Christoph Marzi

Lilith


Roman

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PeP eBooks erscheinen in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Copyright © 2005 by Christoph Marzi
Copyright © 2005 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag,
München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlagmotiv: Nele Schütz Design, Copyright © by Nele Schütz Design
ISBN 3-89480-957-4
V002
www.pep-ebooks.de
www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Copyright
Buch I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Buch II
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Buch III
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Danksagung
Über das Buch
Über den Autor

Für Tamara

»Saharasand ist blond …«

Come gather ’round people

Wherever you roam

And admit that the waters

Around you have grown

And accept it that soon

You’ll be drenched to the bone.

If your time to you

Is worth savin’

Then you better start swimmin’

Or you’ll sink like a stone

For the times they are a-changin’.

Bob Dylan, The Times they are a-changin’

Was this the face that launched a thousand ships

And burnt the topless towers of Ilium?

Sweet Helen, make me immortal with a kiss:

Her lips suck forth my soul, see where it flies!

Come Helen, come, give me my soul again.

Here will I dwell, for heaven is in these lips,

And all is dross that is not Helena.

Christopher Marlowe

The Face that launched a thousand Ships from »Dr. Faustus«

Buch I

Scherben

Kapitel 1

The Times They Are A-Changing’

Die Welt ist gierig, und manchmal verschwinden Menschen in ihrem Schlund, ohne jemals wieder gesehen zu werden. Emily Laing war sechzehn, als ihre beste Freundin Aurora Fitzrovia gemeinsam mit Master Micklewhite, dem sie bei Nachforschungen in einer dringlichen Angelegenheit zur Hand gehen musste, vom Angesicht der Erde verschwand. Es gab keinen Brief und auch keinen Hilferuf, keine Zeugen und nicht den geringsten Hinweis. Während ihrer Rückreise aus Konstantinopel widerfuhr den beiden Schreckliches, und als der menschenleere Orient-Express im Bahnhof Elephant & Castle einfuhr, da kündete nurmehr ein verwüstetes Abteil von dem Schicksal, das sie uns entrissen hatte.

Fassungslos standen das Mädchen und ich auf dem Bahnsteig inmitten einer aufgeregten Menschenmenge. In den Gesichtern spiegelten sich Entsetzen und Verzweiflung. Jeder der hier Anwesenden hatte das mysteriöse Verschwinden eines geliebten Menschen zu beklagen. Keiner konnte sich erklären, was während der Fahrt von Frankreich nach Britannien geschehen war. Nicht ein einziger Fahrgast war mehr aufzufinden gewesen. Spurlos verschwunden waren die Menschen, die in der uralten Metropole von Paris noch die Abteile gefüllt hatten.

So fing es an.

An einem Tag im Winter.

»Was glauben Sie, Wittgenstein«, fragt das Mädchen, »werden wir sie finden?«

Emily Laing, der ich einst am Fuße der großen Rolltreppe in der Tottenham Court Road begegnet war, sitzt mir gegenüber in dem luxuriösen Abteil des Zuges, der uns fortbringen wird.

Fort aus der Stadt der Schornsteine.

Hinüber zum Kontinent.

»Fragen Sie nicht«, antworte ich ihr.

Beide denken wir an den Anblick, der sich uns vor wenigen Tagen auf dem Bahnsteig geboten hat. Es ist wahrlich kaum zu glauben, dass man den Zug wieder hergerichtet hat, in so kurzer Zeit.

»Sie lebt noch«, sagt Emily. »Ich kann es spüren.«

Ich schweige.

Die Dinge liegen zu sehr im Dunkeln.

»Und Micklewhite?«

Sie zuckt die Achseln.

Denkt an ihrer Freundin Mentor.

Sieht mich fragend an.

Müde betrachte ich mein Spiegelbild im Fenster, indes sich die letzten Passanten anschicken, den Zug zu besteigen. Kalt wirkt die Welt da draußen. Verändert.

Das Mädchen gibt keine Ruhe. »Wohin wird uns das alles nur führen?«

»Ich weiß es nicht.«

Immerhin ist dies die Wahrheit.

Die mysteriösen und bedrohlichen Geschehnisse, die seit einigen Wochen schon ihre mächtigen Schwingen über London ausbreiten, und die Sorge um unsere Gefährten lassen uns diese Reise antreten. Hoffend, dass es nicht bereits zu spät ist.

Doch sollte ich meiner Erzählung nicht vorgreifen.

Schließen Sie die Augen und lauschen Sie meinen Worten. Begleiten Sie mich in die Stadt der Schornsteine am dunklen Fluss. Dorthin, wo alles begonnen hat und alles enden wird. Nach London, in die uralte Metropole, deren Herzschlag unser aller Leben bestimmt. Tauchen Sie ein in das undurchdringliche Netz aus schmalen, vom Regen ersäuften Straßen und Gassen, wo sich der kalte Nebel, den die heimtückische Themse gebiert, um die rußigen Hälse der Häuser windet und allzeit nach den Menschen greift. Es ist eine fleischige und gefräßige Stadt, die sich unersättlicher Begierde hingibt. Ihr Herz schlägt dort, wo die U-Bahn endet und sich ein Labyrinth aus Katakomben und Tunneln erstreckt, in dem man auf Dinge stößt, die wunderbar und erschreckend zugleich sein können.

Meine Schutzbefohlene kannte sich dort aus.

Emily Laing, die in einem heruntergekommenen Waisenhaus drüben in Rotherhithe am anderen Themse-Ufer aufgewachsen war, hatte endlich ihren Platz in der Stadt der Schornsteine gefunden. Schicksalhafte Geschehnisse hatten sie damals meinen Weg kreuzen lassen, und am Ende hatte ich sie dann sogar aufgenommen. In dem großen Haus in Marylebone, wo sie von da an ein Zimmer unter dem Dach bewohnte und sich von Peggotty, meiner Haushälterin, umsorgen ließ. Letzten Endes jedoch war Emily noch immer ein Waisenkind, das voller Unsicherheit herauszufinden versuchte, wer es war. Noch immer trat sie fremden Menschen mit Misstrauen und Argwohn gegenüber. Noch immer versteckte sie ihr künstliches Auge hinter einer Strähne des rot glänzenden Haars.

»Das Mondsteinauge«, hatte sie mir offenbart, »gehört nun einmal zu mir.« Mit dieser Feststellung hatte sie meinen Vorschlag, ihr ein modernes Glasauge anfertigen zu lassen, strikt abgelehnt. »Ich weiß, dass die Menschen mich nur des Auges wegen anstarren.« Zögerlich hatte sie den hellen Stein in ihrer Augenhöhle berührt. »Aber das bin nun einmal ich.« Trotzig hatten diese Worte geklungen.

»Eines Tages«, hatte ich ihr geantwortet, »werden Sie jemandem begegnen, der Sie gerade wegen Ihres Mondsteinauges lieben wird.«

Ein Achselzucken erntete ich.

Nichts weiter.

Ihr linkes Auge hatte Emily Laing im »Dombey & Son«, einem berüchtigten Waisenhaus drüben in Rotherhithe, verloren. Ein zu weites Ausholen mit dem Rohrstock hatte ihr Leben verändert. Versehentlich hatte der Rohrstock ihr Gesicht getroffen und die Welt des sechsjährigen Mädchens in einer Wolke aus Schmerz und Blut versinken lassen. Lange Zeit hatte sie ein gläsernes Auge getragen, das dann später durch einen glatt geschliffenen Mondstein ersetzt worden war.

»Der Mondstein«, pflegte sie zu sagen, »ist jetzt mein Auge.«

Emily mochte den Mondstein.

Was sie nicht mochte, waren die Blicke, die sie in den Straßen streiften.

»Lusus Naturae«, hatte ihr ein Mitschüler einmal hinterhergerufen.

Eine Tändelei der Natur. Eine Abartigkeit.

»Warum schaust du uns so an?«

»Spionierst in unseren Köpfen herum, was?«

»Bastard.«

»Rattenfreundin.«

Die anderen Kinder in der Schule neigten dazu, sie auf ihre Andersartigkeit hinzuweisen.

Auch im Waisenhaus des Reverend Dombey hatte man sie oft beschimpft. Als Missgeburt. Freak. Schlimmeres. Eine Ewigkeit schien das nun her zu sein, doch schreckte sie in den von Stürmen durchtosten Nächten noch immer oft auf, weil sie von Rotherhithe geträumt hatte.

»Letzte Nacht«, vertraute sie dann am nächsten Morgen ihrer Freundin an, »bin ich wieder dort gewesen.«

Aurora Fitzrovia, die für Emily wie eine Schwester war, wusste um die Schatten, die des Nachts in die Träume der Kinder gekrochen kamen und ihnen vorgaukelten, noch immer in dem Elend des ehemaligen Lagerhauses, das von einem bösartigen Reverend geleitet worden war, gefangen zu sein.

Beide Mädchen hatten gemeinsam die Jahre im Waisenhaus von Rotherhithe durchlitten und besuchten nun die strenge Whitehall Privatschule für höhere Söhne und Töchter, die von Miss Monflathers geleitet wurde.

»Whitehall und Rotherhithe sind sich gar nicht so unähnlich«, pflegte Emily zu sagen. Traurig. Ohne Illusionen.

»Aber hier meint man es doch gut mit uns«, antwortete ihre Freundin dann.

»Du hast gut reden.«

Im Gegensatz zu Emily war es Aurora niemals schwer gefallen, sich den Regeln der Schule anzupassen. Während Aurora Fitzrovia von vielen der Schüler freundlich gegrüßt wurde und sich allgemeiner Beliebtheit erfreute, bewegte Emily sich wie ein Schatten durch die langen Korridore der Schule. In ihrer dunklen Kleidung erntete sie abfällige Blicke zuhauf.

Die hartnäckige Weigerung, die Schuluniform zu tragen, bescherte mir zudem regelmäßige Vorladungen bei der Schulleitung, die aber allesamt ergebnislos blieben.

»Emily Laing«, informierte mich Miss Monflathers an einem Morgen Anfang Dezember, »ist eine starrköpfige junge Dame. Zweifelsohne ist sie intelligent zu nennen.«Über den Rand ihrer Lesebrille funkelte mich die grauhaarige Eminenz der Lehranstalt an, als hätte ich selbst etwas verbrochen. »Doch ist sie auch klug?« Sie wartete die Antwort nicht einmal ab, und ich bekam zu hören, dass Emily mit nur wenigen ihrer Mitschüler Kontakt pflegte. Dass allein Aurora Fitzrovia ihre Vertraute war. »Sie ist eine Außenseiterin geworden.« Hatten wir zu Beginn ihrer Zeit in der alten Lehranstalt noch angenommen, diese Zurückgezogenheit wäre nur von kurzer Dauer, bis sich das Kind an sein neues Umfeld gewöhnt habe, so wurden wir bald schon eines Besseren belehrt. »Sie ist trotzig und aufsässig und hinterfragt allzeit die Anweisungen der Lehrkräfte.«

»Bei mir ist sie folgsam«, verteidigte ich sie.

»Du bist ihr Mentor, Mortimer. Sie respektiert dich.«

Tat sie das?

Miss Monflathers jedenfalls dachte nicht daran, das Verhalten der jungen Dame zu entschuldigen. »Wir haben feste Regeln an dieser Lehranstalt«, schalt sie Emily in meinem Beisein. »Wenn Sie der Meinung sind, diese nicht befolgen zu müssen, weil sie Ihnen unsinnig erscheinen, dann steht es Ihnen frei, zu gehen.« Miss Monflathers konnte ihrem Gegenüber schon früher das Gefühl vermitteln, schuldig zu sein. »Niemand hält Sie hier fest, Miss Laing.« Schweigend saßen wir auf schmalen Stühlen dem Schreibtisch der Direktorin gegenüber. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr Mentor erfreut ist, wenn er mir einmal im Monat einen Besuch abstatten muss, um über das Fehlverhalten seiner Schutzbefohlenen in Kenntnis gesetzt zu werden.« Miss Monflathers’ raubtierhaft funkelnde Augen fixierten das Mädchen, das mit gesenktem Blick dasaß und sich in Schweigen übte.

Dann musterte sie mich, wie sie es schon zu der Zeit getan hatte, als ich noch ihr Schüler gewesen war. Damals, in Salem House.

Als Miss Monflathers keinerlei Regung in meinem Gesicht erkannte, wandte sie sich erneut dem Mädchen zu. »Nun, Miss Laing, was gedenken Sie mir in dieser Angelegenheit zu antworten?«

Kaum hörbar murmelte sie: »Ich werde mich bessern.«

»Herrje, sind Sie eine Maus? Sprechen Sie doch klar und deutlich!«

Das Mädchen hob den Blick.

Trotzig.

»Ich werde mich bessern«, gelobte Emily.

Lauter nunmehr.

Und deutlicher.

Eindeutig nicht wie eine Maus.

»Das klingt nicht sehr überzeugend in meinen Ohren.«

»Miss Laing wird ihr Verhalten überdenken«, schaltete ich mich ein. »Sie haben mein Wort.«

Emily schwieg.

Miss Monflathers wirkte wenig angetan. »Ich kann mich erinnern«, stellte sie nur nüchtern fest, »dass einer meiner ehemaligen Schüler in Salem House eine ähnliche Halsstarrigkeit an den Tag gelegt hat.«

Emily sah mich neugierig an.

Ohne meine Schutzbefohlene zu beachten, antwortete ich meiner ehemaligen Lehrerin: »Woran sich besagter Schüler ebenfalls erinnert.« Dann erhob ich mich von meinem Platz. »Ich denke, dass für heute alles gesagt worden ist.« Es war an der Zeit, dieses Gespräch, das in ähnlichen Variationen bereits mehrere Male stattgefunden hatte, zu beenden. Ich bedeutete dem Mädchen, sich zu erheben. »Noch eine Bitte.« Miss Monflathers trommelte leise, doch unmissverständlich ungeduldig mit ihren Fingern auf den Schreibtisch. »Es wäre mir sehr genehm«, fuhr ich in meinem Anliegen fort, »wenn Sie Miss Laing für heute Nachmittag von ihren schulischen Pflichten entbinden könnten, da ich sie zu Zwecken der Maßregelung gern mit nach Marylebone nehmen würde.« Emily stand neben mir, in ihren schwarzen Jeans und dem grauen Rollkragenpullover, mit dem sie seit Anbeginn des Winters untrennbar verbunden zu sein schien. »Ich danke Ihnen für das Entgegenkommen, Miss Monflathers«, verabschiedete ich mich, ohne die Direktorin noch einmal zu Wort kommen zu lassen. Emily zugewandt merkte ich nur an: »Folgen Siemir!« Dann machte ich auf dem Absatz kehrt und verließ, meine der Situation angemessen schuldig dreinschauende Schutzbefohlene im Schlepptau, das Büro der Direktorin.

Emily trottete neben mir her, wobei ihre Stiefel ein lautes Echo in den langen Korridoren der Schule hervorriefen. Sie hatte sich einen Mantel übergezogen und die Hände tief in den Taschen vergraben.

»Ich darf Sie also zu Zwecken der Maßregelung nach Hause begleiten?«

Das Lächeln verkniff ich mir. »Oh, fragen Sie nicht.«

»Und Aurora behauptet, Sie hätten keinen Humor.«

Dieses Kind!

»Dessen eingedenk muss ich anmerken, dass Sie eine Fähigkeit entwickeln, sich in Schwierigkeiten zu bringen, die mir, das muss ich zugeben, nicht gänzlich fremd ist.«

»Es tut mir Leid.«

»Tut es nicht«, widersprach ich ihr.

»Warum sagen Sie das?«

»Weil es nun einmal die Wahrheit ist.« Ich blieb stehen und warf einen Blick nach draußen, wo ein kalter Regen gegen die hohen Fenster prasselte. »Denn mir hat es damals auch nicht Leid getan.« Ich seufzte lang gezogen. »Wie formulierte es Miss Monflathers doch so treffend? Ein starrköpfiges junges Ding? Nun ja, Miss Emily. In dieser Hinsicht liegt es mir fern, Ihrer Lehrerin zu widersprechen.« In den Gängen der altehrwürdigen Schule über meine Vergangenheit zu reden, widerstrebte mir. Eine Andeutung sollte genügen: »Die Förderung der individuellen Fähigkeiten der Schüler dient zuweilen Zwecken, die auch mir damals nicht gefielen.«

»Es ist einfach nicht richtig, was man von uns erwartet.«

»So ist das eben.«

Natürlich hatte ich gewusst, dass dieser Moment kommen würde. Diese unliebsame Entscheidung, die zu treffen mir damals meine Pflegemutter geholfen hatte. Mylady Hampstead, die während der Ereignisse, die meine Träume bis heute heimsuchen, den Tod gefunden hatte.

»Wofür auch immer Sie Sich entscheiden werden«, versprach ich ihr, »Sie können Sich meiner Unterstützung allzeit gewiss sein.«

Emily schwieg.

Fühlte sich allein.

Trotz aller Fürsorge, die ihr zuteil wurde.

Das war es, was ich vom ersten Moment an gespürt hatte. Das war es, was mich das Verhalten des Kindes hatte verstehen lassen. Sie war ein Waisenkind, wie ich es einst gewesen bin.

Emily Laing hatte das Glück gehabt, einen Platz im Leben zu finden. Doch war ich nicht ihr Vater. Und Peggotty war nur meine Haushälterin und kein Ersatz für eine Mutter. Wenngleich wir uns bemühten, dem Mädchen ein Zuhause zu geben, so blieb Emily am Ende doch immer allein. Zwar hatte sie mittlerweile herausfinden können, wer ihre leibliche Mutter war und welchen Hauses Blut durch ihre Adern floss, doch wollte sie nachdrücklich nichts mit der Familie, in deren Mitte der Irrsinn Einzug gehalten hatte, zu tun haben. Ihre jüngere Schwester hatte sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen.

So vieles hatte sich verändert.

Die Zukunft war nicht das geworden, was wir uns erhofft hatten.

Doch wird sie das jemals?

Einen Moment lang standen wir schweigend da.

Die wenigen älteren Schüler, die schnellen Schrittes unseren Weg im Treppenhaus kreuzten, warfen mir ängstliche Blicke zu.

»Sie sind ja richtig beliebt«, bemerkte Emily lakonisch und spielte auf den von mir bekleideten Lehrstuhl für moderne Alchemie am Whitehall College an.

»Schüler!«, murmelte ich abfällig.

Emily sah ihnen hinterher.

Sehnsüchtig.

»Die meisten von ihnen wissen gar nicht, wie gut sie es haben.«

»Weil sie meine Kurse besuchen dürfen?«

Emily musste kurz grinsen, wurde aber schnell wieder ernst.

»Weil sie normal sind.«

Fast schon magisch klangen die Worte aus ihrem Mund.

Normal.

»Was ist schon normal?«

»Die anderen Schüler«, gab sie zur Antwort. »Die sind normal.«

»Glauben Sie, dass die anderen glücklich sind?«

Das gesunde Auge sah mich fragend an. »Glücklicher, als ich es bin?«

»Ja.«

Emily nickte. »Genau das, Wittgenstein, glaube ich.«

»Weil die anderen Kinder eine glückliche Kindheit hatten und Sie nicht?«

Emily wusste selbst am besten, dass sie keine normale Kindheit verbracht hatte. Den Demütigungen des Waisenhauses entronnen, hatte sie die wirkliche Welt kennen gelernt. Jenes uralte London, das lebte und atmete und träumte. Die Stadt der Schornsteine mit ihren dunklen und labyrinthischen Pfaden, die sich jenseits der U-Bahnhöfe erstreckten. Sie hatte Dinge gesehen, die so unglaublich gewesen waren, dass sie sich selbst jetzt, da nunmehr nahezu vier Jahre seit jenen Ereignissen vergangen waren, schwer damit tat, dies alles als einen Teil der Welt, in der sie lebte, zu begreifen.

»Keiner von denen«, sagte ich und deutete dezent auf die in den Korridoren entlangschleichenden Schüler, »weiß, wohin er gehört.«

Emily schwieg.

Sie hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben und den alten Rucksack geschultert.

Die hohen Fenster im Treppenhaus vor uns gaben den Blick frei auf den nahen St. James Park, um dessen kahle Baumgerippe sich aufkommender feiner Nebel gelegt hatte. Dichte Wolken hatten sich über der Stadt zusammengezogen und ließen eine Heerschar kalter Tränen auf die überfüllten Straßen herniederströmen.

»Sie hatten etwas mit mir vor«, rief das Mädchen sich meine Bemerkung aus dem Zimmer der Direktorin ins Gedächtnis zurück.

»Sie sind sehr neugierig.«

»Oh, bitte!«

Sie folgte mir durch die verzweigten Korridore zum Ausgang. Es roch nach gebohnertem Stein und der Furcht der Schüler vor den wöchentlich stattfindenden Klausuren. Marmorbüsten säumten unseren Weg. Um ungelöste Aufgaben kreisende Gedanken schwebten wie Geister durch die Luft, die schwer war von der Last, Außergewöhnliches leisten zu müssen, die den Kindern der Reichen und Privilegierten zumeist aufgebürdet wurde.

»Was ist passiert?«

»Es hat einen Mord gegeben«, beantwortete ich ihre Frage. »Drüben in Barkingside Beneath.«

Wir traten nach draußen.

Misstrauisch fragte Emily: »Was haben wir damit zu tun?«

Ich schlug den Kragen meines Mantels hoch. »Fragen Sie nicht!«

Ganz so, wie es Emily Laings Art war, tat sie es aber doch.

Natürlich hatte Emily Laing bereits von den Ereignissen gehört, die London seit einigen Monaten heimsuchten. Davon, dass Menschen hier einfach so vom Angesicht der Erde verschwanden oder ermordet aufgefunden wurden. In geflüsterten Sätzen, die sich zu einem Nebel aus beängstigenden Gerüchten und geheimnisvollen Neuigkeiten verwoben, hatte sie es gehört. Im alten Raritätenladen drüben in Covent Garden, wo sie des Nachmittags arbeitete, verlor die Kundschaft das eine oder andere Wort diesbezüglich.

Zwischen den dicken Romanen und dünnen Gedichtbändchen, schweren Folianten und illustrierter Tunnelstreicherlyrik, inmitten all des schweren, nach Stockflecken und Vergänglichkeit duftenden Papiers, das sich in wackligen Stapeln und bis zum Überquellen voll gestopften Regalen fast bis unter die Decke türmte, fühlte Emily sich wohl. Hier verspürte sie die Ruhe, die ihr Herz so bitter nötig hatte. Hier war sie umgeben von den Geschichten und dem Wissen einer Welt, die sich ihr vor vier Jahren erschlossen hatte, als sie überstürzt aus dem Waisenhaus geflohen und wie Alice durch den Kaninchenbau in eine fremde Welt gestürzt war. Und Mr Dickens, der alle möglichen Arten von mysteriösen und weniger geheimnisvollen Büchern feilbietende Besitzer des Raritätenladens, hatte Emily damals angeboten, für ihn zu arbeiten.

So sortierte sie nach der Schule und den Lektionen, die ich ihr zu erteilen das Vergnügen hatte, die Neuzugänge in die Regale ein, saß hinter der riesigen Registrierkasse, las alles, dessen sie habhaft werden konnte, und wartete auf Kundschaft, die sich zumeist erst am Abend in den engen Gängen herumzudrücken pflegte.

Und inmitten der staubig schweigsamen Bücher belauschte sie die Kunden, die hin und wieder von seltsamen Schatten zu berichten wussten, die sich des Nachts an unvorsichtige Passanten in den Straßen und in der U-Bahn heranpirschten.

Nicht eine der Personen, die in den Vermisstenanzeigen auftauchten, wurde jemals wieder gesehen. Andere, die niemals vermisst worden waren, wurden einfach tot aufgefunden, irgendwo in den Tunneln der U-Bahn-Stationen.

»Kann es sein, dass es wieder beginnt?« Aurora Fitzrovia hatte diese Frage schon vor Tagen gestellt.

»Frag am besten nicht«, hatte Emily ihr geantwortet.

Unsicher.

Denn keines der beiden Mädchen hatte die Geschehnisse, deren Zeugen sie vor wenigen Jahren geworden waren, vergessen können, und als Aurora diese Frage an ihre Freundin richtete, da hätte sie ihrer beider Befürchtungen nicht besser Ausdruck verleihen können. »Kann es nicht sein, dass noch etwas dort unten lebt?«

Alles, hatte sich Emily an die Worte des gefallenen Engels erinnert, wird irgendwann wieder leben.

»Ich weiß es nicht.« Das immerhin war eine ehrliche Antwort gewesen.

»Pass auf dich auf«, hatte Aurora sie gebeten.

Aurora, die nach wie vor in Hampstead Heath bei der Familie Quilp lebte, hoch oben in der Dachkammer in dem Haus am Streatley Place, hatte an jenem Abend schweigend neben ihrer Freundin auf dem Bett gesessen und zum Fenster hinausgeblickt, wo die Silhouette Londons hinter einem Vorhang aus Regen immer mehr an Schärfe verlor.

Die Kuppel von St. Pauls leuchtete matt in der Dunkelheit.

Oft verbrachten die Freundinnen die Abende zusammen.

»Hast du es jemals bereut?«

Emily hatte nicht sofort geantwortet.

»Dass ich hier ausgezogen bin?«

»Ja.«

Von den Quilps waren beide Mädchen aufgenommen worden, bis Emily sich dazu entschlossen hatte, zu Peggotty und mir nach Marylebone zu ziehen.

»Ich fühle mich wohl in Hampstead Manor.«

»Wittgenstein ist mir noch immer unheimlich.«

»Er kann sehr lustig sein.«

»Du kannst über seine Scherze lachen?«

»Manchmal.«

Aurora hatte skeptisch gewirkt.

»Hampstead Manor ist eben mein Zuhause«, war Emilys Antwort gewesen, nach einer Weile. »Ich weiß, wie sich das anhört. Aber ich fühle mich dort geborgen. Man lässt mich gewähren, drängt mich zu nichts.«

Sie mochte das alte Anwesen. Hampstead Manor, das schon vor Jahren in meinen Besitz übergegangen war. Ein Labyrinth aus Treppen und kerzenhellen Korridoren. Okkulte Bücher gab es zuhauf in mehreren Bibliotheken. Dazu Kammern voller alchemistischer Utensilien und Steingärten und Gewächshäuser und Wintergärten mit exotischen Kräutern und fremdartigen Pflanzen auf dem Dach und den Balkonen. Dazwischen Emilys kleines Refugium, hoch oben in einer der Dachkammern. Ihr Reich, in das sie sich allzeit zurückziehen konnte. Der Salon mit dem großen hölzernen Globus, der die Welt so zeigt, wie sie beschaffen ist. Die Küche im Erdgeschoss, Peggottys Hoheitsbereich. Tief unten im Keller das Studierzimmer für die chemischen Prozesse, wo das Mädchen die Kunst des Brauens diverser Tränke erlernte.

»Dort ist jetzt mein Zuhause. Dort gehöre ich hin«, pflegte Emily zu sagen.

Das Haus war so seltsam wie sie selbst.

Fand jedenfalls Emily.

Vieles hatte sie gelernt während der vergangenen Jahre, und vieles musste sie noch erlernen. In der Whitehall Schule von Miss Monflathers wurden die Lektionen, die ich ihr erteilte, vertieft und fortgesetzt, und wenngleich dem Mädchen viele der altehrwürdigen Vorschriften und antiquierten Wertvorstellungen, die dort vertreten wurden, nicht zusagten, so war dies doch die einzige Schule in London, die zu besuchen Emily in der Lage war. Da sie mir des Öfteren auf Exkursionen in die uralte Metropole folgte, hätte sie dem Unterricht an anderen Lehranstalten zu lange fernbleiben müssen. Deswegen und eingedenk der Tatsache, dass Schüler, die über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen, was bei Emily Laing zweifelsohne der Fall ist, die Whitehall Schule zwingend besuchen müssen, hatte sich uns damals keine andere Wahl geboten.

Die Konflikte, die in letzter Zeit immer häufiger und zudem immer offener zu Tage traten, waren dabei wohl unausweichlich gewesen.

»Wittgenstein hat mir schon damals erzählt, dass auch er sich seinerzeit geweigert hatte, den Weisungen des Senats nachzukommen.« Emily pflegte ihre Trotzhaltung der Schule gegenüber wie einen kostbaren Schatz. »Es ist einfach nicht richtig, was sie da von uns verlangen.«

»Was sie von dir verlangen«, hatte sie Aurora verbessert, die nicht an den speziellen Lektionen teilnehmen musste. Denn Aurora Fitzrovia verfügte, wie die meisten der anderen Schüler, über keine Fähigkeiten, die man als außergewöhnlich hätte bezeichnen können. Sie war nur ein normales Mädchen, das zwischen London und der uralten Metropole wandern durfte. Ein Mädchen, das keine Ahnung von seinen Wurzeln hatte. Das sich noch immer in den Nächten auszumalen versuchte, wer seine Eltern waren und warum man es einst fortgegeben hatte.

»Wittgenstein hat sich damals auch nicht angepasst.«

In dieser Hinsicht war ich zweifelsohne zu Emilys Vorbild geworden.

»Dafür hat er auch eine Menge Schwierigkeiten bekommen.«

»Aber er hat es überstanden, oder?«

Aurora hatte sich eine Bemerkung verkniffen.

»Manchmal«, war Emilys Meinung gewesen, »muss man eben für seine Überzeugungen eintreten.«

»Sei trotzdem vorsichtig.«

»Was soll schon passieren?«

»Sie können dich der Schule verweisen.«

»Pah!«

»Oder dir Schlimmeres antun.«

Schweigend hatten die Mädchen dagesessen.

Die Welt, in der sie nun lebten, war seltsam. Emily war sich dessen bewusst. Fremd und kalt konnte London einem erscheinen. Bedrohlich zuweilen. Und wenngleich sie sich an viele Kuriositäten gewöhnt hatte, so gab es doch uralte Rätsel, auf die niemand eine Antwort wusste.

»Ich bin schon vorsichtig«, hatte Emily nach einer Weile gemurmelt.

»Versprochen?«

Ein Nicken. »Versprochen.«

Und mit einem Mal war Emily bewusst geworden, wie sehr sich ihre Welt doch verändert hatte. Sie hatte an die Lektionen denken müssen, die sie für den Dienst im Namen des Senats schulen sollten. An ihre Familie, die drüben im Regent’s Park ein riesiges Anwesen unterhielt. An Mara, ihre Schwester, die man fortgeschafft hatte aus London. An ihre leibliche Mutter, die in einer Anstalt für Krankheiten des Geistes in Moorgate ein unwürdiges Dasein fristete.

»Wann bist du das letzte Mal dort gewesen?« Nur selten sprach Aurora sie darauf an.

»In Moorgate?«

»Ja.«

»Gestern.«

»Und?«

Ein Achselzucken.

Aurora hatte sie angesehen und geschwiegen.

Sie schwiegen oft.

Gemeinsam.

In letzter Zeit.

Und Emily war ihrer Freundin dankbar für diese stillen Momente.

Es gab nicht viele Menschen, in deren Gegenwart sie sich wohl fühlte. Immer öfter bevorzugte sie das Alleinsein. Die meisten Menschen, und dazu zählte sie auch ihre Mitschüler, waren ihr zu sehr bestrebt, sich selbstdarstellerisch auf der Bühne, die das Leben zweifelsohne für sie war, zu präsentieren. Die Probleme anderer wurden ausschließlich dazu genutzt, selbstmitleidig eigene Unpässlichkeiten darzubieten und so nach wohlwollendem Zuspruch und Verständnis zu heischen und dem eigenen Schicksal eine Bedeutung zuzumessen, die man nurmehr als lächerlich bezeichnen konnte.

Ihre Freundin war da anders.

Immer schon gewesen.

Aurora Fitzrovia beherrschte die Kunst des Schweigens.

Sie war eine gute Zuhörerin.

Was konnte sich Emily mehr wünschen?

»Es gibt viele Möglichkeiten«, hatte ich meiner Schutzbefohlenen einmal eingeschärft, »miteinander zu reden. Und Worte sind schmale Pfade, die uns nicht immer an den Ort führen, den wir aufzusuchen gedenken. Oftmals sind sie trügerisch. Falsch. Vergessen Sie das niemals.«

Als wir Barkingside Beneath erreichten, befolgte Emily diesen Ratschlag.

Sie starrte in die leeren Augen des Toten und erinnerte sich seltsamerweise gerade in diesem Moment der langen Abende, die sie schweigend mit Aurora in der Dachkammer in Hampstead Heath verbracht hatte. In Augenblicken wie diesem hätte sie Aurora gern bei sich gehabt. Wie damals, als sie in die Hölle hinabgestiegen waren.

»Sie ahnen, weshalb wir hinzugezogen worden sind?«

»Ja.« Die Stimme des Mädchens war nurmehr ein entsetztes Krächzen.

»Es muss in den frühen Morgenstunden passiert sein.«

Emily konnte den Blick nicht von dem Mann abwenden, der dort vor ihr auf dem Rücken lag und noch im Tode die gepflegte Eleganz erahnen ließ, die ihn zeitlebens umgeben hatte.

Die grell flackernden Neonröhren an der Decke des Tunnels spiegelten sich in den leblosen Augen des Inders. Die Angehörigen der Metropolitan waren zurückgetreten, als wir jenseits des Fairlop-Sidings den Ort des grausigen Fundes betreten hatten. Bewaffnet mit elektrischen Helebarden, standen sie stumm da.

»Das ist Amrish Seth«, flüsterte Emily.

Zu viele Gedanken bestürmten sie in diesem Moment.

»Eine der Trafalgar-Tauben hat mir die Nachricht überbracht.« Gurrend hatte das Tier in dem schmutzigen blauweißen Federkleid auf dem Fenstersims meines Refugiums gehockt, in der Tauben-Art penetrant mit dem Schnabel gegen das Glas gepickt, bis ich endlich aufgesehen, das Fenster geöffnet und mir die Botschaft angehört hatte. »Es war McDiarmid aus Islington, der ausdrücklich unser beider augenblickliches Erscheinen erbeten hat.«

»Ich kann ihn nicht leiden.« Emily lag es fern, ein Hehl aus ihrer Abneigung gegenüber dem alten Magister mit dem Gesicht einer Krähe und den Augen eines Marders zu machen, den zu treffen sie nur wenige Male die Ehre gehabt hatte. »Er ist überheblich und anmaßend.«

»Master McDiarmid ist, wie er ist«, verteidigte ich den Mann, der mich einst die Kunst der Alchemie gelehrt hatte, und kehrte wieder zu dem vor uns liegenden Leichnam zurück. »Es findet sich wenig Blut an diesem Ort, meinen Sie nicht auch?«

Emily schwieg.

Beobachtete.

Denn sie wusste, dass dies von ihr erwartet wurde.

»Er ist hierher geschleppt worden«, schlussfolgerte ich grübelnd. »Getötet wurde er woanders.« Zu bleich und blutleer war der Leichnam.

»Sie meinen, dass der Mörder wollte, dass er gefunden wird?«

»Ich weiß nicht, was der Mörder beabsichtigt hat.«

»Aber warum er?«

»Es gibt keine Zufälle«, gab ich zu bedenken, und fragte mich, ob dem Mädchen der Ernst der Lage bewusst war. »Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«

»Ich weiß nicht.«

»Versuchen Sie sich zu erinnern.«

»Als ich das letzte Mal dort gewesen bin vermutlich.«

Ich nickte nur.

Amrish Seth hatte im Britischen Museum gearbeitet.

In Kalkutta war er einst als Bettelkind in der urältesten Metropole Indiens aufgewachsen, bevor er von einem Missionar nach England gebracht worden war. So jedenfalls hatte er es dem Mädchen, das fast jeden Tag seine Freundin im Lesesaal der Nationalbibliothek besucht hatte, erzählt.

»Warum gerade er?«

Emilys Frage schien berechtigt.

Ergänzend murmelte ich: »Warum ausgerechnet hier?«

Barkingside Beneath liegt in einem der äußeren Bezirke Londons. Keines der Gebiete, in denen sich Dr. Seth aufzuhalten pflegte. Zu heruntergekommen waren die einstmals kunstvoll durchs Erdreich getriebenen Abwasserkanäle, die das Gros jenes Teils der Metropole ausmachten. Ein unterirdisches Netz von aufgestauten Seen und mächtigen Zisternen, die durch riesige, Abgründe überspannende Aquädukte miteinander verbunden waren, bildete das Herz von Barkingside Beneath. Wasserspeier trieben in den Tiefen regen Handel mit der Leyton-Gilde. Kein Ort für einen Gelehrten des Altertums, auch wenn dieser auf eine ruhmreiche Vergangenheit als Feldforscher zurückzublicken vermochte.

»Er war im Auftrag des Senats gemeinsam mit Alexander Grant in die Metropole hinabgestiegen«, erklärte ich meiner Schutzbefohlenen, »um nach Hinweisen in einer Angelegenheit zu suchen, die Ihnen gegenüber zu erwähnen ich bislang versäumt habe.«

»Versäumt?«

»Nun, ja. Man hat mich gebeten, Stillschweigen zu bewahren.«

»Wer hat Sie gebeten?«

»McDiarmid.«

»Und?«

»Was meinen Sie?«

»Werden Sie mich jetzt aufklären?«

»Später.«

Sie sah mich entnervt an.

Und ich betonte: »Später!«

Damit gab sie sich zufrieden.

Vorerst.

»Er sieht so friedlich aus.« Langsam und bedächtig trat Emily näher an den Leichnam mit der zerfetzten Kehle heran. Die behandschuhte Hand hielt sie sich vor den Mund. Sie wankte, jedoch nur kurz. Sie wusste, was ihr bevorstand. »Ich muss es tun, stimmt’s?« Ein rostiger Geruch erfüllte den verlassenen U-Bahn-Tunnel, an dessen gekachelten Wänden vergilbte und angerissene Plakate hingen, die das vielfältige Varieteeprogramm des East Ends in den 30er-Jahren dieses Jahrhunderts anpriesen.

»Es könnte hilfreich sein«, gab ich zur Antwort.

Emilys Hände zitterten jetzt.

»Deswegen hat McDiarmid uns hierher beordert.«

»Ja.«

Ihr Mantel wehte im Wind, der durch den Tunnel heulte.

Dann sah sie mich an, verletzlich und unsicher.

Ein helles Auge, eines aus Mondstein.

»Ich habe Angst.«

Ich trat neben sie.

»Ich weiß.«

Worte halfen nicht viel.

Sie würde es tun.

Wie sie es schon vorher getan hatte. Wenige Male nur, doch …

»Halten Sie meine Hand?«

»Sie sind Emily Laing aus Rotherhithe«, hörte sie mich flüstern. Denn das war es, was ihr Mut machte.

Dann splitterte der Spiegel der leblosen Augen des Inders, und in den Scherben, die um sie herumwirbelten, erkannte Emily, was Amrish Seth widerfahren war.

Sie sah Raubtiere mit spitzen Ohren. Jaulend. Heulend. Augen, so wild und rot und blutunterlaufen. Reißzähne, blitzend im feuchten Glanz der Neonröhren. Sie hörte Schreie und Keuchen. Dann, an einen fremden Ort, eine Gestalt zwischen schwarzem Felsgestein. Fremdländische Zeichen auf dem Boden, auf dem sie kniet. Und fleht. Förmlich winselt. In einer Sprache, die Emily nicht versteht. Die sie aber fühlen kann. So scharf wie ein Messer und Frost auf der Haut. Es ist Amrish Seth, der da am Boden kniet. Inmitten der Raubtiere, die ganz nahe sind. Er schaut zu einer Frau auf, deren Gesicht in den Schatten verborgen ist. Und einem Mann, der neben ihr steht. Der die weißen Zähne fletscht. Wie ein Tier, so hungrig. Der Mann schlitzt Amrish Seth die Kehle auf. Trinkt gierig. Lächelt. Emily kennt den Mann. So gut, dass selbst die Splitter erschrocken vom Wind davongeweht werden.

Wie aus weiter Ferne erklingt ein Schrei.

Ihr Name.

Klar und deutlich.

»Emily Laing«, rief ich erneut.

Da endlich hörte ihr Körper auf, sich aufzubäumen.

Und sie weilte wieder in der wirklichen Welt.

»Sie haben ein tapferes Herz.«

Emily keuchte.

Blinzelte.

Ganz benommen noch von der Toderfahrung, in die sie eingetaucht war.

Tränen traten ihr in die Augen, dann brach sie förmlich zusammen, schluchzte hemmungslos, zitterte.

»Was haben Sie gesehen?«

Als sie sich beruhigt hatte, sagte sie es mir. »Vetala-pancha-Vinshati«, flüsterte sie. »Das hat er gesagt.« Und während sich die wenigen Angehörigen der Metropolitan endlich Seths Leichnams annehmen durften, wurde mir die ganze Tragweite der Worte bewusst, die das Mädchen soeben furchtsam ausgesprochen hatte.