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ERSTER TEIL

BUENOS AIRES

I

Hunger. Und Hitze. 31 Grad, bereits um zehn Uhr morgens. Frisch geweißelte Mauern, wolkenloser Himmel. Das Stadtpalais des Don Vincente Alameda nahe dem Parque Las Heras, Buenos Aires, im Januar 1902, wir wissen den Tag nicht genau. Auf ein Klingeln an der Pforte hin öffnet der Majordomus einem dürren Menschen in verschlissener Kleidung. Der junge Mann gibt an, er sei aufgrund der Anzeige im Lokalblatt hier, wolle vorsprechen für den Posten des Klavierlehrers. Der livrierte Haushofmeister, nur seinen Nachnamen kennen wir, Sanchez, überlegt, den unwürdigen Zudringling abzuweisen, bietet ihm aber, aus Mitgefühl, eine Orangeade an und einen Teller halbierter Feigen. Sanchez gefällt das blonde Haar des Besuchers. Es kommt ihm nach einigem Abwägen vor, als müsse von solcher Blondheit der Herrschaft Meldung gemacht werden. In der Küche finden sich noch ein paar Zimtkekse.

 

Don Alameda, vom Vorhandensein jenes aus dem Rahmen fallenden Besuchers in Kenntnis gesetzt, verfügt, daß der Aspirant Platz nehmen möge im Klavierzimmer, wo er alsbald, vielleicht noch vor dem Mittagessen, inspiziert werden soll. Im Innenhof des Palais setzt der Gärtner die Fontäne in Gang, von nun an untermalt ein gutmütiges Glucksen die Akustik. Der Garten, rund um den Brunnen aus blaßrotem Porphyr, wuchert von Orangen und Zitronen, unnützen Zierat gibt es kaum. Hier und da Marmorbänke, schlicht und weiß, im römischen Stil. Zwei der auf den Hof gehenden Balkone werden statt von Efeu von üppigem Basilikum umrankt. Reife Tomaten wachsen an Spalieren unterhalb der Balkone, und der dürre junge Mann hätte gute Lust, Tomaten und Basilikum in seinen Mund zu stopfen. Stattdessen ißt er hastig die verstaubten Kekse auf und stürzt die Orangeade in sich hinein. Es wäre ein denkbar ungeeigneter Moment, um ohnmächtig zu werden. Der junge Mann mit den hellen blauen Augen kann sich kaum auf den Beinen halten, er betritt das Klavierzimmer, nimmt, von Sanchez dazu aufgefordert, Platz am Steinway-Flügel. Schüchtern, fast wie ein Anfänger, schlägt er einige Tasten an, intoniert eine Toccata von Schumann, was den Haushofmeister, der ihn jede Minute sorgenvoll beaufsichtigt, immens beruhigt. Offenbar hat er keinem Betrüger oder Landstreicher Einlaß gewährt. Dieser verhärmte, spargelige Mensch hat sich offenbar – irgendwie, irgendwo – des Klavierspiels kundig gemacht, wenngleich seine Schuhe aussehen, als hätte er sie vor Jahrhunderten auf einem Schlachtfeld gestohlen. Jorge Jega – mit diesem Namen hat er sich an der Bedienstetenpforte vorgestellt – übergibt Sanchez vergilbte, nur schwer zu entziffernde Papiere, die ihn als deutschen Studenten ausweisen, immatrikuliert in Dresden. Jegas Spanisch klingt seltsam, alles in allem einigermaßen korrekt, wenngleich steif, beinahe drollig, wie antiquierten Lehrbüchern entnommen.

Endlich betritt Don Alameda den Raum, im weißen Zweireiher mit dunkelgrauer zugeknöpfter Weste, trotz der hohen Temperatur. Ein stattlicher, andere würden sagen: kräftiger bis korpulenter Mann um die Fünfzig, mit schmalem Schnurrbart. Für die Papiere kneift er ein Monokel ins Auge, bei jeder Bewegung seufzt er leise.

»Sie haben sich Sanchez als ›Jorge Jega‹ vorgestellt, hier steht aber was anderes.«

»Ich habe meinen Namen den hiesigen Sprechbedingungen angepaßt, das ist richtig.«

»Den ›hiesigen Sprechbedingungen‹ angepaßt. Wie klingt das denn? Sie sind witzig. Verstehe.«

Don Alameda läßt sich die Zeugnisse des jungen Mannes geben und überfliegt, nein, er liest sie in wenigen Sekunden komplett durch, denn es gibt recht wenig zu lesen. Ein oftmals gefaltetes Abiturzeugnis, das einen guten, aber nicht herausragenden Notenschnitt aufweist, ausgestellt von einem Realgymnasium in Leipzig. Das Empfehlungsschreiben einer russischen Hofpianistin, bei der Jörg Jäger – so heißt der junge Mann anscheinend – zwei Jahre Fortgeschrittenenunterricht erhalten und zu ihrer Zufriedenheit abgeschlossen hat. Dann noch die Bestätigung des Dresdener Musikkonservatoriums, daß genannter Jörg Jäger, männlich, damals zwanzig Jahre alt, zwei Semester dort absolviert, das Studium dann aus persönlichen Gründen abgebrochen habe, trotz ordentlicher Leistungen.

Jorge Jega hat, sagt er, erst zwei Jahre Zeit gehabt, die spanische Sprache zu lernen. Er sei aus dem überfüllten Deutschland ausgewandert, um in Argentinien sein Glück zu finden, habe bisher jedoch Pech gehabt und Unglück erlitten. Doch gebe es jetzt eine neue, womöglich letzte Hoffnung – er kramt eine Zeitung vom Vortag aus seiner Ledertasche und zeigt auf die umkringelte Stellenanzeige.

KLAVIERLEHRER für den Unterricht einer höheren Tochter gesucht, steht da.

Er, Jorge Jega, bewerbe sich hiermit um die Stellung. Während Jega versucht, die Hacken zusammenzuschlagen, was ihm nicht recht gelingt, denn er hat nie gedient und seine Schuhe sind nicht geeignet, einen Knall zu erzeugen, zittert er vor Hunger und noch etwas mehr vor Nervosität.

Don Alameda, leicht pikiert vom Pathos der ›womöglich letzten Hoffnung‹, bittet ihn um ein paar Darbietungen seiner Kunstfertigkeit. Jega entscheidet sich für die träumerische E-Dur-Etüde Chopins (op. 10 Nr. 3), danach improvisiert er etwas in rhythmischem Moll, leitet über in eine Bach-Chaconne und endet mit der argentinischen Nationalhymne. Alameda kann Speichellecker nicht leiden, davon abgesehen hat ihm der Vortrag des jungen Mannes gefallen, und das Spielen der Hymne durch einen Ausländer findet er aufgrund so offensichtlicher Verzweiflung und Erbärmlichkeit letztlich entschuldbar.

»Sie werden meiner Tochter eine Probestunde geben. Jetzt gleich. Mal sehen, wie Sie ihr gefallen. Wenn Sie ihr nicht gefallen, war es das schon. Einverstanden?«

Jega nickt, er hat mehr erreicht, als am Morgen zu hoffen gewesen war. Alameda klatscht in die Hände, schiebt sein Monokel in die Tasche und verläßt den Raum ohne Abschied. Jega bleibt auf dem Klavierstuhl sitzen, beschließt dann, lieber im Stehen zu warten, um keinen lümmelhaften Eindruck zu erwecken. Minuten vergehen. Es tut sich nichts, eine Viertelstunde lang, eine halbe Stunde lang. Endlich tritt sie ein.

Francisca Julietta de Gonzales-Alameda. Es existieren keine Fotografien von ihr aus jener Zeit, obwohl es mindestens zwei gegeben haben muß. Glaubt man den Stimmen ihrer Zeitgenossen, war Doña Francisca ein apartes, graziles Geschöpf, so wie zehntausend andere Mädchen in einer Landeshauptstadt. Die meisten Beschreibungen stimmen überein: Wangen von natürlicher Röte in einem eher schmalen Gesicht, milchbleiche Haut, die prachtvoll mit ihrem schwarzem Haar kontrastierte, ein spitzes Näschen, dünne, aber in ausgeprägter M-Form geschwungene Lippen, die ihr etwas Verschmitztes verliehen, selbst wenn sie ohne Mienenspiel vor sich hin träumte. Das Haar trug sie glatt und halblang, kunstlos nach hinten zum Zopf gebunden, und sie bevorzugte Kleider, die Blicke auf ihre Schultern gewährten, nicht zuviel, nicht obszön wie die Laufkurtisanen an der Hafenpromenade, aber genug, um das Mißbehagen ihres Vaters auszulösen, der ihr regelmäßig anriet, wenigstens einen Schal umzuwerfen, bevor sie aus dem Haus trat, sie könne sich erkälten. Selbst jetzt, im Hochsommer, wiederholte er diesen Ratschlag formelhaft wie einen Zauberspruch.

Francisca trat ins Zimmer, ein Mädchen von siebzehn Jahren, und es war, als ströme sie herbei wie frische Luft oder gleißendes Licht, und mit ihr der Duft von Jugend und Übermut. Sie trug ein dünnes weißes Baumwollkleid, das durch einen braunen schmalen Ledergürtel tailliert wurde, und ihre Füße, sehr kleine Füße, steckten in Sandalen, die man von Darstellungen antiker Szenen kennt. Ihre Augen leuchteten eine Spur blauer als blau, wie die Kornblume, wie der wolkenfreie Himmel im Spätherbst, bevor er sich mit der Dunkelheit zu mischen beginnt. Kurz: Es gab an ihr nichts Wesentliches auszusetzen, und sobald Jorge Jega ihrer ansichtig wurde, fühlte er den Keim der Liebe zu ihr. Natürlich war es Begierde. In seinem Alter wußte er beides noch nicht klar zu unterscheiden. Er würde mit ihr fortgehn. Er sah sie und wußte sofort, in der allerersten Sekunde, er würde mit ihr fortgehn, sie freien und lieben und nehmen und heiraten und nahe bei sich haben bis zum Tod. Und beide hatten sie ja blaue Augen. Im nächsten Moment schon hatte Jorge Jega all das verdrängt, denn er war kein Kretin und bereits geschult genug vom Leben, um zu wissen, wieviel man sich herausnehmen kann beziehungsweise wieviel man sich selbst zumuten darf.

Er stellt sich ihr vor. Sie knickst, sagt nur »Francisca«, wirft ihr Köpfchen dabei kurz hin und her wie eine eigensinnige Marionette. Er bittet sie, ihm etwas vorzutragen, ganz gleich was, am besten freies Spiel, nichts Auswendiggelerntes. Sie öffnet erstaunt, beinahe empört, den Mund.

»Wie? Etwas Eigenes? Ich bin doch kein Compositeur?«

»Improvisieren Sie bitte! Das sagt mir am meisten, mehr als etwas Erlerntes, bei dem ich nicht weiß, wie lange Sie daran geübt haben.«

Ihr Mund schließt sich wieder, zeigt ein gespielt verzagtes Lächeln, ja sie spielt bereits, wenn auch noch nicht auf dem Klavier, längst jedoch mit ihm.

»Also soll ich wirklich irgendetwas vortragen? Keinen Czerny, Clementi oder Bach?«

»Irgendetwas, genau. Ich bitte darum.«

Das Mädchen setzt sich an den Flügel, schiebt ihr Kleid zurecht, greift in die Tasten und entlockt ihnen eine sinnfreie Kakophonie. Jega läßt sich das keine zehn Takte lang gefallen, schlägt mit der Handfläche auf das Holz und zischt vernehmlich, ungefähr so, wie man einen bellenden Hund zu beruhigen versucht.

»Herrgott! Sie wissen ganz exakt, was ich meine. Wenn Ihr Herr Vater uns zuhört! Sonst eben doch Czerny, Clementi oder Bach!«

Die Drohung wirkt. Das Mädchen überlegt kurz, spielt dann etwas sehr Melodiöses, Balladenähnliches, schlicht im Ausdruck und vom Technischen her wenig anspruchsvoll. Damit zeigt sich Jega zufrieden und bittet sie, die Passage zu wiederholen, mit diesen und jenen eingestreuten rhythmischen Finessen, mit einer zweiten Stimme hier und da und komplexeren Akkorden. Sie gehorcht und gibt sich Mühe. Jega setzt sich nun zu ihr, sie spielen die sentimentale Weise vierhändig, in schärferem Tempo. Schließlich übernimmt er die Führung und verwandelt das harmlose Stück in eine Kadenz von beeindruckender Virtuosität, wohl, um sein Können zu demonstrieren, um Autorität zu erlangen, ein wenig auch, um anzugeben.

Francisca staunt, mit leicht offenem Mund, wie erhofft, aber was sie dann sagt, konsterniert ihn.

»Zuviel des Guten, Maestro!«

Jega muß lachen und weiß nicht, wie er reagieren soll. Das Mädchen springt auf, verläßt tänzelnd den Raum. Er überlegt, was dies zu bedeuten hat. Ist sie beleidigt? Wird sie sich bei ihrem Vater über ihn beschweren? Er wähnt sich bereits gescheitert, als Francisca erneut den Raum betritt, ein Tablett auf dem Arm.

»Lassen Sie uns frühstücken, Maestro, mein Magen fühlt sich ganz leer an!«

Sie bringt (mit ihren eigenen Händen! Ohne Hilfe eines Dieners!) Kaffee und halbe Brötchen, bestrichen mit bernsteinfarbenem Feigengelee. Anscheinend sind Feigen zur Zeit ein günstig gehandeltes Obst. »Greifen Sie zu, Maestro!« Sie beißt in ein Brötchen, hält ihm ein anderes hin, das er, mit einem Nicken als Dank, gerne und gierig annimmt, das er verschlingt, wie er auch Francisca verschlingen will, er ist ihr bereits verfallen und ahnt davon, er weiß es sogar, es ist ein schmerzhaftes Wissen. Keine Minute lang wird er dieses Mädchen unterrichten können, ohne daran zu denken, wie es wäre, sie zu haben. Er nimmt ein zweites Brötchen vom Tablett, stillt seinen wütenden Hunger im Bauch, während ein anderer Hunger entsteht, weiter oben, in seinem Kopf, und weiter unten, deutlich weiter unten.

 

»Wie kommt ihr beiden voran?« Don Vincente steht plötzlich in der Tür, die er mit seinem massiven Leib fast ausfüllt. Jorge Jega erschrickt so sehr, daß er sein Brötchen fallen läßt. Erstaunlicherweise landet es nicht mit der Geleeseite auf dem Fußboden, so daß er es später aufessen kann.

»Ich mag ihn«, sagt Francisca, »ich glaube, er ist ganz richtig für mich.«

Jegas Augen leuchten stolz, innerlich frohlockt er bereits. Alameda sorgt für einen Dämpfer.

»Na schön, Sie bekommen eine Woche Probezeit. Jeden Tag außer Sonntag geben Sie meiner verzogenen Tochter anderthalb Stunden Unterricht, jeweils ab elf Uhr morgens. Sie können dann bei der Dienerschaft zu Mittag essen und erhalten pro Tag fünfzig Centavos. Nach einer Woche, wenn Francisca Sie danach behalten will, verhandeln wir neu. Können Sie damit leben?«

Jorge nickt und macht eine tiefe Verbeugung. »Damit kann ich leben, ja«, und er muß finster lächeln, als ihm bewußt wird, wie wortwörtlich diese Aussage zutrifft.

II

Jega konnte sich nichts Besseres als eine Gemeinschaftsunterkunft am Hafen leisten, wo er in einem Zimmerchen von kaum zwölf Quadratmetern eines von sechs Stockbetten beziehen mußte, als musisch begabter, hellhöriger Mensch zusammengepfercht mit fünf meist betrunkenen, lautstark schnarchenden Matrosen, deren Gestank nüchtern kaum zu ertragen war. Wollte Jega nicht bestohlen werden, mußte er, was er besaß, stets bei sich tragen. Wofür seine Ledertasche allerdings schon seit einigen Wochen ausreichte. Den Namen Jorge Jega hatte er sich nicht etwa zugelegt, um der hiesigen Bevölkerung die Aussprache seines wahren, von Umlauten berstenden Namens zu ersparen. In Uruguay wurde per Steckbrief nach ihm gefahndet, und er wußte nicht mit Gewißheit, ob mit dem Grenzübertritt die Sache ein für alle Male ausgestanden war. Für gefälschte Papiere fehlte ihm das Geld, obgleich man im Hafen preiswert welche erstehen konnte. Daß er bisher in keine Polizeikontrolle geraten war, rechnete er sich als Glück an. Um sieben Uhr abends ließ er sich in seine Koje fallen, die er zuvor nach Wanzen abgesucht hatte. Fünf Stunden Schlaf würden ihm vergönnt sein, bevor gegen Mitternacht die Matrosen kämen und singend, bestenfalls summend, mit ihren Leistungen bei den Hafennutten prahlten. Sie würden ihm, weil sie im Grunde gutmütige Kerle waren, einen Becher Wein spendieren, ihn alsbald aber, aufgrund seines stillen und ernsthaften Wesens, verspotten und verachten. Dann würde er den Strohsack nehmen und den Rest der Nacht auf dem geteerten Dach verbringen. Es würden, mehr oder minder, dieselben Sterne zu sehen sein wie in den klaren Nächten damals, vor gefühlten Ewigkeiten, in Deutschland, als er noch eine Zukunft besaß, eine Liebe und Zuversicht.

Jega war ein einziger Anzug verblieben, ein einziges Paar Hosen und Stiefel, aber wenigstens konnte er noch die Unterwäsche wechseln und das Oberhemd. Von den fünfzig Centavos, die Alameda ihm in die Hand gedrückt hatte, hatte er haltbares Kommißbrot in Dosen und gepfefferte Hartwurst gekauft, als Vorrat für kommende Notzeiten. Zwanzig Centavos gab er für ein Schaumbad im Baño Público aus. Um fünf Uhr morgens war dort außer ihm kaum jemand, und man bekam kein schon benutztes, wieder aufgewärmtes Wasser. Während er seinen Körper einseifte, kehrten Gedanken an Lene und die Zeit in Dresden zurück. Lenes Kind wäre jetzt drei Jahre alt, hätte längst zu sprechen begonnen. Er schlug mit beiden Fäusten gegen seine Schläfen, um die Erinnerungen zu vertreiben. Sobald er sich nackt betrachtete, kam auch Lene wieder, er spürte sie körperlich; halb Traum, halb Schmerz war sie jetzt.

Man kann Länder wechseln und die Kleidung, sogar Überzeugungen, selbst die Religion. Die Liebe aber nicht. Und die Liebe zu einer Toten, dachte Jega, könnte ewig halten, denn nichts von dieser Welt nutzt sie ab, es sei denn, vielleicht, eine neue Liebe.

III

Ab elf Uhr wurde im Klavierzimmer gut gearbeitet und wenig geplaudert. Die von Jega gewünschten Noten hatte Sanchez beim Musikalienhändler besorgt; Beethovens Mondscheinsonate stand auf dem Programm. Francisca roch herrlich, wenn auch dezent, nach Rosen, Orangen und sich selbst. Neben ihr zu sitzen und zu schnuppern war Sensation genug, und Jega schob den Kaffee ein Stück weit weg, damit dessen Duft den ihren nicht überlagerte. Dann räusperte er sich und biß auf seine Lippe, wie um sich zu maßregeln. Noch war nicht das mindeste erreicht, er besaß die Anstellung, die ihm ein Überleben garantieren konnte, nur auf Probe, und in seiner Angst, es könne jederzeit alles schieflaufen, vermied er, das Mädchen anzusehen, wich jedem Blickkontakt aus, sah gar zur Decke, wenn er mit ihr redete. Wodurch er den Eindruck eines blasierten, überqualifizierten Gecken auf sie machte, der, von Alltagszwängen belästigt, viel lieber anderswo gewesen wäre, für sich, allein in einer stillen Kammer, wo er tun konnte, was immer er tun wollte.

Nach der Klavierstunde ging Francisca zu ihrer Familie in den ersten Stock hinauf, an die herrschaftliche Tafel, während er ins Souterrain hinabstieg, um in einem Raum neben der Küche mit den Bediensteten zu Mittag zu essen. Meist Suppe und Brot, etwas Wurst und Käse, manchmal Eintopf, sonntags mit Fleischeinlage, zum Nachtisch immer frisches Obst. Niemand konnte sich beschweren, alle wurden satt. Manchmal tauchte der Don höchstselbst auf, um nach dem Rechten zu sehen und sich volksnah zu geben. Es war schwer zu beurteilen, ob diese Überraschungsbesuche fürsorglicher Natur waren oder ob ihn das Bedürfnis nach Kontrolle trieb. Vielleicht beides. Der Don war bei einigen beliebt. Andere, die er irgendwann hatte bestrafen müssen, äußerten sich weniger lobend.

Im Hause Alameda wurden seit neuestem auch die Gesindetoiletten mit Klopapier bestückt. Jorge konnte es kaum fassen. Weiches Papier, das einzig zum Zweck existierte, sich den Hintern zu säubern. Statt alter Zeitungen, die diesen Zweck ja auch erreicht hatten. Papier, zum darauf Schreiben gänzlich ungeeignet, zudem noch parfümiert. Sagenhaft, wenngleich schon ziemlich dekadent. Ein Hausherr, der seinen Bediensteten soviel Luxus gönnte, konnte kein ganz schlechter Mensch sein.

Der Don hatte eine Angewohnheit, die manchmal Ekel erregte, besonders bei jungen, noch überempfindlichen Damen. Wie andere Leute Bonbons, trug er immer eine Dose voller Schnecken bei sich. In Olivenöl und Tomatenbrühe gekochte Schnecken, die man üblicherweise als Vorspeise mit dem Zahnstocher ißt, pflegte er im Ganzen in den Mund zu stecken, daran herumzuzüngeln und zu lutschen, bis er endlich das leergezuzelte Gehäuse in einen Messingtopf spuckte, wie andere Männer den Pfriem ihres Kautabaks. Von daher war in gewissen Kreisen, in denen Vincente Alameda nicht sonderlich beliebt war, vom »Schneckenfresser« die Rede. Im Jargon jener Zeit wurde der Begriff ›Schnecken‹ verwendet, um kleine, hilflose Menschen herabzuwürdigen, die nichts besaßen außer ihrem Schneckenhäuschen und ihrem Vaterland. Auf beides waren sie über Gebühr stolz, worauf auch sonst? Don Alameda gab vielen Schnecken Lohn und Brot, dem Großgrundbesitzer gehörten etliche Ländereien sowie drei Fabriken. Er züchtete Puten, verkaufte Mais und ließ einen Gutteil des Brotes backen, das die Hauptstadt täglich konsumierte. Seine einzige Tochter, Francisca, mußte ihrem künftigen Bräutigam Millionen wert sein. Dessen war sie sich sehr wohl bewußt. Sie hätte nicht einmal schön sein müssen, um freie Auswahl zu haben. All das wußte Jega an diesem Tag noch nicht, doch bei Tisch, wo man sich sehr und auf angenehmste Weise für den Deutschen interessierte, kam es ihm nach und nach zu Ohren.

 

Anfangs versuchte er, Francisca zu hassen. Weil er sie nie würde haben können. Weil ihre Präsenz ihm überdeutlich machte, daß er ein Nichts war, ein mittelloser Mensch ohne Aussicht und Wert. Doch war dieser Haß kaum mehr als ein letzter, lächerlicher Schutzschild voller Sollbruchstellen.

Francisca indes äußerte sich beim Mittagstisch betont wohlwollend über Jorge Jega, hauptsächlich, um ihren zur Eifersucht neigenden Vater herauszufordern. Einen blonden Klavierlehrer würde sie in dieser Gegend nicht so schnell wieder finden, die Freundinnen würden allesamt eifersüchtig sein. Um zwei der wichtigsten Kriterien zu nennen. Tatsächlich war Franciscas Eindruck zwiegespalten. Die erste Stunde mit dem neuen Lehrer hatte sie genossen, die zweite als eher fade bis stinklangweilig empfunden. Der junge Deutsche hatte gerade so getan, als sei er im Geiste woanders, habe kein Interesse an ihr und zöge, Gott bewahre, die Gesellschaft junger Männer der ihrigen vor. Das ging so nicht, das konnte so nicht bleiben. Francisca war gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen, mit einigem Recht. Denn wer sonst – wenn nicht sie – war prädestinierter dafür, Zentrum des bewohnten Universums zu sein? Wenn ein notleidender, ausgehungerter Gringo in ihrer Gegenwart den geschlechtslos Unnahbaren mimte, brachte das die naturgegebene Ordnung der Dinge durcheinander. Jemand, der ihr das Klavierspiel beibrachte, der ihr also Mühen und Plagen und wunde Fingerkuppen bescherte, hatte sie gefälligst auch zu unterhalten, zu amüsieren, das war nicht etwa zuviel verlangt, das war das mindeste.

Cis, so lautete ihr Kosename bei den gleichaltrigen Freundinnen, beschloß, Jega bei nächster Gelegenheit auf Trab zu bringen. Sonst, dachte sie, kann ich mir ja gleich das Strickzeug nehmen. Ich bin vielleicht noch fünf Jahre jung, dann ist das Leben halb vorbei. Nein, dachte sie, jeden Tag meiner Jugend will ich genießen. Francisca tänzelte durch das Büro ihres Vaters. Ganz oben auf dem Stapel lagen Jegas Papiere, die er nach Ablauf der Probewoche zurückbekommen sollte. Strenggenommen hätte man seine Anstellung, da sie die Dauer von drei Tagen überschritt, der Polizeibehörde melden müssen. Aber niemand außer ein paar Schnecken machte sich diese Mühe, und zur Not konnte man immer behaupten, man habe noch nicht die Zeit dafür gefunden. Cis bemerkte, daß unter den Papieren ein Meldeschein für Ausländer fehlte. Was bedeutete, daß Jega als Tourist auf höchstens sechs Wochen eingereist war oder sich illegal im Land aufhielt. Jedoch gab es, quasi als Ersatz, einen etwas älteren, immer noch gültigen Meldeschein für Montevideo, den die hiesigen Behörden kulant akzeptiert hätten. Ein junger Künstler auf Südamerikareise. Gut. Für jemanden, der Geld besaß, war das kein Problem, er wäre stets willkommen, überall. Aus Montevideo also. Hatte es ihm dort nicht gefallen? Bestimmt war Buenos Aires um einiges schöner.