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Die Sache war immer gefährlich. Von hinten ein Drängler, von vorne ein Kompromissloser, aus dem Hinterhalt ein Egoist und von links und rechts mehrere Chaoten! Wer bei Feinkost Meyer in Wenningstedt nur schnell eine kleine Besorgung machen wollte, durfte eben nicht ausgerechnet zu dieser Zeit dort erscheinen. Nicht an einem sonnigen, aber kühlen Vorfrühlingstag, wenn die Osterferien begannen, wenn der Wind auffrischte, der Strand sich leerte, die Einkäufe fürs Mittagessen gemacht und die Weinvorräte in den Ferienwohnungen aufgefüllt wurden. Dann tobte dort der Krieg zwischen den Fahrern der Einkaufswagen – Ehemännern, die es nicht gewohnt waren, vor einer Kasse Schlange zu stehen, Frauen, die sich in Luxushotels wohler gefühlt hätten, und denjenigen, denen es im Urlaub genauso ging wie zu Hause.
Carlotta Capella kaufte eigentlich gern bei Feinkost Meyer ein. Aber dies war einer der Augenblicke, in denen sie sich in den Alimentari ihres umbrischen Bergdorfes zurücksehnte. Da gab es zwar auch Stoßzeiten – wenn der Weinbauer mit der Lese fertig war und seine Frau nicht genug Eier im Vorrat hatte, damit er ein kräftigendes Rührei vorgesetzt bekam, oder ein Maurer Feierabend machte, der sich nichts sehnlicher wünschte als eine Panettone, für die nicht genug Mehl im Hause war. So eine eilige Hausfrau ließ man selbstverständlich vor und plauderte währenddessen mit einer Nachbarin, die genug Zeit hatte. So was war auf Sylt nicht denkbar. Obwohl hier Menschen einkauften, die Urlaub, also Zeit hatten, wurde gedrängelt und gestoßen und darüber debattiert, wer zuerst vor dem Käsestand angekommen war oder ein Recht darauf hatte, vor einem anderen zur Kasse zu kommen.
Mamma Carlotta wollte sich nicht drängen lassen, wollte sich auch nicht über Drängler ärgern und genügend Zeit haben, um die Kassiererin zu begrüßen, wenn sie endlich dran sein würde. Sie gehörte ja weder zu den Einheimischen noch zu den Touristen. Sie war die Schwiegermutter des Kriminalhauptkommissars und regelmäßig zu Gast auf der Insel. Das war etwas ganz anderes. Ein Gast wurde mit offenen Armen begrüßt und wehmütig wieder verabschiedet, während die Sylt-Touristen zwar durchaus freudig begrüßt, aber genauso freudig wieder entlassen wurden, wenn sie bezahlt hatten und Platz für andere zahlende Gäste machten. Carlotta Capella war kein zahlender Gast, sondern jemand, der die Familie besuchte, den Schwiegersohn und die beiden Enkelkinder, jemand, der zum Grab der Tochter ging, den Haushalt auf Vordermann brachte, der während ihrer Abwesenheit ohne ordnende Hand auskommen musste, und die Enkel mit Mutterliebe überschüttete, wenn sie auch schon zu groß waren, um das zu würdigen und zu genießen.
Sie hatte gerade eingesehen, dass aus dem gemütlichen Einkauf wohl nichts werden würde, dass sie nur hastig Zucchini, Lauch, Staudensellerie und Schalotten für die Suppe würde einkaufen können, Rindernacken und mageres Schweinefleisch für die Füllung der Ravioli und Mandarinen für das Soufflé, das es zum Nachtisch geben sollte. Alles andere war Gott sei Dank im Haus. Eigentlich betastete sie ja immer gerne ausgiebig das Gemüse, ließ sich von dem Filialleiter erklären, wie und wo es geerntet worden war, und diskutierte mit dem Metzger über die Garzeiten des Fleisches. Aber wenn der Laden so voll war, hatte niemand Zeit für ein Gespräch. Auch die Kassiererinnen hatten dann nur Augen für die Kasse und blickten kaum auf. Mamma Carlotta nahm es hin, dass sie nur flüchtig begrüßt werden konnte, dass niemand Zeit haben würde, sich die schwere Geburt einer Großnichte anzuhören und sich mit Mamma Carlotta gemeinsam darüber zu entrüsten, dass eine andere Großnichte mit vierzehn Jahren schwanger geworden war. Diese Neuigkeiten würde sie wohl für einen günstigeren Moment zurückhalten müssen.
Damit hatte sie sich gerade abgefunden und wollte ihren Einkaufswagen in Richtung Kasse schieben – da sah sie es. In dem Gewühl achtete niemand darauf, die Frau hatte sich wirklich den richtigen Moment ausgesucht. Und wäre Carlottas Blick nicht zufällig auf das Regal mit den Aperitivi gefallen, und wäre ihr dabei nicht die Frage in den Sinn gekommen, ob noch genug Limoncello im Hause war, hätte sie vermutlich nichts bemerkt. Aber sie kannte diesen Blick. In dem Alimentari von Signora Esposito war es ein paarmal vorgekommen und der Täter bald identifiziert worden, weil er sich genauso verhalten hatte wie diese Frau. Sie duckte sich jetzt hinter ein Regal und wollte den Eindruck erwecken, nach einem ganz bestimmten Sherry zu suchen, der wohl zu den nur selten verkauften gehörte und deshalb im unteren Fach stand. So hatte der Tourist es auch gemacht, der zwei Wochen in Panidomino verbracht und während dieser Zeit dafür gesorgt hatte, dass Signora Esposito um ihren ohnehin schmalen Gewinn gebracht wurde. Er hatte auch immer einen besonders harmlosen Gesichtsausdruck aufgesetzt und lange in den Regalen herumgesucht, bis er mit einem einzigen Artikel zur Kasse gegangen war und mit ausgebeulten Hosentaschen den Laden verlassen hatte. In der zweiten Woche seines Aufenthaltes in Panidomino hatten sämtliche Nachbarinnen Posten bezogen und ihn hinter der nächsten Hausecke gestellt, wo er gerade die Hosentaschen ausleerte, um seine Beute ganz bequem in den Packtaschen seines Trekkingrades zu befördern. Schon am nächsten Morgen war er weitergereist, obwohl er den Zeltplatz auf der Wiese des Weinbauern noch für eine Woche gebucht und im Voraus bezahlt hatte.
Diese Frau machte es ähnlich. Sie trug denselben harmlosen Gesichtsausdruck, was sogar trotz ihrer großen Sonnenbrille zu erkennen war, und tat sehr interessiert, während sie mit der Rechten eine kleine Flasche vor die Augen führte, um den Aufkleber zu studieren, und mit der Linken eine andere in ihrer großen Manteltasche verschwinden ließ. Möglicherweise vertraute sie auf ihr imponierendes Äußeres. Sie trug einen Pelzmantel, viel Schmuck klimperte an ihren Handgelenken, der breitkrempige Hut und die riesige Sonnenbrille gaben ihr etwas Mondänes. Alles Fassade, sagte sich Mamma Carlotta zornig. Vermutlich bestand der Mantel aus Webpelz, der Schmuck war nicht echt, der Hut aus dem Secondhand-Kaufhaus an der Keitumer Landstraße und die Sonnenbrille gestohlen. Sie, Carlotta Capella, ließ sich nicht von dieser Fassade beeindrucken. Sie selbst trug nur ein schlichtes, dunkles Kleid, das sie schon jahrelang besaß, darüber eine Jacke, die sie selbst gestrickt hatte, und Pantoletten, die in Umbrien von März bis November das am besten geeignete Schuhwerk waren. Aber alles, was sie besaß, war redlich erworben!
Unauffällig, doch mit festen Schritten ging sie auf die Frau zu und weidete sich an deren Erschrecken, als sie sich aufrichtete und in Carlottas zorniges Gesicht sah.
Mamma Carlotta sprach ganz leise: »Allora, Signora ... Sie haben die Chance, die Sachen unverzüglich zurückzulegen. In diesem Fall will ich nichts gesehen haben. Andernfalls werde ich den Filialleiter verständigen.«
Aus der Nähe kam ihr der Pelzmantel nun doch echt vor, der Schmuck ebenfalls, und der Duft, den diese Dame verströmte, war teuer, davon war Mamma Carlotta überzeugt. Warum hatte es so eine Frau nötig zu stehlen?
»Ich werde schweigen. Aber nur, wenn Sie mir versprechen, so etwas nie wieder zu tun.«
Die Frau sagte kein Wort, sah sich nur um, vergewisserte sich, dass niemand sie beobachtete, dann griff sie in ihre Manteltasche, legte das Fläschchen zurück, griff in die andere Tasche, beförderte ein Matchboxauto und ein Nähnadelsortiment zutage und legte beides daneben.
»Gut, ich verspreche es«, murmelte sie.
Mamma Carlotta zögerte. »Va bene«, sagte sie dann. »Aber wenn ich das noch einmal sehe, dann ...« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Was sie ausdrücken wollte, war sowieso klar.
Die Frau jedenfalls nickte, nahm den Einkaufskorb, der neben ihren Füßen stand und nichts als drei Orangen enthielt, und ging hoch aufgerichtet zur Kasse. Kein Wort des Dankes, kein freundlicher Blick. Dabei war sie doch soeben der peinlichen Situation entkommen, eine Ladendiebin genannt zu werden. Vielleicht sogar so laut, dass alle es gehört hätten.
»Inaudito«, murmelte Carlotta empört. »Incredibile!«
Erik Wolf, Kriminalhauptkommissar auf Sylt, sah sich in seinem Büro um wie ein Kapitän, dem eine lange Reise über die Weltmeere bevorstand und der sich fragte, wie das Haus, das er verließ, nach seiner Rückkehr aussehen würde. Dabei neigte er gar nicht zur Sentimentalität. In diesem Fall erst recht nicht, denn dass das Polizeirevier Westerland einer gründlichen Renovierung bedurfte, war offensichtlich. Bei dem Versuch, die Revierräume optisch auf Vordermann zu bringen, waren erhebliche Mängel am baulichen Zustand entdeckt worden, und das hatte niemanden verwundert. Doch das Provisorium in der Stephanstraße, in das er nun ziehen musste, behagte ihm gar nicht. Eine Polizeiwache, die in Containern untergebracht wurde! Keine angenehme Vorstellung. Aber das Polizeirevier am Kirchenweg gab es seit 1906, damals war es als Amtsgericht erbaut worden und stand unter Denkmalschutz. Ansonsten hätte wohl jeder für Abriss und einen Neubau plädiert.
Er hievte einen großen Pappkarton auf den Schreibtisch und fing an, die Akten zu den Fällen, die er derzeit bearbeitete, einzupacken, genau wie die Gesetzestexte, die er immer zur Hand haben wollte, eine Kartei, die ihn daran erinnerte, dass er sie seit Monaten aktualisieren wollte, und schließlich seine persönlichen Sachen, die sich in der Schreibtischschublade befanden. Seine Pfeife mit den dazugehörigen Utensilien, sein Vorrat an Trauben-Nuss-Schokolade, Auto- und Hausschlüssel, ein Mäppchen mit Kundenkarten, die er nie benutzte, Quittungen, die er statt in den Umzugskarton in den Papierkorb beförderte.
Zuletzt holte er das Familienfoto hervor, das seine verstorbene Frau und seine beiden Kinder zeigte. Lange hatte es auf seinem Schreibtisch gestanden, aber nach Lucias Tod hatte er nicht ertragen können, täglich in ihr lachendes Gesicht zu sehen. Sie war so glücklich gewesen an diesem Tag, an dem er das Foto gemacht hatte, hatte die Kinder in ihre Arme gezogen und in die Kamera gestrahlt. Wer hätte damals ahnen können, dass sie nur noch wenige Wochen leben würde! Hätte sie doch nur einen Autozug später genommen, wäre sie langsamer oder schneller nach Niebüll gefahren, dann wäre der Unfall nicht geschehen. Erik drückte das gerahmte Foto kurz an seine Brust, ehe er es in den Karton schob, an die Seite, sodass es nicht mehr zu sehen war.
Er strich lange seinen Schnauzer glatt, wie immer, wenn er in Gedanken war, dann hob er die Pappkiste an und warf einen letzten Blick in den Raum. Kahle Wände, leere Regale, schmutzige Fenster. Es war gut, dass die Zeit vom Beginn der Umzugsarbeiten bis jetzt, zur endgültigen Umsiedlung in das Provisorium, endlich vorbei war.
Sören Kretschmer kam herein, auf seinen Armen einen ähnlichen Karton, wie er auf Eriks Schreibtisch stand. »Endlich fertig, Chef?« Er setzte seine Kiste neben Eriks ab und blickte ihn aufmunternd an. »Haben wir alles?«
»Sieht so aus.«
»Dann also los.« Sören nahm seine Habseligkeiten wieder auf und ging voraus. Trotz des hinderlichen und schweren Kartons ging er dynamisch und leichtfüßig, während Erik am liebsten an jeder Fensterbank eine Pause eingelegt und seine Last abgestellt hätte. Sören war eben nicht nur jünger, sondern vor allem sportlicher als er. Hinzu kam auch, dass er vor ein paar Tagen zum Oberkommissar befördert worden war, was seiner Energie noch mal ordentlich Antrieb gegeben hatte. Sein rundes, rosiges Gesicht, das Erik immer an einen überreifen Apfel erinnerte, war seitdem noch rotbackiger. Sören sah aus, als wäre er tagelang von der Sonne beschienen worden.
Er klinkte mit dem rechten Ellbogen die Tür auf, die zum Parkplatz führte, öffnete sie mit der Schulter und hielt sie dann mit seinem Rücken auf, damit Erik ohne zu zögern hindurchtreten konnte.
Ein böiger Wind empfing sie, kalt und salzig. Erik bereute, dass er seine Jacke schon ins Auto gebracht hatte. Der Wind ging durch den dünnen Pullunder, den er übers Hemd gezogen hatte, er spürte seine kalten Finger auf der Haut. Vom Bahnhof kam das Kreischen einer bremsenden Lok, der Verkehr rauschte Richtung Keitum vorüber und kam vor der Ampel zum Erliegen. Ein ungeduldiger Autofahrer hupte, als sie wieder auf Grün wechselte. Erik blickte hoch, während er seinen Wagen aufschloss. Die Möwen kreisten am Himmel, lagen mit gespreizten Flügeln auf dem Wind, ließen sich treiben, verhielten sich aber ruhig. Nur gelegentlich ein schriller Schrei, in den alle anderen Möwen jedoch nicht einstimmten.
Sören öffnete den Kofferraum und wuchtete beide Kartons hinein. »Dann mal los, Chef!«
Er schwang sich auf den Beifahrersitz, während Erik das rechte Bein hineinsetzte, sich am Lenkrad über den Fahrersitz zog, sich dann fallen ließ und sein linkes Bein nachholte. Er musste endlich etwas für seine Fitness tun! Natürlich könnte er, genau wie Sören, jeden Morgen mit dem Fahrrad ins Polizeirevier fahren, die Strecke von Wenningstedt nach Westerland betrug nicht mehr als fünf Kilometer. Dann wäre er vermutlich bald sein leichtes Übergewicht los, geriete nicht so schnell aus der Puste, wenn sie eine Verfolgung aufnehmen mussten, und brächte vielleicht sogar seine grauen Zellen auf Trab. Gelegentlich machte er sich Sorgen, wenn es ihm so schien, als würde er immer langsamer, körperlich und geistig. Er war doch erst Mitte vierzig. Wenn er da an seine Schwiegermutter dachte, die bereits die sechzig überschritten hatte! Wie flott die auf den Beinen war und wie fix sie denken und kombinieren konnte! Erik seufzte.
Als wollte er den Gegenbeweis antreten, wendete er zügig, fuhr mit quietschenden Reifen an, stoppte vor der Einfahrt in den Kirchenweg so jäh, dass Sören nach vorn geworfen wurde, und bog rechts ab, als ginge es darum, einen Flüchtigen zu verfolgen.
»Was ist denn mit Ihnen los, Chef?«, fragte Sören. »Können Sie nicht früh genug im Container ankommen?«
»Wir ziehen in das Telekomgebäude«, brummte Erik. »Schon vergessen?«
Die Kriminalpolizei hatte dort ein paar Büroräume zur Verfügung gestellt bekommen, dennoch war sowohl bei den Mitarbeitern der Sylter Polizeiwache als auch bei den Kripobeamten nur vom Umzug in die Container die Rede. Schließlich gehörten sie alle irgendwie zusammen. Und wenn die Mehrheit in der nächsten Zeit die Arbeit in diesem Provisorium verrichten musste, gehörten sie demnächst doch alle zu den Bewohnern dieses Containerdorfes, auch wenn einige wenige ihre Büros nebenan in festen Behausungen hatten.
So führte ihr erster Weg auch in einen der Container, an dem sehr groß und unübersehbar das Schild Polizeirevier Sylt – Wache angebracht war. Erik und Sören wollten sehen, wie die Kollegen sich eingerichtet hatten, wollten sich anhören, wie sie stöhnten oder sich über die neuen Arbeitsbedingungen lustig machten.
Doch dort hatte niemand Zeit. Es summte und brummte wie in einem Bienenkorb, Kollegen kamen herein, rannten hinaus, durchquerten die Räume, suchten etwas, fluchten ausgiebig, wenn sie es nicht sofort fanden, und riefen sich Fragen zu, die nicht beantwortet wurden. Mehr als ein knappes »Moin!« bekamen Erik und Sören nicht zu hören.
Sie zuckten mit den Achseln und nahmen ihre Kartons wieder auf, die sie auf der Theke des Revierzimmers abgestellt hatten. »Dann gucken wir uns erst mal unsere Büros an«, meinte Erik.
Sie verließen die Wache und gingen in das mehrstöckige Nachbargebäude, das der Telekom gehörte. Dort gab es zum Glück einen Aufzug, der sie in die dritte Etage brachte. Kriminalpolizeistelle, bitte klingeln stand auf dem Schild vor der Tür. Sie folgten der Anweisung, denn noch war ihnen kein Schlüssel ausgehändigt worden.
In Carlotta Capellas Mitte rumorte es nach wie vor, wenn sie an die Frau in dem teuren Pelzmantel dachte. So elegant und dennoch eine Ladendiebin! »Incredibile!«
Ihre dunklen Locken, die nur wenige graue Strähnen aufwiesen, wippten vor Empörung, ihr Busen wogte, ihre Pantoletten klatschten im schnellen Rhythmus gegen ihre Fersen, die Einkaufstasche schlug bei jedem Schritt an ihr Bein. Carlotta Capella war noch immer außer sich. Sie öffnete die Knöpfe ihrer Jacke, weil Empörung sie stets erhitzte, und blieb gleich darauf stehen, um sie wieder zu schließen. Kurz vor Ostern war die Luft auf Sylt nicht wärmer als in ihrem italienischen Bergdorf kurz vor Weihnachten. Vor allem vor dem Wind, den es in ihrer Heimat so nicht gab, schützte Carlotta sich gern. In Panidomino fuhr er lau unter die Kittelschürze und blähte sie nur auf, wenn er ungewöhnlich kräftig daherkam, auf Sylt griff er dagegen mit eisigen Fingern zu und zerrte an der Kleidung.
Carlotta vergaß ihr Erlebnis bei Feinkost Meyer erst, als sie sah, dass sich am Süder Wung eine Gartenpforte öffnete. Die Nachbarin der Wolfs trat auf die Straße.
»Huhu, Frau Kemmertöns!«
Die Nachbarin war in Mamma Carlottas Alter, ebenso rund wie sie und ähnlich gekleidet. Beide trugen knielange Röcke aus dunklem Stoff, dazu beige Strickjacken mit Kordeln in der Taille. Weitere Ähnlichkeiten gab es jedoch nicht. Frau Kemmertöns war behäbig, oft geradezu stoisch, bewegte sich langsam, sprach langsam und dachte langsam. Vom Temperament einer Italienerin war sie so weit entfernt wie ein Eskimo von einer Hula-Tänzerin. Dass sich jemand so schnell bewegen konnte wie die Schwiegermutter von Kriminalhauptkommissar Wolf, dass sie mit großer Behändigkeit mehrere Dinge gleichzeitig erledigte, redete, ohne vorher gründlich nachzudenken, und spontane Entschlüsse fasste, ohne die Konsequenzen im Auge zu haben, war für Frau Kemmertöns immer wieder eine Quelle des Staunens. Und wenn sie von Mamma Carlotta ins Haus gebeten, zu einem Espresso eingeladen und mit Gebäck aus dem Vorrat bedient wurde, griff sie sich an den Kopf, weil ihr oft schwindelig wurde. Verhielt es sich umgekehrt, gelang es Carlotta ausnahmsweise einmal, ins Nachbarhaus vorzudringen, fühlte sich Frau Kemmertöns genötigt, einen Kaffee zu kochen und nach Konfekt oder Keksen zu suchen, kam meist einfach eine Likörkaraffe auf den Tisch, die immer griffbereit dastand, womit der Bedarf an Flüssigkeit und Süßigkeit gleichzeitig gedeckt wurde.
»Sie denken an unser Treffen heute Nachmittag?«, fragte sie, als Mamma Carlotta herangekommen war.
»Naturalmente! Ich habe mir überlegt, dass ich einen Kaffeewärmer häkeln könnte.«
Frau Kemmertöns war nicht besonders angetan. »Kaffeewärmer? Was ist das denn?«
»Eine große Häkelmütze, die man über die Kaffeekanne stülpt, damit der Kaffee heiß bleibt.«
»Heutzutage gibt es doch Thermoskannen.«
Dieser Einwand war leider nicht von der Hand zu weisen. Mamma Carlotta fiel ein, dass der Kaffeewärmer, den ihre Mutter gehäkelt hatte, in ihrem Haushalt auch nicht mehr gebraucht wurde. »Dann vielleicht Topflappen?«
Aber Frau Kemmertöns fand auch gehäkelte Topflappen nicht mehr zeitgemäß. »Wie wär’s, wenn Sie einen flotten Schal stricken? Mit dicker Wolle und dicken Nadeln.«
Diesen Hinweis verstand Mamma Carlotta sofort. Dicke Nadeln und dicke Wolle bedeuteten, dass man schneller fertig wurde.
»So was tragen auch junge Frauen gern. Das wird bestimmt gut verkauft. Darauf kommt es schließlich an, wenn es um Charity geht.«
»Scheri...« Mamma Carlotta hatte Schwierigkeiten mit diesem Wort.
»Charity«, wiederholte Frau Kemmertöns langsam, mit weit geöffnetem Mund, damit Carlotta sehen konnte, was sie mit ihrer Zunge machte, um das englische R zu produzieren.
Aber Carlotta konnte ein R nur rollen und lehnte es ab, daraus einen Laut zu machen, der sich anhörte, als würde er gekaut und kurz vor dem Erbrechen heruntergeschluckt. »Wann geht es los mit diesem ... diesem Häkelclub?«
»Um drei!« Frau Kemmertöns stellte fest, dass ihr ein Häkelclub auch besser gefiel als eine Charity-Veranstaltung. »Ich werde übrigens filzen, das ist jetzt ganz modern. Trendige Armstulpen zum Beispiel.«
Mamma Carlotta musste nun erst mal ihren Wortschatz erweitern. Filzen, trendig, Stulpen – diese Vokabeln waren ihr nicht geläufig. Als Frau Kemmertöns ihr erklärt hatte, worum es ging, war sie noch nicht viel schlauer, nur dass es bei einem trendigen Artikel um etwas Modernes, also um qualcosa di moderno ging, verstand sie. Die Verarbeitung von Filz war ihr fremd, und der praktische Wert von Stulpen, die nur die Handgelenke wärmten, ebenfalls. Aber was spielte das für eine Rolle? Sie würde an diesem Nachmittag und an vielen folgenden mit Frauen zusammensitzen, mit ihnen gemeinsam handarbeiten und dabei plaudern, und das Ganze für einen guten Zweck! Floras Charity, das wusste Mamma Carlotta, war mittlerweile in ganz Deutschland berühmt. Eine wichtige Dame, die Ehefrau eines noch wichtigeren Mannes, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, überall im Land Wohltätigkeitsgruppen zu bilden, die strickten, nähten, häkelten, um ihre Werke anschließend zu verkaufen und den Erlös Bedürftigen zukommen zu lassen. »Charity« und »Geselligkeit« – diese beiden wichtigen Begriffe hatte sie zusammengeführt, wollte den Bedürftigen etwas geben und denen, die sich für sie engagierten, gleich mit. In diesem Fall sollte das Geld, das man später auf dem Basar einnehmen würde, der Seenotrettung zugutekommen. Mamma Carlotta freute sich auf das Treffen des Häkelclubs und war Frau Kemmertöns, die dafür gesorgt hatte, dass sie mitmachen durfte, dankbar. Sie musste nur sehen, dass sie vor lauter Plauderei nicht das Handarbeiten vergaß.
»Dieser Ernest Engelbeck ...« Sie versuchte sich an das zu erinnern, was Frau Kemmertöns ihr erzählt hatte, »... der Ehemann von Flora Engelbeck ...«
»Ex-Mann«, korrigierte Frau Kemmertöns.
»Die beiden sind geschieden?« Mamma Carlotta war enttäuscht. Der Glorienschein, den sie Flora Engelbeck aufgesetzt hatte, seit sie von deren karitativem Engagement gehört hatte, saß prompt ein wenig schief.
»Das Übliche«, gab Frau Kemmertöns zurück. »Er ist nun mit einer Jüngeren zusammen. Seine Villa auf Sylt hat er noch, aber da residiert jetzt die Neue. Für Flora Engelbeck ist nicht viel übrig geblieben nach der Scheidung. Sie wissen ja, wie so was ist. Männer wie Ernest Engelbeck haben immer die besseren Anwälte.«
»Die arme Frau!« Der Glorienschein saß nun wieder gerade und fest auf Flora Engelbecks Kopf. »Und trotzdem kümmert sie sich um die Bedürftigen.«
»Mit ihren Charity-Clubs hat sie sich einen Namen gemacht.« Frau Kemmertöns ging mit kleinen und sehr langsamen Schritten am Zaun entlang zum Eingang des Hauses Wolf. »In einer Zeitschrift habe ich mal gelesen, was sie nach der Scheidung gesagt haben soll.« Sie räusperte sich, als müsste sie ihre Stimme zurechtrücken für das Belangvolle, das folgen sollte. »Wenn sie auch nicht mehr die Ehefrau von Ernest Engelbeck wäre, die Charity-Lady bliebe sie. Das wäre ihr Eigenes, das ließe sie sich nicht nehmen.«
Mamma Carlotta war beeindruckt. »Man hat in einer Zeitschrift über sie geschrieben?«
»Die Scheidung ging durch alle deutschen Blätter. Ernest Engelbeck ist nicht nur ein erfolgreicher Unternehmer, er will sogar in die Politik. Wenn so einer sich scheiden lässt, erfährt die ganze Welt davon.« Sie zögerte und setzte hinzu: »Oder sagen wir ... ganz Deutschland.«
Während Frau Kemmertöns langsam und sehr bedächtig weiterging, sperrte Carlotta die Haustür auf und ließ sie mit einem lauten Knall ins Schloss fallen. Es wurde Zeit fürs Mittagessen. Erik und Sören würden sicherlich pünktlich kommen – zurzeit gab es auf Sylt ja keine Kapitalverbrechen – und Carolin ebenfalls, sie hatte nur einen Weg von wenigen Minuten zurückzulegen. Mamma Carlotta seufzte, während sie die Zucchini wusch und zerteilte. Was für ein Glück, dass das Kind wieder einen Ausbildungsplatz gefunden hatte! Das neue Hotel, in dem sie zuvor angestellt gewesen war, hatte schon bald nach der Eröffnung wieder schließen müssen. Monatelang hatte das Haus, das nicht einmal richtig fertig geworden war, leer gestanden, und Carolin war arbeitslos gewesen. Dann endlich hatte sich ein neuer Besitzer gefunden. »Che fortuna!«
Diesmal allerdings kein Italiener. »Che peccato«, murmelte Mamma Carlotta. Wirklich bedauerlich! Und natürlich stand nun auch der italienische Name des Hotels nicht mehr am Eingang, das Haus war umbenannt worden. Es hieß Horizont, weil man in der zweiten Etage angeblich den Horizont sehen konnte. Besonders gut gefiel Mamma Carlotta dieser Name nicht.
Zornig schnitt sie den Lauch und die Sellerie in Scheiben und warf alles in die zerlassene Butter. »Perle von Sylt« oder »Stern des Nordens« hätte ihr besser gefallen, »Horizont« erschien ihr zu banal. Der Apfel und der fein gewürfelte Knoblauch flogen in die Pfanne, Curry und Kurkuma wurden nicht wie vorgesehen darübergestäubt, sondern geworfen, denn leider ging Mamma Carlotta, wenn sie sich beim Kochen mit einer Niederlage beschäftigen musste, oft das Fingerspitzengefühl verloren.
Sie hatte selbstverständlich an dem Wettbewerb teilgenommen, zu dem die Bevölkerung Sylts aufgerufen worden war. Wer den besten Namen fand, sollte ein Wochenende kostenlos in dem neuen Hotel wohnen dürfen. Aber weder Perle von Sylt noch Stern des Nordens war ausgewählt worden, sondern der prunklose Name Horizont. Und die Frau, die ihn gefunden hatte, war nicht einmal sympathisch gewesen. Carlotta kannte sie. Eine Kundin der Bäckerei, die gern darüber redete, dass ihre Tochter einen Doktortitel trug, und im gleichen Atemzug den Bäcker fragte, ob seine Tochter nun endlich den Hauptschulabschluss geschafft habe. Mamma Carlotta hatte sich einmal dazu verleiten lassen, in den Wettbewerb einzusteigen und von den guten Abiturnoten ihrer Enkeltochter berichtet. Aber sie hatte sich gleich darauf wie eine Verräterin gefühlt und sich geschämt, als der Bäcker ihr trotzdem einen Panino zusätzlich in die Tüte gab, mit besten Grüßen an den Hauptkommissar. Ausgerechnet diese Frau hatte den Wettbewerb gewonnen! Mit einem Hotelnamen, der keine Klasse verriet, der es auf den müden Wellen der Beliebigkeit nicht einmal bis zum Horizont schaffen würde. »Orizzonte«, murmelte sie verächtlich und pürierte die Suppe, dass es nur so spritzte.
Die Küchentür schob sich auf, Kükeltje, die kleine schwarze Katze der Wolfs, erschien auf der Bildfläche. Sie hatte vermutlich auf Felix’ Bett gedöst und war nun durch das Öffnen und Schließen der Kühlschranktür auf den Plan gerufen worden. Maunzend ging sie Carlotta um die Beine, so lange, bis etwas von dem Parmesan, der eigentlich für die Ravioli gebraucht wurde, für sie abgefallen war.
Felix erschien bereits, als die Ravioli noch in der Brühe schwammen. »Das war’s«, rief er und warf seine Schultasche in die Ecke. »Osterferien!«
Er kraulte Kükeltje mit der rechten Hand das Fell und klaute sich mit der linken mehrere Amaretti, die es zum Espresso geben sollte. Erwartungsgemäß regte sich seine Nonna schrecklich darüber auf, schickte ihn zum Händewaschen und rief ihm hinterher, welche Keime er von der Schule in den Süder Wung geschleppt habe, wie sie sich jetzt in der Küche verbreiten und in Kükeltjes Fell festsetzen würden.
Felix war das Familienmitglied, das sich am wenigsten von dem Gezeter der Nonna beeindrucken ließ. Er war durch und durch italienisch, hatte von dem Phlegma und der Leidenschaftslosigkeit seiner Sylter Verwandtschaft nichts abbekommen und lachte nur, wenn Erik und Carolin Mamma Carlotta erschrocken ansahen, weil ihnen ihr Temperament Angst machte. In Panidomino, dem kleinen umbrischen Bergdorf, in dem Carlotta lebte, hielten es alle so wie sie. Wer wütend war, schimpfte so lange und so laut, bis die Wut verrauchte, wer traurig war, klagte durchdringend, weinte lauthals und zerriss sich unter Umständen sogar die Bluse, was Erik einmal miterlebt hatte und seitdem als Trauma mit sich herumtrug. Wer unzufrieden über seine Familie war – und das war in Panidomino jede zweite Frau mehrmals täglich – rief den lieben Gott an und fragte ihn, womit er sie mit diesem Ehemann und den missratenen Kindern strafen wolle. Aber wenn das alles vorbei war, ging das Leben weiter wie gewohnt. Felix hatte sich immer wohlgefühlt, wenn er bei den Verwandten seiner Mutter zu Besuch war, während Erik und Carolin nie verhehlen konnten, dass sie froh waren, wenn es wieder gen Norden ging.
Als Felix in die Küche zurückkehrte, sah er kopfschüttelnd zu, wie seine Nonna das Mandarineneis-Soufflé zubereitete. Sie schlug die Eier mit dem Zucker schaumig, dass es nur so spritzte, und fügte den Mandarinenlikör derart unvorsichtig hinzu, dass Felix sagte: »Ich bin noch im Wachstum, Nonna, so viel Alkohol ist schädlich für mich.«
Wie erwartet verteidigte Mamma Carlotta die Likörmenge mit ihrem unbestechlichen Augenmaß und wies Felix’ Verdacht, ihr schmecke alles besonders gut, was besonders viel Alkohol enthalte, entrüstet zurück. Ein falscher Verdacht, auf den die Strafe des Sahneschlagens stand. Felix übernahm es grinsend und reagierte nicht auf das Gezeter seiner Nonna, die verhindern wollte, dass er seinen Zeigefinger in die Sahne steckte und genüsslich ableckte. »Ich habe doch extra die Hände gewaschen!«
Kopfschüttelnd beobachtete er später, wie seine Großmutter die Sahne zu dem Eier-Zucker-Gemisch klatschte und alles zusammenrührte, als ginge es darum, einen Geschwindigkeitsrekord aufzustellen. »Hast du es eilig?«
»Certo!« Carlotta probierte den Mandarinenlikör, der ihr zu süß erschienen war, obwohl es nun natürlich zu spät war, etwas zu ändern. Währenddessen erzählte sie ihrem Enkel, dass sie Frau Kemmertöns begleiten wolle. »Floras ... Häkelclub.«
Felix krauste die Stirn. »Meinst du etwa die Charity-Veranstaltung von Flora Engelbeck?«
»È vero. Ich werde in Zukunft mitmachen.«
Felix drehte grinsend an seinen Ohrringen, während er verkündete: »Ich komme mit, ich will mir eine Mütze häkeln.«
Mamma Carlotta fuhr herum. »Du?«
»Häkelmützen sind jetzt total in.«
»Du bist ein ... Junge.«
»Na und?«
»Jungen häkeln nicht.«
»Wo steht das?«
»Das steht ... überall.«
»Schau mal ins Grundgesetz. Die Gleichberechtigung gilt nicht nur für Frauen. Auch für Männer.«
»Du bist noch kein Mann.«
»Mädchen dürfen Schraubenzieher in die Hand nehmen. Und mir willst du die Häkelnadel wegnehmen?«
»Das ist ...«
»Was anderes?«
»Esatto! Außerdem handarbeitet man dort nicht für sich selbst, sondern für andere. Die Sachen werden verkauft. Für einen guten Zweck.«
»Weiß ich. Da will ich lernen, wie es geht. Solange Floras Charity auf Sylt ist, will ich mitmachen. Verena kommt auch.«
»Come?«
»So sehen moderne Männer aus, Nonna! Verena findet das auch cool.«
»Wer ist Verena?«
»Ein Mädchen aus meiner Klasse.«
Mamma Carlotta witterte Amore und verlor einen Teil ihrer Empörung. Wenn ein Junge etwas für ein Mädchen tat, in das er verliebt war, konnte es für sie gar nicht verrückt genug sein. »Diese Verena ist damit einverstanden, dass du häkelst?«
Felix ahmte seine Großmutter nach und antwortete grinsend: »Esatto!«
Erik und Sören sprachen gerade über das, was Mamma Carlotta nur kurze Zeit zuvor durch den Kopf gegeistert war. Die Besuche der norddeutschen Verwandtschaft in Umbrien, das erkennbare Unbehagen von Erik und Carolin, das Getöse im Haus, das Vater und Tochter jedes Mal zusammenzucken ließ, während es Felix nicht laut genug sein konnte, sowie Mamma Carlottas Bemühen, es allen recht zu machen und dafür zu sorgen, dass Erik und Carolin sich dennoch in Lucias Elternhaus wohlfühlten.
»Ja, ja, nett ist sie«, bestätigte Erik, nachdem Sören sich mal wieder ausgiebig darüber gefreut hatte, dass er immer, wenn die Schwiegermutter seines Chefs zu Besuch war, im Hause Wolf essen durfte. Sämtliche Mahlzeiten nahm er dann dort ein, schon zum Frühstück erschien er im Süder Wung, und Mamma Carlotta wäre tödlich beleidigt gewesen, wenn er das abgelehnt hätte. Sie brachte ihm sogar jedes Mal Marmelade mit, die sie aus den Feigen in ihrem Garten selbst gekocht hatte.
»Wenn sie nur nicht so anstrengend wäre«, fügte Erik an und dachte an seine verstorbene Frau, die genauso anstrengend gewesen war. Das wusste er – und doch war es für ihn etwas ganz anderes. Lucia hatte er geliebt, an ihr war alles richtig gewesen. Als seine Schwiegermutter nach dem Tod ihres Mannes zum ersten Mal nach Sylt gekommen war, hatte er geglaubt, keinen zweiten Besuch ertragen zu können. Aber natürlich hatte sie sich nicht davon abbringen lassen, den Haushalt der verstorbenen Tochter drei-, viermal im Jahr auf Vordermann zu bringen, die Tiefkühltruhe mit leckeren Pastagerichten zu füllen, all seine Hemden zu bügeln und die Kleidung der Kinder auszubessern. Dazu gehörten zu Felix’ Entsetzen auch immer die Jeans, die an den Knien durchgescheuert waren und deswegen cool waren, was seine Nonna einfach nicht einsehen wollte. Mittlerweile brachte er seine besten Jeans, also die, die besonders löcherig waren, in Sicherheit, bevor Mamma Carlotta auf Sylt erschien, damit sie nicht auf die Idee kam, sie zu flicken.
Als sie in den Süder Wung einbogen, sahen sie, dass Carolin soeben das Haus betrat. »Bin ich froh«, murmelte Erik, »dass der neue Hotelbesitzer ihr die Chance gegeben hat, die Ausbildung fortzusetzen.«
»Der scheint ein anderes Konzept zu verfolgen«, meinte Sören. »Er geht mehr auf Masse als auf Klasse.«
»Hauptsache, der Laden brummt.« Erik stellte den Motor ab und öffnete die Fahrertür. »Die bekannte Charity-Lady hat er gleich auf seine Seite geholt. Floras Charity wird im Horizont abgehalten.«
Sören schwang sich aus dem Wagen und lachte. »Lassen Sie mich raten ... Ihre Schwiegermutter ist dabei?«
Eriks Lächeln fiel gequälter aus. »Sie wird jede Menge Schürzen besticken und Topflappen und Bettjäckchen häkeln, die kein Mensch haben will. In Panidomino kann man solche Artikel noch in vielen Läden kaufen, hier interessiert sich kein Mensch dafür.« Er steckte den Autoschlüssel ein und ging auf die Haustür zu. »Ich hoffe, sie ist schon wieder abgereist, wenn der Basar stattfindet. Dann merkt sie nicht, dass ihr altmodisches Zeug liegen bleibt.«
Aus der Küche drang ein verführerischer Duft. Sören hängte seine Jacke an die Garderobe und flüsterte seinem Chef zu: »Gut, dass wir zurzeit nur mit Handtaschen- und Ladendiebstählen zu tun haben. Der Einbruch in Rantum ist so gut wie aufgeklärt. Wir können in aller Ruhe Mittagspause machen.«
»Besser, Sie reden nicht darüber«, warnte Erik. »Sonst kommt gleich ein Anruf. Leiche gefunden!«
»Malen Sie den Teufel nicht an die Wand, Chef!« Sören betrat die Küche, versorgte die Köchin mit allen Komplimenten, die ihr unbedingt zustanden, bestaunte die altbekannte Tatsache, dass es wieder mal drei Gänge gab, obwohl er wusste, dass für Mamma Carlotta ein Essen immer aus Vor-, Haupt- und Nachspeise bestand, behauptete, er habe schon immer mal Zucchini-Curry-Suppe probieren wollen. Und Ravioli, für die eine Hausfrau extra den Fleischwolf aus dem Keller holte, stünden auch schon lange auf der Liste seiner kulinarischen Wünsche. Seine Mutter hatte die Ravioli immer im Kühlregal eines Supermarktes gefunden und ihn verblüfft angesehen, als er ihr von dem frisch zubereiteten Nudelteig, den handgefertigten Teigquadraten und den aufwendig zubereiteten Füllungen erzählt hatte.
»Grande, Signora!«
Mamma Carlotta strahlte. Sören hatte viel schneller gelernt, einer italienischen Hausfrau zu schmeicheln, als ihr Schwiegersohn. Sören gingen die Komplimente, die in Deutschland, und besonders in Norddeutschland, als übertrieben und heuchlerisch galten, mittlerweile leicht von der Zunge.
Erik lehnte sich entspannt zurück, als sein Suppenteller leer war, und trommelte mit den Fingerspitzen auf seinen Bauch, als wollte er dort Platz für weitere Nahrungsaufnahme schaffen. Seine bequeme Breitcordhose vertrug zum Glück leichte Gewichtszunahmen, und der Pullunder versteckte die Tatsache, dass sich die Knopfleiste seiner Hemden gelegentlich spannte. Schön, wenn der Dienst nach Plan verlief, keine besonderen Vorkommnisse ihn störten und die Mittagspause ruhig mal etwas länger ausfallen durfte. »Wir müssen über ein Abschiedsgeschenk für Dr. Hillmot nachdenken«, sagte er zu Sören. Der Gerichtsmediziner würde in Kürze in den Ruhestand gehen.
»Ich habe schon gesammelt«, kam es von Sören zurück. »Für einen Kochkurs. Wenn er pensioniert ist, kann er sich nicht mehr damit rausreden, dass er keine Zeit zum Kochen hat und deswegen gezwungen ist, Fast Food zu essen. Er will ja demnächst abnehmen, sogar Sport treiben. Und dazu gehört auch eine vernünftige Ernährung.«
Mamma Carlotta hielt es für ausgeschlossen, dass der Dottore, der jede Gelegenheit nutzte, sich in dieser Küche den Bauch vollzuschlagen, jemals in der Lage sein würde, sich selbst ein gesundes Essen zuzubereiten. Darüber entspann sich eine Diskussion, die so hitzig geführt wurde, als wäre von großen politischen Entscheidungen die Rede, die die Welt verändern könnten. Wie so oft, und für Erik immer völlig unverständlich, veränderten sich die Inhalte der Debatten, in die seine Schwiegermutter verwickelt war, dann in einem Tempo, das ihn nicht selten hilflos zurückließ. Gerade, als Erik eine Gesprächslücke nutzen wollte, um sich ebenfalls zum Übergewicht des Gerichtsmediziners zu äußern, war bereits die Rede von Felix’ gepiercten Augenbrauen, den Ohrsteckern und seinem Nasenring. All das war seiner Nonna ein Dorn im Auge. Und bis Erik Argumente gefunden hatte, mit denen er seinem Sohn zur Seite springen konnte, war Carolin schon genötigt worden, etwas von Flora Engelbeck, der Charity-Lady, zu erzählen, die zurzeit im Horizont wohnte. Jetzt erfuhr Mamma Carlotta auch, dass sie ebenfalls Italienerin war, aus dem Süden stammte, wo sie ihren Mann, den Unternehmer Ernest Engelbeck, kennengelernt und später geheiratet hatte.
»Una italiana?«
Erik verdrehte die Augen. Die arme Charity-Lady würde am Nachmittag alle Mühe haben, sich seine Schwiegermutter vom Hals zu halten, die mit ihr nach gemeinsamen Erlebnissen, Erinnerungen und Verwandten suchen würde, nur weil sie in demselben Land geboren waren.
Mamma Carlotta war, als sie am Nachmittag mit der Nachbarin aufbrach, noch immer alarmiert. »Una italiana!«, hielt sie Frau Kemmertöns vor, die an dieser Tatsache nichts Besonderes fand.
»Hier wohnen viele Sylter. Bin ich jeden Tag aufs Neue hingerissen, wenn ich anderen Syltern begegne?«
»Das ist doch was ganz anderes! Wären Sie in Italia, würden Sie sich auch freuen, wenn Sie einen Sylter kennenlernten.«
Darüber musste Frau Kemmertöns eine Weile nachdenken. Als sie auf der anderen Seite der Westerlandstraße angekommen waren, hatte sie sich zu einer Auffassung durchgerungen. Ja, nun sah sie ein, dass es ein Grund zur Freude war, in der Ferne einen Menschen aus der Heimat zu treffen.
Doch ehe sie diese Meinung äußern konnte, hatte Mamma Carlotta ihr längst von einer anderen Sensation berichtet. Wie immer kam Frau Kemmertöns nicht nach, wenn die Schwiegermutter ihres Nachbarn etwas erzählte. Das ging ihr alles viel zu schnell, und wenn Carlotta von einem Thema zum anderen sprang, konnte sie sowieso nie folgen. Für eine Friesin musste alles schön langsam gehen, und vor allem immer eins nach dem anderen.
»Artisten? Was meinen Sie?«
Mamma Carlotta fing noch einmal an. »Ein Varieté, das in List gastiert.«
»Das Fliegende Varieté. Davon habe ich gehört.«
»Carolin hat von einem Gast drei Karten für die Vorstellung heute Abend geschenkt bekommen. Er musste wegen eines Todesfalls in der Familie früher zurück nach Hause.«
»Wer?«
»Der Hotelgast!« Mamma Carlotta wurde nervös. Wenn jemand so gedankenträge wie Frau Kemmertöns war, redete sie immer sehr laut, wie sie es bei ihrem Onkel Alberto getan hatte, der mit seinem guten Gehör leider auch den scharfen Verstand verloren hatte. »Er wollte die Eintrittskarten nicht verfallen lassen.«
Carolin hatte zunächst ein großes Geheimnis daraus gemacht, hatte bei der Vorspeise vage von einer Unternehmung am Abend gesprochen, ohne sie zunächst beim Namen zu nennen. Und als es heraus war, hatte sie einen nach dem anderen angesehen und so getan, als dächte sie intensiv darüber nach, wer auserkoren werden sollte, sie zu begleiten. Schließlich war die Wahl auf ihre Nonna und ihren Bruder gefallen.
»Ich muss sofort nach Hause zurück, wenn wir fertig sind mit Häkeln und Stricken. Dann richte ich die Reste vom Mittagessen für Enrico und Sören an, und wir brechen nach List auf. Hoffentlich macht Enrico rechtzeitig Feierabend. Wir brauchen das Auto.«
Sie bogen in den Hochkamp ein und von dort in die Straße Im Grund. Das Horizont war ein flaches Gebäude, nur insgesamt drei Stockwerke hoch, mehr sah der Bebauungsplan an dieser Stelle nicht vor. Auf den ersten Blick schien es ein kleines Haus zu sein, was daran lag, dass die Fassade nicht breit war und sich das Gebäude vor allem nach hinten erstreckte. Es hatte einen Innenhof, in den man durch einen Torbogen gelangte. Dort gab es einen Eingang, der direkt zu den Hotelzimmern im Anbau führte. Er wurde spätabends jedoch geschlossen, dann war nur der Weg durch den Haupteingang möglich. Der vordere Teil des Hotels hatte im Erdgeschoss keine Gästezimmer. Neben der Lobby gab es dort das kleine Restaurant, das morgens als Frühstücksraum diente, einige Büroräume und mehrere Gesellschaftszimmer, die vermietet wurden. Sie konnten von Firmen für Tagungen gebucht werden, aber auch für Familienfeste oder Veranstaltungen, für die im Kurhaus kein Platz war oder für die dessen Räume zu groß waren.
Als sie das Hotel betrat, winkte Mamma Carlotta Carolin an der Rezeption zu. Sie telefonierte gerade und nahm ihre Großmutter nicht zur Kenntnis. So konnte Carlotta ihre Enkelin ausgiebig betrachten und brauchte sich ihre Rührung, die bei den Kindern immer für peinliche Verlegenheit sorgte, nicht aus den Augen zu wischen. Ihre kleine Carolina! Nun war aus ihr eine junge Dame geworden. Als Kind war sie blass und unauffällig gewesen, hatte Wert darauf gelegt, sich so zu kleiden, dass sie übersehen wurde, und keine anderen Farben als Grau und Beige an sich herangelassen. Dann war eine Zeit gekommen, in der das Make-up gar nicht schrill genug und Frisuren und Outfit nicht unkleidsam genug sein konnten. Mittlerweile sah sie aus, wie sich jeder Hoteldirektor eine Mitarbeiterin wünschte: korrekt frisiert und dezent geschminkt. Das Schüchterne hatte sie auch abgelegt, ihr Lächeln war professionell geworden.
Mamma Carlotta blieb stehen und sah sich um. »Madonna!«, flüsterte sie. Was war aus dem eleganten Hotel geworden? Die Palmen, die in der Lobby gestanden hatten, waren durch künstliche Gewächse ausgetauscht, der Teppichboden war herausgerissen und durch einen praktischen Bodenbelag ersetzt worden. Das Vornehme, das das Hotel ausgestrahlt hatte, als es noch Frangiflutti hieß, war dahin. Carlotta Capella war sehr enttäuscht.
»Kommen Sie«, drängte Frau Kemmertöns, was sehr ungewöhnlich war. Normalerweise war sie es, die vorwärtsgetrieben werden musste.
Mamma Carlotta hätte eigentlich gern mit Carolin über die Veränderungen in der Lobby gesprochen, aber ihre Enkelin war nach wie vor beschäftigt. Außerdem war es vermutlich besser, erst zu Hause darüber zu reden, wenn ihr Chef nicht mithören konnte, was ihrer Oma an der neuen Ausstattung missfiel.
Also folgte Carlotta der Nachbarin aus der Lobby heraus in einen Gang, der zu den Gesellschaftsräumen führte. Der Raum, der für Floras Charity reserviert worden war, stand offen.
Flora Engelbeck bemerkte die beiden Eintretenden nicht. Sie ging gerade von einer Frau zur anderen, ließ sich erklären, wie weit jede von ihnen mit ihrer Handarbeit gekommen war, wie lange sie noch brauchen würde und wie das Ergebnis aussehen sollte.
Für Floras Charity war das Horizont ideal. Dreißig bis vierzig Frauen passten ohne Weiteres in den Raum, den Flora Engelbeck gemietet hatte, saßen an Tischen, die zu einem großen U aufgestellt waren. Auf ihnen war Platz für Wolle, Schnittmuster, Strick- und Häkelanleitungen und sämtliche Arbeitsutensilien, die benötigt wurden. Mindestens dreißig Frauen saßen bereits da, als Mamma Carlotta mit Frau Kemmertöns den Raum betrat. Nein, nicht nur Frauen, auch einige Mädchen waren schon angekommen ... und Felix! Feixend sah er ihr entgegen, während das Mädchen an seiner Seite Wolle und eine Häkelnadel vor ihn hinlegte und ihn mit einem Lächeln bedachte, das alles verriet. Jedenfalls einer Frau wie Mamma Carlotta, die immer sofort merkte, wenn irgendwo Amore im Spiel war. Das musste Verena sein. Sie häkelte gerade vor Felix’ Augen ein paar Luftmaschen und verband sie zu einem Kreis. Nun fing sie an, Felix zu erklären, wie daraus eine Mütze werden sollte.
Auch die anderen hatten ihre Handarbeiten aus den Taschen genommen, aber noch nicht mit der Arbeit begonnen. Sie unterhielten sich lebhaft, lachten und freuten sich augenscheinlich auf das gemeinsame Werkeln. Einer der Gründe, warum auch Mamma Carlotta gern handarbeitete, war, dass dies in Gesellschaft möglich war, dass man dabei sehr gut reden und zuhören konnte, jedenfalls dann, wenn man sich nichts Kompliziertes vorgenommen hatte, bei dem ständig die Maschen gezählt oder Maß genommen werden musste. Dennoch war immer klar, dass es sich um Arbeit und nicht etwa um eine fröhliche Freizeitgestaltung handelte. Keiner der Ehemänner in Panidomino wäre auf die Idee gekommen, seiner Ehefrau Müßiggang vorzuwerfen, wenn sie mit ihren Freundinnen zusammen handarbeitete. In diesem Fall, in dem es um einen guten Zweck ging, war so etwas erst recht nicht zu befürchten.
»Ich stelle Sie Frau Engelbeck vor«, sagte Frau Kemmertöns und griff nach Carlottas Arm.
Diese folgte ihr wie hypnotisiert, mit offenem Mund und aufgerissenen Augen. Madonna! Was war das? Wer hätte gedacht, dass sie Frau Engelbeck bereits kennen würde? Sie hörte nicht, dass die Apothekerin ihr einen Gruß zuwarf, dass die Verkäuferin der Bäckerei sich freute, weil sie sich auch an der Arbeit für den guten Zweck beteiligen wollte, und eine Serviererin nach ihren Wünschen fragte. Diese Frau! Die kannte sie doch! Oder ... irrte sie sich? Sie hatte am Vormittag eine riesige Sonnenbrille getragen, einen großen Hut mit breiter Krempe ... dennoch war Mamma Carlotta, als sie vor Flora Engelbeck stand, ganz sicher, dass sie sich nicht irrte. Und als sie den kurzen Schreck in deren Augen sah, zweifelte sie keine Sekunde mehr. Flora Engelbeck, die bekannte Charity-Lady, war von ihr, von Carlotta Capella, beim Ladendiebstahl erwischt worden.
Sie fuhren auf der Westerlandstraße, die am Ortseingangsschild von Westerland zur Norderstraße wurde. Erik versuchte sich an die neue Unterbringung zu gewöhnen, indem er sich sagte, dass der Weg zum Dienst nun ein wenig kürzer war. Schon nach wenigen Minuten bogen sie links ab und fuhren auf den hohen, schmalen Turm zu, das Wahrzeichen der Telekom Sylt. An seinem Fuß waren mehrere Container errichtet worden. Einige Einsatzfahrzeuge standen auf dem kleinen Parkplatz daneben, Erik bugsierte seinen alten Ford auf einen schmalen Platz, der für ihn reserviert worden war. Wie lange dieses Provisorium wohl bestehen bleiben würde? Man kannte das ja. Die zeitliche Planung bei einem Bauvorhaben wurde fast immer überschritten. Und bei einem alten Gebäude wie dem Polizeirevier Westerland musste man immer damit rechnen, dass sich Überraschungen in Form von baulichen Mängeln ergaben, mit denen niemand gerechnet hatte.
Sein Büro war klein, viel kleiner als das im Polizeirevier am Kirchenweg. Erik wusste, es würde lange dauern, bis er sich in der neuen Umgebung wohlfühlte. Er mochte keine Veränderungen. Jahrelang hatte er mit geschlossenen Augen neben sich greifen und einen Aktenordner aus dem Regal holen können, den er sogar im Schlaf gefunden hätte. Nun musste er nach allem, was er brauchte, erst suchen.
Es erfüllte ihn mit Befriedigung, dass es Sören nicht anders ging, obwohl er doch jünger, flexibler und ohnehin mental leichtfüßiger war. Er hörte ihn nebenan rumoren und leise schimpfen, weil er etwas suchte, was sonst immer auf der Fensterbank gelegen hatte. In diesem Büro jedoch waren die Fensterbänke zu schmal, um sie als Ordnungsfläche zu missbrauchen, und so musste Sören sein Ablagesystem ganz neu erfinden.