalten wurde. Und dies auch noch von den Personen, denen er am meisten vertraut: seinen Eltern! Glücklicherweise werden Adoptierte heutzutage kaum mehr im Unklaren über ihre Herkunft gelassen. Doch bis in die 80er-Jahre war das Schweigen und Verheimlichen ganz normal. Mir ist bewusst, dass keiner der annehmenden Eltern aus böser Absicht geschwiegen hat. Sie wussten es einfach nicht besser, wurden dahingehend auch nicht beraten. Und vor lauter Glück über das Baby wurde die Frage, wie sich das Kind wohl mit seiner unbekannten genetischen Abstammung fühlt, erst mal ausgeblendet.
Dass es ein international verbrieftes Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung gibt, ist ein Segen. Und doch wird dieses Recht immer wieder konterkariert. Durch dubiose Praktiken bei Auslandsadoptionen und durch Grauzonen der Reproduktionsmedizin. Wenn zum Beispiel eine in Deutschland verbotene Eizellenspende im Ausland durchgeführt wird. Auch Babyklappen und anonyme Geburten, die für betroffene Mütter in Not enorm wichtig sind, bedeuten für die Kinder teilweise den Verlust ihres Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung.
Gerade Adoptivkinder aus der Nachkriegszeit bis in die 80er-Jahre tragen oft eine große Last. Sie mussten einerseits der Rolle des Wunschkindes gerecht werden und gleichzeitig aushalten, ihren Eltern gar nicht ähnlich zu sehen.
Ich habe mit vielen Adoptierten gesprochen, bei denen die Adoption eigentlich ganz o. k. verlief, aber auf der Gefühlsebene doch nicht so gut gelungen ist. Das betrifft häufig den Aufbau einer sicheren Eltern-Kind-Bindung. Zu wenig bis gar nicht wurde von den annehmenden Eltern die eigene Kinderlosigkeit betrauert. Das familiäre Umfeld ließ das Kind spüren: »Du gehörst nicht dazu.« Hinzu kommt eine oftmals abschätzige Haltung gegenüber der Herkunftsfamilie. Dabei verdienen Frauen, die ihr Kind zur Adoption freigeben, Mitgefühl und Respekt.
Viele der von uns gesuchten Eltern sind »Kinder der 50er-Jahre«. Sie sind erzogen worden von Menschen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, manchmal sogar auch noch den Ersten. Sie sind aufgewachsen in einer Zeit, in der über Gefühle nicht gesprochen wurde. Es wurden viele Themen tabuisiert, über die wir heute selbstverständlich sprechen. Aus heutiger Sicht kann man es vielleicht so nennen: Sie sind in einer »gefühlstauben Gesellschaft« aufgewachsen.
Frauen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit Soldaten der Besatzungsmächte eingelassen haben, wurden gesellschaftlich geächtet. In Frankreich wurden Frauen, die sich mit deutschen Soldaten eingelassen hatten, sogar öffentlich auf dem Marktplatz die Haare abgeschoren. Kinder, die aus Verbindungen mit Besatzungssoldaten entstanden sind, wurden »Kinder des Feindes« oder gar »Kinder der Schande« genannt. Aus diesen Konstellationen kommen die meisten Aufträge. Deshalb haben auch gleich drei Geschichten im Zusammenhang mit US-Besatzungssoldaten ihren Weg in dieses Buch gefunden.
Bis zur »sexuellen Befreiung« Mitte/Ende der 60er-Jahre galt das Verständnis »kein Sex vor der Ehe«. Die Menschen waren sexuell teilweise nicht aufgeklärt, das heißt, sie wussten nicht, dass sie ein Kind zeugen konnten, wenn sie miteinander schliefen. Frauen, die nicht ehelich schwanger wurden, sind teilweise davon ausgegangen, dass der Mann, der sie zum Intimverkehr überredet hatte, sie selbstverständlich auch heiraten werde. War die Liaison nicht mit ernsthaften Absichten verbunden und es ist ein Kind daraus entstanden, wurde häufig versucht, schnell einen Ehemann zu finden. Kinder alleine zu erziehen war seinerzeit schlichtweg unmöglich. Die Mütter waren erst mit 21 volljährig, sodass Entscheidungen über den Verbleib des Kindes noch von ihren eigenen Eltern getroffen wurden. Ein üblicher Weg war: Das Kind wurde weit weg von zu Hause ausgetragen und entbunden und dann zur Adoption freigegeben. Die Nachbarn und Bekannten haben so nichts davon mitbekommen, und der gute Ruf der Familie konnte gewahrt bleiben.
Die Arbeit als Herkunftsberaterin bedeutet immer auch ein Stück, zu einer Heilung beizutragen. Heilung bei den abgegebenen Kindern und Heilung bei den abgebenden Eltern. Sich kennenzulernen und die Trennung gemeinsam aufzuarbeiten, halte ich für eine große Chance, mit sich ins Reine zu kommen. Dass nicht jeder diese Chance wahrnimmt, weil er vielleicht zu verstrickt ist in eine jahrzehntelang aufgebaute und gepflegte Lügengeschichte, ist etwas anderes.
Unzählige Kinder, die während des Zweiten Weltkriegs gezeugt wurden, kennen ihre Väter nicht. In Zeiten, in denen es nur darauf ankam, den Tag zu überleben, lebte man im Hier und Jetzt. Liebesgeschichten boten Trost und Heimat, wo Verunsicherung und Einsamkeit herrschten. Aber auch Vergewaltigungen führten zu vielen ungewollten Schwangerschaften. Viele Kinder wurden auch von Soldaten gezeugt, die entweder weiterzogen oder in ihre Länder zurückgingen, manche, bevor sie überhaupt wussten, dass ihre Partnerinnen schwanger waren.
Auch Norbert kannte seinen Vater nicht. Er hatte eine Folge von Die Aufspürerin im SWR gesehen und fühlte sich durch die darin gezeigte Geschichte einer Frau, die ihren für sie unbekannten Vater mit meiner Hilfe ausfindig machen konnte, ermutigt, sich ebenfalls auf die Suche nach seinen Wurzeln zu begeben. Er rief mich gleich am Tag darauf an.
»Ich will nun endlich wissen, wer mein Vater war«, sagte er ohne Umschweife. »Das wird mit 72 Jahren doch auch endlich mal Zeit, oder?«, witzelte er.
Ich merkte sofort, dass ich es mit einem humorvollen Menschen zu tun hatte. »Ja«, stimmte ich ihm zu, »höchste Zeit!«
»Gut, dann ist das hier Ihr nächster Auftrag. Na, dann machen wir uns mal an die Arbeit! Was müssen Sie wissen?«
Norbert war direkt, das mochte ich. Ohne dass ich nachfragte, erzählte er mir noch, dass er Musiklehrer war und selbst Oboe und Fagott spielte. Er war verheiratet und hatte drei Kinder. Und er war schon zweifacher Opa.
Ich bat ihn in einem ersten Schritt, Notizen von allem zu machen, was ihm zu seinem Vater einfiel, beziehungsweise von allem, was seine Mutter, die bereits verstorben war, über ihn erzählt hatte.
»Das brauche ich gar nicht tun. Ich habe alles hier in meinem Kopf parat. Ich kann sofort loslegen.«
Ich stellte mir ihn vor, wie er selbstbewusst mit den Fingerspitzen an seinen Kopf tippte und dabei aufrecht dastand. Okay, dachte ich mir, warum nicht jetzt gleich, und verlegte meine Postablage auf später. »Gut, dann schießen Sie mal los!« Ich saß an meinem Computer und tippte mit, was Norbert mir über den Lautsprecher meines Telefons erzählte.
»Immer wieder hat meine Mutter von meinem Vater erzählt, was für ein stattlicher Mann er gewesen sei, wie geistreich er sich ausgedrückt habe, wie lustig er gewesen sei und wie ähnlich ich ihm sei und überhaupt wie wunderbar alles hätte werden können, wenn die Russen nicht so schnell nach Breslau vorgerückt wären. Ja, das war ihre Weltsicht. Sie hing eigentlich ihr Leben lang dem Jahr 1944 nach, dem Jahr, in dem sie mit meinem Vater zusammen gewesen war, ihr ganz privates Glücksjahr. Sie stammte aus einem kleinen schlesischen Ort. Aus Angst vor den Russen war sie mit meiner Halbschwester Rosi, die damals vier Jahre alt war, zu einer ihrer Tanten nach Breslau geflohen. Ihr Mann, Heinrich, galt an der Front als vermisst. Sie war Näherin und hoffte auch, in der Stadt eine Anstellung zu finden. Und in all diesem Chaos ist sie meinem Vater begegnet. Sie hat ihn in einem Café kennengelernt, den gut aussehenden jungen Jan. Er erzählte ihr, dass er Architekt sei und Künstler. Schon nach wenigen Wochen zog meine Mutter wohl zu ihm in seine Einzimmerwohnung. Er hatte eine feste Stelle, immer genug Geld, um sie zum Essen einzuladen und ihr Geschenke mitzubringen. Das gefiel ihr bestimmt. Ich bin mir sicher, dass meine Mutter mit ihm glücklich war und sich eine gemeinsame Zukunft ausmalte. Aber sie hätte sich doch fragen müssen, warum ein junger, gesunder Mann damals nicht als Soldat an der Front war! Das kommt mir komisch vor. Vielleicht wollte sie ihm gar keine unangenehmen Fragen stellen. Sie war über beide Ohren in ihn verliebt und wollte sich wahrscheinlich vormachen, dass nun alles gut würde. Doch das Glück ihrer Romanze währte nur kurz. Eines Abends brach die kleine Welt meiner Mutter wieder zusammen. Jan war weg. Und kam auch nicht wieder. Kein Abschiedsbrief. Nichts. Und jetzt wird es seltsam: Alle seine Sachen waren noch da. Als meine Mutter sie in den folgenden Tagen, als sie schon ahnte, dass er nicht zurückkehren würde, durchsah, fand sie unter anderem eine vergoldete Uhr, Malutensilien und ein paar wenige private Fotos, darunter auch ein Foto einer Frau, das wohl in Rotterdam aufgenommen worden war. Es stand eine Adresse auf der Rückseite. Es dämmerte meiner Mutter, dass Jan nicht der war, für den sie ihn gehalten hatte: Was hatte Jan mit Holland zu tun? War Jan etwa Niederländer? Aber er sprach doch ein akzentfreies Deutsch … Ein niederländischer Zivilist in Schlesien zu dieser Zeit? Meine Mutter war fassungslos und ratlos. Wer war Jan wirklich? Sie vermutete nun, dass sein plötzliches Verschwinden etwas damit zu tun haben musste, dass die Russen mit ihrer Roten Armee kurz vor Breslau standen. War er ein Agent? Oder nur ein abenteuerlustiger Lebenskünstler? In jedem Fall war er weg. Sie war am Boden zerstört. Und dann machte auch noch ich mich bemerkbar. Ohne Geld, mit einer kleinen Tochter an der Hand und von Schwangerschaftsübelkeit geplagt, machte sie sich im Januar 1945 auf die beschwerliche Flucht in Richtung Westen. Sie hatte noch eine Cousine in Altenburg in Thüringen. Das war ihr erstes Etappenziel.«
Norbert erzählte so flüssig, dass ich kaum mit dem Tippen hinterherkam. Er gab weiter, was er wohl so oft gehört hatte, dass es bei ihm in Fleisch und Blut übergegangen war.
»Stellen Sie sich vor, als ich vier Jahre alt war, kam der Mann meiner Mutter unerwartet aus seiner Kriegsgefangenschaft in Russland zurück. Er hatte uns über das Rote Kreuz gefunden. Wir lebten mittlerweile in Würzburg, wo wir bei einer weiteren Cousine meiner Mutter Unterschlupf gefunden hatten. Meine Mutter hatte sich dort nach dem Krieg als Schneiderin selbstständig gemacht. Und dann kam ›Vati‹. So nannte auch ich ihren Mann, obgleich mir von Anfang an klar gesagt wurde, dass er nur der Vater meiner Schwester sei, nicht meiner. Und als ich zehn und alt genug war, das zu verstehen, hat meine Mutter es mir auch erklärt. Da gab es keine Geheimnisse. Vati schien damit keine Probleme zu haben. Er war auch mir gegenüber nie feindselig, sondern eigentlich genauso liebevoll wie Rosi gegenüber.«
»Hat Ihre Mutter eigentlich versucht, Ihren Vater zu finden?«, unterbrach ich ihn, denn ich bemühte mich, noch mehr Informationen über Jan zu bekommen. Bisher gab es ja nicht viele Daten zu ihm.
»Diesen Teil der Geschichte hat mir meine Mutter als Kind nie erzählt. Wie gesagt, sie trauerte ja ihr Leben lang insgeheim den paar gemeinsamen Monaten in Breslau nach. Aber auf mein Drängen hin, ein paar Jahre vor ihrem Tod, erzählte sie mir, dass sie gleich nach dem Krieg, als sie noch davon ausging, dass ihr Mann tot sei, eine Klage auf Feststellung der Vaterschaft eingereicht hatte. Ohne Erfolg. Sie hatte wohl die Antwort bekommen, dass niederländische Soldaten nicht für im Krieg gezeugte Kinder aufkommen müssten. Um mögliche Ansprüche rechtlich geltend zu machen, fehlte ihr das notwendige Geld. Also ließ sie es dabei bewenden. Die Vaterschaft blieb amtlich offen. Ich habe nach ihrem Tod dazu auch keinerlei Unterlagen gefunden. Keine Ahnung, ob das alles überhaupt stimmte. Allerdings hatte meine Mutter mir Jan als zweiten Vornamen gegeben. Obwohl sie mir gegenüber betonte, dass Jan ihre große Liebe gewesen sei, erinnere ich mich doch auch an eine gewisse Bitterkeit, die manchmal bei allem Schwärmen für meinen Vater durchkam. Sie sagte einmal zu mir, dass er eines Tages schon sehen werde, was für ein fescher Mann aus seinem Sohn geworden sei, auch ohne seine Hilfe.«
»Was ist mit dieser Adresse auf dem Foto? Hat sie dort nie hingeschrieben?«, warf ich ein. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass eine Frau, die anscheinend eine solch große Liebe erlebt und ein Kind mit diesem Geliebten hatte, nicht wenigstens versuchen würde herauszufinden, warum er in einer Nacht- und Nebelaktion verschwunden war.
»Sie hat nie etwas davon gesagt. Vielleicht wollte sie aber auch gar nichts Genaues wissen. Vielleicht fürchtete sie, dass Jan verheiratet war. Vielleicht wollte sie sich nicht bloßstellen. Vielleicht war sie dazu zu stolz«, überlegte Norbert laut.
»Und wie war das für Sie? Zu wissen, dass Ihr Vati gar nicht Ihr Vater war, und Ihren biologischen Vater nicht zu kennen?«, wollte ich wissen.
»Ich habe ihn als Kind nie vermisst oder darunter gelitten, ihn nicht zu kennen. Ich kannte es ja nicht anders. Und, wie gesagt, Vati war ja da. Das genügte mir. Erst als ich erwachsen war, kam mir mehr aus Neugier als aus irgendwelchen seelischen Nöten der Gedanke, mich auf Spurensuche nach Jan zu begeben. Es fing an, mich zu interessieren, was für ein Mensch er war, was er über die Vergangenheit dachte, ob er eine Familie und ich womöglich weitere Halbgeschwister hatte. Allerdings hielt mich der Gedanke, in eine fremde Familie, die von meiner Existenz womöglich nichts weiß, einzudringen, immer davon ab, etwas zu unternehmen. Außerdem ging ich immer davon aus, dass er schon tot sein müsste. Aber das war vielleicht auch ein innerer Vorwand, nicht den Mut aufbringen zu müssen, mich mit ihm zu konfrontieren. Vielleicht ging es mir wie meiner Mutter: Ich wollte es auch vermeiden, abgewiesen zu werden.«
»Ja, diese Gefahr besteht leider immer, wenn man Menschen sucht und findet, die sich vor langer Zeit von einem verabschiedet haben oder gar nichts von einem wissen«, bestätigte ich ihm.
»Also, Sie sehen, das Thema Vater war eigentlich abgehakt. Und dann kommen Sie plötzlich daher. Direkt in mein Wohnzimmer. Durch den Fernseher.«
Ich musste lachen.
»Was mich an Ihrer Sendung beeindruckt hat, war, dass die Suche, die dort gezeigt wurde, relativ sachlich ablief ohne ein emotional getränktes Drehbuch im Rücken. Niemand drückte künstlich auf die Tränendrüse. Aber Sie waren auch nicht kalt oder nur rational. Die Mischung stimmte einfach. Da wusste ich: Jetzt geht es los. Diese Frau wird mir helfen. Das werden Sie doch, oder?« Nun lachte auch Norbert.
»Ich werde mein Bestes tun, um Ihren Vater zu finden«, versprach ich.
»Ach übrigens, ich fahre demnächst mit dem Zug durch Frankfurt, dann bringe ich Ihnen die Fotos vorbei.«
Darüber war ich froh, denn ich bevorzuge immer persönliche Treffen mit meinen Klienten. Ich kann mich dann besser in sie hineinversetzen und ihre Suche auch emotional besser begleiten.
Das Treffen mit Norbert dauerte allerdings nicht sehr lang. Er hatte nur eine halbe Stunde Zeit, während er auf seinen Anschlusszug nach Trier wartete, wo er seine Tochter besuchen wollte. Norbert war groß und ein heller Typ, mit vielen Sommersprossen im Gesicht und auf den Armen. Man konnte sich den holländischen Einschlag durchaus vorstellen, wenn man ihn sah. Er lachte schon von Weitem, als er mich erkannte. »Jetzt bin ich aber mal gespannt, was Sie herausfinden werden!«, kam er fast stürmisch auf mich zu. Er drückte mir einen Umschlag mit den Fotos in die Hand. »Aber nicht verlieren!«, witzelte er.
Die Adresse auf dem Foto von Norberts Vater war Gold wert. Selten beginnt eine Suche mit so eindeutigen Hinweisen. Es war fast ein Leichtes, Jan auf die Spur zu kommen. Im Stadtarchiv in Rotterdam konnte der Mitarbeiter, den ich gebeten hatte, nach der Adresse in den alten Verzeichnissen der 40er-Jahre zu suchen, Jan sofort zuordnen. Leider war es so, wie Norbert es schon erwartet hatte: Sein leiblicher Vater war bereits seit vielen Jahren tot.
Noch bevor ich Norbert Bescheid gab, versuchte ich so schnell wie möglich herauszufinden, ob Jan eine Familie hatte. So konnte ich die traurige Nachricht vielleicht mit hoffnungsvollen Aspekten überbringen. Norbert hatte mir ausdrücklich den Auftrag gegeben, auch Halbgeschwister ausfindig zu machen, falls es welche gäbe. Er stellte sich vor, durch sie etwas über den Vater zu erfahren und endlich das Geheimnis zu lüften, warum dieser damals in Breslau gewesen war und warum er von dort ohne Nachricht an seine Mutter wieder verschwunden war.
Eine ergiebige Quelle für Informationen über Verwandte sind für gewöhnlich Todesanzeigen. Doch der Todesfall lag schon so lange zurück. Und ich hatte ja keine Ahnung, ob eine Anzeige geschaltet worden war. Und wenn ja, in einer regionalen oder überregionalen Zeitung? Im Internet recherchierte ich also zunächst die Zeitungslandschaft in Rotterdam. Ich hatte Glück. Es gab nur eine Zeitung mit Hauptsitz in Rotterdam, und dies war zugleich die auflagenstärkste Zeitung der Niederlande. Eine E-Mail mit der Frage nach der Todesanzeige wurde prompt beantwortet. Es gab tatsächlich einen Nachruf auf Jan. Und siehe da: Norbert hatte offensichtlich drei Halbgeschwister. Mit ihren auf der Anzeige aufgeführten vollständigen Namen konnte ich mithilfe von Telefonbüchern und Interneteinträgen zügig die aktuellen Adressen und sogar ihr Alter herausfinden.
Eine Schwester war zwei Jahre älter als Norbert. Die anderen beiden bedeutend jünger. Jetzt war es an der Zeit, Norbert zu informieren. Der reagierte wieder mit Humor: »Na also, geht doch!« Über den Tod seines Vaters war er natürlich nicht überrascht. Er hatte bei dem Alter gar nicht mehr damit gerechnet, ihn lebendig zu finden. Über die Halbgeschwister freute er sich allerdings sehr: »Nun habe ich also eine ältere Schwester! Und endlich bin ich nicht mehr der Jüngste!«
Wir überlegten jetzt gemeinsam, wie wir auf die Geschwister zugehen könnten. Sollte ich erst einmal vorfühlen? Oder wäre es besser, gleich ein paar persönliche Zeilen von Norbert weiterzuleiten? Er entschied sich dafür, selbst einen Brief zu schreiben. Ich war beeindruckt, wie beherzt er an die Sache heranging. Viele Klienten brauchen an dieser Stelle erst einmal Bedenkzeit. Norberts Brief war keine zwei Wochen später fertig. Ich ließ ihn ins Niederländische übersetzen und schickte ihn in dreifacher Ausfertigung zusammen mit je einem Foto von Norbert verschlossen mit einem Begleitschreiben meinerseits ab. Nun waren drei Briefe an drei verschiedene Adressen in Rotterdam unterwegs. Es wurde spannend.
Schon nach wenigen Tagen rief mich Norbert ganz enthusiastisch an: »Mareike, meine ältere Schwester, hat mir geschrieben! Auf Deutsch!« Im Namen aller Geschwister teilte sie Norbert mit, dass sie sich sehr über seinen Brief gefreut hätten und dass sie ihn sehr gerne kennenlernen würden. Allerdings stand wohl auch in dem Brief, dass sie froh seien, dass Norbert sich erst jetzt, wo auch ihre Mutter schon tot sei, gemeldet habe. Niemand hatte eine Ahnung davon gehabt, dass Norbert existierte. Mareike schrieb, dass sie nicht sicher sei, wie ihre Mutter reagiert hätte. Sie vermutete, dass es sie schwer belastet hätte zu hören, dass ihr Mann sie betrogen und sogar ein Kind gezeugt hatte. Denn sie sei bereits seit 1941 mit ihm verheiratet gewesen. »Sehen Sie, so etwas hatte ich damals schon geahnt. Vielleicht war es also auch gut so, dass ich wegen meiner Zweifel nicht früher aktiv geworden bin. Aber jetzt fahre ich hin!«
Als Norbert mich wieder kontaktierte, kam er gerade von seinem Besuch in Rotterdam zurück. »Ich muss Ihnen einfach gleich erzählen, wie schön es war. Wir vier Geschwister haben uns zuerst ohne unsere Familien allein in einem Café getroffen. Sie werden es nicht glauben: Wir sind uns einfach in die Arme gefallen, ohne uns je vorher gesehen zu haben. Können Sie sich das vorstellen? Mir sind die Tränen gekommen, und den anderen auch. Zuerst haben wir fast gar nicht über unseren Vater gesprochen, sondern uns erzählt, wie wir leben, was wir beruflich gemacht haben und was unsere Kinder tun. Doch in den Tagen darauf trafen wir uns reihum zu Hause bei den Geschwistern. Meine Frau war auch dabei. Wir wurden mit einer vertrauten Offenheit behandelt, als ob wir uns schon lange kennen würden. Sie zeigten mir viele Fotos von früher, die ich alle gleich abfotografiert habe. Und dann konnte ich all die Fragen stellen, die mir schon so lange auf der Seele brannten.«
Allerdings bekam Norbert nicht auf alle Fragen eindeutige Antworten, weil auch Jans anderen Kindern nicht ganz klar war, was ihr Vater in Breslau genau getan hatte. Sie wussten, dass er als junger Mann 1939 freiwillig zur niederländischen Armee gegangen war und dort unter anderem ein neues System für die Verwaltung von Landkarten einführte. An der Front war er auch. Schon nach kurzer Zeit allerdings geriet er schwer verletzt in deutsche Gefangenschaft, aus der er 1941 wieder entlassen wurde. Er kehrte nach Rotterdam zurück und begann, Architektur zu studieren. Einen Abschluss konnte er wegen der Kriegswirren nicht machen. Aber er heiratete in dieser Zeit und bekam seine erste Tochter. Ende 1943 ging er dann nach Breslau, um dort in einem Unternehmen zu arbeiten, in dem Radaranlagen gefertigt wurden. Aber genauso wie Norbert konnten sich die Geschwister bis heute keinen Reim darauf machen, warum er als Zivilist in das Land der Feinde ging, um dort sogar für sie zu arbeiten. Aber als Spion konnten sie ihn überhaupt nicht einordnen. Eher als Kollaborateur. Sie hatten ihre Mutter einmal danach gefragt. Doch sie konnte – oder wollte – ihnen keine Antwort darauf geben. Auf jeden Fall begann dann die Zeit, in der Norberts Mutter mit Jan zusammenlebte. Doch warum das plötzliche Verschwinden? Dafür gab es eine Erklärung: »Mein Vater hatte meinen Geschwistern wohl einmal erzählt, dass er zwei Arbeiter beobachtet hatte, die Produktionsgüter aus dem Lager der Firma gestohlen hatten, um sie zu Geld zu machen. Als die es bemerkten, schwärzten sie unseren Vater an. Er wurde verhört, und ihm drohte eine Festnahme. Da wohl kurze Zeit zuvor aus demselben Grund bereits zwei Niederländer exekutiert worden waren, bekam es mein Vater mit der Angst zu tun und floh, so schnell er konnte. Und ließ seine Habseligkeiten in der Wohnung zurück, wo meine Mutter sie später an sich nahm.«
Ich hörte gebannt zu, wie Norbert Stück für Stück die Vergangenheit seines Vaters zusammensetzte. »Was mein Vater seiner Familie von seiner Flucht aus Breslau erzählte, war sehr dramatisch. In Dresden, wo er durchkam, überlebte er laut seinen Erzählungen den schweren Bombenangriff vom 13. bis 15. Februar 1945 im Keller der Semperoper. Und Anfang Mai soll er kurz nach Kriegsende wohl für die Amerikaner als Dolmetscher im Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar tätig gewesen sein. Deshalb kam er wohl später als die meisten holländischen Soldaten wieder zurück nach Hause.« Beweise hätten Jans Kinder dafür allerdings nicht. Wieder zurück in Holland, verlief Jans Leben in geordneten Bahnen und ohne dramatische Ereignisse. Er begann, als Handelsvertreter zu arbeiten, und baute sich eine bescheidene Existenz auf. In seiner Freizeit zeichnete er viel. Die Familie wuchs und brauchte Platz. Also kaufte er in den 50er-Jahren ein Reihenhaus in einem Rotterdamer Vorort und lebte dort bis zu seinem Tod. Anscheinend kam Jan gut mit seinen Kindern und seiner Frau aus. Die vielen Fotos in den bunten Alben zeigten alle eine ausgelassene Stimmung, eine glückliche Familie.
»Haben Ihre Geschwister wirklich nichts von der Beziehung Ihres Vaters zu Ihrer Mutter gewusst?«, hakte ich noch mal nach.
»Nein, anscheinend nicht. Mein Vater hatte ja auch nichts aus Breslau mitgenommen, weil er direkt von der Firma aus geflohen war, ohne noch einmal nach Hause zu gehen. Sein einziges Hab und Gut auf der Flucht waren seine Kleider und ein bisschen Geld. Es konnte also auch keinen Hinweis auf meine Mutter geben. Und sie hatte ihm ja nie an die bekannte Adresse auf dem Foto geschrieben. Also ging er heim und lebte sein Leben weiter, als wäre in Breslau nichts gewesen.«
»Aber dann wusste Ihr Vater ja auch nichts davon, dass Ihre Mutter schwanger mit Ihnen war. Und so hat er auch nur Ihre Mutter sitzen gelassen, nicht aber Sie. Und weil Ihre Mutter sich auch sofort, nachdem er verschwunden war, selbst auf die Flucht begeben musste, hat er ja gar nicht gewusst, wo er sie hätte finden sollen, wenn er das gewollt hätte«, fügte ich eins und eins zusammen.
»Das stimmt wohl. Aber schlimm genug, dass er ihr nicht Bescheid gegeben hat, bevor er sich aus dem Staub gemacht hat. Das wäre doch wohl sicher gegangen.«
»Vielleicht hat er gefürchtet, dass er sich von Ihrer Mutter nicht hätte losreißen können? Vielleicht musste er deshalb diesen rigorosen Schnitt machen?« Leider würde Norbert das alles nicht mehr erfahren.
Norbert schien erleichtert. Er hatte nun den fehlenden Baustein seiner Vergangenheit gefunden. Das genügte ihm. Und er freute sich sehr darüber, seine Halbgeschwister kennengelernt zu haben. »Wir waren uns alle einig, dass wir in Kontakt bleiben wollen. Auch meine andere Halbschwester Rosi möchte mit ihrer Familie zum nächsten Familientreffen kommen. Das wird dann wohl hier bei uns stattfinden. Hoffentlich bald, denn wir sind ja alle nicht mehr die Jüngsten. In unserem Alter soll man nichts mehr aufschieben.«
Jede Wurzelsuche birgt mindestens eine Überraschung. Und dramatische Wendungen gehören zum Standard. Oft finden meine Klienten auch nicht das, was sie erhofft, oder die Person, auf deren Suche sie sich ursprünglich gemacht haben. Stattdessen hält das Leben für diejenigen, die die Initiative ergreifen, immer wieder erstaunliche Geschenke bereit.
Auch Paula ging es so. Ihre erste Kontaktaufnahme klang erst mal wenig motiviert. Ich erhielt von ihr eine E-Mail mit lediglich zwei Sätzen: »Können Sie mir dabei helfen, meinen leiblichen Vater zu finden? Ich weiß weder, wer er ist, noch, wo er wohnt.« Als ich ihr das positiv beantwortete, machte sich die 50-jährige, aber bedeutend jünger wirkende, große, athletisch gebaute Frau mit schulterlangen braunen Haaren auf den Weg zu mir. Da wusste sie natürlich noch nicht, welche Tür sich am Ende dieser Suche für sie öffnen würde. Ihr ging es am Anfang einzig darum, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wer ihr leiblicher Vater war. Sie klang weder aufgeregt noch verzweifelt, eher nüchtern und wenig emotional. »Ich will einfach nur die fehlenden Puzzlestücke in meinem Leben finden und alle Teile zu einem Ganzen zusammensetzen können«, sagte sie mit ruhiger Stimme und einem unverkennbar bayerischen Akzent. Sie war in Frankfurt geboren und kehrte also an den Ort ihrer Geburt zurück, an dem sich zufälligerweise auch mein Büro befindet. Ein gutes Omen.
Paulas Geschichte beginnt wie die vieler meiner Klienten: Kurz nach ihrer Geburt in Frankfurt war sie von ihrer Mutter zur Adoption freigegeben worden. Die Lebensumstände der leiblichen Mutter hatten es offenbar nicht zugelassen, selbst für ihr Kind zu sorgen. Glücklicherweise fand das Jugendamt schnell passende Eltern für Paula. Diese gingen mit der Adoption von Anfang an transparent um. Oft erzählten sie der Heranwachsenden davon, wie sie sie als Baby direkt aus der Klinik abgeholt und zu sich nach Hause gebracht hätten, voller Glück, weil sie sich so sehr ein Kind gewünscht hätten. In dieser liebevollen Atmosphäre wuchs die Adoptivtochter beschützt und in jeder Hinsicht gefördert auf. Als Einzelkind galt ihr alle Aufmerksamkeit in der Familie. »Es hat mir nie an etwas gefehlt. Im Gegenteil: Ich hatte eine richtig schöne Kindheit«, erzählte Paula. Ich merkte ihr an, wie dieses ihr ermöglichte Urvertrauen sie zu einer selbstbewussten Frau gemacht hat, die fest in ihrem Leben steht. Sie lebe in München, sei verheiratet und habe zwei Töchter. Auch in ihrem Beruf als Gymnasiallehrerin fühle sie sich wohl, sagte sie. Aber wieso gerade jetzt das Interesse an ihrer Vergangenheit?
Vor einem Jahr war ihre Adoptivmutter verstorben, auch ihr Adoptivvater lebte schon seit vier Jahren nicht mehr. Jetzt, wo sie keine Gefühle bei ihnen mehr zu verletzen fürchten musste, wo es auch keine möglichen Loyalitätskonflikte mehr gab, wollte sie ihrer Herkunft auf die Spur kommen. Ohne Stress, ohne Druck, ohne Eile. Ich hatte Mitgefühl mit Paula. So lange hatte sie ihren Wunsch zu suchen unterdrückt. Aber ich freute mich auf die Recherche. Denn Paula wirkte ziemlich entspannt. Oft fühlen sich meine Klienten unter einem gewissen Druck, wenn sie sich einmal – endlich – für die Suche nach ihren Wurzeln entschieden haben. Einige wollen dann sofort Klarheit und am besten gleich morgen Antworten. Und nicht noch länger warten in der Ungewissheit. Diesen Druck kann ich häufig deutlich spüren. Doch in einigen Fällen dauert es lange, bis Ergebnisse auf dem Tisch liegen, weil es doch viele Hürden zu nehmen gilt und sich erst nach geraumer Zeit Kreise schließen lassen. Zur Wurzelsuche braucht man oft einfach Geduld. Paula schien davon genug zu haben. Und so machten wir uns in Ruhe daran, alle Fakten zu sammeln, die meine Klientin wusste oder sogar belegen konnte. Sie hatte ein Bündel vergilbte Unterlagen mitgebracht, das sie von ihren Adoptiveltern bekommen hatte, als sie zwölf Jahre alt gewesen war. »Das ist alles, was ich von meinen leiblichen Eltern besitze«, sagte sie, während sie ihre Geburtsurkunde, die Bescheinigung ihrer Wohnortsummeldung von Frankfurt nach München sowie ein Foto ihres leiblichen Vaters sorgfältig vor mir ausbreitete. Ich sortierte: ihre Geburtsurkunde, ein notarieller Beschluss zu ihrer Adoption, ein Impfpass und eine Urkunde, in der eine Namensänderung von Stephanie auf Paula dokumentiert war. Stephanie, dachte ich bei mir und fand, dass beide Namen zu ihr passten. Ich fragte sie nicht, welchen Namen sie bevorzugte. Heute ging es darum, die Daten zu ihrer Suche aufzunehmen. Die Tatsache, dass ihr Name geändert wurde, notierte ich in dem Genogramm, das ich für jede Herkunftsklärung erstelle. Vielleicht würde die Namensänderung im weiteren Verlauf noch eine Rolle spielen. Vielleicht auch nicht.
USUSA