STEFANIE LASTHAUS
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Das Buch
Es ist eine eisige, kanadische Winternacht, als die einundzwanzigjährige Neve Whitmore nach einem fürchterlichen Streit mit ihrem Freund Gideon hinaus in die Wälder flieht. Neve verirrt sich und verliert inmitten im Schnee das Bewusstsein. Gerade noch rechtzeitig wird sie von Lauri gefunden, der die junge Frau mit in seine einsame Blockhütte nimmt, um sie dort gesund zu pflegen. Vom ersten Augenblick an fühlt sich Neve bei Lauri geborgen, und zwischen den beiden entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte. Aber obwohl Neve mit Lauri glücklich ist, merkt sie, dass sie sich verändert hat: Ihre Haut ist stets eiskalt, und doch friert sie nie. Zunehmend empfindet sie eine Sehnsucht, die nur Eis und Schnee stillen können. In jener Nacht im Wald ist etwas mit Neve passiert – etwas, das eine uralte Magie, die bisher unerkannt in ihr schlummerte, erweckt hat. Von nun an muss sich Neve dunklen Mächten stellen, die mit dem Winter verbündet sind, und die sie zwingen, einen schrecklichen Pakt einzugehen …
Die Autorin
Stefanie Lasthaus wuchs im nördlichen Ruhrgebiet auf. Sie studierte Skandinavistik, Publizistik und Sozialanthropologie in Bochum und Kopenhagen. Nach verschiedenen Stationen in Australien, England und der Schweiz kehrte sie nach Deutschland zurück und widmete sich von da an ganz dem Schreiben – ob als Texterin für Onlinespiele-Anbieter oder als Autorin ihrer eigenen Romane. Stefanie Lasthaus lebt und arbeitet in Karlsruhe.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Originalausgabe 12/2016
Copyright © 2016 by Stefanie Lasthaus
Copyright © 2016 dieser Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch
die Agentur Editio Dialog, Dr. Michael Wenzel
Redaktion: Catherine Beck
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung
von shutterstock/captblack76
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN: 978-3-641-18061-4
V003
www.heyne.de
»Wie Samen, die unter der Schneedecke träumen,
träumen eure Herzen vom Frühling.
Vertraut diesen Träumen, denn in ihnen verbirgt sich
das Tor zur Unendlichkeit.«
Khalil Gibran
1
Die Welt bestand aus Nacht und Helligkeit, aus Kälte und zarten Berührungen auf den Wangen. Und aus Schmerz.
Neve wollte rennen, stattdessen taumelte sie durch den kniehohen Schnee. Sie legte alle Kraft in die Beine und kämpfte sich mit geballten Fäusten vorwärts, so als würde sie dadurch schneller vorankommen. Doch sie war nicht schnell. Quälend langsam zog sie eine Schneise, weg von dem Gelächter und der Musik aus der Bar. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Geräusche leiser wurden.
Irgendwo vor ihr brach ein Ast unter dem Gewicht des Schnees. Angst? Nein, sie spürte keine Angst. Nicht einmal ein wildes Tier würde sie so erschrecken wie die Erinnerung an Gideons Fratze. Kein Gesicht. Sie konnte es nicht mehr Gesicht nennen, dieses hassverzerrte Abbild des Mannes, der bis vor wenigen Augenblicken noch ihr Freund gewesen war.
Etwas tropfte auf die weiße Fläche vor ihr, dunkle Flecken im Licht der fernen Lampen. Blut. Ihre Lippe musste aufgeplatzt sein, vielleicht auch ihre Augenbraue. Ihr Gesicht brannte, und die Eisluft stach mit kleinen Nadeln in die Wunden. Es war das einzig Lebendige an ihr, der Körper fühlte sich dagegen taub an. Sie hatte die Kälte nie gemocht, doch nun war sie ihr beinahe eine Verbündete geworden.
Ihre Arme und Beine zitterten, so als gehörten sie längst nicht mehr ihr. Sie hatte es nicht einmal bis zu den Bäumen geschafft, als sie ihre Füße nicht mehr spürte. Warum hatte sie nicht zumindest eine Jacke angezogen, oder Schuhe? Ihre Hausschlappen aus Filz waren vollkommen durchnässt. Aber sie musste Abstand zu Gideon schaffen. Selbst jetzt, da der Schnee unter ihren Pulli und in ihre Jeans kroch, würde sie nicht mehr umkehren. Ihre Kehle war so eng, dass sie bei jedem Schritt zu ersticken fürchtete. Tränen schwammen in ihren Augen, doch sie wagte nicht zu weinen. Es würde ihr nur Kraft stehlen, und die durfte sie nicht verschwenden. Sie musste weg, weiter weg. Noch konnte Gideon sie sehen, wenn er aus dem Fenster blickte: eine Gestalt in einem Feld aus Weiß, das an einer Seite vom Schatten der Bäume begrenzt wurde. Noch würde er innerhalb kurzer Zeit bei ihr sein und sie womöglich noch einmal schlagen. Er konnte sie ohne Probleme verfolgen, wenn der Alkohol es zuließ, doch wenn sie die Baumstämme erreichte, würde sie sich vielleicht sicherer fühlen. Dort war es dunkler.
Wind kam auf, wirbelte die oberste Schicht Pulverschnee in die Luft und vermischte sie mit den fallenden Flocken. Neve kniff die Augen zusammen und lief die nächsten Schritte blind. Ihre Haare hatten sich zu harten Strähnen verklebt und schlugen ihr ins Gesicht. Ihre Oberschenkel schmerzten, wurden schwerer und schwerer. Der Schnee verwandelte sich in eine Wand, die ihr verriet, dass sie hier nicht hingehörte.
Sie hatte es gewusst, von Anfang an. Das Longtree-Resort mit den rauen Männern, die sich hier draußen eine Auszeit von ihren Familien nahmen, war kein Ort für sie. Trotzdem war sie mit Gideon hergekommen, in der Hoffnung, dass sich die Risse der letzten Monate kitten ließen. Sie hatte sich diese Reise zum Geburtstag gewünscht, für sie beide, und sich wie ein kleines Kind gefreut, als Gideon ihr den ersehnten Umschlag wirklich überreichte. Die gemeinsamen Pläne hatten ihr Hoffnung geschenkt, und für einen winzigen Moment hatte sie geglaubt, dass alles wieder so werden würde wie früher. Es war eine dumme Idee gewesen. Kälte ließ sich nicht mit Kälte bekämpfen. Das, was einst zwischen ihr und Gideon existiert hatte, war in den letzten Jahren nach und nach gestorben.
Mittlerweile war sie komplett durchnässt. Ihre Zähne schlugen aufeinander, und sie biss sich die Zunge und das Innere einer Wange blutig. Sie schmeckte nichts, spürte nur den Hauch Wärme, der in ihre Mundhöhle kroch. Krampfhaft schluckte sie die wenigen Tropfen, weil sie etwas anderes waren als kalt.
Beim nächsten Schritt stürzte sie. Die Schneedecke gab nach und verwandelte sich in eine weiche Masse, die Neve einhüllte und in eine feuchte Umarmung zog. Kleine Rinnsale krochen über ihren Hals und Nacken bis unter ihren Pullover. Die Kälte verscheuchte die Taubheit und spickte ihre Haut mit Schmerzen, schüttelte sie wie eine Puppe und fand ihren Weg bis in ihr Inneres.
Neve wurde schwindelig. Sie kämpfte mit sich selbst, mit den Gliedmaßen, die ihr nicht mehr gehorchten, und als sie sich endlich aufrappelte, fiel ihr Blick auf ihre Hände: Sie waren rötlichblau verfärbt, die Finger geschwollen. Neve versuchte, sie zu strecken und wollte sich die Kälte aus dem Gesicht wischen, doch sie schlug gegen ihre Wangen, da sie die Finger nicht mehr krümmen konnte.
Weit hinter ihr wurde die Musik lauter. Jemand musste die Tür der Bar aufgestoßen haben, die in der Mitte des Komplexes stand, wahrscheinlich, um sich im Schnee zu erleichtern. Die öffentlichen Toiletten wurden von den Männern nur selten genutzt. Jemand brüllte etwas, das Neve nicht verstand, aber sie hörte den Alkohol in jeder Silbe. Es war nicht Gideon, aber auch er konnte jeden Moment rufen. Nach ihr.
Vorhin in ihrer Hütte hatte er nicht geschrien. Es wäre ihr lieber gewesen. Alles wäre ihr lieber gewesen als sein Schweigen, weil so seine Schläge das einzige Geräusch neben ihren Bitten gewesen waren.
Nun schluchzte Neve doch.
Vor ihr ragten die ersten Baumstämme des Waldgebiets in die Höhe, das Longtree an einer Seite gegen Wind und Wetter abschirmte. Früher hatten hier vielleicht mehr Bäume gestanden, als es die Urlaubshütten noch nicht gegeben hatte. Als es sie selbst oder Gideon noch nicht gegeben hatte.
Neve hob einen Arm und versuchte, einen der Äste zu greifen. Es gelang ihr erst beim dritten Versuch, und ihre Hand klatschte auf das Holz wie totes Fleisch. Sie spürte es nicht, aber sie zog sich vorwärts, und ihr Körper folgte. Als sie zwischen die Winterskelette der Bäume tauchte, ließ sie einen Teil der Geräuschkulisse zurück.
Hier war es stiller. Keine unheimliche Stille, nein, im Gegenteil. Sie beruhigte, hielt Töne ab wie eine Schutzwand oder dämpfte sie, sodass sie klangen wie mit Puderzucker bestäubt. Töne für eine Welt aus Weiß.
Zwischen den Baumstämmen nahm die Höhe der Schneewehen ab, obwohl die Äste sich nackt in das Schwarzgrau des Himmels streckten und den Flocken nur wenig Widerstand boten. Hin und wieder erahnte Neve Pfotenabdrücke, wohl von Hasen. Wie schafften es die Tiere nur, nicht zu versinken? Überhaupt, wie überlebten sie in dieser Kälte?
Die Spuren verschwanden, als Neve dem letzten Schimmer der Außenbeleuchtungen Longtrees den Rücken kehrte. Hier, im Wald, herrschte Dämmerlicht. Der Mond speiste die Schneedecke mit zartem Blau, das Weiß schien fast zu leuchten. Etwas flog vor Neve auf, ein Schatten zwischen Himmel und Erde, und der Schrei eines Tiers gellte durch die Nacht. Hoffentlich nur ein Vogel, doch andererseits war es ihr auch egal. Sie hatte es beinahe geschafft, sie war fast in Sicherheit.
Lief sie noch? Sie sah nach unten, wo ihr Fuß soeben ein Loch in den Schnee stanzte. Die Baumwipfel wogten hin und her, dabei ging kein Wind. Vielleicht war sie es selbst, die schwankte, da sie so sehr zitterte. Wenngleich die Kälte ein wenig nachgelassen hatte. Neve tastete nach ihrer Kleidung, um festzustellen, wie schlimm es war – vielleicht war die Nässe gar nicht so weit vorgedrungen, wie sie glaubte. Sie konnte nichts fühlen, weder Feuchtigkeit noch Wärme noch irgendetwas anderes. Aber sie lief noch immer, Schritt für Schritt, und jeder brachte sie weiter weg von der Angst und der Leere. Wenn sie das alles doch nur hinter sich lassen könnte wie die Holzhütten! Stattdessen schleppte sie diese Gefühle mit sich herum. Sie war oft allein gewesen, aber noch nie so sehr wie jetzt. Gideon war nicht mehr Teil ihres Lebens, also wusste sie nichts anderes zu tun außer laufen. Immer weiter.
Der Wald hieß sie willkommen. Zwischen den Baumstämmen schimmerten Lichter in einem sanften Tanz. Neve blinzelte. Ihre Beine zitterten nicht mehr, sie musste sich wohl warmgelaufen und an die Kälte gewöhnt haben. Die Schmerzen in ihrem Körper waren beinahe verschwunden, nun musste diese Winternacht nur noch das Eis aus ihrem Herzen vertreiben. Wobei es überall saß, dieses Eis, in ihrem Bauch und ihrem Kopf und ihrem Hals. Ganz besonders dort. Sie versuchte, Gideons Namen zu flüstern, doch es ging nicht.
Als sie sich noch einmal umdrehte, waren die Hütten endlich verschwunden, und mit ihnen die Bäume. Sie mischten sich mit dem Weiß und färbten es dunkel, dann kehrte das Gleißen zurück. Neve bemerkte zu spät, dass die Welt sich drehte. Dieses Mal landete sie auf dem Rücken und sank in den Schnee. So weich. Und zart, endlich.
Gideon?
Nein, sie war noch immer draußen, zumindest waren Äste über ihr, dahinter der Mond. Auf einmal war sie wieder traurig, ihr Herz so unendlich schwer, und einen Moment lang war sie verwirrt. Wie war sie hergekommen?
Sie wollte eine Hand heben, um sich das Kitzeln von ihren Wangen zu wischen, doch ihr Arm war viel zu schwer. Nicht so schlimm, die Schneeflocken störten ja nicht wirklich. Sie schmerzten nicht.
Neve summte leise. Warum hatte sie stets geglaubt, dass sie den Winter nicht mochte? Ihr Leben lang hatte sie sich gewünscht, Kanada zu verlassen und an einem wärmeren Ort zu leben, einem Ort voller Sonne und Gold. Dabei war an dem, was sie hier hatte, nichts auszusetzen. Alles war so friedlich. War sie etwa zu Hause, in ihrer kleinen Wohnung in Squamish?
Neve schaffte es, den Kopf zu drehen, und ihr Mund füllte sich mit Schnee, der augenblicklich schmolz. Es war warm. Sie schluckte, schloss die Augen und entspannte sich. Warum war sie nicht schon vorher darauf gekommen? Es war so leicht.
Ein Gesicht tauchte in ihren Gedanken auf. Gideon, der ihr Worte an den Kopf warf wie Steine. Sie wusste nicht mehr, warum, aber sie erinnerte sich, wie verraten sie sich gefühlt hatte. Er hatte sie allein gelassen, und als er zurückgekehrt war, hatte er Streit mitgebracht. Eine Explosion an ihrem Ohr, auf ihrer Wange. Seine Hände waren groß und sehnig. Holzfällerhände.
Und immer wieder der Schnee.
Gideons Gesicht verschwamm. In Neves Augenwinkel schimmerte es blau. Sie wollte den Ursprung finden, doch das Funkeln rund um ihren Körper faszinierte sie zu sehr. Es sah aus wie tausend Sterne, die sich aneinanderschmiegten und nur auf sie gewartet hatten. Sie streckte eine Hand aus. Weit entfernt hörte sie etwas, wie einen Sturm hoch oben am Himmel, dann ein Donnern wie von unzähligen Pferdehufen. Jemand lachte … nein, jemand sang.
Gideon und der Schlag. Das Blut in ihrem Gesicht.
Das Glitzern. Der Schnee war so wunderschön.
Neve glaubte zu lächeln.
2
Es war nicht das erste Mal, dass Lauri die Zeit vergaß. Mehr noch, sie spielte einfach keine Rolle mehr. Die Kälte riss ihn aus seiner Konzentration, war durch seine Socken gedrungen und hatte sich bis zu seinen Füßen vorgearbeitet.
Er blinzelte zu der Wolldecke auf dem Sessel, dann zum Kamin, wo die Überreste eines Feuers glommen, entschied sich gegen eine Pause und widmete sich wieder seiner Zeichnung. Erst als der Waschbär auf dem Papier aussah, als würde er jeden Augenblick eine Pfote heben, ließ Lauri Block und Stift sinken und stand auf. Seine Gelenke knackten, da er zu lange in derselben Position verbracht hatte, den Kopf gesenkt. Sein Nacken schmerzte. Er betrachtete seine geschwärzten Fingerkuppen und wischte sie an der Hose ab, dann streckte er sich und sah zum Holzstapel neben dem Kamin. Ob er das Feuer noch einmal anheizen sollte? Es wäre gut, dann konnte er sich gemütlich danebensetzen und es für die Nacht ausbrennen lassen. Andererseits hatte er die Stunden seit dem Frühstück in der Hütte verbracht. Nun sehnte er sich nach Bewegung, nach frischer Luft in den Lungen, und vor allem wollte er auf andere Gedanken kommen. Er lag gut in der Zeit, und die Deadline von Woodbeck House war kein Problem, sogar wenn er sich eine Pause gönnte.
Lauri trat zum Fenster und blickte hinaus. Der Sternenhimmel funkelte ihm mit einer Schärfe entgegen, die er so aus der Stadt nicht kannte. Hier draußen, ungefähr hundert Meilen nördlich von Vancouver, waren nicht nur die Farben und Formen klarer, sondern alles wirkte viel intensiver. Einfacher, auf eine positive Art, die man erst begriff, wenn man sie erlebte. Es ließ ihn tiefer durchatmen und die Einsamkeit, die er freiwillig gewählt hatte, unumstößlicher werden. In der Ferienhütte der Pecks gab es kein Telefon, keinen Fernseher, nicht einmal ein Radio. Das Handynetz war stabil, solange er sich nicht zu weit Richtung Westen von der Hütte entfernte. Das Urlaubsresort als nächstes Zeichen von Zivilisation befand sich eine halbe Stunde Fußweg von hier. Doch genau das hatte er gewollt: eine Weile mit niemandem außer sich selbst und seinen Bildern klarkommen zu müssen. Es war ein gutes Gefühl.
Der Anblick der unberührten Schneefläche vor dem Fenster bekräftigte seine Entscheidung. Lauri angelte nach seinen Stiefeln und schlüpfte hinein. Die Ruhe dort draußen war eine andere als hier in der Hütte, und er wollte sie genießen, ehe er zu Bett ging.
Als er seine Jacke überstreifte, vibrierte etwas in der Tasche. Richtig, sein Handy. Er hatte die Nachricht vollkommen vergessen, die irgendwann in den vergangenen Stunden eingetroffen war und wegen der er das Zeichnen nicht hatte unterbrechen wollen. Nun schlug die Erinnerungsfunktion an, die er in weiser Voraussicht auf einen Stundentakt programmiert hatte, falls er mal wieder alles um sich herum vergaß. Er legte ungern eine Pause ein, wenn er erst einmal in den Fluss gekommen war.
In den Fluss kommen. Früher hatte er die Formulierung als affektiert empfunden, da so viele Menschen der Meinung waren, dass die Worte wichtig klangen und sie daher unentwegt vor sich herplapperten, ohne weiter darüber nachzudenken. Nach und nach hatte er gelernt, wenig auf das zu achten, was andere sagten. Wichtig war vielmehr, wie er sich in den Motiven verlor, wenn er arbeitete. Es passierte nicht immer, aber wenn, dann führte ihn jeder Strich auf eine Reise, die weich und mitreißend war wie Wasser und an deren Ende etwas auf ihn wartete, das er allein erschaffen hatte. Im Fluss sein war eine wunderbare Sucht. Sie ließ zu, dass er sich gut fühlte – fast schon zu Hause. Manchmal ertappte er sich, dabei zu lächeln, ohne zu wissen, wann es angefangen hatte. Es war ein Gefühl, das tiefer ging als Freude, das selten und äußerst kostbar war.
Lauri blickte auf das Display: Die Nachricht war bereits vor zwei Stunden eingegangen.
Ich hoffe, du reißt das Ferienhaus meiner Eltern nicht ab, Kollege Eremit.
Typisch Ben. Lauri grinste und tippte eine Antwort, in der er seinem besten Freund versicherte, dass alles in Ordnung war. Er legte das Handy beiseite und schlang sich den Schal um den Hals. Handschuhe? Nein, er hatte seine Finger so lange beschäftigt, dass sie leise pochten und ihnen Kühlung guttun würde. Ein letzter Blick in das Zimmer, dann öffnete er die Tür und trat in die Nacht.
Die Kälte empfing ihn gnadenlos, doch die Luft war klar und frisch. Lauri sog einen Schwall tief in die Lungen und genoss das Gefühl der Taubheit, das sich sofort wieder verflüchtigte. Beinahe den gesamten Tag hatte er all seine Empfindungen und Gedanken in seine Zeichnungen gesteckt, nun kehrten sie zu ihm zurück.
Schon als Kind hatte ihn fasziniert, dass man Schnee riechen konnte, und die Dezemberluft war voll davon. Er vergrub die Fäuste in den Jackentaschen und stapfte los. Die Schneewehen hatten sich seit gestern Abend wieder fast bis zur Tür gekämpft, und die Schneise, die er geschaufelt hatte, war größtenteils verschwunden. Es sah aus, als hätte ein Riese die Hütte von Bens Eltern mitten in die unberührte Landschaft gesetzt. Lauri hatte die Außenbeleuchtung nicht eingeschaltet, aber Mond und Sterne sorgten für ausreichend Licht.
Er schlug den Weg nach rechts ein, wo der Pfad, den er am Tag seiner Ankunft getrampelt hatte, noch schwach zu erkennen war. Ein kleines Waldgebiet lag in Sichtweite. Die Silhouetten der Bäume ragten in die Höhe und standen weit genug auseinander, um das Mondlicht zwischen die Stämme fallen zu lassen. Lauri musste nicht lang überlegen, er würde eine größere Runde laufen.
Laut den Pecks und den Besitzern der nahen Feriensiedlung hatte es in dieser Gegend noch nie Probleme mit Wölfen oder Bären gegeben, und Lauri hatte sich stets sicher gefühlt. Zumal zumindest die Bären im Winter kaum eine Gefahr darstellten. Bis Ende der kommenden Woche war all das allein sein Reich, das er mit niemandem teilen musste. Bens Eltern hatten nie etwas dagegen, wenn er sich eine Auszeit in ihrer Hütte nahm. Sie liebten den Winter hier oben, waren aber jetzt, nach Weihnachten und vor dem Jahreswechsel, mit Familie und Verwandten beschäftigt.
Lauri grinste, als er an den Weihnachtstag dachte. Er hatte ihn wie jedes Jahr bei seinen Adoptiveltern verbracht, zusammen mit seinen sechs Geschwistern und deren Kindern. Es kam ihm stets vor, als wäre er in eine andere Welt gewechselt, in der jede Ecke vor Leben, Geschrei, Gelächter und manchmal auch Auseinandersetzungen überquoll. Er mochte es für eine Weile, und gleichzeitig musste er die Zähne zusammenbeißen, um es durchzustehen. Auch dieses Mal hatte er sich als Erster verabschiedet, um den Abend allein in seiner Wohnung zu verbringen. Am nächsten Morgen war er früh Richtung Norden aufgebrochen, hatte den Alice Lake Provincial Park hinter sich gelassen und aufgeatmet, als er am Longtree-Resort aus dem Bus steigen konnte. Von dort war es nur noch ein kurzer Fußmarsch zur Peck-Hütte. Hier konnte er bis zum Morgen wach bleiben und erst in den Stunden der Dämmerung schlafen. Vollkommene Freiheit.
Lauri starrte auf seine Stiefel, an denen der Schnee pappte. Das Knirschen bei jedem Schritt und sein Atem waren die einzigen Geräusche, und selbst sie klangen gedämpft. Schneeflocken tanzten vereinzelt vom Himmel.
Lauri behielt sein Tempo bei, als er nach links auf den Pfad abbog, den er seltener nutzte. Die weiße Masse reichte ihm nun bis zu den Knien. Er winkelte die Arme an, um mit mehr Schwung gegen den Widerstand anzugehen. Sobald er den Wald erreicht hatte und der Schnee sich nicht mehr so auftürmte, würde ihm das Laufen leichter fallen.
Als er die erste Baumgruppe erreichte, blieb er stehen und legte eine Hand auf einen der Stämme. Die Rinde war nicht so kalt, wie er vermutet hatte, und fühlte sich fast weich an. Das Muster aus Furchen und Rillen schmiegte sich an seine Haut. Es würde gut auf Papier aussehen.
Er lief weiter, doch etwas störte die Ruhe: Gelächter. Es kam von der anderen Seite des Waldstücks, aus dem Longtree Holiday Resort, das neben der Haltebucht für den Bus lag. Lauri war nach seiner Ankunft hindurchgelaufen, aber niemandem begegnet, da es früh am Morgen gewesen war. Er würde sich nur im Notfall dort blicken lassen, und der war zum Glück noch nicht eingetreten. Verpflegung hatte er mehr als genug mitgebracht, ohnehin brauchte er nicht viel. Zudem war er nicht wild auf Small Talk in der Bar oder darauf, mit anderen auf die Jagd zu gehen oder Schneemobilrennen zu fahren. Die Menschen in den Hütten dort liebten die Einsamkeit, weil sie Raum für alles gab, was die Stadt ihnen verwehrte. Lauri dagegen liebte sie, weil er ganz er selbst sein konnte.
Unwillkürlich versuchte er, sich leiser zu bewegen, als er weiterging. Für eine Weile schloss er die Augen und lief blind, die Arme nach vorn gestreckt. Selbst das konnte er hier tun: einen oder mehrere Sinne ausschalten, ohne eine unangenehme Überraschung zu erleben. Es gab nicht viel in dieser Idylle, und gerade das machte sie so wertvoll.
Als er die Augen wieder öffnete, sah er etwas, das die Regelmäßigkeit der Landschaft störte. Oder bildete er sich das nur ein? Lauri blinzelte. Schneeflocken, die sich auf seine Wimpern gelegt hatten, schmolzen und liefen die Wangen hinab. Er wischte sich über die Augen, doch das Bild blieb: eine dunkle Vertiefung zwischen zwei Bäumen. Sie bewegte sich nicht. Vermutlich ein abgebrochener Ast. Lauri ging darauf zu, einfach nur, um ein Ziel zu haben. Es musste ein ziemlich großes Stück Holz sein, beinahe so lang wie er.
Nach wenigen Schritten runzelte er die Stirn – und blieb stehen. Die Kälte, vor der seine Kleidung ihn bisher geschützt hatte, traf ihn voller Wucht und verbiss sich in seiner Haut. Gleichzeitig wurde ihm unerträglich heiß. Das konnte nicht sein!
So schnell er konnte, rannte er auf die Mulde zu. Er hatte sich nicht getäuscht: Da war ein Arm mit hellen Fingern, die ihm weißer erschienen als die Umgebung. Er ragte einfach so aus dem Schnee heraus.
O mein Gott.
Lauri keuchte. Jemand musste dort verunglückt sein, nur wie? Womöglich ein Wildtier? Normalerweise hielten die sich fern von der Siedlung und ihrer Umgebung, aber wer wusste schon, ob ein Wolf plötzlich sein Revierverhalten änderte oder ein Bär seinen Winterschlaf unterbrach.
Lauri hielt den Atem an, trat näher und erkannte ein Gesicht, das sich unter der dünnen Schneeschicht nur schwach abzeichnete.
Dort lag eine Frau. Die Erkenntnis landete wie eine Faust in Lauris Magen, und er ging so hart auf die Knie, dass er schwankte. Er stützte sich mit einer Hand ab und wischte mit der anderen den Schnee von ihrem Gesicht. Sie war jung, höchstens Anfang zwanzig. Ihre Augen waren geschlossen, eine Braue aufgeplatzt, ihre Unterlippe geschwollen und dunkel verfärbt. Auf einer Wange prangte ein Hämatom, das halb so groß war wie seine Faust. Keine blutigen Wunden, nur diese Verletzungen. Es sah nicht aus, als hätte ein Tier ihr das angetan.
»Hallo? Hörst du mich?« Lauri schüttelte sie vorsichtig, doch sie reagierte nicht. Wie eine Puppe aus Schnee und Eis folgte ihr Körper träge seinen Bewegungen. In Lauris Brust hämmerte es, und verzweifelt versuchte er, einen klaren Gedanken zu fassen. Was musste er noch einmal tun? Sie wärmen, die nassen Sachen ersetzen, aber erst nach einem Puls suchen. Er berührte ihre Lippen und hielt ein Ohr darüber, doch er spürte nichts. Seine Finger flogen über ihre Wangen, zu ihrem Hals. Sie waren selbst so kalt, dass er die Körpertemperatur der Frau nicht bestimmen konnte, und er konnte auch keine Ader finden, die noch pochte. Oder doch? Er war sich nicht sicher, aber er durfte keine Sekunde länger warten. Noch einmal schüttelte er die Frau, schlug leicht auf ihre Wangen, doch es brachte nichts.
Hastig fegte er den übrigen Schnee von ihrem Körper. Sie trug nicht einmal Winterkleidung, lediglich eine Jeans und einen Pullover, beides komplett durchnässt und schon steif vor Kälte. Keine Schuhe. Irgendwo zu ihren Füßen schimmerte es dunkel, doch als Lauri den Schnee wegschaufelte, fand er nur einen Filzklumpen, der einmal ein Pantoffel gewesen sein musste. Mit fliegenden Fingern schlüpfte er aus seiner Jacke und ignorierte die Kälte. Er schob seine Arme unter den Oberkörper der Frau und zog ihr den nassen Pulli aus. Der Stoff klebte an ihrer Haut, sträubte sich, doch schließlich gab er nach. Darunter trug sie nur ein dünnes Top. Lauri versuchte, sie vorsichtig und zugleich so schnell wie möglich in seine Jacke zu hüllen. Ihre Arme folgten seinen Bewegungen nur widerspenstig, doch endlich konnte er den Reißverschluss hochziehen, nahm seinen Schal und schlang ihn um ihren Hals. Er zitterte, doch die Kälte machte ihm nicht so viel aus, wie sie sollte.
Noch immer bewegte sich die Frau nicht. Lauris Gedanken rasten, als er die Entfernungen schätzte. Bis zur Longtree-Siedlung war es ungefähr genauso weit wie bis zu seiner Hütte, und wenn Ben recht hatte, dann feierte der Besitzer des Komplexes oft mit seinen Gästen und trank dabei gern ein wenig mehr. Das Risiko, dass er vor verschlossenen Türen stand, hinter denen Menschen ihren Rausch ausschliefen, war zu hoch. Nein, er würde sie zu seiner Hütte bringen und den Notruf wählen. Warum hatte er auch das verdammte Telefon nicht mitgenommen!
Er stopfte den Pulli der Frau in seine Jackentasche – er war so dünn, dass er ihn faustgroß zusammendrücken konnte –, taumelte, als er sie auf die Arme hob, sich aufrichtete und versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Der Untergrund schien plötzlich tückischer zu sein als vorher, und er zu langsam. Seine Gedanken trieben ihn schneller vorwärts, als sein Körper folgen konnte, und dann begriff er, dass es Panik war. Panik, dass er eine Tote in den Armen hielt, oder dass sie sterben würde, während sie durch die Nacht liefen. Er hielt sie eng an seine Brust gepresst und hoffte auf einen Herzschlag. Da war nichts, doch das musste einfach an der dicken Jacke liegen. Einen anderen Grund durfte es nicht geben!
Er lief in seinen Spuren zurück, um sich besser bewegen zu können. Doch es ging ihm nicht schnell genug, und nach wenigen Schritten pflügten seine Beine durch die Schneemassen. Der Widerstand kostete Unmengen Kraft, und Lauris Oberschenkel begannen zu schmerzen. Er biss die Zähne zusammen und fasste die Frau fester, um sie nicht fallen zu lassen.
Als er den Waldrand erreichte, wurde der Weg noch beschwerlicher. Lauris Muskeln brannten, und die Beine waren jetzt so schwer, dass er sie kaum noch heben konnte. Er durfte nicht an den Weg denken, der vor ihm lag! Stattdessen konzentrierte er sich auf die Frau. Aus ihren Haaren perlte Wasser auf seine Jacke und spickte sie mit winzigen Tropfen.
»Nur noch ein Stück durchhalten«, keuchte Lauri. »Wir sind bald da, dann gibt es ein Feuer, warme Sachen und was Heißes zu trinken. Und bald bist du in einem Krankenhaus.«
Er redete weiter, belanglose Worte, die nicht mehr ihr galten, sondern ihm. Irgendwann tauchte etwas Dunkles in den Augenwinkeln auf, doch er war noch zu weit von der Hütte entfernt. Was auch immer er gesehen hatte, es half ihm nicht weiter. Im Gegenteil, es könnte ihm höchstens gefährlich werden.
Plötzlich kam ihm die Umgebung feindselig vor, und die Nacht war nur noch eine Zeit, in der man bei Licht und Wärme in seinen vier Wänden blieb. Vielleicht war derjenige, der dieses Mädchen so zugerichtet hatte, noch immer in der Nähe. Vielleicht beobachtete er sie gerade.
Lauri fluchte, sah sich um und lauschte. Sein Atem rasselte so laut in seiner Kehle, dass er kaum etwas hörte, doch die Sichtverhältnisse waren gut. Da war niemand. Er war allein. Nässe lief über sein Gesicht und tropfte von seinem Kinn, die Haare klebten ihm an der Stirn. Es war egal, er musste weiter. Ihretwegen. Mittlerweile schwitzte er unter seinem Pullover, sein Gesicht glühte. Die Kraft verließ ihn. Er zwang sich, langsamer zu laufen, um nicht zu stolpern. Es fiel ihm schwer. Das Gefühl, womöglich gegen die Zeit zu kämpfen, war kaum zu ertragen, doch er kannte seinen Körper und seine Kondition genau. Er tastete über einen Arm der Frau. War ihre Haut wärmer als zuvor? Noch immer fand er keinen Puls.
»Wir haben es gleich geschafft«, murmelte er und betrachtete den Teil ihres Gesichts, der nicht vom Haar bedeckt war. Die Nasenspitze beschrieb einen leichten Schwung nach oben, die Lippen darunter waren so hell wie die übrige Haut, mit sanften Kerben darin. Es sah aus, als würde sie schmollen oder den Mund anspannen, weil ihr etwas nicht gefiel oder sie nachdachte. Auf ihrem Kinn prangte ein dunkler Fleck. Lauri hielt ihn zuerst für eine weitere Verletzung, bis er erkannte, dass es ein Muttermal war.
Als endlich die Hütte auftauchte, stöhnte er vor Erleichterung auf. Das Gelände stieg an, und er lehnte sich so weit wie möglich nach vorn, um den Schwung zu nutzen. Zweimal stolperte er und verlor fast das Gleichgewicht, dann knickten seine Beine ein. Er ließ sich fallen und konzentrierte sich darauf, die Frau festzuhalten. In seinen Waden kribbelte und stach es, als er sich wieder aufrappelte, doch nun hatte er das Ziel vor Augen. Es gab nur noch den Körper in seinen Armen und die Hütte, und endlich trat er die Tür auf und stürmte hinein. Das Rauschen von Wind und Kälte in seinen Ohren verstummte und ließ Platz für das Hämmern seines Herzens. Seine Füße krachten auf den Holzboden, da er noch immer mit derselben Kraft lief, die er im Schnee gebraucht hatte.
Plötzlich erschien ihm die Luft hier drinnen warm und stickig. Er stürzte zum Sofa, legte die Frau vorsichtig darauf ab und breitete die Decke über sie. Sein Handy lag auf dem Tisch. Als er es aktivieren wollte, regte sich nichts auf dem Display. Er versuchte es noch einmal, doch das Schwarz verhöhnte ihn hartnäckig.
»Verdammt!« Das durfte nicht wahr sein. Der Akku war noch halb voll gewesen, als er losgegangen war – immerhin hatte er seit seiner Ankunft vor zwei Tagen kein einziges Mal telefoniert. Mit fliegenden Fingern riss er die Schublade der Kommode neben dem Tisch auf, fand das Ladekabel und hängte das Telefon an die Steckdose. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Frau, rannte die Holztreppe hinauf und ins Schlafzimmer, den einzigen Raum in der oberen Etage. Ohne genau hinzusehen, griff er in den Schrank, packte nahezu alles, was dort hing, und rannte wieder zurück, immer zwei Stufen auf einmal. Neben dem Sofa ließ er den Stapel zu Boden fallen und betrachtete die Bewusstlose. Ihr Gesicht sah trotz der Verletzungen so friedlich aus, dass die Blässe unter der Haut fast schön wirkte. Ihre Lippen waren leicht geöffnet.
Waren sie das eben auch schon gewesen? Verdammt, er wusste es nicht! Lauri ballte die Hände zu Fäusten. Hatte sie sich etwa bewegt? Atmete sie? Er riss die Decke zurück und legte seinen Kopf auf ihre Brust. Da war ein Herzschlag, unregelmäßig und verhalten. Oder war es sein eigener Puls, der ihm vorgaukelte, die Frau gerettet zu haben?
Ungehalten schüttelte er den Kopf. Er verschwendete gerade wertvolle Zeit mit Spekulationen, die ihn nicht weiterbrachten. Zunächst musste er die Frau aufwärmen und dann endlich Hilfe holen. Besser, er steckte eine Tote in seine Sachen, als dass ihm jemand unter den Fingern wegstarb.
Er versuchte, ihr seine Jacke so behutsam wie möglich auszuziehen, dann ihre Socken, die Jeans und, nach kurzem Zögern, das weiße Top. Seine Finger waren wieder warm geworden, der Kontrast zu ihrer eiskalten Haut umso stärker. Jedes Mal, wenn er sie berührte, sank seine Hoffnung ein Stück mehr. Die Frau war schlank und ging ihm höchstens bis zur Schulter; viel hatte ihr Körper der Kälte nicht entgegenzusetzen gehabt. Alles an ihr war hell. Welche Farbe wohl ihre Augen besaßen? Lauri hielt an dieser Frage fest, um sie nicht zu sehr anzustarren, wie sie nur mit einem Slip bekleidet vor ihm lag.
»Also dann«, murmelte er und griff nach einem seiner T-Shirts. Es würde ihr viel zu groß sein, aber immerhin hatte er kaum Probleme, es ihr überzuziehen. Sie reagierte auch jetzt nicht, als er ihre Arme durch die Öffnungen zog und dabei Worte murmelte, die er selbst nicht verstand.
Während er sie in Stoffschicht um Stoffschicht hüllte und dabei durch vorsichtiges Reiben die Kälte von ihrer Haut zu vertreiben versuchte, redete er sich ein, dass sie wieder zu sich kommen würde, wenn ihr Kreislauf auf die Wärme ansprach und ihr Herzmuskel nicht zu sehr ausgekühlt war. Versuchsweise presste er einen Daumen in die weiche Haut ihres Unterarms, doch an der Druckstelle zeigten sich keine Verfärbungen. Das war nicht gut.
Nach dem Shirt folgten eine Jeans, zwei Paar Socken, sein dickster Pulli und sein Schal. Zuletzt nahm er ein Kissen und schob es behutsam unter ihren Kopf, ehe er die Decke wieder über sie zog. Aus ihren Haaren perlte kein Wasser mehr, aber sie waren noch feucht. Allmählich schwand die dunkle Farbe, und die Strähnen strahlten immer mehr in einem Lichtblond – ein starker Kontrast zu dem getrockneten Blut und ihrer Wange. Selbst ihre Wimpern waren hell.
Lauri nahm ihre Hände und legte sie unter die Decke auf ihre Brust. Ihre Fingernägel waren so weit runtergebissen, dass an den Rändern blutige Risse entstanden waren. Sie sah so zerbrechlich aus, und irgendetwas an ihr machte es Lauri schwer wegzusehen. Doch er musste, wenn er sie retten wollte. Er machte sich nicht die Mühe, um die Stühle herumzulaufen, stieß sie grob beiseite und griff nach seinem Handy. Nichts. Er konnte darauf herumdrücken, wie er wollte, es blieb stumm.
Das konnte einfach nicht sein. Die Steckdose funktionierte, er hatte sie vor wenigen Stunden benutzt. Lauri zog das Kabel heraus, um es woanders an den Strom zu hängen, als er etwas hörte. Ein Geräusch, so leise, als wollte es sich vor ihm verstecken. Zu zart und nah, um von draußen zu kommen.
Er wirbelte herum, war in der nächsten Sekunde bei ihr und ging neben dem Sofa in die Knie. Sie bewegte sich noch immer nicht, doch ihre Lippen waren jetzt geschlossen. Lauri tastete an ihrem Hals nach einem Puls, und dieses Mal fand er ihn. Schwach zwar und langsam, aber er war da.
Etwas sackte von seiner Brust in seinen Magen und löste sich dort ganz, ganz langsam auf. Er griff unter der Decke nach ihren Händen.
»Hey«, flüsterte er und versuchte, sorglos zu klingen, um sie nicht zu beunruhigen. »Es ist alles okay. Du bist in Sicherheit. Ich werde den Notarzt rufen, dann geht es dir bald besser.«
Hatte sie etwas gesagt? Nein, er musste sich geirrt haben, denn sie lag noch immer so unbeweglich da wie zuvor. Ihre Haut widersetzte sich seiner Wärme und blieb Eis. Doch dann hörte er es noch einmal. Es kam aus ihrer Kehle, halb Wimmern, halb Rasseln, so leise, als wäre sie weit weg. Eine Bewegung an ihrem Hals. Sie schluckte.
Lauri drückte ihre Finger. »Ich bin sofort wieder bei dir.« Er rannte in die Küche und setzte Wasser auf. Verpackungen polterten zu Boden, eine Tasse folgte und zersprang, dann hatte er Tee gefunden und zog einen Beutel aus der Schachtel. Er nahm sein Handy, probierte kurz den Toaster aus – er funktionierte –, stöpselte ihn aus und rammte das Ladekabel seines Telefons so fest in die Steckdose, dass die Verkleidung knirschte. Im nächsten Augenblick war er auch schon wieder neben der Frau.
Ihre Finger zuckten, dann lagen sie wieder still. Lauri streichelte über ihren Handrücken, dann über ihre Wange, um sie wissen zu lassen, dass sie nicht allein war. Sie wirkte so hilflos und zerbrechlich. Wer hatte ihr das nur angetan? Allein der Gedanke, dass sie diesem Jemand ausgeliefert gewesen war, machte ihn wütend. Behutsam strich er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Hörst du mich?«, flüsterte er und lauschte auf eine Antwort, einen Atemzug, irgendetwas.
Sie rührte sich nicht. Im Hintergrund brodelte das Wasser im Kocher. Lauri sprang auf, goss es ein, kramte den Honig aus seinen Vorräten und gab einen Löffel hinzu. Zucker war sicher nicht verkehrt, um ihren Kreislauf wieder auf Touren zu bringen, sobald sie aufwachte. Seine Bewegungen waren zu schnell, sodass Flüssigkeit auf seine Haut schwappte und ihn verbrühte. Er bemerkte es nur am Rande und überlegte gleichzeitig fieberhaft.
Sie lebte, aber es ging ihr nicht gut. Er sah auf sein Telefon, doch noch immer leuchtete die Ladeanzeige nicht. Wider besseres Wissen versuchte er noch mal, das Ding einzuschalten, doch es sah ganz danach aus, als hätte es sich den ungünstigsten Moment ausgesucht, um sich endgültig zu verabschieden. Dabei war es noch gar nicht so alt.
Lauri warf den Teebeutel in die Spüle und balancierte die Tasse zum Tisch. Als er sich wieder neben das Sofa kniete, zuckte ein Augenlid der jungen Frau. Sie zitterte, und Lauri hätte sie gern in den Arm genommen, um sie zu wärmen. Doch er traute sich nicht. Er wollte – durfte – sie nicht erschrecken. Also zog er nur die Decke bis zu ihrem Kinn, blies über die dampfende Flüssigkeit in der Tasse und entschied, dass der Tee noch zu heiß war.
»Wir sehen erst einmal zu, dass wir dich wieder warm bekommen. Wenn es dir besser geht, laufe ich los und hole Hilfe«, flüsterte er und verfluchte sich dafür, nicht doch zur Siedlung gegangen zu sein.
Dieses Mal bewegten sich nicht nur die Finger der Bewusstlosen. Sie hob eine Hand von der Decke. Ihr Arm zitterte und fiel wieder herab, so als hätte diese Bewegung sämtliche Kraft gekostet.
Die Frau öffnete die Lippen und murmelte etwas. Es war so leise, dass sich Lauri vorbeugte und sein Ohr dicht an ihr Gesicht hielt.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte er. »Versuch es noch mal.«
Sie spannte sich an. Dann kitzelten ihre Lippen seine Haut.
»Sag es niemandem.«