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Motto

»Der Kern meiner Aussagen ist, dass eine enge und
kausale Beziehung besteht zwischen den Erfahrungen
eines Individuums mit seinen Eltern und seiner späteren
Fähigkeit, emotionale Bindungen einzugehen.«

John Bowlby

 

»Man kann das Leben nur rückwärts verstehen,
aber leben muss man es vorwärts.«

Søren Kierkegaard

Begegnungen

Neun Liebesgeschichten und eine Gemeinsamkeit

Männer und Frauen reden über die Liebe. Sie erzählen von einer Liebe, die Hoffnungen weckt und Sehnsüchte stillt; sie erzählen aber auch von einer Liebe, die schmerzt, enttäuscht und mutlos macht. An diesen Geschichten gibt es nichts Besonderes oder Außergewöhnliches, ganz im Gegenteil: Sie haben einen wohlvertrauten Inhalt. Wie wir alle, sind auch diese Menschen auf der Suche nach einer tiefen Begegnung – nach einem anderen, der sie versteht, dem sie vorbehaltlos vertrauen können, der ihnen Sicherheit gibt, mit dem sie sich weiterentwickeln können. Manchmal glauben sie, diesen anderen Menschen gefunden zu haben. Doch dann wird die Liebe schwierig.

Drei Paare sowie vier Frauen und zwei Männer kommen in diesem Buch zu Wort. Sie alle wünschen sich nichts mehr als eine glückliche Beziehung – und wissen nicht, warum dieser Wunsch nicht in Erfüllung geht.

Alle Fälle sind anonymisiert und verfremdet, die Namen sind erfunden. Allerdings setzen sich diese Liebesgeschichten aus den Erfahrungen realer Menschen zusammen. Sie sind daher keine reine Fiktion.

Maria und Max

Es war die große Liebe. Als sie sich auf einer Studentenparty kennenlernten, wussten beide sofort: Wir bleiben zusammen. Ihm imponierte diese selbstständige und selbstsichere junge Frau. Ihr gefiel, dass er zuhören konnte und so sanft war. Bald zogen sie zusammen, beendeten ihr Studium, fanden tolle erste Stellen. Er machte Karriere, sie auch. Das Glück war perfekt. Doch davon ist nicht mehr viel geblieben. Wenn Max nun am Abend nach Hause kommt, ist Maria entweder nicht da, oder sie macht ihm Vorwürfe. Er habe keine Zeit mehr für sie, denke nur an sich, würde sich nur noch für seine Arbeit und seinen Sport interessieren.

Max versteht Maria nicht. Aus seiner Sicht tut er alles für sie und die Beziehung. Ihre Erwartungen empfindet er als überzogen, er fühlt sich eingeengt, kontrolliert, ausgebremst. Zunehmend reagiert er wütend, wenn Maria ihm Vorwürfe macht, und geht zum Gegenangriff über. Dann wirft er ihr vor: »Du bist eigennützig, viel zu passiv, auf mich fixiert, neidisch auf meine Arbeit.« Das Paar verheddert sich immer mehr in dem Teufelskreis aus Vorwurf und Gegenvorwurf.

Die beiden fragen sich: Warum ist Maria so anklammernd und vorwurfsvoll? Sie war doch bislang so unabhängig? Und warum kann Max ihr nicht mit Verständnis begegnen? Warum wehrt er sich so verzweifelt?

Hannelore

Hannelore ist seit ein paar Jahren Single und sucht im Internet eine neue Liebe. Regelmäßig hat sie vielversprechende Verabredungen, die aber fast immer im Sande verlaufen. Das Muster ist jedes Mal dasselbe: Auf stundenlange Telefonate folgt das erste Treffen. Wenn der Mann auch nur annähernd infrage kommt, verliebt sie sich schnell. Und wenn der andere es forciert, landet sie auch schon mal nach ein oder zwei Begegnungen mit ihm im Bett. Danach aber kommt der »Kater«. Der Mann zieht sich zurück, ist plötzlich nicht erreichbar oder gesteht, dass er noch andere Eisen im Feuer hat. Für Hannelore bricht dann regelmäßig eine Welt zusammen, sie verliert jeglichen Mut, will sich nur noch verkriechen. Sie fragt sich, was der Grund dafür ist, dass kein Mann nachhaltiges Interesse an ihr hat. Und sie findet die Schuld immer bei sich: Sie ist zu hässlich, zu dick, zu dumm und vermutlich überhaupt nicht beziehungsfähig. Irgendetwas Grundlegendes muss sie falsch machen. Wenn es ihr dann wieder besser geht, startet sie den nächsten Versuch.

Sie fragt sich: Was mache ich falsch? Warum gerate ich immer an die Falschen? Oder bin ich falsch? Warum bleibt niemand bei mir? Bin ich beziehungsunfähig?

Joe und Ulrike

Joe heißt eigentlich Josef. Aber Joe klingt moderner, jünger, meint Josef. Und so will er erscheinen: jung und dynamisch. Er ist Immobilienmakler, und da ist ein überzeugendes Auftreten genauso wichtig wie die Automarke. Natürlich fährt Joe einen SUV.

In letzter Zeit aber bleiben die beruflichen Erfolge aus, er fühlt sich ausgebrannt. Er hatte sich daran gewöhnt, gute Abschlüsse einzufahren; doch seit Monaten läuft das Geschäft eher schleppend. »Dieses Auf und Ab ist in der Branche normal«, sagt Joe, »aber dieses Wissen beruhigt mich nicht. Ich sitze stundenlang im Büro, telefoniere mit Leuten, versuche Kontakte zu machen, aber mir gelingt nichts mehr.« Joe befindet sich in einer mittelschweren Depression. Er, der überaus erfolgreiche Makler, bewundert von Kollegen wie Konkurrenten, fühlt sich wertlos. Was für einen anderen Menschen eine normale Durststrecke wäre, ist für Joe ein Desaster.

»Seine berufliche Situation wirkt sich immer mehr auf unsere Beziehung aus«, klagt seine Ehefrau Ulrike. »Er kennt zu Hause nur ein Thema: die schwierige Lage auf dem Immobilienmarkt. Er will, dass ich ihm zuhöre, ihn aufbaue. Auf keinen Fall kann er es aushalten, wenn ich irgendwelche Wünsche habe oder über eigene Probleme reden will. Solange ich als emotionale Tankstelle zur Verfügung stehe, ist er zufrieden. Noch biete ich ihm diesen Service, aber langsam bin ich auch am Ende meiner Kräfte. Mich überfordert das, es strengt mich extrem an. Er verträgt keine Kritik und ist auch nicht bereit, mir entgegenzukommen oder mal einen Kompromiss einzugehen.« Einen normalen Beziehungsalltag kann sich Ulrike schon gar nicht mehr vorstellen.

Die beiden fragen sich: Warum hat sich der erfolgreiche und zuversichtliche Joe so verändert? Wieso kann er mit den beruflichen Schwierigkeiten nicht besser umgehen? Und welche Rolle spielt Ulrike dabei?

Johanna

Seit ihrer Pubertät weiß Johanna, dass sie Frauen liebt. Damals hat sie die Sportlehrerin verehrt und bewundert und sich gewünscht, die Lehrerin würde sie mal in den Arm nehmen. Mit zwanzig wurde sie von einer deutlich älteren Frau verführt. Die große Liebe war es nicht. In der Folge verliebte sie sich immer mal wieder. Aber die Richtige war nicht dabei. Dann aber kam Ella. Von Anfang an wusste sie: Die ist es! Seit sie Ella kennt, weiß sie, was es heißt, jemanden zu lieben und zu begehren. Mit dieser Frau will sie zusammenziehen, Kinder adoptieren, heiraten. Doch Ella fühlt sich bedrängt. Und sie ist oft schwierig: Sie wird schnell eifersüchtig, klammert in einem Moment, und im anderen zeigt sie Johanna die kalte Schulter. Johanna lässt sich durch dieses Verhalten aber nicht beirren. Sie bleibt dran. Sie weiß, dass Ella sie liebt, daran hat sie keinen Zweifel. Ella verblüfft die Verlässlichkeit von Johanna. Sie kann dem Frieden noch nicht trauen: Wird das anhalten, oder wird Johanna irgendwann genug von ihr haben?

Johanna fragt sich: Warum kann Ella nicht einfach »Ja« zu meinen Plänen sagen? Was hält sie ab?

Matthias

Er ist ratlos. Eigentlich hat er in Susanne seine Traumfrau gefunden. Sie haben viele Gemeinsamkeiten, er fühlt sich wohl mit ihr. Eigentlich. In letzter Zeit spricht sie viel von der Zukunft, und das gefällt ihm nicht. Susanne will wissen, wie es weitergeht mit ihnen. Gemeinsame Wohnung, ein Kind? Um Gottes willen, denkt Matthias dann, nur weg hier. Hinzu kommt, dass es da noch zwei sehr gute Freundinnen gibt, die er hin und wieder trifft und mit denen er auch Sex hat. Warum er diese Beziehungen aufrechterhält, weiß er selbst nicht so genau. Auf keinen Fall darf Susanne davon erfahren, er will sie nicht verlieren. Aber entscheiden kann er sich auch nicht für sie.

Er fragt sich: Was ist mit mir los, warum kann ich mich nicht entscheiden? Was hält mich davon ab, mich verbindlich auf Susanne einzulassen?

Annalena und Tom

Bislang gab es keine Probleme zwischen ihnen. Sie sind gut miteinander ausgekommen, bezeichnen sich als Team, das viele Gemeinsamkeiten lebt. Aber seit »dieser Geschichte« ist alles anders, klagt Tom. Mit »dieser Geschichte« meint er die Zeit, als Annalena mit der Diagnose »Verdacht auf Brustkrebs« nach Hause kam. Natürlich war sie erschüttert, natürlich hatte sie Angst. Sie wünschte sich, dass er sie zur Untersuchung begleitet. Da aber hatte er ein wichtiges berufliches Meeting und wollte sich nicht freinehmen. Er wollte sie nur beruhigen, als er meinte, »Da wird schon nichts sein«. Für Annalena war seine Reaktion schockierend, sie hatte das Gefühl, dass bisher vorhandene kleine Risse in der Beziehung nun aufbrachen. Als er sah, wie viel ihr seine Begleitung bedeutete, bot er ihr an, sein Meeting zu verschieben. Doch da war es schon zu spät. Sie ging allein. Dass der Verdacht sich nicht bestätigte, hat sie natürlich sehr gefreut. Doch die Enttäuschung über Tom war so groß, dass sie ihm nur widerwillig das Ergebnis mitteilte. Seit diesem Ereignis kann Annalena nicht mehr entspannt mit Tom umgehen. Auch er ist verunsichert, zugleich aber auch verärgert. Schließlich ist er sich keiner Schuld bewusst.

Die beiden fragen sich: Was ist da passiert? Haben wir uns die ganze Zeit etwas vorgemacht? Wieso kann dieses eine Ereignis uns so auseinanderbringen? Was haben wir übersehen?

Agnes

Nach ihrer Scheidung lebte Agnes lange allein. Sie konnte es sich nicht vorstellen, sich noch einmal fest zu binden. Doch dann begegnete ihr auf einem Firmenfest ein Mann, der sofort ihr Herz eroberte. Sie hatte Schmetterlinge im Bauch und war selbst erstaunt über ihre Gefühle. Er war auch geschieden. Mit seiner Ex hatte er eine sechsjährige Tochter. Sie teilten sich das Sorgerecht. Alles schien perfekt. Wenn er alle zwei Wochen seine Tochter bei sich hatte, unternahm Agnes andere Dinge, und als er mit der Tochter in Ferien fuhr, fand sie das natürlich in Ordnung. Sie hielt sich aus der Vater-Tochter-Beziehung ganz heraus. Doch die Distanz hielt nur ein halbes Jahr. Als er meinte, es wäre an der Zeit, dass sie seine Tochter kennenlerne, willigte sie ein. Es war ihr wichtig, bei der Kleinen einen positiven Eindruck zu machen. Was auch gelang: Die Tochter fand sie »super«. Nun verbrachten sie die Vater-Wochenenden zu dritt. Agnes erfuhr immer mehr über seine Probleme mit der Ex-Frau, bekam die schulischen Sorgen der Tochter mit, kümmerte sich um deren Hausaufgaben und wurde zu einer Art Zweitmutter. Alles schien gut. Doch Agnes wurde immer unzufriedener. Sie wollte einen Partner, keine Familie. Sie wollte, dass er sich um sie kümmerte und weniger um die Tochter. Sie warf ihm vor, dass er sie vernachlässige, dass er zu wenig Interesse an ihrem Leben und ihren Sorgen hätte. Immer ginge es um ihn, um seine Tochter, um deren Bedürfnisse. Hatten sie Zeit für sich, ohne das Kind, ging es ihr gut mit ihm. Aber sobald die Tochter ins Spiel kam, gab es Zoff. Er meinte, er könne nichts an der Situation ändern. Er habe nun mal ein Kind, das müsse sie akzeptieren. Sie hätte doch gewusst, dass sie ihn nur mit Kind haben könne.

Sie fragt sich: Warum fühle ich mich zurückgesetzt? Ich kann mich doch nicht mit einem Kind vergleichen – und doch tue ich es. Warum nur? Bin ich zu egoistisch?

Elena

Elena ist seit sechs Jahren mit Mario zusammen, bald wollen sie heiraten. Der Termin steht schon fest. Vor Kurzem sind sie in die erste gemeinsame Wohnung gezogen. Es könnte eine Zeit der Freude und Zuversicht sein. Doch Elena und Mario sind nicht glücklich. Sie haben immer schon viel und heftig gestritten, meist, weil sie ihn wegen Kleinigkeiten angriff: Mal war er zu lang mit den Freunden unterwegs, mal hat er ihr nicht aufmerksam zugehört, mal hat er die falsche Milch gekauft. Aber weil sie sich liebten und meist schnell versöhnten (oft landeten sie nach dem Streit im Bett und hatten wunderbaren Sex), führten sie ihre Auseinandersetzungen auf Elenas Temperament zurück und problematisierten sie nicht weiter. Doch seit sie zusammenleben, haben die Auseinandersetzungen eine neue Qualität. Wo Elena früher nur laut wurde, schreit und brüllt sie jetzt, und es gehen Dinge zu Bruch. Wo Mario sie früher beruhigen konnte, bleibt ihm heute häufig nur die Flucht, um die Situation zu deeskalieren. Sie lieben sich, daran haben beide keinen Zweifel. Aber so darf es nicht weitergehen.

Elena fragt sich: Woher kommt die Wut? Warum kann sie sich nicht kontrollieren? Welchen Anteil hat Mario daran? Wie kann sie verhindern, dass die Konflikte eskalieren?

Paul

Paul und Inga kannten sich bereits als Teenager und haben mit Anfang zwanzig geheiratet. Für beide gab es keine anderen Liebespartner. Auf ihre bisherige Lebensbilanz schauen beide mit großem Stolz: Sie haben gemeinsam einen florierenden Schreinerbetrieb aufgebaut und drei Kinder großgezogen, die alle »was geworden sind«. Doch nun ist etwas passiert, womit beide »niemals« gerechnet hätten, wie Paul sagt. Er ist fremdgegangen. Vor einem halben Jahr hatte er eine kurze Affäre, die bis heute für Turbulenzen sorgt. Sehr bald hatte Paul seiner Frau alles offenbart, wollte so ehrlich wie nur möglich mit ihr sein. Natürlich brach für Inga eine Welt zusammen. Der Gedanke, dass sie einander untreu sein könnten, war in all den Jahrzehnten des Zusammenlebens nie aufgetaucht. Die beiden führten viele Gespräche, Paul stand Inga Rede und Antwort, bemühte sich, ihren Schmerz aufzufangen. Teilweise ist ihm das auch gelungen. Aber wichtige Fragen sind immer noch ungeklärt.

Paul fragt sich: Warum ist diese Affäre passiert? Warum bereue ich meine Untreue nicht wirklich? Warum würde ich auf Ingas Frage »Würdest du es wieder tun?«, nicht klar mit »Nein« antworten?

 

Max und Maria, Hannelore, Joe und Ulrike, Johanna, Matthias, Annalena und Tom, Agnes, Elena, Paul – sie alle leiden aus ganz unterschiedlichen Gründen an der Liebe. Spürbar ist bei allen die Sehnsucht nach einer glücklichen Beziehung und die Enttäuschung darüber, diese bisher nicht wirklich gefunden zu haben. Ihre Geschichten sind inhaltlich sehr verschieden, keine gleicht der anderen. Und doch gibt es eine Gemeinsamkeit. Auf sie stößt man fast immer, wenn die Liebe Probleme bereitet. Von dieser Gemeinsamkeit handelt das Buch.

Einleitung
Die erste Liebe

Was hat die Kindheit damit zu tun, wenn Beziehungen heute schwierig sind? Und warum sind Veränderungen nur möglich, wenn wir wissen, was die erste Liebe uns lehrte?

»Es gibt kaum eine Aktivität, kaum ein Unterfangen, das mit so großen Hoffnungen und Erwartungen begonnen wird und das mit einer solchen Regelmäßigkeit fehlschlägt, wie die Liebe.« Diese Aussage traf der Psychoanalytiker Erich Fromm Mitte der 1950er-Jahre. Könnte man ihn heute erneut zum Thema befragen, würde er wohl kaum anderer Meinung sein. Konstant hohe Scheidungsraten, die große Zahl an Single-Haushalten in Großstädten, viele Millionen Partnersuchende im Internet und ungezählte Paare, die sich ein glückliches Leben zu zweit erhofften und sich dann im Liebesalltag miteinander verstricken – gelebte Liebe ist offensichtlich mehr denn je ein schwieriges Unterfangen. Frauen und Männer sehnen sich nach einem anhaltenden Beziehungsglück, doch häufig erfolgt nach einem kurzen Höhenflug schon bald der Absturz, oder die Partnerschaft landet nach einem längeren, unaufhaltsam erscheinenden Sinkflug auf dem harten Boden des Alltags.

Warum ist es so schwer, glückliche und dauerhafte Beziehungen zu führen? An Analysen mangelt es nicht: Verantwortlich für die Liebesmisere, so Experten, seien allzu romantische Vorstellungen von der Liebe, die Überforderungen durch Beruf und Familie, überzogene Erwartungen an eine Partnerschaft, die Hoffnung, dass es »da draußen« – vielleicht in den Tiefen des Internets – noch einen besseren Partner oder eine bessere Partnerin gibt. Gerade der letzte Punkt bekommt zurzeit viel Aufmerksamkeit. Vor allem jüngeren Erwachsenen, aber nicht nur ihnen, wird Beziehungs- und Bindungsunfähigkeit bescheinigt. Sie würden nur noch um sich selbst kreisen und sich mit Selbstoptimierung beschäftigen. Sobald Beziehungsprobleme auftauchten, kämen sie ins Schleudern, meint zum Beispiel Michael Nast, Autor des Bestsellers Generation beziehungsunfähig. Der Zwang zur Perfektion mache dann auch nicht vor dem Partner halt. Denn schließlich sei man sich ja bewusst, »dass es irgendwo noch jemanden gibt, der das eigene Leben sinnvoller ergänzt«.

Diese Diagnose ist nicht falsch. Alle genannten Aspekte können dazu beitragen, dass eine Paarbeziehung in Schieflage gerät. Deshalb ist es für ein Paar durchaus sinnvoll, an diesen Problemen zu arbeiten und sich deren Auswirkungen auf die Liebe bewusst zu machen. Aber reicht das aus? Verbessert sich die eigene Beziehungssituation nachhaltig, wenn man die Liebe nicht mehr romantisch verklärt und seine Erwartungen herunterschraubt? Ändert sich grundlegend etwas an der Beziehungszufriedenheit, wenn man aufhört, nach dem perfekten Partner oder der perfekten Partnerin zu suchen, und sich zufriedengibt mit einem Menschen, der »gut genug« ist?

Wer oder was ist schuld?

Seit vielen Jahren habe ich das große Privileg, als Psychologin und Paartherapeutin Menschen in Lebens- und Beziehungskrisen ein Stück auf ihrem Weg begleiten zu dürfen: Junge Frauen und Männer, die gerade in die Arbeitswelt starten, Partnerschaften eingehen und Familien gründen; Paare in der Rushhour des Lebens, die fürchten, dass ihnen vor lauter Alltagsstress die Liebe abhandenkommt; ältere Männer und Frauen, die sich nach vielen Jahren der Zweisamkeit fragen, ob das jetzt schon alles war.

Manche Ratsuchende sind hetero-, manche homosexuell, manche kommen als Paar, viele suchen für sich allein Rat – weil der Partner, die Partnerin nichts von einer Paarberatung hält, weil eine Beziehung gescheitert ist, oder weil sie Single sind und bisher keinen passenden Lebensbegleiter finden konnten.

All diese Männer und Frauen erzählen mir vertrauensvoll von ihren Begegnungen und Erfahrungen mit der Liebe. Sie berichten von den immer gleichen Konflikten, von ihren Ängsten, nicht (genug) geliebt zu werden, sie zweifeln an sich selbst und fürchten – möglicherweise beeinflusst von der öffentlichen Diskussion des Themas –, beziehungsunfähig zu sein. Sie reden von ihrer Einsamkeit, die sie trotz Partnerschaft empfinden oder unter der sie leiden, weil sie bislang noch niemanden getroffen haben, der mit ihnen durchs Leben gehen will. Sie sprechen von ihrer Enttäuschung über den Partner oder die Partnerin, und gar nicht so selten sprechen sie auch von der Enttäuschung über sich selbst.

»Wir streiten ständig über Kleinkram.« »Meine Frau hat sich in einen Kollegen verliebt.« »Wir reden kaum noch miteinander.« »Ich gerate immer an die falschen Männer (falschen Frauen).« »Manchmal habe ich den Eindruck, ich rede gegen eine Wand.« »Sie akzeptiert meine Kinder aus erster Ehe nicht.« »Er kontrolliert mich ständig, ich habe gar kein Privatleben mehr.« »Er kann eiskalt werden, wenn ich etwas von ihm will.« »Ich kann es nicht leiden, wenn ständig jemand an mir klebt.« »Schon wieder ist eine Beziehung gescheitert, die dritte in zwei Jahren. Was stimmt mit mir nicht?« »Sie hat mich mit meinem besten Freund betrogen.« »Ich habe das Gefühl, ich bin inzwischen für Männer unsichtbar.« »Die Frauen, die ich kennenlerne, haben über kurz oder lang immer was an mir auszusetzen.« »Im Laufe der Zeit habe ich interessante Männer getroffen. Aber ich muss was an mir haben, was sie vertreibt.« »Ich hätte gern mehr Sex mit meiner Frau, aber sie will nicht. Sie sagt, sie liebt mich, aber ich kann es nicht wirklich glauben.« »Ihr Ex-Mann steht zwischen uns. Sie spricht zwar nicht von ihm, aber ich weiß, dass er noch ein Konkurrent ist.« »Ich liebe zwei Männer und weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll.« »Sein Kind aus erster Ehe ist ihm wichtiger, als ich es bin.« »Wie sollen wir zusammen alt werden, wenn wir nicht miteinander reden können.«

 

So unterschiedlich die jeweiligen Probleme und Anliegen auch sind, alle Liebesunglücklichen hoffen, dass sich ihre Situation möglichst kurzfristig zum Besseren verändern lässt. Sie möchten lernen, was Beziehungen im Allgemeinen und ihre Beziehung im Besonderen erfolgreich macht. Sie wollen an sich arbeiten und erfahren, wie sie mehr Leichtigkeit in ihre Zweierbeziehungen bringen können und was ihnen zu einer effektiveren Kommunikation, einem erfüllteren Sexualleben und insgesamt zu einem harmonischeren Zusammenleben verhilft. Sie wünschen sich, dass der Partner, die Partnerin endlich einsichtig ist und Veränderungsschritte einleitet.

Verständliche Wünsche, verständliche Erwartungen. Doch in den meisten Fällen suchen Menschen die Lösung für ihre Liebesprobleme am falschen Ort. Wenn ein Paar nicht miteinander reden kann, wenn körperliche und emotionale Nähe fehlen oder unbefriedigend sind, wenn ständige Auseinandersetzungen um Kleinkram zermürben, wenn Untreue eine Partnerschaft erschüttert, wenn Liebesbeziehungen nicht zustande kommen oder regelmäßig scheitern, dann sind das meist nur Symptome einer tiefer liegenden Ursache.

Wie wir Liebe lernen

Krisen in der Partnerschaft, häufige Trennungen oder unerfüllt bleibende Beziehungswünsche werden von Betroffenen meist auf individuelle Schwächen und Fehler zurückgeführt oder auf die Unfähigkeit des Partners. Doch aktuelle Schwierigkeiten mit der Liebe haben oft gar nicht so viel mit der eigenen Beziehungsfähigkeit oder der des Partners zu tun, als man gemeinhin glaubt. Viele Männer und Frauen, die an der Liebe leiden, wissen nicht, dass sie das möglicherweise bereits seit Anbeginn ihres Lebens tun, weil ihre aktuellen Probleme weniger mit dem aktuellen Partner zusammenhängen als vielmehr mit der ersten Frau oder dem ersten Mann in ihrem Leben. Denn das Verhalten von Mutter und Vater hat uns nicht nur in der Kindheit geprägt; die frühen Erfahrungen mit den ersten und intensivsten Liebespartnern beeinflussen bis heute unser Leben und eben auch unsere Liebesbeziehungen.

Unsere Eltern brachten uns bei, wie Beziehungen funktionieren. Aus der Art und Weise, wie sie sich in den ersten Lebensjahren um uns kümmerten, ob sie uns Zuwendung und Liebe schenkten oder uns streng behandelten und wenig beachteten, lernten wir, was wir von den Menschen, die wir lieben, erwarten können und was nicht. Wir lernten, ob wir einen eigenen Willen haben dürfen oder ob es ratsamer ist, uns unterzuordnen und anzupassen. Wir lernten, wie viel Nähe wir zu anderen zulassen können, ob die Erwachsenen unser Vertrauen verdienen, oder ob es für uns besser ist, auf Abstand zu bleiben. Wir lernten, ob wir uns Liebe erarbeiten müssen, oder ob wir auch geliebt werden, wenn wir nicht immer brav sind. Kurz: Wir lernten, ob unsere erste Liebesbeziehung ein sicherer oder ein unsicherer Ort ist. Diese frühen Lektionen und die Schlussfolgerungen, die wir daraus zogen, haben wir abgespeichert. Sie begleiten uns unser Leben lang. Unser späteres Beziehungsglück beziehungsweise unser späteres Liebesunglück haben in den meisten Fällen mit diesem frühem »Unterricht« und dem damals entstandenen Beziehungswissen zu tun.

Gibt es Probleme in einer Partnerschaft, dann sollten wir uns unbedingt mit unserer ersten Liebesbeziehung befassen. Der Blick zurück kann helfen, immer wiederkehrende Beziehungskonflikte zu verstehen. Denn es gibt inzwischen keinen Zweifel mehr an diesem Zusammenhang: Wie gut Beziehungen im Erwachsenenalter gelingen, hängt zu einem sehr großen Teil von den Erfahrungen in der frühen Kindheit ab. Die Erfahrungen, die wir mit der ersten Liebe unseres Lebens machen mussten oder durften, formten das Modell, wonach wir heute Beziehungen führen. Man kann sagen: Die erste Liebesbeziehung ist der Prototyp, nach dem wir alle folgenden wichtigen Beziehungen in unserem Leben gestalten. Nicht immer ist dieser Prototyp eine Last. Aber manchmal schränkt er unsere Handlungsfähigkeit auf ungute Weise ein.

Spannende Erkenntnisse der Bindungsforschung, die in den 1950er-Jahren von dem englischen Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby begründet wurde, bestätigen diesen Zusammenhang zwischen der frühen Eltern-Kind-Beziehung und der späteren Fähigkeit, stabile Paarbeziehungen einzugehen. Erleben wir als kleines Kind keine sichere Bindung an einen Erwachsenen, dann speichern wir unsere negativen Erfahrungen in einer Art »Beziehungsmodell« ab. Von der Qualität dieses Modells hängt nicht nur unsere physische wie psychische Gesundheit ab, sondern auch unsere Beziehungs- und Bindungsfähigkeit.

Beziehungen im Erwachsenenalter können nicht losgelöst von den Kindheitserfahrungen eines Menschen betrachtet werden. Das Kind, das wir einst waren, beeinflusst mit seinen Erfahrungen das erwachsene Beziehungsgeschehen. Diese bahnbrechende Erkenntnis ermöglicht ein tieferes Verständnis für Paarkonflikte und Paardynamiken und macht – nebenbei bemerkt – auch Paartherapien erfolgreicher.

Tiefer tauchen – eine neue Perspektive finden

Wenn auch Ihre Beziehungsgeschichte alles andere als eine Erfolgsstory ist und alle bisherigen Verbesserungsversuche wenig gefruchtet haben, dann kann es sinnvoll sein, »tiefer zu tauchen« und Ihre Beziehungssituation aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Dieses Buch ermöglicht Ihnen diesen Perspektivwechsel. Es lädt Sie ein, Ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf die Gegenwart und Zukunft zu richten, sondern auch auf die Vergangenheit. Je mehr Sie über Ihre Erfahrungen in der frühen »Beziehungsschule« Bescheid wissen, desto besser können Sie sich selbst verstehen. Und das ist die wichtigste Voraussetzung für gelingende Partnerschaften.

Solange Sie aber den Zusammenhang zwischen Ihrer ersten Liebe, der Liebe zu den Eltern, und Ihren heutigen Beziehungsproblemen nicht kennen, bleiben Partnerschaften für Sie unter Umständen ein Rätsel und ein Problem. Sie sind dann dazu »verurteilt«, fatale Fehler immer und immer wieder zu wiederholen:

 

Gleichgültig, ob Sie aktuell in einer schwierigen, konfliktreichen Partnerschaft leben, ob Sie eine Trennung hinter sich haben, immer wieder an falsche Partner geraten oder ungewollt Single sind – die Beschäftigung mit Ihren frühen Bindungserfahrungen ist auf jeden Fall hilfreich. Denn die Wissenschaft von der Bindung im Erwachsenenalter zeigt ganz klar: Am stärksten wirken sich frühe Bindungserfahrungen in Paarbeziehungen aus. Das ist kein Wunder, denn sie sind der Eltern-Kind-Beziehung am ähnlichsten. Deshalb genügt es nicht, wenn Sie an Ihrer Kommunikationsfähigkeit arbeiten oder lernen, negative Verhaltensmuster zu verändern. Vielmehr geht es darum, dass Sie Ihre früh entstandenen Bindungsmuster gut kennenlernen und ihren Einfluss auf Ihre Beziehungen schwächen.

Das Ziel dieses Buches ist es, Sie bei dieser Entdeckungsreise zu unterstützen. Machen Sie Bekanntschaft mit den faszinierenden Fortschritten im Bereich der Erwachsenen-Bindungsforschung. Erfahren Sie, wie Sie die wissenschaftlichen Erkenntnisse für Ihr Liebes- und Beziehungsleben nutzen können. Und vor allem: Lernen Sie das Kind, das Sie waren, besser kennen. Und wenn Sie zusätzlich herausfinden, welche frühkindlichen Erlebnisse Ihren Partner oder Ihre Partnerin prägten – umso besser! Denn die Kinder, die Sie waren, leben mit Ihnen in Ihren Beziehungen und können unter Umständen Ihr Beziehungsglück gehörig stören.

Was Sie schon jetzt auf jeden Fall wissen müssen und was Sie beim Lesen der nächsten Kapitel nicht vergessen sollten: Bindungsmuster sind kein Schicksal, sie sind veränderbar.

Sobald Sie erkennen, welche Bindungsgeschichte Sie haben und warum Sie in engen Beziehungen so agieren, wie Sie es tun, haben Sie eine wichtige Voraussetzung für Veränderung geschaffen.

Was Sie in den Hauptkapiteln dieses Buches erwartet

Kapitel 1 und 2 beschäftigen sich mit den Einflüssen der Kindheit auf Beziehungsmuster und -vorstellungen. Woher stammt Ihr Wissen über Beziehung? Nach welchem Modell gestalten Sie heute Ihre Partnerschaften? Wann und von wem haben Sie gelernt, wie enge zwischenmenschliche Beziehungen funktionieren?

Kapitel 3 stellt Tests vor, mit deren Hilfe Sie Ihrem Bindungsstil auf die Spur kommen können: Sind Sie sicher, ängstlich oder ambivalent gebunden, oder gehören Sie zu der Gruppe der Bindungsvermeider?

Kapitel 4 bis 7 beschreiben die einzelnen Bindungsstile genauer. Welche Auswirkungen haben diese auf das konkrete Verhalten, auf den Umgang mit Gefühlen? Und vor allem: Was sagt Ihr Bindungsstil darüber aus, wie Sie enge Partnerschaften gestalten?

Kapitel 8 und 9 greifen die Frage auf, wer am häufigsten mit wem eine Beziehung eingeht. Interessanterweise finden sich vor allem ängstliche Gebundene mit vermeidend Gebundenen in der sogenannten Verfolger-Vermeider-Beziehung zusammen. Diese Partnerschaften sind oftmals problematisch, aber dennoch meist sehr stabil. Das gilt auch für das narzisstische Paar, das eine Extremform der Verfolger-Vermeider-Beziehung darstellt.

Kapitel 10 wirft einen Blick auf eine Beziehungsherausforderung, die nach wie vor häufig zu Trennungen führt: Untreue. Berücksichtigt man auch bei dieser für Paare extrem schwierigen Situation die Bindungserfahrungen und Bindungsstile der Partner, kann dies zu einem neuen Verständnis von Untreue führen und einen lösungsorientierten Weg aufzeigen.

Kapitel 11 bis 14 schließlich geben Ihnen Hinweise, wie Sie den Einfluss Ihres Bindungsstils verringern und Ihre Beziehungsfähigkeit vergrößern können. Diese Kapitel nehmen Sie mit auf eine Bindungsreise, auf der Sie einen neuen Umgang mit sich selbst und Ihrem Partner, Ihrer Partnerin lernen können.

1 Das Kind, das wir waren

Warum streiten wir uns nur die ganze Zeit? Woher kommen diese ständigen Missverständnisse? Was steht zwischen uns? Es wird Zeit, die richtige Frage zu stellen: Wer denkt, spricht und handelt hier eigentlich?

Wenn Sie mit einem anderen Menschen eine Beziehung eingehen, hängt der Erfolg Ihrer Partnerschaft nicht nur von Ihnen, den beiden Erwachsenen, ab. Denn in Ihr »Beziehungshaus« ziehen zwei weitere Wesen mit ein: ein kleines Mädchen und ein kleiner Junge. Oder wenn Sie in einer homosexuellen Beziehung leben, gehören zwei Mädchen oder eben zwei Jungen zu Ihrer Gemeinschaft. Wer sind die Kleinen? Eigentlich müssten Sie sie kennen. Denn bei den unsichtbaren Mitbewohnern handelt es sich um das Kind, die Sie und Ihr Partner oder Ihre Partnerin früher einmal waren. »Da jeder von uns ein ›Kind von früher‹ in sich beherbergt, müssen sich in der Ehe vier Personen miteinander arrangieren«, schreibt der Autor Whitney Hugh Missildine, »zwei Erwachsene, die sich in der Gegenwart bewegen, und zwei Kinder, die sich in ihrem je eigenen Familienmilieu tummeln.«

Manchmal machen diese Kleinen keinerlei Schwierigkeiten, aber meist sind sie eher Störenfriede. Engagiert und unaufgefordert mischen sie sich munter in Ihre erwachsenen Angelegenheiten ein. Das ist so lange kein Problem, solange diese Kinder eine glückliche Kindheit hatten und in ihrer ersten Liebesbeziehung mit den Eltern positive Bindungserfahrungen sammeln konnten. Ihre Einmischungen ins Leben der Erwachsenen sind daher eher harmlos. Möglicherweise schmollen sie, wenn etwas nicht so läuft, wie sie es erwarten, manchmal haben sie Heißhunger auf mindestens zwei Stück Kuchen, weil der Erwachsene sich über etwas geärgert hat, manchmal kommen sie morgens nicht aus dem Bett, weil sie keinen Bock auf Arbeit haben.

Waren die Erfahrungen der »Kinder« mit ihren frühen Liebespartnern, den Eltern, dagegen negativ und belastend, dann sind die beiden wahrscheinlich eine ernsthafte Herausforderung für die erwachsene Beziehung. Sie melden dann penetrant Wünsche und Bedürfnisse an, möchten Aufmerksamkeit, wollen nicht allein gelassen werden und reagieren eifersüchtig auf Konkurrenz. Die Kinder wollen bestimmen, wie viel Nähe erträglich ist oder wie viel Distanz eingehalten werden muss. Sie fürchten sich vor Einsamkeit oder davor, bevormundet zu werden.

Einig sind sich die beiden dabei selten. Das eine Kind will oft etwas anderes als das andere – und umgekehrt. So gut wie nie haben sie Verständnis für die Anliegen des anderen. Meist kämpfen sie erbittert miteinander um Aufmerksamkeit und Zuwendung. Mit aller Macht wollen sie verhindern, dass das andere Kind die Oberhand gewinnt. Es liegt auf der Hand, dass das Leben mit den Kindern, die sich belastet von frühen negativen Erfahrungen in Ihre Beziehung einmischen, für Sie alles andere als erfreulich ist.

Das chaotische Leben zu viert

Viele Beziehungskonflikte resultieren aus der störenden »Einmischung des ›inneren Kindes‹ von früher«, schreibt Whitney Hugh Missildine. Diese Einmischung »ist vielfach die primäre Ursache von Eheproblemen, auch wenn es dabei vordergründig um Sex, Geld, Eifersucht oder einen ständig nörgelnden Partner geht«. Dieses einflussreiche Wirken des jeweiligen Kindes ist Ihnen, den Erwachsenen in diesem Quartett, in der Regel nicht bewusst. Seine Störsignale sind nicht leicht zu identifizieren. Es fällt schwer, die Aktivitäten des eigenen inneren Kindes zu bemerken, und noch schwerer ist es, das kleine Mädchen, den kleinen Jungen im Partner oder der Partnerin zu entdecken. Denn das Kind, das Sie früher waren, ist ziemlich geschickt. Es kann seine Wünsche so gut tarnen, dass Sie glauben, es seien Ihre eigenen Wünsche. Das führt dann manchmal dazu, dass Sie als erwachsene Frau, als erwachsener Mann sich in Konfliktsituationen »wie ein Kind« verhalten, um auf sich, Ihre Ängste, Bedürfnisse und Wünsche, aufmerksam zu machen. Dann kann es vorkommen, dass Sie heftiger als nötig weinen, hilflos den anderen anschreien, sich stumm in sich zurückziehen, voller Wut etwas an die Wand werfen, sich verzweifelt an den Partner klammern, ärgerlich mit dem Fuß aufstampfen – und damit meist alles nur noch schlimmer machen.

Vielleicht aber empfiehlt Ihr »inneres Kind« auch eine indirekte Methode, wenn es um Aufmerksamkeit und Zuwendung kämpft. Wenn das der Fall ist, bleiben Sie scheinbar erwachsen und verpacken Ihre Bedürfnisse in »vernünftige« Argumente oder »sachliche« Kritik: Sie beklagen sich beim anderen über sein mangelndes Engagement im Haushalt. Sie reagieren gereizt, wenn der Partner zu viel Zeit mit der Arbeit oder seinen Freunden verbringt. Sie kritisieren die Partnerin wegen ihres ständigen Zuspätkommens. Sie werfen dem anderen vor, dass er nie zuhört und immer nur Sex will. Sie bleiben vorgeblich aus Sorge bis spät in die Nacht auf, wenn Ihre Partnerin ohne Sie auf einer Party feiert. Sie rechnen dem anderen vor, dass Sie mehr in die Haushaltskasse einzahlen als er. Sie kritisieren, dass immer Sie sich um die Kontakte zu Freunden und Geburtstagsgeschenke kümmern müssen. Sie werfen der Partnerin vor, dass sie jeden Tag mit ihrer Mutter telefoniert, sich aber nicht genug um Ihre Eltern kümmert.

Wie angebracht Ihnen diese Vorwürfe auch erscheinen und wie vernünftig Ihre Begründungen dafür auch ausfallen, die dahinterliegenden Motive haben oft mit der Realität wenig zu tun. Vielmehr kämpfen Sie in vielen Fällen auf diese Weise um die Erfüllung kindlicher Bedürfnisse – Ihrer kindlichen Bedürfnisse, denen in der Kindheit zu wenig Beachtung geschenkt worden ist. War Ihr Zuhause zum Beispiel für Sie als Kind kein sicherer Ort, interessierten sich die Erwachsenen nicht für Ihre Ängste und Wünsche, dann haben Sie gelernt: »Was ich wirklich fühle, will keiner wissen.« Deshalb wagen Sie es auch heute nicht, Ihrem Partner offen zu zeigen, wie es Ihnen geht. Würden Sie dem anderen ehrlich gestehen »Ich brauche dich! Kümmere dich um mich!« »Ich fühle mich so allein«, käme das für Sie mit Ihrer Kindheitsgeschichte einer Bankrotterklärung gleich. Deshalb folgen Sie dem »Rat« Ihres inneren Kindes und verstecken Ihre wahren Wünsche hinter Kritik, »Quengeleien« und pseudosachlichen Argumenten.

Natürlich wissen Sie all das nicht. Sie spüren meist nicht, dass Sie sich alleingelassen und einsam fühlen, dass Sie Trost und Unterstützung vom anderen brauchen – weil Sie am Arbeitsplatz gekränkt worden sind, weil Sie sich überfordert fühlen oder etwas anderes Ihnen schwer auf der Seele liegt. Was Sie spüren, ist, dass Sie beim Partner, bei der Partnerin Schutz finden wollen, dass der andere Ihre innere Not lindern soll. Doch dieses Bedürfnis äußern Sie nicht offen, sondern meist auf denkbar ungünstige Weise. Das, was Sie sich wünschen, mehr Nähe, mehr Verständnis, mehr Unterstützung, bekommen Sie durch Ihre indirekten Signale allerdings meist nicht.

Das Kind weiß es nicht besser!