DR. SHARON BREHM
Smart
Loving
Wie wir echte Liebe finden
Vorwort
1 Courage
ODER Warum wir uns selbst im Weg stehen
Dating heute: Warum das, was uns schützt, uns auch die Beine brechen kann
Warum wir mutig sind
Masken: Was es bedeutet, heute Single zu sein
Wenn wir trotz aller guten Intentionen gescheitert sind
Warum Floskeln uns nicht trösten
Sanftmut: Warum wir unsere Gefühle trotz Herzschmerz brauchen
Zärtlichkeit: Warum Selbstmitgefühl uns nicht verweichlicht
Was passiert in unserem Körper, wenn wir Selbstmitgefühl zulassen?
2 Chaos
ODER Wie aus Schmerz Verbindung entsteht
Reue: Wie wir zurückschauen und trotzdem nach vorne gehen
Zu bereuen bedeutet, zu verändern
Überforderung: Wie aus Gedankenkreisen ein gerader Weg wird
Warum wir einen liebevollen Blick auf uns richten dürfen
Wut: Warum unsere Erwartungen Relikte sind
Für alle, denen es leichtfällt, Wut zu spüren
Für alle, die nie Wut spüren durften
Scham: Warum unser Körper für uns arbeitet
Die Funktion von Scham
Angst vor Verletzungen: Warum wir manche Reisen aufschieben
Bindungstrauma: Wie fühlt es sich an, an diesem Ort zu sein?
Einsamkeit: Warum wir manchmal bleiben, obwohl wir gehen möchten
Das Heilsame der Einsamkeit
3 Sehnsucht
ODER Warum wir mehr sind als unsere Schutzmechanismen
Von der Freiheit, zu bleiben
Emotionale Sicherheit: Was wir in Filmen nicht über Beziehungen lernen
Ciao, Romantik!
Wenn Freiheit zur Falle wird
Bindung: Wie wir uns selbst besser verstehen können
Erkenne deinen Bindungsstil: Leader, Healer, Artist, Rebel
Leader: Wie Angst zu Sehnsucht wird
Rebel: Warum Freiheit auch ein Schutz sein kann
Artist: Wie wir an Leiden wachsen
Healer: Warum wir das Gute unterschätzen
Test: Was ist mein Bindungsstil?
Schutz: Wie verfehlte Schutzmechanismen eine erfüllte Beziehung verhindern
4 Dynamik
ODER Wie aus einem Ich ein Wir wird
Perfektion: Wie wir uns von leeren Versprechungen verabschieden
Beziehungsdynamiken: Von Potenzialen, Teufelskreisen und Lernaufgaben
Leader und Rebel: Warum sich Gegensätze triggern
Leader und Healer: Wie unsere Seele satt wird
Leader und Artist: Warum Nähe sich gefährlich anfühlen kann
Leader und Leader: Warum das gleiche Bedürfnis nicht gleich ist
Rebel und Healer: Wie Freiheit nicht mehr trennt
Rebel und Artist: Warum Welteroberungen Wertschätzung brauchen
Rebel und Rebel: Warum Ähnlichkeit nicht gleich Verbindung bedeutet
Artist und Healer: Wie Verbindung kein Glücksspiel mehr ist
Artist und Artist: Wie wir uns in anderen erkennen, aber nicht verlieren
Healer und Healer: Wie wir Zweifel für unser Wachstum nutzen können
Passion: Warum wir Attraktivität nicht gegen Sicherheit tauschen müssen
Ein Bindungsstil steht in keiner Beziehung zu Schönheitsidealen
5 Realität
ODER Wie aus einem Buch eine Beziehung wird
Bauchgefühle: Wie verliebe ich mich überhaupt in eine Person, die mir fremd ist?
Wie wir Missverständnisse am ehesten vermeiden können
Wie wir von Fremden zu Liebenden werden
»Angst vor« heißt auch »Lust auf«
Lieber online oder lieber offline suchen?
Welche Plattform ist für mich die richtige?
Was ist, wenn ich schon weiß, dass Onlinedating bei mir nicht klappen kann?
Welche Fotos lade ich hoch?
Warum braucht es einen Profiltext – und wie schreibe ich ihn?
Wie mache ich das mit dem Swipen?
Wie finde ich die richtige Person anhand eines Fotos und einiger Wörter?
Wie schreibe ich jemanden am besten an?
Wie führe ich eine Unterhaltung online?
Wann frage ich nach einem Treffen?
Was tue ich, wenn ich keinen Erfolg habe und mich wieder verkriechen will?
Wie spreche ich jemanden auf der Straße an?
Ich bin nervös vor dem ersten Date. Was kann ich dagegen tun?
Was ziehe ich an?
Was sollte ich beim ersten Date tun?
Über was kann ich mich beim ersten Date unterhalten?
Wie fühle ich mich sicher beim Dating?
Wie setze ich Grenzen beim Dating?
Wo treffe ich mich mit jemandem?
Darf ich gehen, wenn die Person mir auf den ersten Blick nicht gefällt?
Was machen wir beim ersten Date?
Wie ist das mit der Emanzipation und welche Regeln gelten heute?
Sex beim ersten Date?
Warum landen wir immer wieder bei den Gleichen?
Woher weiß ich, ob jemand zu mir passt?
Wann haben wir eine Beziehung?
Was mache ich, wenn meine Verlustangst mich überfällt?
Was ist, wenn es mir zu schnell geht oder zu eng wird?
Wie gehe ich mit Zurückweisung um?
Zuversicht: Warum ich weiß, dass du liebenswert bist
Dank
Literaturempfehlungen
»Die meisten machen das nicht so.« Meine Lektorin Sibylle ist am anderen Ende des Hörers und ich bitte sie um ihre Einschätzung. Zweifel brauchen Dialoge. »Und das macht die Qualität deines Buches aus: dass du Lesende auf eine Reise in ihre Innenwelt mitnimmst. Dass du nah bist und dich authentisch zeigst.« Sie macht eine kurze Pause: »Wahrscheinlich wird auch die eine oder andere Träne fließen.«
Wer schreibt – zumindest geht es mir so –, möchte der Welt etwas schenken. Meistens geht es beim Schreiben eines Ratgebers darum, Tipps und Wissen weiterzugeben. Bei Ratgebern fürs Dating dreht es sich um Dinge wie solche, dass frau sich besser rar macht, oder darum, welche Manipulationstechniken funktionieren – oder wie man sich komplett lösen kann von dem Wunsch nach einer Beziehung.
Und ich? Nun, mir geht es um authentische, lebendige und echte Beziehungen und wie wir diese kreieren können. Dieses Buch spannt sich deswegen zwischen dem Ende einer alten Beziehung und dem Anfang, dem Verlieben, auf, zwischen dem Ich-verstehe-Mich und Ich-habe-Verständnis-für-Dich, zwischen Wissenschaft und eben der Liebe. Und daher kommt auch der Titel Smart Loving.
Wenn du genauso nach einer echten, liebevollen, ehrlichen Beziehung suchst, ist Smart Loving vielleicht der richtige Ansatz für dich.
Die Gedanken und Perspektiven, die du in diesem Buch findest, sind genauso multifunktional wie dein Smartphone. Denn sie helfen dir bei verschiedenen Themen rund um die Partnerwahl – und auch später in deiner Beziehung. Smart Loving ermöglicht dir eine neue Qualität von Kommunikation. Mit Smart Loving lernst du, wie du Emotionen dechiffrierst und damit besser auf dein Gegenüber eingehst.
Auch »berechnet« Smart Loving deinen emotionalen Weg wie ein Routenplaner. Dabei werden individuelle Hindernisse genauso wie aktuelle Meldungen beachtet. Nun, wir leben eben in einer Welt, in der Onlinedating und Ghosting Teil unseres Alltags sind.
Und natürlich gibt dir Smart Loving Antworten auf Fragen, die du sonst nur Google stellen würdest: Wo melde ich mich für die Partnersuche an? Warum gerate ich immer an die Falschen? Was, wenn mir alles zu schnell zu eng wird?
Smart bedeutet auch, aktuelles Wissen zu integrieren. So wissen wir heute, dass eher die Beziehungsdynamik entscheidet, ob wir zusammenbleiben, als etwa Gemeinsamkeiten und Werte. Im Juli 2020 erst erschien dazu eine groß angelegte Studie. Samantha Joel, die die Studie leitete, zieht das Resümee: »Die Person, die wir auswählen, ist nicht annähernd so wichtig wie die Beziehung, die wir aufbauen. Es geht darum, wie Paare miteinander umgehen. Die Dynamik, die man mit jemandem aufbaut, die gemeinsamen Rituale, die gemeinsamen Witze, die gemeinsamen Erfahrungen sind wichtiger als die einzelnen Individuen.«
Außerdem ist uns bei unseren Smartphones wichtig, dass wir es intuitiv bedienen können. Und so ist es auch mit Smart Loving. Es fühlt sich erstaunlich einfach an, weil wir lernen, mehr auf unser Bauchgefühl zu hören. Wir geben unserer Intuition im wahrsten Sinne mehr Raum, und das fühlt sich leicht und authentisch an.
Ich wünsche dir Mut, Neugierde und Zuversicht auf deinem Weg zu einer neuen, echten Partnerschaft.
München, im Oktober 2021
Partnersuche erscheint uns heutzutage widersprüchlich. Wir glauben, wir hätten alle Möglichkeiten, und kommen doch nicht vom Fleck. Wir optimieren uns ununterbrochen und sind trotzdem nie zufrieden mit uns. Das Internet erlaubt uns, ständig in Kontakt zu sein, und trotzdem gibt es Momente, in denen wir uns als Single mit Ende 20, Ende 30, Ende 40 einsam und seltsam fühlen. Würden wir unser Leid teilen, würden wir uns vielleicht weniger einsam fühlen. Aber selbst das ist leichter gesagt als getan. Wahrscheinlich ist es keine gute Idee, davon zu reden, wenn Freundin A vom Heiratsantrag erzählt, Freund B von der Schwangerschaft. Und Freund C? Der ist sowieso nicht da, weil er heute die Kinder hütet. Sollen wir von unseren Selbstzweifeln, unserer Einsamkeit beim nächsten Klassentreffen erzählen? Wir können sicherlich ein paar unserer Eskapaden zur allgemeinen Belustigung teilen. Wir finden nicht den Raum, die Notwendigkeit, den Mut, um zu erzählen, warum Partnersuche wirklich so schwer ist und wie einsam und ungesehen wir uns manchmal fühlen. Aber wenn wir einmal den Raum haben oder die Stille da ist, dann fragen wir uns als Single in einer Welt, die auf Zweisamkeit ausgelegt ist, heimlich:
Wer darauf Antworten sucht, kommt zu mir in die Praxis. Ich kenne die Angst, dass wir so viele Fehler, Makel und Macken haben könnten, dass uns niemand lieben kann. Und dass wir, mit all diesen Unvollkommenheiten, uns auch noch erdreisten, jemanden zu suchen, der es mit uns aushält, ist uns peinlich. Wenn wir das fünfte, sechste Mal verlassen wurden, muss es wohl an uns liegen. Wenn wir nach einem Jahr, nach zwei Jahren der Partnersuche niemanden gefunden haben, fragen wir (und leider auch andere) uns natürlich, ob wir nicht einfach zu anspruchsvoll sind. Haben wir genug getan? Haben wir alles versucht?
All das fühlt sich beschämend und schmerzhaft und überhaupt nicht stark und souverän und erst recht nicht nach Selbstliebe an. Wir schämen uns für unsere Bedürftigkeit. Gerade deswegen braucht es richtig viel Mut, dieses Buch im Café aus der Tasche blitzen zu lassen.
Warum sagen wir »sich verlieben« und nicht »sich fallen lassen«? Denn wünschen wir uns nicht genau das, wenn wir auf der Suche nach einer Beziehung sind? Wir springen aus unserem sicheren, bequemen Alltag ins Ungewisse. Wir versinken in strahlenden Augen. Wir öffnen unser Herz wie einen Fallschirm, streifen alle Masken ab, lassen alle Kleidungsstücke zu Boden gleiten. Und wir fragen uns, wie hart der Aufprall diesmal sein wird. Wir spüren den Verlust unserer Kontrolle. Die Ungewissheit. Ein pochendes Herz. Angst. Die Hoffnung, dass diese Schwerelosigkeit für immer da ist. Den Wunsch, gehalten zu werden. Den Wunsch, gesehen zu werden. Von ebendiesen Augen, in die wir uns, tief und sanft und ohne dass wir damit gerechnet hätten, sinken lassen.
Wahrscheinlich hat sich Verlieben immer schon so angefühlt. Doch Dating im 21. Jahrhundert scheint ungleich schwieriger. Und weil die Liebe uns rätselhaft und wunderlich erscheint, springen wir mit tausend Sicherheitsmechanismen. Paradoxerweise machen erst unsere Schutzvorkehrungen Verlieben so gefährlich. Das, was uns schützt, bricht uns auch das Herz.
Wer mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug springt, verspürt Angst und Herzklopfen, den Adrenalinstoß, wie beim Verlieben. Vor Angst und Anspannung wollen wir uns vielleicht ganz klein machen. Aber wenn wir uns zu sehr verbiegen und verkrümmen, wirbelt es uns im freien Fall viel mehr, als wenn wir unsere Haltung einigermaßen behalten. Natürlich müssen wir die Reißleine ziehen, damit der Fallschirm aufgeht. Aber lösen wir sie zu früh, kann es passieren, dass wir noch nicht genügend Abstand zum Flugzeug bekommen haben. Das Risiko ist dann, dass sich der Fallschirm nicht richtig öffnet oder verheddert.
Beim Landen dürfen wir uns weder zu steif machen, denn sonst brechen wir uns die Beine, noch dürfen wir uns spannungslos auf den Boden fallen lassen, weil wir uns sonst alle anderen Knochen brechen. Wir müssen unsere Knie eng zusammenpressen, aber der Rest unseres Körpers braucht die Lockerheit, um einfach abzurollen. Das, was uns schützt, kann uns also auch die Beine brechen. Das Gleiche gilt fürs Verlieben.
Es ist nicht immer die andere Person, die für unseren Liebeskummer verantwortlich ist. Manchmal zerbrechen wir an dem, was uns schützen soll.
Unsere Sicherheitsmechanismen zeigen sich als Zweifel an dem, was wir auf unseren Bildschirmen sehen. Sind die Augen wirklich so strahlend oder ist es nur ein Filter? Doch wenn wir von Anfang an zweifeln – und uns trotzdem darauf einlassen –, überkommen uns Scham und Wut und Resignation, wenn es wie erwartet nicht klappt. Wir hätten es doch besser wissen müssen, schimpfen wir uns selbst. Wir haben es uns selbst vorhergesagt.
Wir müssen so viel mehr Schichten abstreifen, weil wir uns zuvor so dick eingepackt haben: Auf unserem Profil perfektionierten wir uns mit schmeichelhaften Fotos; wir feilten an schlagfertigen Antworten; wir bewahrten emotionale Distanz, indem wir noch mit drei anderen schrieben. Aber dann sind wir uns natürlich unsicher, ob wir geliebt werden können, wenn wir nackt und so sind, wie wir sind.
Selbst wenn wir nackt und schutzlos sind, dann sind wir das so kurz, so betrunken, so unverbindlich, dass eigentlich niemand die Chance hat, uns wirklich zu sehen. Und würden wir es überhaupt aushalten, wenn uns jemand sieht? Denn wir zeigen oft nur einen kleinen Teil von uns. Den Teil, von dem wir meinen, dass er attraktiv und stark und so kratzfest wie Edelstahl ist.
Die Seiten, die so wichtig wären für eine authentische, lebendige Beziehung, verstecken wir hingegen, weil wir uns für sie schämen. Aber wie soll jemand dann wissen, dass wir auch eine andere, weichere, verletzlichere Seite haben und nicht nur stark sind? Bisweilen schmeißen wir unsere verletzlichen Seiten unserem Gegenüber im Streit vor die Füße. Dann, wenn unsere Schmerzen zu stark sind, um sie weiterhin verstecken zu können. Aber wenn wir in Rage unserem Gegenüber unser Innerstes hinwerfen – wie soll er dann wissen, dass er gerade etwas ganz Zerbrechliches, Fragiles, Besonderes geschenkt bekommt?
Unsere Schutzmechanismen verletzen uns manchmal mehr, als dass sie uns helfen. Die Schutzmechanismen, die in uns angelegt sind, sind überlebenswichtig und haben gute Gründe – aber wir müssen lernen, mit ihnen smart umzugehen. Wir müssen lernen, wie wir smart lieben.
Wir haben also gute Gründe, für uns zu bleiben, nicht zu springen und gar nicht auf die Suche zu gehen. Die Welt ist wild. Trotzdem sind wir mutig. Trotzdem hoffen wir. Immer wieder. Sonst hättest du wahrscheinlich nicht dieses Buch in der Hand. Wir meinen oft, dass Liebe großen Mut bräuchte. Aber eigentlich ist es andersherum.
Wir sind mutig, weil wir Liebe in uns haben.
Mut beginnt in unserem Herzen. Nicht umsonst enthält das Wort »Courage« das lateinische Wort für »Herz«: cor, und lässt sich auch mit »Beherztheit« umschreiben. Und das sage ich nicht nur als Paartherapeutin. Oder weil ich ein Faible für Sprache habe. Oder weil ich zu viele romantische Komödien in meinem Leben gesehen habe. Ich sage das als Wissenschaftlerin. Liebe ist kein Kitsch und keine Erfindung von Hollywood. Liebe ist ein in uns vorprogrammierter Überlebensmechanismus. Unser ganzer Organismus ist darauf ausgelegt, sich verbunden zu fühlen.
Erst in der Mitte des letzten Jahrhunderts erkannte John Bowlby die Bedeutung der Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Er sah als Kinderarzt und -psychiater tagtäglich, wie Kinder im Krankenhaus allein gelassen wurden, und erkannte, wie essenziell die Präsenz ihrer Bezugspersonen für die Heilung war. Kinder werden mit dem Bedürfnis nach engen, vertrauensvollen Beziehungen geboren. Sie brauchen diese, um sich gut zu entwickeln. Bowlby identifizierte dabei drei Bindungstypen.
Die Bindungstheorie auch auf Erwachsene anzuwenden, hat fast weitere 30 Jahre gedauert. Bis dahin lautete der Tenor: Erwachsene sind irgendwann selbstständige Individuen. Irgendwann können wir auch ohne andere Menschen überleben. Irgendwann sind wir autark und unabhängig. Und vielleicht glauben manche von uns das auch heute noch. Schließlich sind »Generation Beziehungsunfähig«, »Ghosting« oder »Relation-Shop« geflügelte Wörter unserer Zeit. Unsere Eltern sind mit dem Schweigen ihrer Eltern aufgewachsen. Unsere Großeltern hatten keine Zeit, um sich ihren Kriegstraumata zu widmen. Wie hätten wir kollektiv erleben können, was es bedeutet, »sicher gebunden« zu sein?
Unzählige Studien bestätigen, wie heilsam und lebensnotwendig authentische Beziehungen sind.
Doch die Studien zur Bindungstheorie zeigen eben andere Ergebnisse. Auch wenn wir so tun, als würden wir niemanden brauchen, empfinden wir bei sozialem Verlust Stress und Unsicherheit. Sue Johnson sagt: »Wir werden nie zu dem Punkt erwachsen werden, dass wir andere Menschen nicht bräuchten.« In ihrer Arbeit als Paartherapeutin bemerkte Sue Johnson immer wieder ähnliche Streitmuster bei den Paaren, die zu ihr kamen. Muster, die sie an Erkenntnisse aus der Bindungstheorie erinnerten. Also übertrug sie die Bindungstheorie auf Beziehungen zwischen Erwachsenen und erforschte außerdem, was es für stabile Paarbeziehungen braucht. Während Sue Johnson vor allem mit Paaren arbeitete, wendete Les Greenberg die Bindungstheorie auf die Arbeit mit Einzelpersonen an.
Wenn wir uns verbunden fühlen, gehen wir mit Schmerzen leichter um, erscheinen uns Herausforderungen als leichter zu bewältigen, wir werden seltener krank, wir leben länger. Erst wenn Hypothesen den Test der Zeit bestanden haben, nennen wir sie Theorie – und das gilt auch für die Bindungstheorie. (Mehr zur Bindungstheorie findest du in Kapitel 3.)
Wir alle wünschen uns Partner*innen, mit denen wir uns unterhalten und auf die wir uns verlassen können, denen wir vertrauen können, die uns vertrauen. Wir möchten eine Beziehung, die echt ist und in der wir wachsen können. Eine Beziehung, in der wir wir selbst sind. In der die Chemie stimmt. In der wir uns gegenseitig glücklich machen. In der wir nicht verletzt werden – oder zumindest davon ausgehen, dass die andere Person ihr Bestes dafür tut, es zu verhindern. In der wir akzeptiert werden. Und in der jemand interessiert nachfragt, was uns in diesem Buch berührt, anstatt uns dafür zu verurteilen.
Vielleicht war dir das bereits klar. Aber darf ich dir Fragen stellen und du gibst dir selbst eine ehrliche Antwort darauf? Ich stelle dir diese Fragen nicht, damit du jetzt nächtelang wach liegst und sie alleine in deinem Kopf wälzt – denn dazu neigen wir manchmal, nicht wahr? Ich stelle dir diese Fragen, um dich mit auf eine Reise zu nehmen. Lerne, die Beziehungswelt aus einer neuen Perspektive zu sehen, nutze die wissenschaftlich untersuchten Zusammenhänge für dein Glück, erfahre, was es bedeutet, sich sicher verbunden zu fühlen. Date smart.
SELBSTREFLEXION
Noch nie durften wir so freimütig lieben wie heute: Wir dürfen aus Liebe heiraten. Nicht allein dürfen nun Männer Männer oder Frauen Frauen lieben, wir haben unser Geschlecht sogar von unserer Sexualität entkoppelt und akzeptieren, dass Menschen sich nicht nur zwischen zwei Geschlechtern entscheiden müssen. Wir reden darüber, nicht nur eine Person zu lieben, sondern mit mehreren selbst gewählt zusammen zu sein. Wir können Kilometer weit entfernt sein und wissen, dass wir zusammengehören. Wir dürfen uns über Religion hinwegsetzen. Wir dürfen auch wieder auseinanderziehen, wenn wir uns lieben. Wir können in der Liebe heute vieles. Zumindest in meiner gesellschaftlichen Blase. Und trotzdem ziehen wir uns beim Dating Masken über. Wir maskieren unseren Wunsch nach Bindung, wir verstecken unsere Emotionen, wir verheimlichen unsere Makel, aber auch unser Licht.
Manchmal sitzen mir wunderbare Frauen gegenüber, die das Label »Powerfrau« schon nicht mehr hören können. Sie seien zu stark, zu aktiv, zu ambitioniert, zu laut, zu selbstständig, zu karrierefokussiert. Ihre Stärke kommt ihnen vor wie ein Signum der Einsamkeit.
Ich erlebe großartige Männer, die sich im Schutz eines Therapieraums fragen: Bin ich zu rational, zu kalt, überhaupt fähig zu Intimität? Bin ich zu harmoniesüchtig? Zu nett? Müsste ich klarere Grenzen setzen? Ihre Freundlichkeit erscheint ihnen wie etwas, das sie selbst unattraktiv und »unmännlich« macht. So, als könnte ein ehrliches Herz ihnen die Liebe verbauen.
Auch ich kenne den Wunsch, mich verstecken zu wollen. Und in meinem Fall bedeutete das, weniger emotional, weniger sinnlich, weniger bunt sein zu wollen. Hauptsache, ich sei nicht zu viel. Vielleicht erkennst du dich in diesen Vorwürfen wieder – vielleicht sind es auch andere.
So unterschiedlich diese Selbstvorwürfe auch lauten, sie alle können ganz schön laut und vor allem plausibel klingen. Es muss schließlich einen Grund geben, warum es bei uns mit der Partnersuche nicht so klappt. In einer Welt, die für Zweisamkeit ausgelegt ist, schleicht sich Selbstkritik ganz schön oft zu uns ins Bett.
Leider ist das verständlich. Nicht dass ich meine, einer dieser Selbstvorwürfe würde dich in deiner Einzigartigkeit und deiner Biografie vollends beschreiben, geschweige denn objektiv zutreffen. Nur ziehen wir heutzutage eben unseren Selbstwert auch aus unserem Beziehungsstatus, wie die Soziologin Eva Illouz in Warum Liebe weh tut schreibt. In einer glücklichen Beziehung zu sein, lässt uns nicht nur die Welt umarmen. Wir halten uns auch für attraktiver, für anziehender, für intelligenter, für schöner, für liebenswerter. Wir sehen uns gerade am Anfang mit dem frischen, freundlichen Blick einer anderen Person. Umgekehrt bedeutet das leider, dass wir das Gefühl haben, dass etwas mit uns nicht stimmt, wenn wir Single sind.
Die Varietät an Selbstvorwürfen zeigt allerdings auch: Egal, ob du dich wie ich in bunte Kleider wirfst, ob du die dunklen Blazer deiner Karriere über rote Blusen ziehst, ob du dich in beige Wolle hüllst, um angepasst und (zu) gut geschützt durch die kalte Datingwelt zu kommen: Das Entscheidende ist nie das, was du anziehst, sondern wie du dich darin fühlst. Und wenn wir uns Selbstvorwürfe machen und dafür schämen, was wir mit uns tragen, dann verlassen wir eben nicht einmal das Haus. Wir stehen verzweifelt vor dem Kleiderschrank und erklären frustriert, dass wir nichts zum Anziehen haben.
Ich zumindest fühlte nach meiner letzten Trennung Scham – auch wenn ich das im ersten Augenblick so nicht in Worte fassen konnte. Ich dachte, ich hätte doch langsam verstanden haben müssen, wie man eine Beziehung führt. Davor hatte es mir an Klarheit gefehlt: Wie identifiziere ich meine Bedürfnisse und wie setze ich Grenzen? Ich ließ mich lieber auf die Abenteurer und Freigeister ein und hing einem überromantischen Ideal nach, das im Grunde niemand erfüllen konnte. Mein Strohhalm zwischen den ganzen Vorwürfen: Wenn ich mich ein wenig verbessern würde, optimieren, dann würde alles gut werden. Also versuchte ich mich all meiner Schwächen in der letzten Beziehung zu entledigen.
Ich war davon überzeugt, endlich klarer zu sein. Ich dachte, ich könnte endlich Grenzen ziehen. Ich dachte, ich wüsste, was ich wollte, denn ich hatte mich auf einen Typ Mann eingelassen, der ziemlich genau wusste, was er wollte. Ich zeigte mich verletzlich, ich genoss Erotik, ich erlaubte uns, Pläne zu schmieden. Ich ließ mich auf jemanden ehrlich ein und achtete darauf, ob die andere Person wirklich Interesse an mir hatte.
Trotz aller guter Intentionen und Bemühungen verkroch ich mich Anfang Dezember unter meiner Bettdecke. Getrennt und einsam und traurig und eben beschämt. Wenn wir alles versucht haben und es trotzdem nicht klappt, dann fühlt es sich an, als würde man am Leben zerbrechen. Und wenn wir schon einmal geliebt haben, dann haben wir schon einmal alles versucht, was eben ging.
Wenn ich das Folgende schreibe, rollst du vielleicht mit den Augen, weil es so klar und offensichtlich ist. Aber davor hatte ich das leider in keiner der vielen Frauenzeitschriften gelesen noch in meinem Bekanntenkreis gehört.
Ob eine Beziehung gelingt oder nicht, hängt von der Dynamik zwischen zwei Personen ab. Egal, wie gut deine oder eure Intention ist, egal, was für eine Version deines Selbst du lebst – am Ende geht es in Beziehungen immer um den emotionalen Tanz zwischen zwei Menschen. Well, it takes two to Tango, right? Doch diese Erkenntnis half mir zuerst nicht. Denn wer alleine ist, tanzt wenig Tango oder Salsa oder irgendetwas anderes.
Jedes Ende ist auch ein Anfang. Bevor ich mich überhaupt aufs Daten einstellen konnte, war neben der Trauer und der Verletzung und der Wut – Gefühlen, die für sich genommen schon unangenehm sind – auch Scham. Ich wollte nicht einmal darüber reden, wie sehr ich mich schämte. Dafür hatte ich mir nicht den Raum gegeben. Ehrlich gesagt: Ich wollte mir die Scham nicht einmal eingestehen und meine Freundinnen – liebevoll, wie sie eben sind – wollten mir auf keinen Fall ein schlechtes Gefühl geben. Sie versicherten mir, eine Trennung wäre das Richtige. Die andere Person hatte mir nicht gutgetan. Ich würde jemanden finden, der besser passen würde. Ich sei schön und intelligent und liebenswürdig. Ich müsse nur die richtige Person treffen. Wir alle kennen diese Sätze und meine Freundinnen hatten nichts als Gutes im Sinn. Sie versuchten, mich wieder aufzubauen, meinen Selbstwert zu stärken und mir Hoffnung zu schenken. Es waren ernst gemeinte, lieb gemeinte Floskeln. Doch sie trösteten mich nicht vollends, vielleicht auch, weil ich sie schon so oft gehört, ja selbst gesagt hatte. Und sie machten mir auch keine Lust aufs Daten, weil ich mich insgeheim fürchtete, dass ich es schon wieder falsch machen könnte.
Natürlich versuchte ich es trotzdem mit dem Daten. Um dann festzustellen, dass »ich noch nicht bereit war«, wenn jemand Interesse an mir zeigte. Und um ganz ehrlich zu sein, war dieser Widerwille schon da, als ich mein Handy in die Hand nahm, um jemandem zu antworten. Anstatt dem positiven Kribbeln, das ich von meinen Dates mit Anfang 20 kannte, saßen mir beim Date meine eigenen fatalistischen Gedanken gegenüber. Skepsis, Unlust, Scham, Trauer, das Gefühl, nicht bereit zu sein – wenn wir uns noch mal verlieben wollen und schon einmal geliebt haben, sind auch das Gefühle, die uns begleiten.
Ein therapeutischer Grundsatz lautet: »Feel it to heal it – fühle es, um es zu heilen.«
Die Sharon, die Single war, hatte überhaupt keine Lust, wirklich in ihre negativen Gefühle einzutauchen. Es waren zu viele verschiedene Gefühle. Sie waren widersprüchlich, chaotisch, unangenehm. Dieser Sharon war es fast nicht möglich, die Gefühle beim Namen zu nennen, weil da die Angst war, dass das, was in ihr ist, sie begräbt. Was wir aussprechen, scheint so viel realer. Ich kann also gut verstehen, warum wir alles Mögliche tun, um unsere Gefühle nicht so zu spüren. Warum wir uns lieber mit Shopping, Sex, mit Alkohol, mit Kuchen und Schokolade betäuben. Warum wir lieber andere Gefühle zeigen als diejenigen, die wir wirklich spüren. Warum wir auf Distanz gehen, Masken überziehen. Warum wir so tun, als wäre alles in Ordnung, als würden wir funktionieren, als wären wir darüber hinweg.
Doch die Therapeutin in mir weiß, dass wir diese Offenheit – und gewissermaßen ein damit verbundenes Vertrauen in uns – brauchen. Nur so können wir aus negativen Gefühlen wieder auftauchen. Es ist nur schwer möglich, ein Gefühl loszulassen, wenn man es unterdrückt und ignoriert und so tut, als wäre es nicht da. Wenn wir uns nicht mit unseren Emotionen auseinandersetzen, dann rächen sie sich irgendwann. Denn Emotionen bieten uns Orientierung: Welche Wunden müssen wir heilen? Worauf müssen wir aufpassen? Wovon brauchen wir mehr? Wo geht es uns gut und wo auch nicht? Was verursacht Schmerzen?
Sicherlich hast du dir schon einmal die Frage gestellt, warum wir überhaupt noch Emotionen haben, wenn sie uns doch hysterisch und irrational und verletzlich machen. Hätten wir keine Gefühle, dann gäbe es wohl auch keinen Schmerz mehr. Wir wären befreit und könnten uns von einer Beziehung in die nächste stürzen, ganz egal, was wir davor erlebt haben. Wir wären befreit von Selbstzweifeln. Von der Last der Erinnerung. Von der Wut über das Würfelspiel des Lebens. Und wir hätten mehr Zeit zum Lieben, anstatt ein Buch über das Verlieben zu lesen. Denn gerade bei der Partnersuche im 21. Jahrhundert wirkt es so, dass gewinnt, wer nicht liebt. Zu lieben, ohne zu leiden – wäre das nicht erstrebenswert?
Solltest du diesen Wunsch haben, du wärst damit nicht allein. Dieses Buch schreibe ich für all diejenigen, die schon einmal geliebt haben und verletzt wurden – und trotz diesem Schmerz sich noch einmal verlieben wollen. Für diejenigen, die eben nicht mehr unbeschrieben sind und die erfahren haben, wie schmerzhaft eine sterbende Liebe ist. Für diejenigen, denen beim Gedanken an Dating leicht schlecht wird, weil sie ahnen, was sie erwartet. Für diejenigen, die Angst haben, noch mal verletzt zu werden. Für diejenigen, die irgendwie doch noch wütend auf das Leben sind. Für diejenigen, die sich einsam fühlen, weil sie wissen, was Verbindung bedeutet.
Und weil wir nicht mehr bei null anfangen, sind unsere Emotionen eben unsere Begleiter, unsere Beschützer, unsere Antreiber. Ob wir das wollen oder nicht.
Gerade wenn du schon einmal verletzt wurdest, brauchst du deine Emotionen. Und Sanftmut. Sanftmut, um dich auch mit jenen Gefühlen anzufreunden, die uns nicht so schön oder attraktiv oder wünschenswert vorkommen. Denn unsere Emotionen sind immer für uns. Weder unser Kopf noch unser Körper noch unser Herz haben in aller Regel Spaß daran, dass es uns schlecht geht, dass wir geschwächt sind, dass wir uns schämen, dass uns emotionale Verletzungen blockieren. Ihre Intention ist, dass wir uns sicher und verbunden fühlen. Emotionen helfen uns, in einer komplexen Welt, einer Welt, in der wir vieles nicht sofort verstehen, zu überleben. Das Zusammenspiel aus sensorischer Wahrnehmung, Interpretation im Gehirn und Reaktion wird durch unsere Emotionen gesteuert. Wir brauchen unsere Emotionen, um unbekannten Situationen nicht ahnungs- und damit schutzlos zu begegnen. So gerne wir die negativen Emotionen beim Dating im Speziellen und in der Liebe im Generellen ausblenden würden, so sehr lade ich dich ein, einen anderen und produktiveren Umgang zu entwickeln.
SELBSTREFLEXION
Assoziativ deinen Emotionen auf die Spur kommen
Um zu verstehen, was ich meine, lass uns ein kleines Spiel spielen. Es gibt kein »richtig« oder »falsch«. Deine Aufgabe ist es, einfach deine erste Assoziation zu einem Wort aufzuschreiben.
Liebe ist
Meine letzte Beziehung war
Dating ist
Männer sind
Frauen dürfen
Weinen ist
In diesem Buch führe ich dich auf eine Reise in deine Innenwelt, damit du neue Ideen bekommst, wie du deine Gefühle für dich und deine Entwicklung nutzen kannst. Anstatt sie zu bekämpfen, zu unterdrücken und wegzuschieben, wirst du lernen, ihnen Raum geben zu können. Um Gefühle verstehen und nutzen zu können, müssen wir uns die Erlaubnis geben, sie auch spüren zu dürfen und sie so zu verlässlichen Wegweisern für uns werden zu lassen.
EXKURS
Unsere Emotionen sind, genauso wie unser Gehirn, kleine Wunder – und längst ist noch nicht komplett entschlüsselt, wie unser Gehirn, unsere Emotionen und unser Verhalten zusammenhängen.
UNSER NEOKORTEX IST EIN DJ
Stell dir vor, deine Emotionen sind die Musik, zu der du durch dein Leben tanzt. Sie sind der Soundtrack unseres Lebens. Mal spielt ruhiger Jazz und du wunderst dich, wie sehr du in diesem »Erwachsenenleben« angekommen bist, mal hüpfst du wild herum, als wärst du noch mal ein 17-jähriger Punk, und beim nächsten Lied überrascht dich zuerst, dass alles so elektronisch geworden ist, und dann, dass dir Elektro ziemlich gut gefällt. Unsere Emotionen provozieren sowohl ein bestimmtes Verhalten als auch Erinnerungen und Assoziationen in uns.
Wann welcher Song gespielt wird, entscheidet sich im Neokortex, dem größten und stammesgeschichtlich jüngsten Teil der Großhirnrinde. Der Neokortex ist quasi der DJ unseres Gehirns. Wenn wir eine Lösung finden sollen, der Welt einen Sinn geben oder kreativ werden möchten, benutzen wir unseren Neokortex. So wie ein DJ hat auch der Neokortex nur diejenigen Lieder, die er irgendwann erworben hat, auch wenn es Milliarden weitere Songs gibt. Die Platten des Neokortex sind quasi die Erfahrungen, die wir bisher in unserem Leben gemacht haben. Manche Platten wurden uns von Eltern und Familie vererbt, anderes haben wir in »Plattenläden« wie Schule, Studium oder Arbeit mitbekommen. Und so manchen Song haben wir zufällig in einer Bar auf der anderen Seite der Welt für uns entdeckt.
Natürlich hat der Neokortex ein paar Songs, die in keinem seiner Sets fehlen. Es sind seine Lieblingslieder – unsere Ideale, Werte und Glaubenssätze. Weitere Platten passt er dem Ort, der Situation und den Mitmenschen an.
Ein guter DJ hat das Talent, die Atmosphäre bewusst zu gestalten, indem er Tempo, Rhythmus, Melodien und Musiktitel kuratiert. Das gilt auch für unseren Neokortex. In How Emotions are made erklärt die Psychologieprofessorin Lisa Feldman Barrett, dass wir unsere Realität als Wirklichkeit simulieren und die Informationslücken selbst füllen. Eines der einfachsten Beispiele, die ich dir dafür geben kann: Was siehst du auf dem Bild unten? Wahrscheinlich ein paar Farbkleckse. Sobald du die Auflösung am Ende siehst, wirst du das Bild »vervollständigen« können, auch wenn es eben immer noch Farbkleckse sind. Und auf einer komplexeren Ebene macht unser Gehirn das eben auch mit Emotionen.
Wenn also unser Neokortex unser DJ ist, seine Platten unsere Erfahrungen und unsere Emotionen die Musik, dann sind unsere Hormone Essen und Getränke und sonstige Drogen. Oxytocin, unser Kuschelhormon, ist ein wenig wie Tequila. Wir fühlen uns beschwipst, spüren weniger Schmerzen und die ganze Bar gehört zu unseren neuen Freunden. Dopamin ist wie Bier, das uns leicht glücklich macht – eine Belohnung nach dem Feierabend. Und Cortisol könnte man ein wenig mit Koks vergleichen, das uns für einen Moment das Gefühl gibt, wir seien Supermenschen, die alles schaffen, und uns im nächsten Augenblick wie gereizte Idioten aufführen lässt. Diese sogenannten Neurotransmitter begünstigen also jeweils ein bestimmtes Verhalten.
Warst du schon einmal in der Situation, dass dir jemand gesagt hat: »Sei nicht so wütend!«, und du dir dachtest: »Ich bin überhaupt nicht wütend!«? Oder dass ein Streit bei einer kleinen Sache explodiert ist? Oder dass dir gesagt wurde, dass deine Bauchschmerzen psychosomatisch sind? Oder hattest du schon mal einen trockenen Mund vor Aufregung? Oder hast du dich schon mal vor einer Spielzeugschlange erschrocken?
All das sind Momente, in denen uns unsere Emotionen unterbewusst lenken. Und das geschieht durch das limbische System. Wann immer wir etwas unbewusst, reflexartig oder automatisch tun, ist unser limbisches System, einer der ältesten Teile unseres Gehirns, dafür verantwortlich. Dadurch, dass Informationen zuerst durch das limbische System wandern, bevor sie im Neokortex, dem Ort unseres Bewusstseins, ankommen, fühlt es sich manchmal so an, als würden wir von unseren Emotionen überrannt werden. Wir spüren und fühlen, bevor wir bewusst denken und zuordnen.
Ein Bestandteil des limbischen Systems ist der Hippocampus. Man kann sich den Hippocampus wie ein kleines Seepferdchen (er hat tatsächlich so eine Form) vorstellen, das alle ankommenden Informationen sortiert und darüber entscheidet, wie wir damit umgehen: Das Seepferdchen gibt der Information eine Priorität und entscheidet auch, ob wir uns an etwas erinnern sollten. Und je gefährlicher uns die Information erscheint, desto eher müssen wir uns daran erinnern. Das Seepferdchen wählt auch die beste Strategie, um darauf zu reagieren – ein bisschen so, als würde das Seepferdchen unserem DJ angeben, welches Set (an Gefühlen, Gedanken, Verhalten) er spielen soll.
DJ
In der emotionsfokussierten Therapie und in diesem Buch geht es zunächst darum, diese Musik bewusst und auch für andere hörbar zu machen. So können Missverständnisse geklärt werden. Außerdem sind Emotionen auch eine Möglichkeit, unser Verhalten zu verändern. Und sie sind natürlich auch eine Chance, andere wieder empathisch wahrzunehmen.