JENNIFER L.
ARMENTROUT
Kissed
EINE LIEBE ZWISCHEN
LICHT UND DUNKELHEIT
Zwei Kurzromane aus der Welt von Wicked
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Sonja Rebernik-Heidegger
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgaben
THE PRINCE
THE KING
Redaktion: Martina Vogl
Copyright © 2018, 2019 by Jennifer L. Armentrout
Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,
unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN 978-3-641-25042-3
V001
www.heyne.de
Das Buch
Vom Orden zur Kriegerin ausgebildet, dachte Brighton Jussier eigentlich, sie würde für den Rest ihres Lebens auf den Straßen von New Orleans Jagd auf die bösen Winter-Fae machen, um die Menschen der Stadt vor den Bewohnern der Anderwelt zu schützen. Dann wurde Brightons Mutter Merle von den Fae entführt und hat sich nie wieder von diesem Trauma erholt. Seither kümmert sich die junge Frau aufopferungsvoll um Merle und arbeitet tagsüber im Büro des Ordens. So etwas wie ein Liebesleben kennt sie nur vom Hörensagen. Soweit, so langweilig. Doch Brighton ist glücklich so wie es ist, auch wenn ihr die anderen Ordensmitglieder nicht sonderlich viel zutrauen. Bis zu jener schicksalshaften Nacht, in der Brighton und ihre Mutter von den Winter-Fae überfallen werden. Merle stirbt, und Brighton wird schwer verletzt. Von da an geht sie Nacht für Nacht auf die Jagd nach den Tätern. Heimlich, denn wenn der Orden davon erfährt, würde sie wegen Hochverrats angeklagt. Brightons einziger Verbündeter ist Caden, der übernatürlich schöne Fae-Prinz des Sommerhofes. Caden sorgt für ordentlich Schmetterlinge in Brightons Bauch, doch ist sie überhaupt bereit für eine Liebesbeziehung? Und soll sie dem Prinzen wirklich vertrauen? Schließlich hat er einst ihre Freundin Ivy Morgan entführt und die Pforten zur Anderwelt geöffnet …
Die Autorin
Jennifer L. Armentrout wurde 1980 in Martinsburg, West Virginia, geboren und zählt zu den erfolgreichsten Autorinnen der USA. Mit ihren Romanen – fantastische, realistische und romantische Geschichten für Jugendliche und Erwachsene – stürmt sie regelmäßig die nationalen und internationalen Bestsellerlisten. Wenn sie nicht gerade schreibt, frönt Jennifer L. Armentrout ihrer Leidenschaft für schlechte Zombiefilme. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Hunden in West Virginia.
Mehr zu Jennifer L. Armentrout und ihren Romanen erfahren Sie auf:
www.jenniferlarmentrout.com
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Erstes Buch
Der Prinz
1
War man ein schlechter Mensch, wenn man seine Freundin vollkommen, zu einhundert Prozent beneidete? Ja? Nein? Schon irgendwie?
Ich schätzte, die Antwort lag irgendwo dazwischen.
Das war jedenfalls die Frage, über die ich nachgrübelte, während ich Ivy Morgan beobachtete, die sich gerade die dicken roten Locken über die Schulter warf und über etwas lachte, das ihr Freund Ren Owens gesagt hatte.
Zumindest beneidete ich sie nicht darum – um ihre Liebe, meine ich. Okay, das stimmte natürlich nicht ganz. Vermutlich war jeder Single ein wenig eifersüchtig auf die Warmherzigkeit und Zärtlichkeit, die in jedem Wort und jeder zufälligen Berührung steckten. Ivy und Ren konnten kaum den Blick voneinander abwenden, um das Abendessen zu genießen, das wir uns in dem süßen kleinen Diner im Shoppingcenter in der Prytania Street gegönnt hatten.
Ganz ehrlich, ich freute mich wirklich sehr für die beiden. Sie hatten so viel durchgemacht. Mehr, als zwei Menschen durchmachen sollten, um endlich zusammen zu sein. Und trotzdem saßen sie jetzt hier – stärker und verliebter als je zuvor –, und sie hatten sich ihr Glück verdient.
Ihre unglaubliche Liebesgeschichte war also nicht der Grund, warum gerade ein hässliches, grünäugiges Monster auf meiner Schulter Platz genommen hatte. Es war, weil Ivy einfach so knallhart war.
Sogar jetzt, wo sie entspannt in ihrem Stuhl saß und die Weihnachtslichter hinter ihr funkelten, während sie eine Hand in Rens gelegt hatte und ihr Bauch voller Cheeseburger, Fritten und der Hälfte meiner Tater Tots war, könnte sie einfach jeden in den Hintern treten und dessen Identität feststellen, inklusive Adresse und Sozialversicherungsnummer.
Wenn die Kacke sprichwörtlich am Dampfen war, rief man Ivy oder Ren.
Wenn man wissen wollte, welche Straßen die Royal Street kreuzten, rief man … mich. Oder wenn man vielleicht einen Kaffee und ein paar frische Beignets wollte, aber gerade keine Zeit hatte, weil man die Welt retten musste, dann rief man mich.
Wir drei gehörten dem Orden an, einer Organisation, die im wahrsten Sinne des Wortes das Einzige war, das zwischen der Menschheit und ihrer vollständigen Versklavung und Zerstörung durch die Fae stand. Und damit meine ich nicht die supersüßen Feen aus den Disneyfilmen oder irgendeinen derartigen Schwachsinn. Die Menschen dachten, sie würden an oberster Stelle der Nahrungskette stehen, doch das stimmte nicht. Das taten die Fae.
Das Einzige, womit die Popkultur recht hatte, waren die spitzen Ohren der Fae. Aber das war’s auch schon. Die Fae waren mehr als einfache Wesen aus einer anderen Welt – der Anderwelt. Sie konnten ihr Aussehen durch einen Glamour-Zauber verändern und sich damit unbemerkt unter die Menschen mischen. Alle Ordensmitglieder – selbst ich – waren jedoch seit Geburt gegen diesen Zauber immun. Wir sahen hinter die Fassade und erkannten die Kreatur, die dort lauerte.
Doch nicht die wildeste Vorstellungskraft reichte aus, um die Anziehungskraft ihrer wahren Form oder das unglaubliche Strahlen ihrer silberfarbenen Haut zu erfassen. Oder ihre faszinierende Schönheit, die einem Leoparden auf der Jagd nach seinem nächsten Opfer glich.
Die Opfer der Fae waren wir Menschen, und sie nährten sich an der Lebensenergie, die unsere Herzen schlagen und unseren Verstand arbeiten ließ. Wie beim mythenhaften Vampir, der sich von Blut nährte, oder beim Sukkubus, der Männer aussaugte, war die menschliche Lebensenergie auch für die Fae ein Treibstoff, der ihre schier unermesslichen Fähigkeiten befeuerte. Sie waren schneller und stärker als wir, und nirgendwo auf der Welt gab es einen gefährlicheren Jäger. Indem sie sich von den Menschen nährten, konnten die Fae ihren Alterungsprozess bremsen, bis sie beinahe unsterblich waren. Ohne menschliche Energie alterten sie jedoch genauso schnell wie wir und starben letzten Endes.
Es gab aber auch Fae, die sich nicht von Menschen nährten, was wir allerdings erst vor Kurzem herausgefunden hatten. Die Fae des Sommerhofs hatten sich dagegen entschieden. Sie lebten und starben wie wir und wollten einfach bloß in Ruhe gelassen werden und nicht mehr im Fadenkreuz ihrer Feinde – den Fae des Winterhofs – stehen.
Meine Finger glitten zu meinem Handgelenk, an dem ich das Armband trug, das, gemeinsam mit den Worten, die bei unserer Geburt gesprochen wurden, den Zauber beinhaltete, der die Kräfte der Fae abwehrte. Ich nahm es nie ab. Niemals.
Es war ein vierblättriges Kleeblatt.
Wer hätte gedacht, dass eine so winzige Pflanze gegen etwas ankam, das so mächtig war wie die Fae?
Fast genau heute vor einer Woche war dem Orden gemeinsam mit den Sommerfae das Unmögliche gelungen: Sie hatten die irre und vollkommen gruselige Königin der Fae, Morgana, in die Anderwelt zurückbefördert. Es gab zwar die Möglichkeit, dass sie zurückkehrte, aber davon ging zurzeit niemand aus. Und so würde es auch noch sehr lange bleiben – vielleicht sogar unser ganzes Leben lang. Trotzdem wäre der Orden vorbereitet, wenn sie es täte. Genauso wie die Sommerfae.
Deshalb waren wir drei heute Abend auch zum Essen ausgegangen – zur Feier des Tages. Wir hatten den Kampf gegen die Königin überlebt, und diejenigen, die sie unterstützten, waren wieder in ihre wie auch immer gearteten dunklen Verstecke zurückgekrochen. Endlich konnten wir alle tief durchatmen und uns entspannen. Natürlich gab es dort draußen immer noch eine Unmenge Winterfae, die gejagt und aufgehalten werden mussten, aber nach dem Sieg über die Königin war es wieder ein ausgeglichener Kampf.
Die Dinge waren so normal, wie sie für ein Mitglied des Ordens nur sein konnten. Verdammt, Ren und Ivy wollten nach Weihnachten sogar in den Urlaub fahren. Wie verrückt war das denn? Super verrückt!
Ich hatte nicht vor, Urlaub zu machen, denn ich hatte nicht wirklich an dem Kampf teilgenommen. Wenn ich es getan hätte, säße ich nicht hier an diesem Tisch. Ich wäre tot. Und zwar unwiederbringlich.
Ich hatte nur ein minimales Kampftraining erhalten, das im Alter von zwölf Jahren abrupt geendet hatte. Ich besuchte zwar immer noch die vom Orden vorgeschriebenen Trainingseinheiten mit Ivy, aber im Gegensatz zu ihr war ich nie in einen richtigen Kampf verwickelt gewesen. Zu wissen, wie man jemanden zu Boden schleudert, einem Schlag ausweicht oder einen Tritt austeilt, der sämtliche Knochen brechen lässt, war etwas vollkommen anderes, als dieses Wissen gegen jemanden anzuwenden, der aktiv versuchte, einen umzubringen.
Wenn mein Leben mit zwölf nicht vollkommen aus den Fugen geraten wäre, wäre ich genauso wie Ivy und Ren geworden – eine wandelnde Waffe auf zwei Beinen –, aber nachdem meine Mutter von dem Fae gefangen genommen worden war, den sie gerade gejagt hatte, war alles ganz anders gekommen.
Meine Mutter war eine Kriegerin gewesen, genauso wie mein Vater, bei dessen Tod ich noch so jung gewesen war, dass ich mich abgesehen von den Fotos im Flur nicht mehr an ihn erinnern konnte. Ich wage zu behaupten, dass meine Mom die beste und qualifizierteste Kriegerin im ganzen Orden gewesen war. Sie war sogar noch härter als Ivy gewesen. Sie hatte mich großgezogen, während sie immer noch jede Nacht auf den Straßen New Orleans unterwegs war und Fae jagte, bevor diese Jagd auf Menschen machen konnten.
Als ich noch jünger war, schwor ich, einmal so zu werden wie sie, denn im Grunde eiferte jedes Kind im Orden seinen Eltern nach. Wir wurden von Geburt an auf unsere Pflicht vorbereitet, die Menschheit zu beschützen. Die Ausbildung begann bereits im Alter von acht Jahren. Vormittags fand der normale Unterricht statt, an den Nachmittagen lernten wir alles über die Gewohnheiten der Fae und widmeten uns unserem Kampftraining.
Doch dann kam dieser eine Morgen, wenige Tage vor meinem zwölften Geburtstag. Der Morgen, an dem Mom nicht nach Hause kam. Die darauffolgenden Tage schienen endlos, und sie zählten zu meinen schlimmsten Erinnerungen.
Sie fanden Mom am vierten Tag, in einem der Bayous wenige Meilen außerhalb der Stadt, wo sie sie zum Sterben zurückgelassen hatten. Trotz ihres Wissens und ihrer Erfahrung war sie auf die Fae hereingefallen. Sie hatten sie gefoltert. Und schlimmer noch. Sie hatten sich von ihr genährt, und obwohl sie sie nicht versklavt hatten, hatte all dieses Nähren etwas mit ihr angestellt. Mit ihrem Verstand. Gott sei Dank kam meine Mom wieder zurück zu mir.
Aber sie war nicht mehr dieselbe.
Es gab Tage und Wochen, in denen es schien, als wäre gar nichts passiert, doch dann war plötzlich nichts mehr in Ordnung. Manchmal verschwand sie einfach, oder sie weigerte sich, aus ihrem Zimmer zu kommen. Sie wütete und tobte und brach im nächsten Augenblick in Gelächter aus, das oft mehrere Stunden andauerte. In den Monaten und Jahren nach dem Angriff wurde es langsam einfacher, aber ich musste mich trotzdem um sie kümmern, anstatt zum Training zu gehen, und als ich schließlich alt genug war, bekam ich einen Job im Büro des Ordens, der normalerweise für die wenigen reserviert war, die es bis in den Ruhestand schafften. Ich nahm das Angebot an, obwohl das Geld, das der Orden meiner Mutter zahlte, nachdem sie »bei der Ausübung ihrer Pflichten verletzt« worden war, eigentlich ausreichte.
Doch nun hoffte ich, dass sich mein Leben ändern würde. Die Lage hatte sich beruhigt, und mit ein wenig mehr Training würde ich vielleicht auch bald auf Patrouille gehen können. Der Orden brauchte mich – er brauchte jede Hilfe, die er kriegen konnte, nachdem so viele im Kampf gegen die Königin ihr Leben gelassen hatten. Ich konnte genauso hart und unerschrocken werden wie Ivy und Ren, und dann konnte ich endlich meine Pflicht erfüllen.
Ich wäre endlich zu etwas nutze. Ich wäre der Leute würdig, die ich als meine Freunde bezeichnete, und vor allem wäre ich des Erbes meiner Familie würdig. Ich könnte …
Plötzlich tauchten zwei Finger vor meinem Gesicht auf. Sie schnippten, und ich fuhr zurück. Die Finger senkten sich, und hinter ihnen kam Ivy zu Vorschein. Sie starrte mich an.
Meine Wangen begannen zu glühen, und ich stieß ein leises Lachen aus. »Tut mir leid. Ich war gerade mit den Gedanken woanders. Was hast du gesagt?«
»Ich sagte: Ich ziehe mich jetzt nackt aus und laufe raus auf die Straße.«
Rens grüne Augen funkelten. »Also da wäre ich sofort dabei!«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.« Sie deutete grinsend auf die Speisekarte. »Willst du noch was Süßes, Bri?«
Ivy war die Einzige, die mich Bri nannte. Alle anderen sagten Brighton oder Miss Jussier, was ich hasste. Ich fühlte mich dann immer, als wäre ich dreißig Jahre älter und würde in einem Heim für streunende Katzen wohnen. Und ich war bereits achtundzwanzig und lebte bei meiner Mutter – ich musste mich nicht noch mieser fühlen, als ich es ohnehin schon tat.
»Nein, für mich nicht.« Ich hatte bereits einen kurzen Blick auf die Speisekarte geworfen. Wenn sie Käsekuchen gehabt hätten, hätte ich sicher noch Platz dafür gefunden.
Ren überflog die Speisekarte, schüttelte den Kopf und gab sie Ivy. »Dann darf Tink also bei dir einziehen?«
Ich verschluckte mich beinahe an meiner Diät-Cola. »Was?«
Ivy legte die Speisekarte auf den Tisch und klatschte lächelnd in die Hände. »Tink braucht einen Erwachsenen, der auf ihn achtgibt, während Ren und ich in Urlaub sind.«
Ich öffnete den Mund, aber mir fehlten die Worte. Ich hatte sie sicher falsch verstanden. Es kam gar nicht infrage, dass Tink in meinem Haus – im Haus meiner Mutter – wohnte. Denn erstens würde er es ziemlich sicher dem Erdboden gleichmachen, und zweitens war er …
Na ja, Tink war nun mal Tink.
»Und er mag dich echt gerne«, meinte Ren. »Er hört sogar auf dich.«
Ich senkte den Blick. »Das stimmt nicht. Tink hört auf niemanden. Nicht mal auf seinen Freund. Warum bleibt er eigentlich nicht bei ihm?«
»Das habe ich auch schon vorgeschlagen, aber Tink meinte, er wäre noch nicht bereit für diese Art der Bindung«, erwiderte Ren trocken.
»Was? Was für eine ›Bindung‹?«, überlegte ich laut. »Es wäre doch nur vorübergehend, oder?«
»Das haben wir Tink auch schon zu erklären versucht.« Ivy verdrehte die Augen. »Aber du weißt ja, wie er ist.«
Nein, das wusste ich nicht. Wirklich nicht. Ich senkte die Stimme, damit uns niemand hörte. »Warum bleibt er nicht im Hotel zum guten Fae?« So nannte Ivy das Haus, in dem die Sommerfae zusammenlebten. »Sie lieben ihn. Sie verehren ihn beinahe wie einen Heiligen.«
»Das haben wir auch schon vorgeschlagen, aber er meinte – ich zitiere –, dass er dort nicht ›er selbst‹ sein kann. Ihre Bewunderung setzt ihn zu sehr unter Druck.«
Ich starrte Ren an. »Du machst Witze, oder?«
»Ich wünschte, es wäre so.« Er lehnte sich zurück. »Du weißt, dass wir ihn nicht alleine lassen können. Er würde Ivys Wohnung niederbrennen.«
»Und mein ganzes Geld für irgendeinen Mist von Amazon ausgeben«, fügte Ivy hinzu, als ihr Handy plötzlich klingelte. Sie holte es aus ihrer Tasche. »Wie auch immer, über die Details können wir später noch reden.«
Wir würden später ganz sicher nicht über die Details reden. »Aber …«
»Was gibt’s, Miles?« Ivy hob die Hand, und ich verstummte abrupt. »Was?« Sie sah zu Ren, der sofort in Alarmbereitschaft war und sie nicht mehr aus den Augen ließ. »Ja, wir sind ganz in der Nähe. Wir überprüfen es.« Es folgte eine kurze Pause. »Ich gebe dir dann Bescheid.«
Sie legte auf, zog ihr Portemonnaie heraus und erklärte: »Das war Miles. Gerry ist heute nicht zu seiner Schicht gekommen, und niemand weiß, wo er steckt.« Das war wirklich ungewöhnlich, denn Gerry war sonst immer überpünktlich. »Miles hat gefragt, ob wir schnell mal bei ihm vorbeifahren können, um nachzusehen, was los ist.«
»Klar«, antwortete Ren, während Ivy mehrere Scheine auf den Tisch legte. »Ach übrigens, ich bin mir ziemlich sicher, dass Tink gerade bei dir zu Hause ist und Merle einen Besuch abstattet.«
»Warte mal. Was?« Gerry und die Tatsache, dass er nicht zur Arbeit gekommen war, waren vergessen.
»Ja, er hat irgendetwas von Gartentipps oder so geschwafelt.« Ivy steckte ihr Portemonnaie wieder zurück in die Tasche. »Ehrlich gesagt, habe ich ihm nicht richtig zugehört.«
»O Gott.« Ich kramte nach meinem eigenen Portemonnaie, während ich mir vorstellte, wie Mom Tink mit ein paar Steakmessern an die Wand nagelte. »Er darf nicht mit Mom alleine sein.«
»Ich glaube, Merle mag Tink«, erwiderte Ivy.
»Wirklich?« Ich legte ein paar Scheine auf den Tisch – mehr als genug für mein Essen und das Trinkgeld. »Das kommt darauf an, ob er Tink-Größe hat oder Menschengröße.«
»Da geht’s mir genauso«, murmelte Ren und sah dann mit einem schiefen Grinsen in meine Richtung. »Nebenbei bemerkt bin ich mir ziemlich sicher, dass deine Mom auf Tanner abfährt.«
Ich wollte gerade aufstehen und erstarrte mitten in der Bewegung. Tanner betrieb das Hotel zum guten Fae. Mit anderen Worten, er war ein Fae, und meine Mom … na ja, meine Mom schien ihn gerne zu besuchen, aber sie sprach auch noch immer ziemlich häufig davon, Fae umzubringen – und zwar alle Arten von Fae. Ich schüttelte den Kopf und beschloss, dass ich nicht genug Platz in meinem Gehirn hatte, um mir darüber Gedanken zu machen. »Ich mache mich lieber auf den Weg. Wer weiß, was meine Mom und Tink sonst aushecken.«
»Ich schätze, es wird entweder gewaltig oder eine gewaltige Katastrophe«, grinste Ivy, und Ren und sie standen ebenfalls auf.
»Das sehe ich auch so.« Ich wünschte, sie hätten mir das alles schon vor dem Essen gesagt. Ich schlang mir den Gurt meiner Tasche über die Schulter, verabschiedete mich und eilte durch das kleine Diner, vorbei an dem überdimensionierten Weihnachtsbaum und auf die Straße hinaus. Ein kalter Wind blies mir die feinen Haare, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hatten, ins Gesicht. Ich wohnte nur ein paar Blocks vom Shoppingcenter entfernt, und es war schneller, gleich zu Fuß zu gehen, als es bei Uber zu versuchen.
Ich steckte die Hände in die Taschen meines übergroßen Hoodies und joggte über die Straße. Der Garden District war zu jeder Jahreszeit wunderschön, aber während der Weihnachtszeit legte er noch mal eins drauf. Bunte Lichter schmückten Veranden und Balkone, schlangen sich um Gusseisengitter und blinkten in den riesigen Eichen, die einen Großteil der Straßen säumten.
Ich konnte einfach nicht glauben, dass Tink bei mir zu Hause war. Was hatten Ivy und Ren sich nur dabei gedacht? Mom hasste Tink zwar nicht direkt, aber sie hatte Ivy auch einmal mitten ins Gesicht gesagt, dass es wohl am besten wäre, sie zu töten.
Bloß weil Ivy nicht zu hundert Prozent menschlich war. Sie war ein Halbling, und es gab da diese Prophezeiung, dass sie die Tore in die Anderwelt für immer öffnen und damit den Armeen der Winterfae erlauben würde, in unsere Welt einzufallen. Aber das alles war mittlerweile Gott sei Dank vorbei.
Und Tink war nicht einmal zu einem Prozent menschlich.
Ich nahm eine Abkürzung über eine der Seitengassen und versuchte, meiner Fantasie nicht allzu freien Lauf zu lassen, was gerade zu Haus passierte. Vielleicht saßen sie zusammen vor dem Fernseher und sahen sich Harry Potter an. Oder Tink hatte seinen Freund mitgebracht, bei dem es sich zufällig um Prinz Fabian handelte – einer der beiden Prinzen des Sommerhofs. Ich bezweifelte, dass Tink auch Prinz Fabians Bruder mitgebracht hatte. Wenigstens das blieb uns erspart.
Ein Schaudern durchlief mich, als ich an den Prinzen dachte. Ich hatte ihn nicht zu Gesicht bekommen, während er unter dem Zauber der Königin gestanden und der Winterprinz gewesen war. Er hatte die Stadt terrorisiert und war zum lebenden Albtraum geworden, der Ivy entführt hatte, um die besagte Prophezeiung zu erfüllen.
Ich hatte ihn nur gesehen, nachdem der Zauber gebrochen war, und sogar dann war er immer noch die Furcht einflößendste Kreatur, die ich je zu Gesicht bekommen hatte. Und als er mir in die Augen sah, fühlte ich mich unwillkürlich …
»Mom.« Ich hielt inne, als sie den Bürgersteig entlang auf mich zukam. Ihr dünner Morgenmantel flatterte wie ein Paar Flügel hinter ihr her. »Was machst du denn hier?«
Sie trat unter eine Straßenlaterne, die kurzen blonden Haare vom Wind zerzaust. »Oh, ich bin irgendwie … kribbelig und habe beschlossen, einen kleinen Spaziergang zu machen.«
Ich eilte auf sie zu und nahm ihre Hände in meine. Sie waren eiskalt. »Mom, warum hast du denn keine Jacke an?«
»Liebling, so kalt ist es doch gar nicht.« Sie lachte und drückte meine Hände.
»Es ist zumindest kalt genug für etwas Wärmeres als deinen Morgenmantel. Komm, wir gehen nach Hause.« Mein Magen zog sich nervös zusammen, als ich mich bei ihr unterhakte und sie herumdrehte.
Angst und innere Unruhe waren normalerweise Anzeichen, dass uns ein paar harte Tage bevorstanden. Es kam wie aus dem Nichts, und alles oder nichts konnte es auslösen. Sie war Wochen oder sogar Monate lang vollkommen klar im Kopf, und dann plötzlich: BUMM! Zuerst stahl sie sich immer öfter davon, und dann begannen die Albträume. Sie konnte nicht mehr schlafen, und die Dinge … drehten sich einfach in einer Abwärtsspirale weiter.
Die Angst war wie ein Virus. Wenn man sie erst einmal spürte, ertrank man bereits darin.
»Wie lange bist du schon unterwegs?«
»Lange genug, um vom Haus hierherzukommen«, erwiderte sie, und ich widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. »Und was stimmt denn nicht mit meinem Morgenmantel?«
Es stimmte einiges nicht an der Tatsache, dass sie in einem blaugrünen Morgenmantel durch den Garden District spazierte.
Ich ging ein wenig langsamer, um mich ihrem Tempo anzupassen, und führte sie über die Straße. »Hattest du Gesellschaft, während ich weg war?«
»Gesellschaft?«
Vielleicht hatten Ren und Ivy sich geirrt, und Tink war gar nicht bei ihr gewesen. »Hat Tink vorbeigeschaut?«, fragte ich und wurde langsam echt nervös.
Sie schwieg einen Moment lang, dann kicherte sie. »Jetzt, wo du es sagst. Er hat sich einen Film angesehen, und dann ist er hinaus, um zu telefonieren.«
»Dann war er also noch da, als du …« Die Straßenlaterne über uns flackerte und ging aus. Und mit den anderen Lampen entlang der Straße passierte dasselbe.
»Das ist seltsam«, erklärte Mom, und ein Schaudern durchlief sie. »Brighton?«
»Ist schon okay«, erklärte ich und schluckte. »Alles okay.«
Ein Schwall eiskalter Luft fegte die Straße entlang, fuhr in Moms Morgenmantel und ließ uns beide erstarren. Die feinen Härchen an meinem Nacken stellten sich auf, als ich den Blick die leere Straße entlangwandern ließ, die nur noch von den blinkenden Weihnachtslichtern erleuchtet wurde. Er fiel auf ein Zu verkaufen-Schild vor einem leer stehenden Antebellum-Haus. Wir hatten noch zwei Blocks vor uns.
»Mom«, flüsterte ich, und mein Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich mich wieder in Bewegung setzte und sie mit mir zog. »Wir müssen …«
Sie tauchten wie aus dem Nichts auf und bewegten sich so schnell, dass sie zuerst nicht mehr als ein paar Schatten waren, die uns einkreisten.
Ein Schrei stieg meine Kehle hoch, als ich sie sah. Silberfarbene Haut. Hasserfüllte Augen. Es waren vier, und sie stürzten sich auf uns, bevor mir der Schrei über die Lippen kam.
2
Sonnenlicht.
Ich spürte es auf meiner Haut und schmeckte es auf meinen Lippen. Sonne. Ihre Wärme drang durch meine Haut, sirrte durch meine Adern und setzte sich in meinen Muskeln und Knochen fest.
Lag ich im Freien? Aber das ergab doch keinen Sinn! Es war immerhin Dezember und nicht annähernd warm genug, um in der Sonne zu liegen. Trotzdem wusste ich mit Sicherheit, dass ich genau das tat. Ich spürte die Sonne auf meinen Wangen, und meine Lippen prickelten, weil sie mir so nahe war.
Ich öffnete die Augen, aber da war keine Sonne. Ich sah einen Umriss, die Silhouette eines Mannes. Er war nur unscharf zu erkennen, aber ich kannte diesen Mann. Das war er.
Der Prinz …
Aber das ergab auch keinen Sinn. Nichts von alldem ergab Sinn. Verwirrung machte sich in meinem Kopf breit, der sich anfühlte wie in Watte gepackt. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ich versuchte, die Hand zu heben, aber es fühlte sich an, als würde sie von einem Gewicht nach unten gezogen. Irgendetwas lief hier ganz und gar falsch. Und ich musste mich erinnern …
Schlaf.
Das Verlangen, in den Schlaf zu gleiten, traf mich von einem Moment auf den anderen mit voller Wucht, und so schlief ich. Ich schlief eine gefühlte Ewigkeit lang, doch dann hörte ich plötzlich ein beständiges Piepen. Es drang bis zu dem Ort vor, an dem ich mich befand, und es wurde so unerträglich, dass ich ihm Beachtung schenken musste. Ein Teil meines Bewusstseins konzentrierte sich nur noch auf das Geräusch, klammerte sich daran, und ich folgte ihm und passte mich seinem Rhythmus an. Mit jeder Sekunde wurde meine Umgebung klarer. Schritte. Ich hörte Schritte. Ein Flüstern. Und gedämpfte Stimmen. Ich atmete tief ein, und ein Beben ging durch meinen Körper. Es tat weh. Als wären meine Brust und meine Rippen zu eng, und dieser eine Atemzug wäre bereits zu viel gewesen …
Mom.
Ich sah sie vollkommen klar vor mir.
Ich sah sie im Dunkeln auf dem Rücken liegen, und ihre geweiteten Augen blickten direkt in meine. Da war nichts in diesen Augen. Kein Leben. Nichts.
Das Piepen wurde schneller.
Das schreckliche Bild meiner Mom löste sich in Rauch auf, und stattdessen sah ich silberfarbene Haut und blutige, zu einem höhnischen Grinsen verzogene Münder und …
Blut. So viel Blut, das über die Pflastersteine lief und in den Fugen die Straße hinabrann. Warum war da so viel Blut? Ein Gefühl feuchter Wärme stieg meine Kehle hoch, und ich würgte.
»Bri? Bist du wach? Brighton?«
Ich kannte diese Stimme. Ivy. Sie sprach mit mir. Ich holte erneut Luft und stellte erleichtert fest, dass es nicht so wehtat wie beim ersten Mal. Aber mein … mein Körper fühlte sich seltsam an. Und mein Gesicht auch. Als wäre es geschwollen und die Haut würde sich über die Knochen spannen. Genauso wie am Rest meines Körpers.
Meine Augen waren wie zugeklebt, und ich brauchte eine Ewigkeit, um sie zu öffnen. Stunden vielleicht. Als ich es schließlich geschafft hatte, starrte ich zu einer abgehängten Decke mit einer Leuchtstoffröhre hoch.
»Bri«, sagte Ivy noch einmal, und ihre Finger strichen über meine linke Hand.
Ich drehte langsam den Kopf in die Richtung, aus der ihre Stimme kam, und mein Blick fiel auf ihr blasses, abgespanntes Gesicht. Sie hatte ihre leuchtend roten Haare zu einem Knoten hochgedreht, und ihre geröteten, geschwollenen Augen waren voll Mitleid.
Und da wusste ich es.
Ich erinnerte mich.
Die Fae waren wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatten Mom und mich eingekreist. Sie hatten uns in den Garten eines leer stehenden und zu verkaufenden Hauses gezerrt. Ich hatte mich geirrt. Es waren nicht vier gewesen, sondern fünf, und einer hatte zu den uralten Fae gehört.
Ich versuchte zu schlucken, doch mein Hals tat zu sehr weh. Alles tat weh. Meine Beine und mein Gesicht, aber vor allem mein Bauch. Es fühlte sich an, als hätte jemand darin gegraben und alles herausgerissen.
Ivys Finger schlossen sich um meine, und sie drückte sie sanft. »Hast du Schmerzen. Soll ich den Doc holen?«
Ich presste die Augen zusammen, und spitze Zähne und messerscharfe Krallen blitzten auf. Die Fae brauchten ihre Zähne nicht, wenn sie sich nährten, aber sie setzten sie gerne ein, um ihren Opfern Schmerzen zuzufügen.
»Mom«, krächzte ich, und Ivys Hand verkrampfte sich. Als sie nicht antwortete, zwang ich meine Augen wieder auf. »Sie ist fort, oder?«
Ivy presste die Lippen aufeinander und nickte knapp. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid, Bri.«
Mein Blick wanderte zu Ivys Hand, die meine fest umklammert hielt, doch stattdessen sah ich die blutverschmierte Hand meiner Mutter, die meine drückte. Ich sah, wie sie mir entglitt und wie sämtliche Lebenskraft aus ihr wich.
»Es gab mehrere Angriffe über die ganze Stadt verteilt«, erklärte Ivy und legte auch noch die zweite Hand auf meine, sodass sie sie zwischen ihren Händen hielt. »Darum ist Gerry nicht zu seiner Schicht gekommen. Ren und ich haben ihn gefunden. Und da wussten wir es.« Ihre Stimme wurde heiser, als sie mir die Namen nannte – die Namen derer, die getötet worden waren. Es waren so viele, ein endloser Strom. »Sie haben uns beobachtet. Sie wussten, wo sie uns auflauern mussten. So viel Gewalt, in einer einzigen Nacht.«
Ivy ließ die Stirn auf ihre Hände sinken, doch ich sah nicht Ivy, sondern die fünf Gesichter. Ich erinnerte mich an diese Gesichter. Ich würde sie nie vergessen.
»Du wirst wieder ganz gesund. Der Doc sagt, es ist ein verdammtes Wunder, aber du wirst wieder gesund«, erklärte sie. »Wahrscheinlich musst du noch ein paar Tage hierbleiben, aber dann kannst du mit mir nach Hause kommen, wenn du möchtest. Tink meinte, du könntest sein Zimmer haben …«
»Ich konnte sie nicht aufhalten.«
»Was?« Ivy hob den Kopf. Ihre Augen glänzten.
»Ich konnte mich nicht gegen sie wehren.«
Ivy schüttelte langsam den Kopf. »Bri, ihr seid in einen Hinterhalt geraten und …«
»Ich konnte sie nicht aufhalten!« Der Schrei brannte in meiner geschundenen Kehle, aber es war mir egal. »Sie haben meine Mutter umgebracht, und ich konnte sie nicht aufhalten!«
»Nein.« Ivy stand auf und beugte sich über mich, sodass sie mir direkt in die Augen schaute. »Ich weiß, was du denkst. Glaub mir, ich weiß es. Aber es war nicht deine Schuld. Ich wäre genauso geliefert gewesen, wenn sie mich derart überrascht und eingekreist hätten.«
Aber ich glaubte nicht, dass es so gewesen wäre. Ivy hätte sich mit allen Mitteln gewehrt. Sie hätte nicht nur panisch und kopflos um sich geschlagen. Sie hätte nicht zugelassen, dass sie am Ende vor ihnen auf dem Rücken lag – obwohl uns im Training ständig eingebläut wurde, dass wir es nie so weit kommen lassen durften. Es wäre vielleicht nicht einfach gewesen, aber Ivy wäre am Ende als Siegerin hervorgegangen.
»Das, was sie deiner Mom und dir angetan haben, ist allein ihre Schuld.« Ivy legte ihre Fingerspitzen auf meine Wange. Die Berührung war sanft, als wüsste sie, dass mir alles andere Schmerzen bereitet hätte. »Du hättest nichts tun können, Bri. Nichts. Du hast überlebt. Das ist alles, was zählt. Und es wird wieder gut werden. Alles wird gut werden.«
Ich starrte sie an, und plötzlich erinnerte ich mich, was ich zu Mom gesagt hatte. Ich wusste, dass es eine Lüge gewesen war – genauso wie das hier. Das war nicht alles, was zählte. Und es würde auch nicht wieder gut werden.
Es würde nie wieder gut werden.
3
Zwei Jahre später
Der schwere, rhythmische Bass dröhnte aus den Boxen über mir, und die Musik waberte über die volle Tanzfläche. Glänzende Leiber drehten und bewegten sich unter den blinkenden Scheinwerfern und verloren sich in der Musik und der Nähe der anderen Tänzer. Bei dem Geruch nach Parfum, Rasierwasser und Schweiß drehte sich mir beinahe der Magen um, als ich die Hände hob und mir die langen Haare aus dem feuchten Nacken hob.
Heute Abend war ich eine wilde Rothaarige mit leuchtend roten Lippen.
Gestern Abend war ich eine Verführerin mit rabenschwarzen Haaren und dunkel geschminkten Augen gewesen.
Und am vergangenen Wochenende hatte ich ein naives Blondchen mit zwei Zöpfen und rosigen, glühenden Wangen gemimt.
Ich schlüpfte jedes Mal in eine neue Rolle, aber ich war immer das perfekte Opfer, und jeder Abend endete auf dieselbe Weise.
Ich wiegte meine Hüften im Takt und presste mich an den muskulösen, hitzigen Körper hinter mir, während ich den Blick suchend über die Tanzfläche schweifen ließ.
Seine Hände glitten über die silbernen Pailletten auf meinem Kleid und hielten auf meinem Bauch inne. Er zog mich an sich und presste seine Vorderseite an meine Rückseite.
Es gefiel ihm ganz offensichtlich.
Sehr.
Die forschenden Hände wanderten weiter zu meinen Hüften und schließlich zu meinen Oberschenkeln. Ich ließ meine Haare los, packte ihn an den Handgelenken und warf ein verwegenes Lächeln über die Schulter. »Benimm dich!«
Der namenlose Kerl grinste breit. Er war süß und gute zehn Jahre jünger als ich. Vermutlich ging er an der Loyola oder der Tulane aufs College, was zwei Dinge bedeutete: Er wäre in Ohnmacht gefallen, wenn er gewusst hätte, dass ich bald einunddreißig wurde, und das hier war der letzte Ort, an dem er sein sollte. Ein winziger Teil in mir wollte ihn warnen und ihm sagen, dass er sich seinen Spaß irgendwo anders und nicht ausgerechnet im Flux suchen sollte.
Aber ich war nicht seinetwegen hier.
Ich hielt seine Handgelenke weiterhin fest und ließ meinen Kopf nach hinten auf seine Brust sinken, sodass ich die Tanzfläche und die hufeisenförmige Bar weiter im Auge behalten konnte. Die Nischen um die Tanzfläche lagen im Schatten und waren nicht einsehbar, genauswenig wie der VIP-Bereich, der ein Stockwerk über uns lag.
Genau dort musste ich hin. Weil ich wusste, dass er dort sein würde.
Ein untersetzter, breitschultriger Mann blockierte die Treppe, hinter ihm war eine dicke rote Kordel. In den ersten Stock gelangte man nur mit Einladung, und die Gäste, die dort oben saßen, kamen nie nach unten auf die Tanzfläche. Stattdessen schickten sie Späher aus, die einen bestimmten Typ Mensch auswählten.
Ich war die lebendige Verkörperung dieses Typs – heute Abend wäre es endlich so weit.
»Hey«, sagte der Kerl mit den Lippen an meinem Ohr.
Ich sah mich weiter um. »Hm?«
»Wie heißt du? Ich bin Dale.« Er versuchte erneut, seine Hand weiter nach unten wandern zu lassen, doch ich hielt sie auf meiner Hüfte fixiert.
»Sally«, log ich, als sich eine große, schlanke Frau von der Bar löste und zur Tanzfläche umdrehte. Sie hielt ein Glas mit einer leuchtenden, violetten Flüssigkeit in der Hand. Nachtschatten. Sie hob den Drink an ihre Lippen und beobachtete die Tänzer auf der Tanzfläche.
Ich hatte gefunden, wonach ich gesucht hatte, und ich sah ihr wahres Äußeres.
»Willst du von hier verschwinden, Sally?«, fragte Dale, und seine Lippen strichen über meinen Hals. »Ich kenne da ein nettes Plätzchen.«
»Nein, danke.« Ich ließ seine Handgelenke los, löste mich von ihm und schob mich durch die tanzenden Körper hindurch, bevor mich die Schimpftirade, die er losließ, zu hart treffen konnte.
Ich behielt die Späherin im Auge und drängte mich an einem Pärchen vorbei, das praktisch mitten auf der Tanzfläche zur Sache ging. Ich konnte nicht mal sagen, wo der eine Körper aufhörte und der andere anfing.
Du meine Güte!
Ich kam an einem runden Stehtisch vorbei, griff nach einem vergessenen, halb leeren Glas mit einem pinkfarbenen Drink und machte mich damit auf direktem Weg zur Bar. Sobald ich die tanzenden Leiber hinter mir gelassen hatte, schaltete ich einen Gang zurück, setzte ein unbeeindrucktes Lächeln auf und näherte mich der Frau. Sie sah mich nicht, sondern konzentrierte sich stattdessen auf zwei junge Collegemädchen, die lachend miteinander tanzten und offensichtlich betrunken waren. Sie trat auf die beiden zu.
In diesem Moment stolperte ich mit dem geliehenen Glas in der Hand und rammte ihr die Schulter in den Rücken.
Sie wandte sich langsam und wie eine Schlange zu mir herum. Sie bleckte die Zähne und senkte ihr Glas. In den Augen der anderen Gäste wirkte ihr Lächeln vollkommen normal, aber ich sah die beiden messerscharfen Eckzähne. Es waren keine Reißzähne; sie waren bloß unglaublich scharf, sodass sie Fleisch mühelos zerrissen.
»Es tut mir so leid.« Ich schwankte auf meinen hohen Absätzen und schrie gegen die Musik an, während ich meine freie Hand auf ihren Arm legte. »Jemand hat mich geschubst. Mann! Die Leute hier sind echt unhöflich.«
Sie hob eine dunkle Augenbraue.
»Was trinkst du da? Sieht echt cool aus!«
Die Frau legte den Kopf schief, und ihre blassblauen Augen glitten über jeden Zentimeter meines Körpers, von meinen dicken roten Haaren über die leuchtend roten Lippen bis zum tiefen Ausschnitt des paillettenbesetzten Kleides mit den schmalen Trägern, das mehr zeigte, als es verdeckte. Offensichtlich gefiel ihr, was sie sah, denn ein schmallippiges Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. »Der Drink ist ein bisschen zu stark für dich.«
»Echt?« Ich biss mir auf die Unterlippe. »Ich mag starke Drinks.«
»Wirklich?« Ich nickte, und sie trat näher heran. Sie hatte in etwa meine Größe und sah mir direkt in die Augen. »Wie stark?«
»Extra-stark«, sagte ich und zwang mich, ihrem Blick standzuhalten, während ich kicherte.
Sie legte erneut den Kopf schief. »Da habe ich vielleicht etwas Besseres für dich. Bist du allein hier?«
»Meine Freundinnen sind schon weg. Ich wollte auch los, aber ich glaube, ich halte noch ein bisschen durch.«
»Perfekt.« Ihre schwarzen Pupillen zogen sich einen Moment lang zusammen, und es war so schnell vorbei, dass es jemand anderer wohl gar nicht bemerkt hätte. Ich aber schon. Sie zog mich in ihren Bann. Ich zwang meine Muskeln, sich zu entspannen, und das eifrige Lächeln verschwand. Ich stand schweigend vor ihr und wartete, während sie sich mir langsam näherte. Ihre Lippen strichen über meine, als sie flüsterte: »Komm mit.«
Sie nahm mir den geliehenen Drink ab, stellte ihn auf die Bar und griff mit ihren kalten Fingern nach meiner Hand. Dann führte sie mich mit schnellen, langen Schritten an der Bar vorbei zur Treppe.
Jackpot!
Der Mann am Treppenabsatz trat beiseite, und ein kurzer Blick auf sein ausdrucksloses Gesicht bestätigte mir, dass er ein Mensch war, von dem sich die Fae so lange genährt hatten, bis er vollkommen ihrem Willen unterworfen war. Solche Menschen waren genauso gefährlich und unvorhersehbar wie die Fae selbst.
Die Frau führte mich die breite Wendeltreppe nach oben, und ihr Griff war unerbittlich, während sie mich hinter sich herzerrte. Oben angekommen, bog sie nach rechts auf einen schwach beleuchteten Balkon. Sie stürzte die Hälfte des Nachtschattens hinunter – ein Drink, der für Menschen giftig, aber für die Fae in etwa dieselbe Wirkung wie Tequila hatte – und führte mich zu mehreren Sofas und Stühlen, die bis auf den letzten Platz besetzt waren. Ich sah mehrere Fae, die alle einen in Trance versetzten Menschen neben sich oder auf ihrem Schoß hatten. Vermutlich würde es kein einziger dieser Menschen heute Abend lebend aus dem Club schaffen.
»Sieh mal, was ich gefunden habe, Tobias.« Die Frau zog mich mit einer Kraft nach vorne, die gar nicht zu ihrer gertenschlanken Gestalt passte, und ich ließ es zu und stolperte sogar noch. Die Fae packte meinen Arm und verhinderte so, dass ich direkt auf die Nase fiel.
Mein Blick huschte hin und her, und dann sah ich ihn.
Er saß auf einem kleinen schwarzen Sofa und hatte die Arme und Beine arrogant von sich gestreckt. Eine Sekunde lang sah ich seine menschliche Fassade, doch dann glänzte die blasse Haut plötzlich silbern, obwohl die Haare und die Gesichtszüge die gleichen blieben. Er war blond und attraktiv und sah aus wie ein Collegejunge mit silberfarbener Haut und spitzen Ohren. Er war definitiv einer von ihnen.
Und jetzt hatte ich einen Namen zu dem Gesicht, das ich niemals vergessen würde.
Tobias.
Vorfreude packte mich und schoss durch meine Adern, sodass ich überall am Körper Gänsehaut bekam. Sie waren zu fünft gewesen, und er war einer der drei, die noch übrig waren.
»Du bist immer so gut zu mir, Alyssa«, erklärte er, und seine blassblauen Augen wanderten über meinen Körper. »Du weißt, dass ich eine Schwäche für Rothaarige habe.«
»Eine Schwäche.« Die Fae namens Alyssa ließ meinen Arm los. »Ich würde eher sagen, dass du einen Ständer hast.«
O Mann!
Ich bemühte mich um ein beeindruckend ausdrucksloses Gesicht, als Tobias mich mit einem Kopfnicken zu sich beorderte. Wirklich oscarreif. Ein weiterer Fae trat aus dem Schatten. Er war groß, und es kostete mich einige Beherrschung, um nicht zusammenzuzucken, als er mit den Händen über meinen Körper glitt und mich nach Waffen durchsuchte. Die Fae waren in den letzten beiden Jahren schlauer geworden.
Aber wir auch.
Die Hände des Fae glitten akribisch genau über meine Beine, meine Hüften und schließlich über die breiten Armreifen um meine Handgelenke. »Sie ist sauber.«
»Gut.« Tobias beugte sich nach vorne. »Komm her, Rotkäppchen.«
Ich zwang mich, möglichst langsam und unsicher auf ihn zuzuschwanken, und als er die Hand hob, legte ich meine hinein, obwohl sich mir beinahe der Magen umdrehte.
Tobias zog mich nicht wie erwartet auf seinen Schoß, sondern stand auf. »Wann kommt Aric?«
Aric? Der Name kam mir nicht bekannt vor, allerdings war ich auch nicht allzu oft mit diesen mörderischen, psychopathischen Winterfae zusammen.
»Du hast maximal eine Stunde.« Alyssa warf sich auf das Sofa. »Mach was draus.«
»Darauf kannst du wetten.« Er schlang einen Arm um meine Hüfte und zog mich an sich. Er roch gut. Wie Winterminze. Das taten sie alle. Außerdem sahen sie alle gut aus. Und dieser Fae war ganz offensichtlich auf mehr aus, als sich bloß von mir zu nähren. »Willst du dann auch noch was?«
»Klar«, gurrte die weibliche Fae. »Wenn noch etwas übrig ist.«
Tobias hob mich ohne Vorwarnung hoch und warf mich über die Schulter wie ein verdammter Neandertaler seine Beute. Ich ließ mich wie ein nasser Sack die kurze Entfernung tragen. Eine Tür ging auf, und wir befanden uns in einem Zimmer, in dem sicher schon eine Menge schrecklicher Dinge passiert waren. Er trat die Tür hinter uns zu, und ich hörte, wie sich der Schlüssel drehte, ohne dass er ihn berührt hatte.
Seine Hände umfassten meinen Hintern, während er mich abstellte. Einige Haarsträhnen waren in mein Gesicht gefallen, und ich stand regungslos vor ihm, während er sie mir hinter die Ohren steckte. »Weißt du, warum ich Rothaarige so gerne mag? Nein. Natürlich nicht.«
Ich blinzelte langsam und sah mich in dem Zimmer um. Es gab einen Stuhl und ein Bett, das aussah, als würde es oft benutzt. Mein Magen zog sich vor Übelkeit zusammen. Aber er ging nicht zum Bett, sondern zu dem thronähnlichen Stuhl, der mit rotem Samt bezogen war. Er setzte sich und starrte zu mir hoch.
»Komm schon. Nicht so schüchtern.« Seine blassen Augen loderten. »Wir werden einander jetzt mal besser kennenlernen, okay?«
»Ja?«, flüsterte ich.
Seine Lippen verzogen sich zu einem kaum merklichen Lächeln, als er mich mit dem Finger zu sich rief. »Dann komm.«
Ich zwang mich, das Lächeln zu erwidern, und taumelte auf ihn zu. Ich schnappte nach Luft, als er mich an den Hüften packte und mich auf seinen Schoß zog, und dieses Mal war es nicht gespielt. Mein Rock rutschte über die Oberschenkel hoch, und er spielte mit den Trägern meines Kleides und zeichnete den V-Ausschnitt mit dem Finger nach.
»Willst du mich?«, fragte er.
Es war eine seltsame, unnötige Frage. Da hatte wohl jemand Probleme mit dem Selbstwertgefühl. »Ja.«
»Du lässt mich doch alles mit dir machen, nicht wahr?«
Ich zwang mich zu einem Nicken. »Ja.«
»Dann berühre mich«, befahl er leise.
Ich biss die Zähne zusammen, während ich ihm die Hände auf die Schultern legte und sie dann über seine Brust gleiten ließ.
»Ehrlich gesagt, mag ich Rothaarige gar nicht.« Seine Hand schoss vor und schloss sich um meinen Hals. »Ich hasse sie.«
Verdammt!
Er drückte nicht gerade sanft zu, und als er mich nach vorne zog, gruben sich seine Finger in meine Luftröhre. Sein eisiger Atem tanzte über meine Lippen, und ich fuhr unter dem Schmerz zusammen.
»Und weißt du warum?« Seine andere Hand wanderte meine Wirbelsäule nach unten. »Weil sie mich an diese Schlampe erinnern. Den Halbling.«
Ich wusste genau, wen er meinte.
Ivy Morgan. Nein, Moment, sie hieß mittlerweile Ivy Owens, nachdem Ren und sie an Weihnachten geheiratet hatten.
Im nächsten Moment presste sich sein Mund auf meinen; ich hatte keine Chance, es kommen zu sehen. Lippen. Zähne. Zunge. Der Kuss war hart und brutal, und ich fragte mich, ob er wusste, wie man küsste, oder ob ihn das überhaupt kümmerte. Er ließ meinen Hals los. Vermutlich würden einige Blutergüsse zurückbleiben.
Ich hielt still, während er die Träger meines Kleides nach unten schob, denn ich wurde von der stärksten Kraft getrieben, die ein Mensch kennt.
Rache.
Ich war so nahe dran. Ich schmeckte den süßen Geschmack der Vergeltung bereits auf meiner Zunge. Er brannte sich durch die Eiseskälte, die sein Kuss hinterließ.