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Vorwort

Im Frühjahr 2020, als diese Anthologie zusammengestellt wird, steht die Welt Kopf. Das neuartige Coronavirus verbreitet sich rasant, innerhalb kürzester Zeit hat es sich zu einer weltweiten Pandemie entwickelt. Zahlreiche Länder befinden sich im Lockdown, das öffentliche Leben pausiert, die Menschen bleiben zu Hause und auf Abstand zueinander. Viele Dinge, die noch bis vor wenigen Wochen als Gewissheiten angesehen wurden, gelten nicht mehr. Plötzlich sind wir zurückgeworfen auf die eigenen vier Wände, das Gedankenkarussell dreht sich in der Ausnahmesituation schneller denn je. Eine ideale Strategie zur Bewältigung dieser – und anderer – Krisensituationen kann das Lesen sein. Denn wenn wir lesen, sind wir allein, aber nicht einsam, können vom eignen Wohnzimmer im Geiste die ganze Welt bereisen und unseren Verstand schärfen. Das wusste auch Johann Wolfgang von Goethe, der sagte: »Wer Bücher liest, schaut in die Welt und nicht nur bis zum Zaune.«

Die hier versammelten Texte der Denkanstöße 2021 laden Sie ein zu einer Reise weit hinaus über den Zaun und die Grenzen der eigenen Gedankenwelt. Nora Kreft lässt große Philosophinnen und Philosophen auf erfrischende Art und Weise diskutieren, was Liebe eigentlich bedeutet. Bettina Pause und Shirley Seul zeigen, warum wir gut beraten sind, wenn wir viel häufiger unserem Geruchssinn vertrauen. Denis Scheck stellt mit seinem Kanon die oft allzu engen Grenzen der Literatur infrage. Philipp Gut setzt dem Gerechtigkeitskämpfer Ben Ferencz zum hundertsten Geburtstag ein überfälliges Denkmal, Valerie Schönian erforscht, wo wir dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands wirklich stehen, Alexander von Schönburg gibt Inspirationen für einen freudvollen grünen Lebensstil, Rolf Dobelli zeigt, warum News Gift für unseren Geist sind, und Ulrich Wickert erklärt, warum ein gemeinsames Wertegerüst für eine Gesellschaft unverzichtbar ist – gerade in schwierigen Zeiten.

Die hier versammelten Autorinnen und Autoren setzen sich kritisch mit der Wirklichkeit auseinander, in der wir leben. Damit liefern sie wertvolle Impulse, um das eigene Denken und Tun zu hinterfragen und gegebenenfalls neu zu ordnen. Schauen Sie also mit ihnen in die Welt.

Isabella Nelte

ERKENNTNISSE – Aus Wissenschaft und Philosophie

Nora Kreft
Was ist Liebe, Sokrates?

Die Liebe stellt regelmäßig unser Leben auf den Kopf. Man kann nicht nebenbei lieben und ansonsten weitermachen wie bisher: Liebe verändert uns von Grund auf, verwandelt Sehnsüchte und Wünsche, und auch unsere Wahrnehmung. Wir sehen und hören anders, wenn wir lieben, weil unsere Aufmerksamkeit einen neuen Fokus hat. Kein Wunder, dass gerade der Beginn der Liebe sehr verwirrend und anstrengend sein kann. Alle Gedanken kreisen auf einmal um den Liebsten oder die Liebste, und man hofft nichts sehnlicher, als dass man zurückgeliebt wird. Das macht ziemlich verletzlich, nicht nur anfangs, sondern überhaupt: Liebende gewöhnen sich nicht wirklich an die Liebe und werden mit der Zeit nicht weniger verletzlich. Wenn man zum Beispiel eine Person verliert, die man liebte, ist es nicht leicht, weiterhin jeden Tag aufzustehen und weiterzuleben. Es ist, als ob uns erst die Liebe erklärte, was Sterben eigentlich bedeutet und was Alleinsein ist.

Liebe überkommt uns manchmal plötzlich, und manchmal bahnt sie sich langsam an, aber in jedem Fall entzieht sie sich unserer direkten Kontrolle. Sie mischt sich zwar in unsere Entscheidungen ein, zumindest in die wichtigen, aber zur Liebe selbst kann man sich nicht einfach entscheiden. Man kann sich zu ihr bekennen oder nicht, man kann versuchen, die Schar von Gefühlen und Wünschen zu ignorieren, die sie mit sich bringt, aber ob man überhaupt liebt, liegt nicht einfach in unserer Hand, und das gilt für romantische Liebe ebenso wie für Elternliebe, Geschwisterliebe, tiefe Freundschaft und so weiter.

Wenn sie uns so verändert und verletzlich macht und wir sie noch nicht einmal selbst in der Hand haben, warum sehnen wir uns trotzdem nach Liebe? Was ist das Besondere an ihr? Warum würden die meisten sogar lieber unglücklich als überhaupt nie lieben? Warum versuchen wir, sie in unzähligen Liedern in Worte zu fassen? Warum ist es überhaupt so schwer, die richtigen Worte für Liebe zu finden? Warum vertun wir uns so oft dabei und setzen immer wieder an?

Weil Liebe so ein erstaunliches Phänomen ist und weil es sie schon seit Anfang der Menschheit zu geben scheint – auf jeden Fall seit Beginn der von Menschen dokumentierten Geschichte –, hat sich auch die Philosophie schon immer Gedanken über Liebe gemacht. Große Philosophen und Philosophinnen aus allen Jahrhunderten haben sich gefragt, was romantische Liebe, Elternliebe, Geschwisterliebe und tiefe Freundschaft gemeinsam haben, was sie eigentlich alle zu Liebe macht, und kluge Ideen zu Papier gebracht. Wäre es nicht ungemein spannend, wenn sie durch die Zeit reisen und unsere Fragen zur Liebe mit uns diskutieren könnten? Die grundlegenden Fragen, die sich allen Menschen schon immer gestellt haben, aber auch über die Themen, die uns im Augenblick ganz besonders angehen und die Ausdruck unserer Zeit und Kultur sind – Dating Apps, Liebe und künstliche Intelligenz und so weiter?

 

Auf den folgenden Seiten spinnen wir dieses Gedankenspiel weiter. Acht Philosophinnen und Philosophen treffen aufeinander, und zwar in Immanuel Kants Haus in Königsberg, also im heutigen Kaliningrad. Es sind historische Figuren aus ganz verschiedenen Zeiten, die Wesentliches zur Philosophie der Liebe beigetragen haben: Sokrates aus der klassischen Antike, Augustinus aus deren Endphase und dem beginnenden Mittelalter, Immanuel Kant aus dem 18. und Søren Kierkegaard aus dem 19. Jahrhundert, Sigmund Freud und Max Scheler aus der ersten und Simone de Beauvoir und Iris Murdoch aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie kommen zusammen, weil Immanuel Kant eine mysteriöse Einladung verschickt hat. Früher lud er häufig zu sich ein, aber irgendwann wurde es still um ihn. Jetzt taucht er plötzlich aus der Versenkung auf und will über Liebe reden. Dem historischen Immanuel war die Liebe moralisch suspekt. Der Immanuel in diesem Buch will das Thema noch einmal aufrollen, und seine sieben Gäste sollen ihn dabei unterstützen.

Schränkt Liebe unsere Autonomie ein?

Sokrates läutete die nächste Sitzung ein: »Jetzt ist die Zeit gekommen, um über Glück und Unglück zu sprechen. In den trägen Mittagsstunden, in denen die Müdigkeit ihr Netz auswirft.«

Simone schaute ihn etwas ratlos an. Sie wusste nicht recht, ob sie warten oder anfangen sollte. Immanuel hatte für einen Moment die Augen geschlossen und döste im Sonnenlicht, das jetzt durch die Fenster schien. Dann rappelte er sich auf und sagte: »Ein paar Schluck Wasser und wir sind wieder in Fahrt, meine Freunde! In zwei Stunden mache ich einen kurzen Gang um den Block – natürlich gern in Begleitung, falls jemand mitkommen möchte. Aber bis dahin: Simone, erklär uns doch bitte deine Zweifel.«

Simone stand in den Startlöchern: »Es ist ganz einfach«, begann sie. »Warum gehen wir eigentlich davon aus, dass Liebe etwas Gutes ist? Liebe macht doch oft ziemlich unglücklich: Wenn der Geliebte die Liebe nicht erwidert oder wenn ihm etwas zustößt, wenn er gar stirbt, dann leidet die Liebende furchtbare Schmerzen und kann sich auf gar nichts anderes mehr konzentrieren. Liebe macht verletzlich.«

»Aber das Glück, das man erfährt, solange man den Geliebten um sich hat und mit ihm das Leben teilen darf, ist diese potenziellen Schmerzen doch wert. Man geht ein Risiko ein, wenn man sich auf Liebe einlässt, aber ganz ohne Risiko gibt es nichts Gutes, oder?«, meinte Iris und goss sich Kaffee nach.

»Doch!«, mischte sich Augustinus ein. »Wer Gott liebt, geht kein Risiko ein. Gott kann man nicht verlieren. Deshalb kann man sich an ihm ganz ohne Angst und Schmerz erfreuen. Darum glaube ich ja, dass wir nur Gott lieben und die weltlichen Güter links liegen lassen sollten. Na ja, und auch aus den Gründen, die ich heute Morgen schon vorgetragen habe.«

Iris sah nachdenklich aus, aber Simone übernahm wieder, noch bevor sie etwas erwidern konnte: »Hey, ich war noch nicht fertig! Ich spreche jetzt nur von Liebe zu anderen Menschen, Augustinus, denn die Möglichkeit der Gottesliebe hilft Atheistinnen wie mir nicht wirklich weiter. Die Liebe zu Menschen macht, wie gesagt, verletzlich und ist deshalb riskant. Egal ob erotische Liebe oder Elternliebe oder enge Freundschaft. Insbesondere die erotische Liebe birgt allerdings noch weitere Gefahren, über die wir nachdenken müssen. Denn selbst wenn alles einigermaßen glimpflich verläuft, man als Liebespaar zusammenlebt und einem der Geliebte nicht abhandenkommt, kann sie dazu führen, dass man sich selbst verliert. In der Liebe gibt es zwei widerstreitende Tendenzen: eine, die die Autonomie der Liebenden bestärkt und fördert, und eine, die genau das Gegenteil zu Folge hat und ihre Autonomie untergräbt. Liebende wollen einerseits miteinander kommunizieren, einander herausfordern und sich gerade an ihrer Zweisamkeit erfreuen, und dafür müssen beide autonom sein. Und andererseits haben sie den Hang, sich mit dem Geliebten zu identifizieren, zu denken und zu tun, was er denkt und tut. Und zwar nicht, weil man es selbst überdacht hat und auch für richtig hält, sondern nur, weil es von ihm kommt.«

»Ist das nicht …«

»Immer noch nicht fertig, Immanuel!«, rief Simone und streckte ihm defensiv die Handflächen entgegen. »Unter bestimmten Umständen wird diese zweite Tendenz besonders wirkmächtig und gewinnt die Oberhand, zum Beispiel in Gesellschaften, die von Unterdrückung gekennzeichnet sind. Patriarchale Gesellschaften fallen darunter. Dort werden Männer als die eigentlichen Subjekte gehandelt, die sich entfalten und autonom werden sollen, während Frauen nur an der Seite eines Mannes soziale Anerkennung bekommen. Es wird von Frauen nicht erwartet, ein eigenständiges Leben zu führen, sondern einen attraktiven Mann zu ergattern, an dessen Leben sie dann teilhaben und den sie in seinem Werdegang unterstützen können. Unter anderem indem sie die Kinder großziehen und den Haushalt führen. Ihre Begabungen können Frauen hier nicht wirklich entwickeln und ausleben, höchstens als amüsantes Hobby, und dementsprechend frustriert und gelangweilt sind sie oft. Besonders wenn die Kinder dann aus dem Haus sind. Als Gegengift gegen diese Frustration und – ja, mehr noch – dieses Leid stürzen sie sich in die Liebe. Sie geben sich ihrem Mann ganz hin, und er muss als Gegenleistung für sie leben, groß herauskommen, Karriere machen. Je stärker er ist, desto besser fühlt sie sich mit ihren gestutzten Flügeln. Die Liebe zu ihm verstärkt also ihre gesellschaftliche Ohnmacht, ja macht sie zur Komplizin ihrer eigenen Unterdrückung. In einer solchen Situation kann es für Frauen wirklich besser sein, der Liebe zu entsagen oder wenigstens keine konventionellen Beziehungen mit Männern zu führen. Denn erstens ist Autonomie ein ebenso hohes Gut wie Liebe, wenn nicht ein noch höheres, und die geht einem in solchen Szenarien verloren. Und zweitens wird die Liebe durch den Verlust von Autonomie ja ohnehin torpediert: So eine Abhängigkeit vom Geliebten kann nicht lange gut gehen. Falls sich herausstellt, dass der Mann gar nicht so stark ist wie erhofft, oder wenn er scheitert, dann erfüllt er nicht mehr seine Funktion für die frustrierte Frau. Und wenn die Frau keine eigenen Gedanken mehr hegt und sich völlig für den Mann aufreibt, dann wird auch sie mit der Zeit weniger interessant, weniger attraktiv für ihn. Und aus ist es mit der Liebe, die doch die Rettung sein sollte.«

Simone hatte ihre Überlegungen mitreißend und bestimmt vorgetragen. Die anderen waren nacheinander aus ihrer Versenkung aufgetaucht, als ob Simones Körperspannung sie aufgerichtet hätte. Man war jetzt bei der Sache.

»Also, du willst sagen: Liebende haben immer schon den Hang, sich selbst aufzugeben und ihre Autonomie für den Geliebten an den Nagel zu hängen. In patriarchalen Gesellschaften wird dieser Hang noch verstärkt, sodass er sich Bahn brechen kann. Jedenfalls in Frauen, wenn sie Beziehungen mit Männern führen. Und was besonders schlimm ist: Damit verlieren die Liebenden nicht nur ihre Autonomie, sondern letztlich auch die Liebe. Denn Liebe ohne Autonomie hat kein langes Leben«, fasste Immanuel zusammen, und Simone nickte.

»Was wolltest du denn eben sagen, als ich dich unterbrochen habe?«, fragte sie ihn dann gnädig.

»Oh, nichts Besonderes. Und ich habe ja dich unterbrochen. Bitte entschuldige!«

»Wie furchtbar anständig ihr auf einmal seid!«, schmunzelte Sigmund, und alle lachten. »Aber was wolltest du denn nun sagen, Immanuel?«

»Einfach nur, dass diese problematische Tendenz, sich mit dem Geliebten zu identifizieren und eins mit ihm werden zu wollen, mit der Angst zu tun haben könnte, ihn zu verlieren. Deshalb schmiegen wir uns immer näher an, schlüpfen in seine Gedanken und seine Handlungen, als wären sie die unsrigen. So haben wir das Gefühl, ihn immer mit uns zu tragen und überall zu sein, wo auch er ist. Weil wir eben wie er geworden sind. Die Verletzlichkeit, von der eben die Rede war, wäre dann die Wurzel allen Übels und nicht einfach ein separates Thema.«

»Das mag sein«, erwiderte Simone. »Dann ist eben die Angst vor dem Verlust des Geliebten verantwortlich für den Hang zur Selbstzerstörung. In diesem Fall wäre er nicht nur in der erotischen, sondern in jeder Art der Liebe anzutreffen, denn die machen ja alle auf die gleiche Weise verletzlich. Und ja, warum nicht, vielleicht hat jede Liebe diese Tendenz, sich selbst zu unterminieren. Aber der wichtige Punkt ist: Die Ungerechtigkeit des Patriarchats ist verantwortlich dafür, dass dieser Hang die Oberhand gewinnt, wenigstens in Frauen.«

»Deiner Analyse zufolge bringt das aber auch die Männer um die Liebe, wenn sie Liebesbeziehungen mit Frauen führen«, warf Iris ein.

»Ja, natürlich, das Patriarchat ist auch für Männer schlecht. Nicht nur aus diesem Grund, aber auch deshalb«, schoss Simone nach.

»Das Patriarchat ist ja noch nicht überwunden. Sollten Frauen und Männer also besser auf Abstand gehen? Das wird schwierig werden … Jedenfalls für heterosexuelle Menschen. Die Libido ist ein starker Trieb, und sie zu unterdrücken geht oft schief«, warnte Sigmund.

»Ach, heterosexuell, homosexuell. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich so streng festgelegt ist. Ich kann mich auch in Frauen verlieben. Ich glaube, das ist nur eine Frage der Übung. Wir müssen lernen, sozial kontingente Schablonen des Begehrens abzulegen und zuzulassen, dass Personen aller Art erotische Wirkung auf uns haben können, nicht nur sogenannte Männer oder sogenannte Frauen oder sogenannte Dies-oder-Das. Wenn es für Frauen besser ist, keine Beziehungen mit Männern zu führen, solange das Patriarchat noch nicht überwunden ist, dann lieben sie eben andere Frauen!« Iris schüttelte befreit den Kopf.

»Oder sie finden eine Weise, mit Männern zusammenzuleben, die das Risiko der Selbstaufgabe möglichst minimiert. Ein klassischer bürgerlicher Haushalt ist zum Beispiel wenig förderlich. Zumindest sollten Frauen finanziell unabhängig sein und ihren eigenen Kopf bewahren, sich selbst ernst nehmen. Das bedeutet, sich zu bilden, Bücher zu lesen, auch Schwieriges zu durchdenken. Und zu arbeiten«, fügte Simone hinzu.

»Ich … ich … Ist Autonomie eigentlich wirklich so wichtig?«, platzte auf einmal Søren dazwischen. »Autonomie in dem Sinne, wie ihr darüber sprecht, hört sich in meinen Ohren wie eine komödiantische Illusion an, ein Witz, und das Leben, das ihr euch als autonom vorstellt, macht doch nicht glücklich. Meint ihr denn wirklich, dass alles in Ordnung wäre, wenn man arbeiten geht, anstatt bei den Kindern zu bleiben?«

»Das musst du genauer erklären!«, rief Sokrates, der ausnahmsweise auf einem Stuhl saß und jetzt interessiert die Ellenbogen auf den Tisch stützte, um sein Kinn in die Hände zu legen.

»Ihr redet von Autonomie, als wäre es das Leichteste in der Welt«, führte Søren aus. »Sich selbst zu kontrollieren, die eigenen Gedanken und Handlungen im Griff zu haben. Aber das ist so absurd, wie sich selbst zu erschaffen. Das können Menschen nicht. Wir sind nicht in dem Sinne frei, dass wir vollkommene Kontrolle über uns hätten. Denkt nur an unsere tiefsten Überzeugungen und – ja, an die Liebe in unserem Herzen zu diesem oder jenem Menschen. Solche Zustände sind es, die uns ausmachen und zu allerinnerst angehören. Und doch werden wir gerade in diese Zustände gezogen und hineinmanövriert: Wir wählen weder die Überzeugungen noch wen wir lieben. Beim Rechnen entscheiden wir uns ja nicht, dass 2 und 2 am Ende 4 ist, sondern wir können nicht anders, als das zu glauben, wenn wir die Rechenschritte durchlaufen. Wir lassen uns von der Wahrheit ziehen. So ist es auch mit anderen Überzeugungen und mit der Liebe. Wir können uns nicht entscheiden, eine bestimmte Person zu lieben oder nicht zu lieben, sondern wenn Gott gnädig ist, öffnet er unser Herz für sie. Wir wählen und entscheiden uns erst im nächsten Schritt, wenn es darum geht, diese Überzeugungen und diese Liebe zu leben, zu ihnen zu stehen, sie als Geschenk anzunehmen oder eben nicht. Vollständige Selbstkontrolle anzustreben und ein Leben danach auszurichten – oh nein, das wäre ein schreckliches Missverständnis. Eine Komödie, die zum Weinen bringt. Welche Vergeudung!«

»Søren, du verzerrst meine Position«, entgegnete Simone scharf, und Søren zuckte zusammen. »Ich habe nicht behauptet, dass es bei Autonomie um vollständige Selbstkontrolle geht. Im Grunde genommen haben wir das Wesen der Autonomie noch gar nicht genauer in den Blick genommen, sondern sind von einem vortheoretischen Verständnis ausgegangen, wonach autonom zu sein bedeutet, den eigenen Kopf zu bewahren und nicht ganz von einem anderen Menschen abhängig zu werden, vor allem eben geistig. Das ist ja kompatibel mit dem, was du sagst, oder etwa nicht? Wenn du recht hast und Autonomie in der bewussten Entscheidung für die inneren Zustände besteht, mit denen wir uns vorfinden, dann verlieren liebende Frauen im Patriarchat in genau diesem Sinne ihre Autonomie. Sie entscheiden sich nicht mehr für ein Leben im Lichte ihrer eigenen Überzeugungen, weil sie sich zu sehr an den Überzeugungen ihres Mannes ausrichten und die eigenen ignorieren und verkümmern lassen. Selbst ihre eigene Liebe nehmen sie nicht ernst und riskieren unbewusst ihr Ende. Bildung und Arbeit können dem entgegenwirken, aber es gibt sicher noch andere Möglichkeiten. Und sicherlich sind das noch keine direkten Wege zum Glück! Es sind Hilfsmittel, Versuche, sich aus der Unterdrückung und der aus ihr resultierenden Selbstentfremdung zu befreien. Am besten wäre es natürlich, wenn wir in einer gerechten Gesellschaft leben würden, wo alle gleichermaßen als Subjekte anerkannt werden und Liebesbeziehungen für Frauen nicht so gefährlich wären. Da ist Glück vielleicht möglich, und da kann man vielleicht ohne Vorsicht lieben und gleichzeitig seinen eigenen Kopf bewahren. Immerhin gibt es ja in der Liebe auch den Hang, die eigene und die Autonomie des Geliebten zu bestärken, und in einer gerechten Welt hat dieser Hang eine gute Chance, sich zu entfalten.«

»Stimmt …« Sokrates wiegte wieder den Kopf hin und her. »Søren hat trotzdem einen interessanten Punkt aufgeworfen. Wir sollten über das Wesen der Autonomie genauer nachdenken, um ihren Wert und ihr Verhältnis zur Liebe besser einschätzen zu können.«

»Weil man ja nicht bestimmen kann, wie wertvoll etwas ist, wenn man keine Ahnung hat, was es eigentlich ist, nicht wahr, mein Lieber?«, grinste Iris in Sokrates’ Richtung.

»Völlig richtig, das Wissen um das Was hat immer noch Vorrang!«, sagte Sokrates und rieb sich fröhlich die Hände. »Also, was ist Autonomie? Ich muss gestehen, dass ich zuweilen erwogen habe, ob Seelen nicht selbstbewegte Beweger sind. Damit meine ich, dass sie sich aus sich selbst heraus bewegen können und nicht von außen bewegt werden müssen wie materielle Körper.

In Platons Phaidros bezieht sich Sokrates auf Seelen als »selbstbewegte Beweger« und argumentiert auf dieser Basis für ihre Unsterblichkeit. Die Idee ist, dass Seelen im Gegensatz zu Körpern ohne Anstoß von außen auskommen, um sich zu bewegen. Sie können sich nämlich selbst bewegen, sozusagen von innen heraus. Das macht sie natürlich unabhängig von der äußeren Welt.

Fasst man den Begriff der ›Bewegung‹ recht weit, dann sind Seelen entsprechend unabhängig und fähig zu einem hohen Maß an Selbstkontrolle. Und sie sind dadurch auch angewiesen auf eine Vorstellung vom Guten, denn solchen Selbstbewegern – und wahrscheinlich nur solchen Selbstbewegern – stellt sich die Frage, wie sie leben sollen. Aber vielleicht hat Søren recht und dieses Verständnis von Seelen ist problematisch. Wenn Platon jetzt hier wäre, könnten wir das diskutieren! Aber nun ist er nicht hier, typisch, und eigentlich will ich auf etwas anderes hinaus: Sørens Beitrag erinnert mich daran, dass man Autonomie möglicherweise ohnehin unabhängig von Selbstkontrolle denken kann.

Platon taucht in seinen Dialogen fast nie selbst als Figur auf, obwohl er natürlich im echten Leben ständig in Gespräche mit Sokrates verwickelt war – schließlich war er Sokrates’ Schüler und liebte ihn über alles. Im Phaidon, dem Dialog, in dem der zum Tode verurteilte Sokrates den giftigen Schierlingsbecher trinkt, wird explizit auf seine Abwesenheit hingewiesen: Angeblich war Platon zu krank, um dem letzten Gespräch beizuwohnen.

Du bringst Überzeugungen ins Spiel, Søren, und du hast recht: In einem gewissen Sinne haben wir unsere Überzeugungen nicht unter Kontrolle. Wir können nicht anders, als das zu glauben, was sich uns als wahr darstellt. Und doch können das Bilden von Überzeugungen und allgemein das Nachdenken autonom sein. Allerdings nicht unter allen Umständen, und jetzt wird es spannend. Nehmt mal die folgenden drei Beispiele. In einem Fall überlegt jemand, was 2 und 2 ist, und kommt zu dem Ergebnis: Es ist 4. In einem zweiten Fall überlegt jemand, was 2 und 2 ist, und ihre Lehrerin flüstert ihr ins Ohr: 4. Sie versteht nicht, warum, aber sie glaubt der Lehrerin. In einem dritten Fall überlegt jemand, was 2 und 2 ist, und kommt zu dem Ergebnis: 3.

Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber aus meiner Sicht denkt nur die erste Person autonom nach. Im zweiten Fall wird der Denkprozess der Person durchkreuzt von etwas, das von ›außen‹ kommt und nicht auf ihre eigene Aktivität zurückzuführen ist. Das gilt auch für das dritte Beispiel, denn Fehler sind Ergebnis von Ablenkung, Müdigkeit und so weiter – Stolpersteine, die wie das Einflüstern der Lehrerin zwischen der Nachdenkenden und ihren Gedanken stehen. Was ist nun das Besondere an Fall eins? Warum ist das ein Fall von autonomem Nachdenken? Nicht einfach, weil die Person am Schluss eine wahre Überzeugung hat, denn das hat sie ja auch im zweiten Fall. Sondern eher, weil sie versteht, warum 4 die richtige Antwort ist. Fragen wir sie, kann sie uns erklären, warum die Summe von 2 und 2 nun einmal 4 ergibt. Mein Vorschlag ist also, dass Nachdenken dann autonom ist, wenn es ungehindert ist, und das ist es, wenn es in Verstehen resultiert – in Verstehen des Sachverhalts, über den man eben nachdenkt. Und deshalb stimme ich auch Simone zu, wenn sie sagt, dass Autonomie glücklich macht oder wenigstens ein wesentlicher Teil vom Glück ist. Denn ich habe ja schon anfangs erwähnt, dass das Glück meines Erachtens in Weisheit besteht, im Verstehen der Ideen.«

»Und wie verhält sich Autonomie dann zu Liebe?«, fragte Immanuel.

»Ich denke, wir sollten zunächst einmal zwei Fragen auseinanderhalten. Nämlich zum einen, ob wir autonom lieben können oder nicht, angesichts der Tatsache, dass man Liebe nicht kontrollieren und aktiv wählen kann. Und zum anderen, ob Liebe, wenn sie einmal da ist, gut oder schlecht für die Autonomie der Liebenden insgesamt ist.«

»Das scheint mir vernünftig zu sein«, stimmte Immanuel zu.

»Wenn man autonom nachdenken kann, ohne den eigenen Denkprozess und das Bilden von Überzeugungen selbst zu kontrollieren, dann sollte auch im Fall von Liebe nichts dagegensprechen«, fuhr Sokrates fort. »Möglicherweise lieben wir dann autonom, wenn wir verstehen, warum der Geliebte so liebenswert ist. Was die zweite Frage betrifft: Nun, meine Antwort sollte euch nicht mehr verwundern. Da ich ja glaube, dass Liebende einander helfen, sich an die Ideen zu erinnern und auf diese Weise zu verstehen, warum die Welt so ist, wie sie ist, muss Liebe gut für die Autonomie der Liebenden sein. Aus meiner Sicht macht Liebe auch nicht wirklich verletzlich: Ohne Liebe ist man viel verletzlicher, weil man ja im Dunkeln tappt, nichts wirklich versteht, auch nicht sich selbst. Man ist dann all den Wirkmächten ausgesetzt, die einen Lebenszeit kosten und um das Glück bringen – Begehren aller Art, nach Geld und Macht und so weiter. Und Einflüsterungen falscher Götter. Trotzdem stimme ich Simone in einigen Punkten zu. Es gibt soziale Umstände, in denen die Wiedererinnerung der Liebenden gehindert wird – in ungerechten Gesellschaften ist das wohl so. Um Autonomie und Liebe eine Chance zu geben, müssen wir für Gerechtigkeit kämpfen.«

»Warte mal. Warum habt ihr eigentlich nichts gegen das Patriarchat getan?«, fragte Iris. Sie schaute von Sokrates zu Immanuel und Augustinus, dann zu Søren, Sigmund und Max. Sie schwiegen betreten.

»Unsere Augen waren blind«, antwortete Immanuel schließlich. »So geschieht Unrecht. Wir haben die Ungerechtigkeit für normal gehalten, der Natur der Dinge entsprechend. Nicht nur das Patriarchat. Wir waren sexistisch, rassistisch, homophob, transphob, wir haben Klassenunterschiede zugelassen und untermauert … Die Philosophie hat uns nicht davor bewahrt. Manche Vorurteile sitzen so tief, dass es der Arbeit von Generationen bedarf, um sie aufzudröseln.«

Sokrates ließ den Kopf hängen, und Augustinus murmelte: »Ich glaube, wir brauchen eine Pause. Jetzt können wir ja nicht einfach weitermachen.«

»Nein, meine Herren, wir müssen trotzdem weitermachen. Die Philosophie hilft letztlich doch! Dass du jedem einzelnen Menschen Würde zugesprochen hast, Immanuel, das ist zum Beispiel Rüstzeug für alle, die jetzt für Gerechtigkeit kämpfen«, widersprach Iris.

Simone stimmte ihr zu, schnappte sich die Wasserkaraffe und ging um den Tisch, um allen einzuschenken: »Wir müssen einfach auf der Hut sein, dass wir unsere eigenen Vorurteile nicht übersehen. Gar nicht so leicht, denn die sind ja oft unbewusst. Sich selbst auf die Schliche zu kommen, schaffen die wenigsten. Sogar wenn diese Vorurteile ganz klar inkonsistent mit den eigenen Theorien sind! Man muss einander also helfen.« Die beiden Frauen beharrten darauf, dass die Diskussion fortgesetzt werde, und so rissen sich alle zusammen.

Es gibt eine Reihe von psychologischen Experimenten, die belegen, dass neben ganz expliziten Vorurteilen sogenannte »implicit biases« – also unbewusste Vorurteile – gegen bestimmte, gesellschaftlich marginalisierte Gruppen weitverbreitet sind. Auch wenn man beispielsweise explizit der Überzeugung ist, dass Frauen genauso zu Wissenschaft befähigt sind wie Männer, kann man doch unbewusst anderer Meinung sein. Das Gefährliche an unbewussten Vorurteilen ist, dass sie das eigene Handeln mitbestimmen, ohne dass man es selbst bemerkt. Deshalb ist es wichtig, das Phänomen des »implicit bias« weiter zu erforschen, auch damit Lösungsstrategien entworfen werden können.

»Immanuel, Meister der Autonomie, was hältst du von Sokrates’ Überlegungen?«, nahm Iris den Faden wieder auf.

Er kräuselte kurz die Stirn, während er sich konzentrierte und wieder aufs Thema besann: »Also … was das Wesen der Autonomie betrifft, stimme ich im Großen und Ganzen mit Sokrates überein. Eine autonome Person ist ihre eigene Gesetzgeberin, entscheidet selbst, was sie tut, und befolgt nicht einfach blind die Anweisungen eines Herrschers oder so. Das heißt aber nicht, dass sie so handelt, wie sie sich gerade lustig fühlt, oder willkürlich so oder anders entscheidet. Das wäre nämlich ein Sich-treiben-Lassen und daher ähnlich heteronom wie die Unterwerfung unter einen Herrscher. Sich selbst Gesetze geben heißt, sich durch nichts anderes leiten zu lassen als durch die eigene Einsicht in das, was man tun soll. Alle anderen Beweggründe sind uns letztlich fremd, kommen von außerhalb unserer selbst, sogar unsere Neigungen, die uns mal hier-, mal dorthin treiben. Das sind nicht wir, nicht unser bewusstes, denkendes Ich. Autonomie besteht dann nicht in einem nachträglichen Identifizieren mit oder Entscheiden für die eigenen inneren Zustände, wie Søren vorgeschlagen hat. Wenn ich ihn richtig verstanden habe?«

Søren sah ihn mit großen Augen an und blieb stumm, sodass Immanuel nichts anderes übrig blieb, als weiterzusprechen: »Diese Entscheidung müsste Resultat des nachdenkenden Ich sein und daher auf Einsicht beruhen – Sokrates hat recht, was Fehler betrifft. Aber die Einsicht, dass man sich für einen bestimmten inneren Zustand entscheiden sollte, ist natürlich nichts anderes als die Einsicht, dass dieser Zustand richtig ist. Mit anderen Worten: Das ist dann einfach die Einsicht in die Wahrheit der Überzeugung oder der Handlungsmaxime selbst.«

»Von Liebe hast du aber noch nichts gesagt, Immanuel«, erinnerte ihn Sokrates.

»Weil ich das schwierig finde.«

»Aber gleichzeitig willst du nichts lieber!«, rief Sigmund und erwischte Immanuel an einem wunden Punkt.

Er lächelte sein verlegenes Lächeln und sagte: »Ja, du hast wohl recht, Sigmund. Früher habe ich die exklusive, zwischenmenschliche Liebe zu den Neigungen gezählt, die von außen kommen und daher kein Beweggrund für autonomes Handeln sein können. Demnach kann man weder autonom lieben, noch fördert Liebe die Autonomie. Solange man sich nicht nach ihr richtet, schadet sie ihr zwar auch nicht. Aber sobald man sich ihr hingibt und aus Liebe handelt, ist man nicht mehr autonom.«

»Und jetzt denkst du anders?« Sokrates hob hoffnungsvoll die Augenbrauen.

»Jedenfalls lässt mich der Gedanke nicht los, dass du recht haben könntest und Liebe eigentlich keine Neigung ist, sondern selbst mit der Einsicht in das Gute zu tun hat. Aber ich kann diesen Gedanken noch nicht klar fassen …«

»Leute!«, meldete sich Max auf einmal. »Mir reicht es jetzt, ich will nicht mehr über Autonomie reden. Wir wollten doch über Glück sprechen!«

»Ja, aber angenommen, zum Glück gehöre sowohl Liebe als auch Autonomie und man könne nicht immer beides gleichzeitig haben, weil sie sich unter Umständen ausschließen – dann ist es doch wichtig zu eruieren, warum das so ist und was diese Umstände sind. In dieser Diskussion geht es deshalb immer noch um Glück«, erklärte Simone.

»Schön und gut, aber warum ist Liebe eigentlich so wesentlich für das menschliche Glück?«, insistierte Max. »So richtig sind wir darauf noch nicht eingegangen. Wir haben darüber gesprochen, dass Liebe zwar verletzlich macht, dass sie aber unter Umständen hilft, autonom zu werden. Sokrates meint gar, dass man mit ihrer Hilfe die Welt verstehen lernt. Kann man noch mehr dazu sagen, was so gut an der Liebe ist?«

»Hast du eine Idee, Max? Was brennt dir auf der Seele?«, fragte Augustinus.

»Was wäre denn, wenn es gerade die Verletzlichkeit ist, die mit Liebe einhergeht, die gut für Liebende ist? Augustinus, du hast eben gesagt, dass wir Gott lieben sollten, weil wir in dieser Liebe nie enttäuscht und verletzt werden können. Aber ich frage mich, ob Gott uns nicht gerade zumutet, dass wir verletzlich werden. Wenn Gott möchte, dass wir andere Menschen lieben, und wenn das nicht ohne Verletzlichkeit geht, dann könnte man jedenfalls auf diesen Gedanken kommen. Verletzlich zu sein ist ein Zustand, der unserem Leben auf Erden entspricht, ein authentischer Zustand, wenn man es in Simones Worten sagen will.«

Simone schien erstaunt, dass Max sich auf sie bezog. Der sprach weiter: »Denn hier auf Erden gehört uns nichts wirklich an. Alles entgleitet uns mit der Zeit, die voranschreitet und alles mitnimmt.«

Simone fiel ein: »Die Aufgabe wäre dann, zu lernen, den Anderen gehen zu lassen.«

»Ja, aber noch mehr: Es bedeutet auch zu spüren, was das heißt, dass er geht. Den Schmerz zu spüren. Das bedeutet zu verstehen, dass er unersetzlich ist, dass es diese Art von Wert gibt. Diese Erkenntnis rettet uns aus der Melancholie, macht alles schön. Liebende fragen sich nicht, was der Sinn ihres Lebens ist. Vielleicht theoretisch, aber nicht existenziell. Die Not dieser Frage verpufft, wenn man verliebt ist oder ein Kind im Arm hat. Die Antwort liegt so klar auf der Hand: diese Schönheit zu sehen.«

»Ohne verletzlich zu sein, würde man sie nicht sehen … da ist etwas dran.« Simone war nachdenklich. »Verletzlichkeit hat also zwei Seiten: Sie ist einerseits notwendig für diese Einsicht in die Besonderheit und Unersetzbarkeit des Anderen, und damit auch notwendig für das eigentümliche Glück, das mit dieser Einsicht einhergeht. Und andererseits macht sie Angst und verleitet uns zum Festhalten am Anderen, zum Beispiel indem man sich in einem problematischen Sinne mit ihm identifiziert, wie wir das eben besprochen haben.«

»Mir scheint jedenfalls, dass die Nähe dieser Schönheit die Schmerzen und Gefahren wert ist. Sokrates hat recht: Ohne Liebe wäre alles viel schlimmer«, endete Max.

Bettina M. Pause mit Shirley Seul
Alles Geruchssache

Der Geruchscode

Ohne Ihre Nase könnten Sie dieses Buch nicht lesen. Ohne Gerüche könnten wir Menschen nicht fühlen, uns nicht erinnern oder sprechen. Wir wären maximal auf einem Entwicklungsstand wie Schwämme, Würmer, Insekten und Quallen.

Unser Alltag ist von Gerüchen geprägt, jedoch nehmen wir nur den geringsten Teil davon bewusst wahr. Deshalb merken wir nicht, dass wir sozusagen an der Nase herumgeführt werden. Wir halten uns für vernünftig, weitsichtig, logisch, und wenn wir Entscheidungen fällen, glauben wir, wir hätten sie gewissenhaft durchdacht. In Wahrheit haben wir Menschen geheiratet, eingestellt, vertraut, die wir gut riechen können, und Argumente »erfunden«, die unserer Nase schmecken. Unser Geruchssinn erkennt nämlich nicht nur Erdbeeren und Gülle, sondern auch Liebe und Angst. Jeder Mensch sendet ununterbrochen Duft aus, der von anderen aufgenommen wird, die darauf reagieren – so wie wir selbst auf die chemischen Botschaften unserer Mitmenschen reagieren. Wir sind, was wir riechen! In diese faszinierende neue Welt möchte ich Sie einladen. Bis vor Kurzem glaubte man, Menschen seien »Augentiere«. Doch wir gehören eher zu den Nasentieren; der Geruchssinn steht über dem Sehsinn, das haben viele Studien zweifelsfrei gezeigt. Die Art und Weise, wie wir riechen, hat sogar maßgeblich Einfluss darauf, ob wir glücklich leben, gesund sind, harmonische Beziehungen und Freundschaften pflegen. Und wie intelligent wir sind.