Peter Henning

Die Chronik

des verpassten

Glücks

Roman

Luchterhand

Zum Buch

Wie gut kennen wir die, die wir am meisten lieben?

Vom ersten Moment an hatte Richard Warlo seinen Ziehvater Pawel Król geliebt, diesen wie durch eine versteckte Seitentür in sein Leben eingetretenen Beschützer. Fasziniert von dessen Stärke und Verwegenheit, genoss er es, wenn in der Hanauer Ankergasse die Polen zu Besuch kamen und ­geredet, gesungen und getrunken wurde. Zehn Jahre nach Pawels Tod stößt Warlo auf alte Fotos, die Pawel als jungen Mann in SS-Uniform zeigen. Sein polnischer Ziehvater ein Nazi? Wer war der Mann, der ihn wie einen Sohn erzog, mit ihm auf der Suche nach seltenen Schmetterlingen durch ganz Europa reiste und ihn die Poesie des Wagnisses lehrte?

Warlo macht sich auf den Weg nach Polen in die Vergangenheit seines Vaters. In Sosnowitz, Pawels Geburtsort, trifft er auf dessen leibliche Kinder: auf Marcin, der zeitlebens darunter gelitten hat, als Kleinkind vom Vater verlassen worden zu sein, und auf Lucyna, die zu klein war, als Pawel verschwand, um Erinnerungen an ihn zu haben. Beide mussten lernen, ohne Vater auszukommen. Nur Oliwia, Pawels im Sterben liegende Ehefrau, kennt die wahren Hintergründe seiner Flucht. Wird sie sie auf der Schwelle des Todes preisgeben?

Peter Hennings Figuren sind auf der Suche nach Gewissheiten und der eigenen, neu zu definierenden Identität. Seine fesselnde Chronik des verpassten Glücks führt vor, wie Leerstellen, Geheimnisse und blinde Flecken in unseren Lebens- und Familiengeschichten uns tiefer prägen als alles, was wir fassen, erzählen und erinnern können.

Der neue Roman vom Autor des Bestsellers »Die Ängstlichen«

»Peter Henning isoliert kleine Momente zu großen Geschichten, die nur wenige Seiten brauchen, um weit über sich hinaus zu wirken.« Berliner Zeitung über »Leichtes Beben«

Zum Autor

PETER HENNING studierte Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und war seit 1985 als freier Journalist für verschiedene Zeitungen und Rundfunkanstalten tätig, später wurde er Leiter des Literatur-Ressorts bei der Schweizer Weltwoche. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Köln. Zuletzt erschienen seine Romane »Die Ängstlichen« (2009), »Leichtes Beben« (2011) und »Ein deutscher Sommer« (2013).

Für Cecilia

und

Dieter Wellershoff

»Welche Listen, welche Ausflüchte, welche Vorwände und Betrügereien würde man nicht anwenden, bloß damit ein Toter wieder da wäre.«

Elias Canetti, Das Buch gegen den Tod

Prolog

Hanau, 1981

In der Nacht, als Pawel Król starb, regnete es Sternschnuppen.

Von langen Leuchtspuren gefolgt fielen mächtige und wegen ihrer Größe und ihrer geringen Geschwindigkeit in der geschlossenen Schwärze selbst mit bloßem Auge gut erkennbare Geminiden vom Himmel. Am Firmament kreuzten dynamische kleine Himmelsfeuer, bizarre, ihren unbestimmten Bahnen folgende Erscheinungen, die an funkensprühende, in Zeitlupe aufsteigende oder herabfallende Silvesterraketen erinnerten. In den Tagen danach waren die Zeitungen voll von Berichten über den Sternschnuppenregen.

Pawel Król starb in jener kalten Januarnacht des Jahres 1981, die als Die Nacht der Quadrantiden in die Annalen der modernen Astronomie eingehen und die für Richard Warlo fortan untrennbar mit Pawels Tod verknüpft bleiben sollte. Die zart vereiste Quecksilbersäule des Außenthermometers vor seinem Fenster war in jener Nacht auf ungemütliche sieben Grad unter null gesunken, und an Hanaus wolkenlosem Nachthimmel hatten sich ohne sein Wissen mittelgroße, interplanetare Sensationen ereignet.

Zwei Tage nach Pawels freudloser Bestattung auf dem zugigen Hanauer Hauptfriedhof, wo fortan ein bescheidenes helles Holzkreuz sein Grab zieren würde (das Warlo allerdings wenig später aus nur ihm bekannten Gründen stahl), hatte er sich kurz entschlossen ein Interrail-Ticket und einen Rucksack gekauft und war, das Holzkreuz im Gepäck, mit dem Zug drei Wochen lang ruhelos durch Europa gereist und hatte Plätze und Orte aufgesucht, an denen er einst mit Pawel gewesen war: von Frankfurt aus nach Cannes. Anschließend weiter nach London bis hinauf ins schottische Hochmoor, nach Loch Ness. Wieder zurück nach London und über die Stationen Dover und Calais nach Paris, Barcelona und Bilbao. Und zuletzt über Andorra, Monaco und Zürich zurück nach Hanau. Er war wieder zur Schule gegangen, hatte wieder Kontakt zu seiner langjährigen Freundin Tamara aufgenommen, von der er sich ein halbes Jahr zuvor getrennt hatte, und sich, so wie er es viele Male zuvor auch schon getan hatte, mit Freunden zum gemeinsamen Musikhören getroffen und mit ihnen Bier getrunken und Gras geraucht. Alles schien den alten Gesetzen zu folgen. Trotzdem war sein Leben nicht mehr das gleiche wie zuvor. Denn es war ein Leben ohne Pawel.

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