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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Simon Weinert

 

© David Wellington 2019

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»The Last Astronaut« bei Orbit, New York 2019

© Piper Verlag GmbH, München 2020

Covergestaltung: Guter Punkt, München nach einem Entwurf von Lauren Panepinto

Coverabbildung: Arcangel (Helena Sitkin; Monica Quintana)

 

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Periares

»It’s a grand old flag, it’s a high-flying flag …«

»Die Besatzung der wünscht Ihnen zu Hause auf der Erde einen frohen und gesunden Vierten Juli. Aus Sicherheitsgründen können wir hier oben keine Feuerwerkskörper steigen lassen, aber wir möchten Sie gern wissen lassen, dass wir nicht vergessen haben, was dieser Tag für Amerika bedeutet.«

»Ganz recht, Blaine. Und hier auf der haben wir gleich zwei Gründe zum Feiern. Heute haben wir die Umlaufbahn des Mondes hinter uns gelassen. Jetzt ist es offiziell: Die vier Besatzungsmitglieder der sind weiter gereist als jemals ein Mensch zuvor.«

»!

»Das ist unser Experte Ali Dinwari, er hält die Fahne, die wir in ein paar Monaten auf dem Mars aufpflanzen werden. Und neben mir sitzt Bordarzt Blaine Wilson, der uns alle gesund hält …«

»Weiter, weiter, noch zwölf Minuten, dann bekommst du einen Hotdog!«

»Blaine ist ein grausamer Zuchtmeister, aber er hat recht – dort hinten auf dem Laufband sehen Sie unsere Wissenschaftsexpertin Julia Obrador, sie winkt gerade in die Kamera. Wir müssen jeden Tag zwei Stunden trainieren, denn auf der herrscht Schwerelosigkeit. Wir müssen unsere Knochen in Schuss halten, damit wir bei der Ankunft auf dem Mars aufrecht gehen können und nicht kriechen müssen.«

»Du hast vergessen, dich selbst vorzustellen, Sally.«

»Stimmt! Gut, dass du da bist und mich erinnerst, Blaine. Ich bin Sally Jansen, Kommandantin …«

»Du wirst die erste Frau auf dem Mars sein, was?«

»Ah, ja … Missionskommandantin der . Wir vernichten jetzt noch dieses Festmahl aus Hotdogs und Früchtepunsch und machen uns danach gleich wieder an die Arbeit. Aber wir konnten diesen Tag nicht verstreichen lassen, ohne Amerika – und die ganze Welt – wissen zu lassen, dass wir …«

»… and forever in peace may you wave!«

»… genau auf Kurs sind und uns auf einen historischen Moment auf dem roten Sand des Mars zubewegen. Einen schönen Vierten Juli euch allen!«

»Okay, . Jetzt wieder normaler Funk. Habt ihr gut gemacht da oben – die Presseleute grinsen und das ist ein gutes Zeichen.«

»Danke, Houston.« Kommandantin Jansen wandte sich zu ihrer Besatzung um und zeigte ihnen den erhobenen Daumen.

»Gerne«, sagte die Bodenkontrolle. »Obwohl … ich bekomme gerade eine Nachricht. Sieht so aus, als hätte Julia die sozialen Medien vernachlässigt. Denkt daran, dass ihr mindestens dreimal täglich etwas posten müsst. Wenn die Leute auf der Erde nicht regelmäßig was von euch hören, machen sie sich Sorgen um eure geistige Gesundheit. Das macht ein schlechtes Bild.«

»Obrador?«, fragte Jansen.

»Ich gelobe Besserung, es ist nur … meine Güte. Kann ich von diesem Teil runter?«

Blaine Wilson bedachte Obrador mit einem fiesen Grinsen. »Noch neun Minuten.«

Doch Jansen schüttelte den Kopf. Sie hatten noch Arbeit vor sich. »Vergiss es, du bist fertig – und mach dir keinen Kopf wegen InstaChat, wir haben zu tun. Wilson, ich will nichts hören. Houston, hier Jansen, die Kommandantin. Habt ihr eine Erklärung für diese Abweichungen, die ich euch gezeigt habe? Auf meiner Anzeige leuchtet immer noch das rote Licht wegen des Ventildrucks in Treibstofftank sechs der Landefähre.«

», wir vermuten, dass es sich um ein fehlerhaftes Schaltrelais handelt. In dieser Phase der Mission sind diese Programme alle deaktiviert. Es wurde kein Druckablass veranlasst, deshalb gibt es keinen Grund für eine rote Warnleuchte oder irgendein anderes Licht. Sonst sieht alles gut aus. Das muss eine Störung sein.«

»Es leuchtet rot seit dem Schub zum Orbittransfer. Das gefällt mir nicht, Houston. Vielleicht bin ich paranoid, aber …«

»Sie entscheiden, Kommandantin. Sagen Sie uns, was Sie tun möchten.«

Jansen sah zu ihrer Besatzung im HabLab hinüber. Sie waren gut in Form, ein bisschen aufgekratzt, nachdem sie Gelegenheit gehabt hatten, eine Nachricht nach Hause zu senden, auch wenn es eine aufgezeichnete Nachricht gewesen war. »Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, es zu überprüfen. Ich bitte um die Genehmigung für einen Außenbordeinsatz, damit ich mir den Tank mal anschauen kann. Ist das okay?«

»Sie haben die Genehmigung für einen Außenbordeinsatz. Aber seien Sie vorsichtig, Kommandantin.«

»Verstanden, Houston.«

SALLY JANSEN, ASTRONAUTIN: Muss das sein? Über diesen Tag möchte ich nicht sprechen. Ich … Okay. Okay. Damals wollte die NASA, dass wir andauernd Pressetermine und Medienauftritte machten. Also wirklich ständig. Die Orion-Mission kostete Milliarden, und sie wollten den amerikanischen Steuerzahlern zeigen, was mit ihrem Geld passierte. Wir sollten Rockstars sein, TV-Promis. Das war mir immer unangenehm. Mein Gott, können wir nicht mal eine Minute Pause machen? Bloß eine Minute, damit ich mich ein bisschen sammeln kann. Denn Sie müssen verstehen, dass der 4. Juli 2034 der schlimmste Tag meines Lebens war.

 

Es war nicht einfach, sich in der Enge des HabLab in den Raumanzug zu zwängen. Und das Passieren der elastischen Luftschleuse reichte aus, um Jansen schwer ins Schnaufen zu bringen. Das HabLab-Modul – in dem die Astronauten lebten und arbeiteten – war ein siebzehn Meter langer, aufgeblasener Zylinder mit elastischen Doppelwänden, zwischen denen der Wasservorrat des Raumschiffs zirkulierte. Das Wasser hielt das Habitat nach Bedarf kühl oder warm und bot einen Schutzschild gegen die Weltraumstrahlung, doch wenn jemand dagegen stieß, wippte und wackelte das Modul wie eine Luftmatratze und flößte nicht gerade Zutrauen ein.

Die Luftschleuse des Habitats war eine enge Geweberöhre, durch die man sich in Zeitlupe hindurchwinden musste. Dabei musste man jede Bewegung vorsichtig planen, damit man nicht mit irgendeinem Teil des Raumanzugs an den dünnen Wänden hängen blieb. Ein Riss in der weichen Schleuse würde bedeuten, dass sie sämtliche Außenbordeinsätze abblasen konnten, bis die Schleuse wieder repariert war.

Irgendwie gelang es ihr, auf die andere Seite des Moduls zu kommen. Von dort half sie Julia Obrador, der Wissenschaftsexpertin, ebenfalls durch die Schleuse zu schlüpfen. Obradors Gesicht hinter dem Polykarbonatvisier war weiß wie ein Bettlaken und Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie lachte nervös und klammerte sich an das Schiff, als fürchtete sie herunterzufallen. Ihre Nervosität war nicht überraschend – in der Simulation hatte Obrador zwar schon zahlreiche Außenbordeinsätze gemacht, hatte das Schiff aber noch nie verlassen, seit sie von der Erde gestartet waren. Jansen tätschelte ihr den Arm, um ihr Mut zu machen.

Meine Güte, Jansen selbst war auch nicht gerade cool. Um sie herum dehnte sich das Universum in alle Richtungen aus, leer und finster. Sie kämpfte ein Schwindelgefühl nieder. Diesmal war es anders, fand sie. Anders als all die anderen Außenbordeinsätze, die sie auf der Raumstation Deep Space Gateway während des Trainings absolviert hatte. Sie brauchte einen Moment, bis sie begriff, warum.

Unter ihr war nichts. Nichts zu beiden Seiten. Nichts über ihr … rein gar nichts, einfach nur das Nichts … endlos.

Streng genommen gab es im Weltraum, in der Mikrogravitation, kein Oben und Unten. Das menschliche Gehirn war jedoch so sehr an Schwerkraft gewöhnt, dass es das nicht denken konnte, es einfach nicht hinnehmen konnte. In der Raumstation war das einfacher gewesen, denn dort war die Erde riesig leuchtend sichtbar gewesen. Der Bogen des Planeten war unten, damit kam das Gehirn klar. Es war in der Lage zu akzeptieren, dass man flog, dass der Boden sich einem nicht rasant näherte, denn es gab ein Unten, auf das man zeigen konnte. Jetzt aber nicht mehr.

Nach fünfzehntägiger Reise lag die Erde weit hinter ihnen, größer als jeder Stern, aber so weit weg, dass sie psychologisch nichts mehr ausrichtete. Jansen schwirrte der Kopf bei dem verzweifelten Versuch, einen Bezugsrahmen zu finden – und scheiterte daran.

»Man kann sich überall festhalten«, erklärte sie Obrador, die dankbar nickte. »Einfach nie loslassen, okay? Fass einfach einen Haltegriff und lass nicht mehr los.«

Im Helm klang ihre Stimme flach und blechern, als höre sie sich selbst im Radio. Als gäbe jemand anders diesen guten Ratschlag.

Sie sah das Raumschiff an, die , und irgendwie konnte sie sich wieder orientieren. Ihr Schiff bestand aus vier Modulen, jedes von ihnen hatte eine andere Funktion. Ganz hinten war das Antriebsmodul mit den Triebwerken und den Treibstofftanks. Davor war das kegelförmige Steuermodul, der einzige Teil des Schiffes, der wieder zur Erde zurückkehren würde, wenn ihre Mission auf dem Mars abgeschlossen war. Der lange Zylinder mit dem HabLab war in eine Isolierschicht aus wattiertem Silbergewebe gehüllt, das in der Sonne blendete. Und am anderen Ende, direkt auf den Mars gerichtet, befand sich die kugelförmige Landefähre mit ihren Landestelzen, die vorn wie Insektenfühler herausstanden. Das war das Landemodul, in dem sie und Ali zwei Wochen lang auf beengtem Raum leben würden, während sie Steine und meteorologische Daten sammelten.

Aber bis dahin würden noch Monate vergehen. Sollte sie den Fehler nicht finden und sollte das rote Licht weiterhin leuchten, obwohl alles in Ordnung aussah, dann wäre sie den ganzen Flug über nervös. Deshalb sollte sie das besser jetzt klären.

»Immer eine Hand vor die andere«, erklärte sie Obrador, während sie sich an der Außenseite des Habitatmoduls entlanghangelte und sich am Haltegriff vorwärtszog. »Ganz langsam.« Sie durfte nicht zu schnell werden, sonst würde sie sich womöglich vom Schiffsrumpf abstoßen. Weit würde sie nicht kommen – da ihre Sicherheitsleine sie halten würde –, aber sie wollte nicht herausfinden, wie sich das anfühlte.

»Verstanden«, erwiderte Obrador.

Das Funkgerät in ihrem Helm knisterte und knackte. Einfach nur Geräusche im Kanal, wahrscheinlich kosmische Strahlung, geladene Teilchen, die mit beinahe Lichtgeschwindigkeit durchs Sonnensystem rasten und dabei auf ihren Empfänger knallten. Würde sie jetzt die Augen schließen, würde sie grüne Windrädchen aus Feuer sehen. Hier draußen waren sie praktisch nackt angesichts der unsichtbaren Energien, die den vermeintlich leeren Weltraum erfüllten. Aber solange sie es innerhalb einer Stunde wieder hineinschafften, sollte alles in Ordnung sein.

»Wilson, geh bitte in die Landefähre«, rief sie. »Du musst von drinnen aufpassen und mir helfen, dem Problem auf den Grund zu gehen.«

»Verstanden«, antwortete der Schiffsarzt.

»Und was soll ich machen?«, fragte Dinwari.

»Du gehst runter ins Antriebsmodul und schnallst dich an.« Von dort konnte er die Fernmessdaten ihrer Anzüge im Auge behalten und falls nötig auch das ganze Schiff steuern. Ihn dort zu haben, war lediglich eine Vorsichtsmaßnahme, doch die liebte Vorsichtsmaßnahmen über alles. »Von außen kann ich keine Schäden erkennen. Das ist gut. Obrador, wie sieht es bei dir aus?«

»Alles gut«, kam es von Obrador zurück. »Glaubst du, da ist vielleicht was mit der Verkabelung? Die Hauptleitung, die … die Landefähre mit … dem …«

Obrador klang erschöpft. Jede Bewegung in einem Raumanzug war anstrengend. Zwar waren sie schwerelos, aber sie besaßen immer noch Masse und jede Bewegung, jeder Meter bedeutete, dass man gegen die sperrige Ausrüstung ankämpfen musste. »Nicht reden. Spar dir den Atem fürs Klettern.«

»Dachte, hier wären … Sterne«, sagte Obrador, ohne ihrer Anweisung zu folgen.

Jansen betrachtete den schwarzen Himmel ringsum, das leere schwarze Samttuch des Raumes, das sich manchmal so nah anfühlte, dass es einen erstickte, und dann wieder so, als baumle man über einem bodenlosen Abgrund. »Du siehst hier keine Sterne aus demselben Grund, weshalb du an einem klaren Tag auch auf der Erde keine siehst«, sagte sie. »Das Sonnenlicht lässt sie verblassen.« Eine Welle der Müdigkeit ging durch ihre Muskeln und Jansen hielt inne, verharrte, wo sie gerade war, und atmete durch.

Als sie sich etwas erholt hatte, zog sie sich weiter nach vorn. Sie war schon fast auf Höhe der Landefähre. »Blaine, hast du die vordere Schleuse geöffnet?«

»Gerade so«, antwortete Blaine Wilson. »Ich gleiche den Druck zwischen Landefähre und Habitat an. Dauert noch eine Minute.«

»Schneller geht eben nicht«, sagte sie. »Okay, ich bin am Treibstofftank Nummer sechs. Ich mache mal eine Sichtprüfung.« An der Stelle, wo die Landefähre an das HabLab angedockt war, lief ein breiter, flacher Metallgürtel um die Fähre herum. An diesem Gürtel hingen die Tanks wie ein Schellenring, und jeder Tank saß in einem Gewirr aus Schläuchen und Kabeln.

Die Tanks der Landefähre waren völlig abgekoppelt vom Treibstoffvorrat der – sie würden erst gebraucht werden, wenn die Besatzung bereit war, vom Mars zurückzukehren. Der Hydrazintreibstoff würde die Landefähre zurück in die Marsumlaufbahn schießen, wo sie wieder an das HabLab und das Antriebsmodul andocken würde, um sich auf den Heimweg zu machen. Während des gesamten Hinflugs waren die Tanks stillgelegt und inaktiv. Eigentlich sollten sie auf den Anzeigen gar nicht auftauchen und schon gar nicht einen Unterdruck aufweisen. Es war tatsächlich rätselhaft.

Von ihrer Position aus konnte sie den Großteil der Tanks sehen und sie sahen alle in Ordnung aus. Einige lagen jedoch im Schatten des großen Solarschilds der , und natürlich auch die Nummer sechs. Jansen seufzte und schaltete die Helmlampe ein. »Wilson, wie weit bist du da drin? Mach mal das -Steuerelement auf.«

»Äh«, sagte Wilson. »

»Fuel pressure indicator, das Steuerelement für den Treibstoffdruckregler«, sagte Jansen. Die liebte Abkürzungen und man musste sich eine Menge davon merken. »Die Sensoren melden, dass dieser Tank Druck verloren hat, was keinen Sinn ergibt. Du sollst das -Steuerelement aufmachen und die Schaltungen überprüfen, damit wir uns vergewissern können, dass nicht die Sensoren kaputt sind. In dem Element sollte ein Diagramm sein, das zeigt, wie es aussehen muss. Prüf einfach, ob die Kabel alle so sind wie auf dem Bild.«

»Jetzt bin ich in der Landefähre«, meldete er. »Ich winke. Siehst du mich?«

Sie war nicht nahe genug an dem winzigen Sehschlitz der Fähre, um hineinzuschauen. »Lass das, ich habe hier draußen zu tun. Ich …«

Sie stockte. Alles lief plötzlich in Zeitlupe. Was sie sah, was ihre Helmlampe ihr da offenbarte …

»Chefin?«, fragte Obrador hinter ihr.

Jansen fuhr sich mit der Zunge über die plötzlich trockenen Lippen.

Das war übel.

Tank Nummer sechs hatte ein Leck. Ein großes, ausgerissenes Loch klaffte an der Stelle, wo er sich an die Fähre schmiegte. Vielleicht hatte ein winziger Meteorit den Tank getroffen oder ein Stück Weltraumschrott. Jedenfalls sah es so aus, als hätte jemand eine Gewehrkugel in die Tankwand geschossen.

Rund um den beschädigten Bereich hatte sich eine Pfütze gebildet, eine runde, wackelnde Masse aus flüssigem Hydrazin, die aufgrund der Oberflächenspannung an der Fährenhülle klebte.

In dem Treibstoffball bildeten sich Blasen. Es musste also Luft aus dem Inneren des Raumschiffs kommen. Folglich hatten sie ein Leck – der Aufprall, der den Tank beschädigt hatte, musste auch die Hülle erwischt haben. Hydrazin lief in den Besatzungsbereich der Landefähre. In die Landefähre, die sie gerade eben mit Luft gefüllt hatten. Mit Sauerstoff.

»Wilson«, rief sie. »Raus da …«

»Hier riecht es komisch«, sagte Blaine Wilson, als würde er sie nicht hören. Als wäre sie in einem jener Albträume, in dem man Leute anschreit, warnt, ihnen sagt, sie sollen sich umdrehen, weil hinter ihnen ein Monster lauerte, sie einen aber nicht hören können. »Irgendwie wie Reinigungsmittel, vielleicht kommt das noch von der Versiegelung des Moduls. Hat etwas von Ammoniak.«

Was er roch, war reines Hydrazin. Reinster Raketentreibstoff, der sich mit Luft vermischt hatte und die winzige Fähre ausfüllte. Er stand in einer Wolke aus entflammbarem Gas.

GARTH UDAHL, LEITENDER TREIBSTOFFTECHNIKER DER ORION-MISSION: Hydrazin ist ein ziemlich heikler Stoff. Es ist eine einfache Chemikalie, aber unglaublich ätzend. Wenn du auch nur eine winzige Menge davon einatmest, kann es schon deine Lungenschleimhäute verbrennen. Mit dem entsprechenden Katalysator kann es sich auch entzünden. Zum Beispiel reicht eine rostige Stelle in einer Schaltung. Wenn Sie mich fragen, war es um Dr. Wilson geschehen, als er die Fähre betreten hatte.

 

»Wilson!«, schrie sie. »Raus!«

Sie zog sich außen an der Landefähre entlang bis zu einem der Sehschlitze.

»Chefin?«, fragte Obrador erneut. »Was ist los?«

Durch den Sehschlitz sah Jansen ihn brennen. Hydrazinflammen sind unsichtbar, aber Blaine schlug den Arm gegen die Steuerungen, um die Flammen zu ersticken. Seine Haare kräuselten sich und wurden schwarz. Sein Mund öffnete sich zu einem schrecklichen, lautlosen Schrei. Er streckte die Hand zu dem Sehschlitz aus, zu ihr, flehte sie Hilfe suchend an.

Es war eine Gnade des Kosmos, dass sein Funkgerät nicht mehr funktionierte. So konnte sie ihn nicht mehr hören, musste nicht Zeugin der Schreie des Brennenden werden. Doch sah sie, wie er ein ums andere Mal mit der Hand gegen den Sehschlitz hämmerte, vielleicht wollte er ihn zerschlagen, um hinauszugelangen, dem Feuer zu entgehen …

Innerhalb der nächsten Sekunden würde das Feuer durch die Luke wandern, würde sich im HabLab ausbreiten. Es würde das ganze Raumschiff erfassen. Es würde nicht nachlassen, ehe es alles aufgezehrt hatte.

Jemand musste die Luken schließen, um das Feuer einzudämmen. Doch der Einzige, der vor Ort war, um das zu tun, war Wilson.

Doch es gab noch eine andere Möglichkeit.

Während ihres Trainings war Sally Jansen auf eine Million verschiedener Katastrophenfälle im Weltraum vorbereitet worden. Für jede Eventualität war sie endlos gedrillt worden. Deshalb wusste sie ganz genau, was in diesem Fall zu tun war. Die Lösung war jederzeit abrufbar in ihr Gehirn eingebrannt. Sie brauchte nur den Mund zu öffnen und es auszusprechen.

Würden die beiden Module voneinander getrennt, würde sich die Schleuse automatisch schließen. Das war eine Sicherheitsvorkehrung.

Nie war ihr etwas so schwergefallen. Aber sie war Astronautin.

»Dinwari«, sagte sie. »Ali, hörst du mich? Kopple die Landefähre ab.«

»Kommandantin?«, fragte er ganz zaghaft. Doch für sie war es, als brüllte er sie mit einem Megafon an.

»Mach schon!«, sagte sie.

»Das geht nicht! Wilson ist noch drin!«

Jansen blieb keine Zeit für Erklärungen. Sie hastete, so schnell sie es vertreten konnte, an der Außenseite der Fähre entlang bis zu einer Zugangsklappe zwischen den Treibstofftanks und riss sie auf. Darin befand sich ein grellroter Hebel, neben dem stand: ! .

Sie zog kräftig daran.

Sofort explodierten Sprengbolzen zwischen der Landefähre und dem HabLab, einer davon direkt vor ihrer Nase. Um sie herum blitzten Lichter auf und einen Moment lang war sie geblendet – einen ziemlich üblen Moment lang, in dem sie hörte, wie das Visier ihres Helms knackte. Die Explosion schleuderte sie von der Fähre weg. Hilflos trudelte sie im Weltraum, baumelte an der Sicherheitsleine.

Während sie sich überschlug, konnte sie kaum etwas erkennen. Nur bruchstückhaft sah sie, wie ihr Raumschiff auseinanderfiel.

Eine Wolke aus kondensiertem Wasserdampf schoss zwischen den beiden Modulen hervor, Luft strömte aus dem HabLab. Doch als die Schleusen der beiden Module sich schlossen, wurde der Luftstrom unvermittelt abgeschnitten.

Die Landefähre entfernte sich trudelnd vom HabLab. Das elastische Habitatmodul schlenkerte obszön hin und her, allerdings sah Jansen das kaum. Denn sie wirbelte und wirbelte herum, bis ihre Leine zu Ende war, sich mit einem Ruck straffte und sie mit rudernden Armen und Beinen herumgerissen wurde. Sie fasste die Leine und wollte sich stabilisieren, wollte wieder die Kontrolle erlangen, während sie über die Schulter zurücksah.

Die Landefähre bewegte sich immer noch, entfernte sich immer noch heftig trudelnd im leeren Raum. Ihre Landebeine strampelten wie verrückt.

Jemand packte die Schultergelenke ihres Anzugs. Sie wurde gegen das HabLab gedrückt. Ihr angeknackstes Visier grub sich in das weiche Material, während sich bereits Eiskristalle auf der Scheibe bildeten.

Obrador kauerte auf ihrem Rücken und schirmte sie vor dem Schrott ab, der auf sie einprasselte.

»Chefin! Was hast du getan?«, kreischte Obrador, doch Jansen hörte sie kaum. »Was hast du getan?«

In ihrem Kopf schwirrte nur ein einziger Gedanke.

SALLY JANSEN: Nein. Nein. Halt – das ist eine Lüge. Das habe ich nicht gedacht. Ich … ich bin nicht stolz darauf, aber wenn wir das schon machen, wenn wir ehrlich sein wollen … In dem Moment habe ich einfach bloß gedacht: Jetzt ist es vorbei. Das war’s. Ich komme nie zum Mars.

Ferndiagnose

Auszug aus dem Vorwort der Ausgabe 2057 von David Wellingtons

Ich bin fest davon überzeugt, dass die späteren Ereignisse nicht recht verstanden werden können, wenn man nicht weiß, was sie an jenem Tag in 2034 gedacht und empfunden hat.

Als ich den Auftrag bekommen habe, über die Vorkommnisse des Oktober 2055 zu schreiben, wollte ich die Geschichte erst so schnell wie irgend möglich per Stream unter die Leute bringen. Die Öffentlichkeit sollte wissen, was passiert ist und was es für Folgen hatte. Zumindest eines dieser Ziele konnte ich erreichen. Ich habe recherchiert und ein Machwerk zusammengeschustert, das wie ein Roman wirkte, sich aber las wie die Bedienungsanleitung eines Röntgengeräts. Ich konnte auf die ganzen technischen Informationen und diejenigen Tatsachen zurückgreifen, die ohnehin bereits öffentlich waren. Allerdings war niemandem klar, was all das zu bedeuten hatte. Ich wusste es zunächst auch nicht. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich es jetzt in vollem Umfang begreife.

Doch hatte ich das Glück, dass ich seither an viele neue Informationen gelangt bin. Vor allem konnte ich die Beteiligten interviewen. In dieser überarbeiteten Ausgabe habe ich Bruchstücke aus diesen Interviews eingefügt. Außerdem habe ich in diese Ausgabe eine kleine Betrachtung des letzten Tages der -Mission aufgenommen, die Sie eben gelesen haben. Ich glaube, sie ist der Schlüssel zum Verständnis dessen, was während der -Mission tatsächlich geschah.

Aber ich bin noch weitergegangen. Dies ist nicht mehr nur ein journalistischer Beitrag, keine reine Darstellung von Fakten. Vielmehr habe ich versucht, die psychischen Vorgänge derer, die dabei waren, zu untersuchen, auch wenn das aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr bei allen Beteiligten möglich ist. In vielerlei Hinsicht war Sally Jansens Mission von 2055 nicht nur eine Expedition zu einem Objekt im All, sondern auch eine Reise in den menschlichen Geist. Für mein Empfinden hat die Geschichte dadurch gewonnen. Doch urteilen Sie selbst.

Unsere Geschichte beginnt einundzwanzig Jahre nach der -Mission, als lediglich eine Person im ganzen Universum wusste, was sich anbahnte. Ich habe mich bemüht herauszufinden, was er an jenem Tag dachte, als er aus dem Bett sprang und in einen Zug stieg.

 

Sunny Stevens zog die Kordeln seiner Kapuze fester. Er wünschte, er hätte andere Klamotten angezogen, bevor er sich auf den Weg quer durchs Land zu dieser Besprechung gemacht hatte. Aber es war alles auf den letzten Drücker geschehen … als die auf seine Nachricht geantwortet hatte, war er im Grunde bereits zur Tür hinausgegangen. Er hatte gar nicht ernsthaft damit gerechnet und war dementsprechend nicht auf die Idee gekommen, sich vorzubereiten.

Nun war es jedoch Zeit, eine Entscheidung zu fällen. Noch konnte er einen Rückzieher machen – sagen, dass es ihmleid täte, er hätte einen Fehler gemacht. Dann den Nachtzug zurück nehmen, ins Bett gehen und so tun, als hätte er diesen verrücken Plan niemals gehabt. Und morgen wieder im Hive arbeiten gehen und hoffen, dass niemand seine -Mails mitlas.

Oder es durchziehen.

Die Sicherheitskontrolle hatte er bereits hinter sich und wurde durch einen langen Gang geführt, an dessen Ende man ihn zu warten hieß. Jemand hatte gefragt, ob er einen Kaffee wollte, und er hatte Ja gesagt, denn er hatte nicht zugehört. Jetzt saß er auf einem gelben Ledersofa, das wahrscheinlich noch auf das Gemini-Programm zurückging, tief im Büro-Labyrinth des Jet Propulsion Laboratory. Seit 2052, seit der Flut, wegen der sie das Johnson Space Center in Houston dichtgemacht hatten, war das das Hauptquartier der .

Seit seinem fünften Lebensjahr hatte er sich hierher gewünscht. Damals hatte er Astronaut werden wollen. So groß war dieser Wunsch gewesen, dass er jeden Informationsbrocken inhaliert hatte, der irgendwo im Stream gelaufen war. Mit zehn hatte er in Endlosschleife gesehen, wie Blaine Wilson im All verbrannt war.

Als er fünfzehn gewesen war, hatte es in Amerika kein Astronautenprogramm mehr gegeben.

Sunny war am Boden zerstört gewesen. Sein Traum war dahin. Statt durch den Weltraum zu fliegen, studierte er ihn durch Teleskoplinsen und wurde Astrophysiker. Auf die eine oder andere Weise würde er dort hinaufgelangen, zu den Sternen. Zum Zeitpunkt seines Doktortitels hatte er sich damit abgefunden, dass er nie sein eigenes Raumschiff steuern würde, nie zur Bodenstation funken würde aus einer Höhe von einer Million Kilometern. Er hatte gelernt, damit zu leben, es beinahe zu akzeptieren.

Und doch … war er jetzt hier. In Pasadena. Tatsächlich.

Er hatte Durst und Hunger, aber vor allem hatte er Angst, nicht gut genug zu sein. Dass es ihm nicht gelingen würde, sein Anliegen überzeugend rüberzubringen, um die Aufmerksamkeit der zu wecken. Aber seine Daten waren korrekt. Sie waren gut. Irgendjemand hier musste begreifen, wie wichtig es war.

Er hatte nur eine Viertelstunde gewartet, als ein Mann in einem altmodischen Anzug und einer geschnürten Krawatte durch den Gang kam. Er war weiß, vielleicht siebzig Jahre alt, vielleicht auch fünfundsiebzig. Sunnys Mutter hätte ihn spindeldürr genannt. Und er brachte zwei Tassen Kaffee.

, dachte Sunny.

»Dr. Stevens? Ich bin Roy McAllister, Leiter der Abteilung Raumfahrt und Forschung.« Er reichte Stevens eine der Kaffeetassen.

»Früher hieß das mal bemannte Raumfahrt und Forschung«, sagte Stevens. Er stellte die Tasse auf einen Beistelltisch. Er trank keinen Kaffee.

»Wie bitte?«

Sunny wollte dem Mann die Hand schütteln, fürchtete aber, seine Hand könnte zu verschwitzt sein. »Ihre Aufgabe. Früher hieß das mal bemannte Raumfahrt und Forschung. Da ging es um Raumschiffmissionen mit Astronauten. Früher, als die so etwas noch gemacht hat. Sie hat noch die -Mission gestartet. Jetzt geht es nur noch um Weltraumsonden.«

McAllister hatte ein sonnengebräuntes, wettergegerbtes Gesicht, das sich nicht gut deuten ließ. Trotzdem war der unterdrückte Ärger nicht zu übersehen. Hatte Stevens es bereits verbockt?

»Ich bin nicht ganz so alt, wie Sie vielleicht meinen. Aber ja, zu meiner Zeit hieß es bemannte Raumfahrt.«

»Richtig«, sagte Stevens und schloss beschämt die Augen.

»Wie dem auch sei, ich nehme an, ich bin derjenige, mit dem Sie sprechen wollten. Ihre Nachricht war ein bisschen kryptisch«, sagte der alte Herr.

Sunny räusperte sich. »2I/2054 D1«, sagte er.

Und das war es. Der Würfel war gefallen. Es gab kein Zurück mehr zum Hive. Jetzt nicht mehr.

McAllisters Lächeln geriet ein wenig ins Wanken. »Entschuldigen Sie, ich glaube, ich verstehe Sie nicht.«

»Das ist der Name. Die Bezeichnung, wie auch immer«, sagte Sunny. Ihm war klar, dass er stammelte, aber er vermochte sich nicht zu beherrschen. »Ich habe ihm noch keinen Namen gegeben. Ich bin ziemlich sicher, dass ich es benennen darf. Schließlich habe ich es entdeckt.«

McAllister nickte und zeigte auf eine Tür ein Stück weiter den Gang entlang. »Lassen Sie uns in mein Büro gehen und uns dort unterhalten.«

SUNNY STEVENS: Nach der Katastrophe mit der Orion hatte die NASA beschlossen, sich erst mal ein paar Jahre Zeit zu nehmen, um herauszufinden, was schiefgegangen war. Und um sicherzustellen, dass es nicht noch einmal passieren würde. Das dauerte fast zehn Jahre und jedes Jahr wurde das Budget der NASA gekürzt und wieder gekürzt. Der Kongress investierte lieber in private Raumfahrtprogramme. Nach dem Bankrott der NASA in den Vierzigern musste sie die zweite internationale Raumstation auseinandernehmen und ihre Einzelteile im Pazifik versenken. Danach blieb die private Raumfahrt als einzige Alternative. Als ich auf Jobsuche war, kam ich deshalb gar nicht auf die Idee, mich bei der NASA zu bewerben. 2055 hatte sie schon seit zehn Jahren keinen Astronauten mehr ausgebildet. Aber es gab sie noch. Regierungsbehörden brauchen ewig, bis sie abgewickelt werden. Allerdings hatte sich ihre Aufgabe verändert. Keine Weltraumspaziergänge und Golfpartien auf dem Mond mehr. Stattdessen steckten sie ihr ganzes Budget in zwei Dinge: Beobachtung der Schäden des Klimawandels über Satelliten und Weltraumsonden zu den Planeten. Roboterschiffe. Niemand rief einen nationalen Trauertag aus, wenn ein Roboter in der Umlaufbahn des Neptun in die Luft flog.

 

McAllister saß hinter einem überquellenden Schreibtisch und faltete die Hände. Er bedeutete Stevens, Platz zu nehmen. »Wie ich höre, arbeiten Sie bei pace.«

Stevens grinste und zupfte an seiner Kapuze. »Was hat mich verraten?« Die Kapuze war knallig orange – die Farbe von pace – und über den Ärmel zog sich ein Muster aus Sechsecken. Das Logo von pace.

Im -Hauptquartier würde er sich mit diesem Logo kaum Freunde machen. pace sah in der eine verehrte Konkurrentin. Doch die sah in pace den Butzemann.

»Ja, ich arbeite drüben in Atlanta im Weltraumforschungsteam von pace.« pace hatte seinen Hauptsitz in Georgia in einem riesigen Campus, der sich Hive nannte. Der Ort, an dem Sunny die letzten vier Jahre gelebt, seine Freizeit verbracht und gearbeitet hatte. Der Hive verfügte über erstklassige Teleskope, deshalb gefiel es ihm dort. Bis jetzt. »Im Grunde befassen wir uns mit Kosmologie und Astrophysik.«

McAllister nickte. »In der Nachricht, die Sie mir geschickt haben, erwähnten Sie die Bahnelemente eines … Asteroiden? Kometen? Etwas in der Art. Ein Objekt, das das Sonnensystem durchfliegt. Ich habe einen unserer Leute danach schauen lassen und der stand vor einem Rätsel.«

»Ich habe noch mehr. Noch mehr Daten, die ich Ihnen geben kann«, sagte Sunny.

Über ein Jahr lang hatte er 2I verfolgt. Er hatte Terabytes an Daten über 2I. Er kannte seine Albedo, seine Masse – er hatte eine Spektroskop- und eine Lichtkurvenanalyse. Er trug schon lange Material zusammen.

Als er mit den Daten zu seinem Boss bei pace gegangen war, wurde ihm gesagt, dass es interessant aussehen würde. Dass man es sich anschauen würde. Das war vor drei Monaten gewesen und seither hatte er nichts mehr gehört. Keinen Mucks.

Aber jemand musste etwas unternehmen. Jemand musste ein Schiff aussenden, um sich das anzuschauen. Und wenn es pace nicht tat, dann würde die es bestimmt tun. Sie würde es machen .

McAllisters Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war die jedoch anderer Meinung.

»Dr. Stevens, was Sie mir hier anbieten, ist das Ergebnis einer Arbeit einer anderen Firma«, erklärte McAllister. Er lehnte sich zurück. »Ich weiß nicht, wie das bei pace abläuft, aber ich nehme an, dass sämtliche Forschungen, die Sie für die Firma unternommen haben, im Auftrag stattfanden.«

Sunny nickte und sah auf seine Hände herunter. Ihm war klar gewesen, dass das ein Problem darstellen würde. Aber die Daten …

»Was bedeutet, dass, wenn Sie mir diese Daten aushändigen, man Sie wegen Vertragsbruchs verklagen könnte. Und die würde gegen das Gesetz verstoßen, weil sie gestohlene Güter entgegennimmt.« McAllister runzelte die Stirn und wedelte mit einer Hand. »Streng genommen.«

»Ich weiß«, sagte Sunny.

»Also, warum erzählen Sie mir dann nicht, weshalb Sie hergekommen sind? Was Sie von der wollen?«

Sunny holte tief Luft. »Einen Job.«

»Einen Job«, wiederholte McAllister.

Sunny machte den Mund auf, um noch mehr zu sagen. Doch er brachte nur ein Lachen heraus. Es war kein belustigtes Lachen, sondern ein verzweifeltes.

»Wir sind immer auf der Suche nach guten Astronomen, aber wenn Sie sich bei der bewerben wollen, dann muss ich Sie an das Bewerbungsportal verweisen …«

»Ich will pace verlassen und hier arbeiten«, sagte Sunny. »Es ist … etwas kompliziert, denn ich stehe in Atlanta noch unter Vertrag. Und ich möchte gerne Vertragsbruch begehen. Und um das zu tun, bräuchte ich Schutz. Vor den … Sie wissen schon … den Juristen von pace.« Sunny verzog das Gesicht. »Die haben echt gute Juristen. Ich will ein anständiges Gehalt, das ist allerdings, wie Sie sich denken können, verhandelbar, und Krankenversicherung und vielleicht auch zwei Wochen Urlaub. Außerdem habe ich noch eine Forderung, die vielleicht etwas übertrieben erscheint, aber …«

»Sie haben eine Forderung.« McAllisters Miene wurde eiskalt. »Dr. Stevens, ich glaube, Sie verstehen nicht. Ich habe Ihnen doch eben gesagt, dass ich die Daten, die Sie mir anbieten, nicht annehmen kann. Was bedeutet, dass ich Ihnen im Gegenzug auch keinen Job anbieten kann. Es tut mir leid, dass Sie deshalb den weiten Weg auf sich genommen haben.«

Er wollte aufstehen.

Sunny hatte eine letzte Chance. Eine letzte Chance, um seinen Hintern zu retten.

Es war Zeit, die großen Geschütze aufzufahren.

»Es wird langsamer«, sagte er. »Spontan. Es wird spontan langsamer.«

Er war ein ziemlich großes Risiko eingegangen, indem er damit zur gekommen war. Er hatte gehofft, mit jemandem aus dem Wissenschaftsteam zu sprechen, nicht mit einem Bereichsleiter. Jetzt war seine einzige Hoffnung, dass dieser sonnengebräunte Bürokrat genug Hintergrundwissen in Raumflugmechanik hatte, um das Entscheidende zu begreifen.

McAllister blieb sitzen. Er machte keine großen Augen und schnappte auch nicht nach Luft. Aber er kratzte sich seitlich an der Nase, als würde er über Sunnys kleinen Ausbruch nachdenken. Schließlich sagte er: »Na gut. Vielleicht lässt sich was machen.«

Vielleicht – vielleicht kapierte er es. Vielleicht verstand er, was daran so wichtig war.

McAllister musterte Sunny eine Weile lang schweigend. »Vielleicht sollten Sie dieses Sweatshirt ausziehen, bevor wir weiterreden.«

Sunny fasste den orangenen Kapuzenpulli. »Äh, ich hab drunter nichts an. Ich habe heute frei. Als Ihre Nachricht kam, dass ich herkommen soll, bin ich gleich zum Zug gelaufen. An Klamotten habe ich gar nicht gedacht.«

McAllister hob die Hand zu dem Gerät, das an sein Ohr geklemmt war, und berührte es. »Hier McAllister. Ja. Könnten Sie mir einen Gefallen tun und mir ein Herren--Shirt besorgen? Ich weiß, dass das eine ungewöhnliche Bitte ist. Bringen Sie es einfach in mein Büro.«

Ein paar Minuten später kam ein Angestellter mit einem neuen Hemd – ein weißes -Shirt aus dem Souvenirladen des . Darauf war noch das alte Logo zu sehen, ein roter Schweif vor einer blauen Scheibe.

»Willkommen bei der «, sagte McAllister.