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Titel der amerikanischen Originalausgabe

BLOOD KISSBLACK DAGGER LEGACY


Deutsche Übersetzung von Julia Walther


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Deutsche Erstausgabe 06/2016

Redaktion: Bettina Spangler

Copyright © 2015 by Love Conquers All, Inc.

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Animagic GmbH, Bielefeld,

unter Verwendung eines Motivs von Fotolia / VALUA VITALITY

ISBN 978-3-641-18987-7
V003

www.heyne.de

Für den Kleinen, in Liebe.

Danksagung

Ein riesengroßes Dankeschön an meine Leser und alle, die die Bruderschaft der Black Dagger so sehr lieben wie ich. Mein Dank gilt außerdem Steven Axelrod, Kara Welsh, Leslie Gelbman und allen Mitarbeitern bei NAL!

Vor allem aber danke ich Team Waud und meiner Familie, sowohl der blutsverwandten als auch der frei gewählten.

Und wie immer meinem wunderbaren WriterAssistant Naamah.

Glossar der Begriffe und Eigennamen

Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.

Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. Sie werden als Angehörige der Aristokratie betrachtet, obwohl sie eher spirituell als weltlich orientiert sind. Normalerweise pflegen sie wenig oder keinen Kontakt zu männlichen Vampiren; auf Weisung der Jungfrau der Schrift können sie sich aber mit einem Krieger vereinigen, um den Fortbestand ihres Standes zu sichern. Einige von ihnen besitzen die Fähigkeit zur Prophezeiung. In der Vergangenheit dienten sie alleinstehenden Brüdern zum Stillen ihres Blutbedürfnisses. Diese Praxis wurde von den Brüdern wieder aufgenommen.

Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.

Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge selektiver Züchtung innerhalb der Rasse besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.

Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.

Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.

Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs- und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.

Dhunhd – Hölle.

Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.

Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.

Gesellschaft der Lesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.

Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.

Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.

Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.

Hohe Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.

Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.

Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König als Beraterin dient sowie die Vampirarchive hütet und Privilegien erteilt. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und besitzt umfangreiche Kräfte. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.

Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.

Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren sie ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.

Lewlhen – Geschenk.

Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.

Lhenihan – Mystisches Biest, bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von übermäßiger Größe und Ausdauer.

Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.

Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.

Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.

Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.

Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.

Novizin – Eine Jungfrau.

Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.

Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.

Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.

Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.

Rahlman – Retter.

Rythos – Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Beleidiger entgegen.

Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.

Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.

Symphath – Eigene Spezies innerhalb der Vampirrasse, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Symphathen oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sind heute nahezu ausgestorben.

Trahyner – Respekts- und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.

Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.

Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.

Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«, in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber ganz ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur, solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.

Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise ausgeführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.

Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.

Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.

Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.

1

Audienzhaus des Königs

Caldwell, NY

Manche Abschlussfeiern fanden in ganz privatem Rahmen statt.

Manche dieser wichtigen Meilensteine zu Beginn eines neuen Lebenskapitels brauchten weder Hut noch Talar und erst recht kein Orchester, das den typischen »Pomp and Circumstance«-Marsch der Menschen spielte. Es gab keine Bühne zu betreten, kein Diplom, das man sich an die Wand hängen konnte. Und auch keine Zeugen.

Manche dieser einschneidenden Momente zeichneten sich dadurch aus, dass sie ganz unspektakulär und überhaupt nicht besonders waren. Wie zum Beispiel, wenn jemand den Finger nach einem Dell-Computermonitor ausstreckte, um den kleinen blauen Knopf in der rechten unteren Ecke des Bildschirms zu drücken. Eine völlig alltägliche Handlung, die viele Male pro Woche, pro Monat, pro Jahr ausgeführt wird – und doch symbolisierte sie in diesem speziellen Fall eine einschneidende Trennung zwischen Vorher und Nachher.

Paradise, Tochter des Abalone, oberster Berater von Wrath, Sohn des Wrath, Vater des Wrath, König aller Vampire, lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und starrte auf den nun schwarzen Bildschirm vor sich. Wow. Die Nacht, auf die sie so lange gewartet hatte, stand fast vor der Tür.

Während der vergangenen acht Wochen war die Zeit größtenteils im Schneckentempo vorangekrochen, um in den letzten Nächten dann plötzlich einen Zahn zuzulegen und auf Turbomodus zu schalten. Nachdem Paradise endlose Stunden des Wartens bis zum Aufgehen des Mondes ertragen hatte, verspürte sie auf einmal das Bedürfnis, das Tempo wieder zu drosseln.

Ihr erster Job gehörte nun der Vergangenheit an.

Nach einem letzten Kontrollblick über den Schreibtisch stellte sie das Bürotelefon ein paar Zentimeter weiter nach rechts, um es dann auf seine ursprüngliche Position zurückzuschieben. Sie rückte den Buntglasschirm der Tiffany-Lampe gerade. Vergewisserte sich, dass die blauen Stifte im einen und die roten ordentlich im anderen Behälter steckten. Strich mit der Hand über die staubfreie Schreibunterlage und die Oberkante des Monitors.

Das Wartezimmer war leer, die seidenbezogenen Stühle nicht besetzt. Alle Zeitschriften lagen ordentlich gestapelt auf den Beistelltischen, und die von den Doggen vorhin für die Wartenden servierten Getränke waren wieder weggeräumt.

Der letzte Zivilist war vor ungefähr einer halben Stunde gegangen. Bis zur Morgendämmerung blieben noch etwa zwei Stunden. Alles in allem ein normales Ende einer Nacht harter Arbeit, der Zeitpunkt, an dem ihr Vater und sie üblicherweise nach Hause zurückkehren würden, um eine Mahlzeit einzunehmen, sich respektvoll zu unterhalten und Pläne zu schmieden.

Paradise beugte sich vor und spähte durch den Torbogen des Empfangszimmers hindurch. Auf der anderen Seite der Eingangshalle war die große Flügeltür geschlossen, die in den ehemaligen offiziellen Speisesaal des Anwesens führte.

Ja, eine ganz gewöhnliche Nacht, abgesehen von dem höchst ungewöhnlichen Treffen, das in diesem Raum gerade stattfand. Direkt nachdem der letzte Termin gegangen war, hatte man ihren Vater ins Audienzzimmer gerufen und diese Tür fest verschlossen.

Abalone war nun mit dem König sowie zwei Mitgliedern der Bruderschaft der Black Dagger dort drin.

»Tut mir das nicht an«, murmelte sie. »Nehmt mir das nicht weg.«

Paradise stand auf und ging im Zimmer umher, wobei sie die Zeitschriften erneut gerade rückte, die Dekokissen aufschüttelte und schließlich vor dem Ölgemälde eines französischen Königs stehen blieb.

Auf dem Weg zurück zum Torbogen konnte sie den Blick nicht von der geschlossenen Holztür des Speisesaals abwenden, während sie dem lauten Pochen ihres Herzens lauschte.

Sie hob die Hände und studierte die Schwielen in ihren Handflächen. Sie stammten nicht von ihrer Arbeit hier für ihren Vater und die Bruderschaft während der vergangenen paar Monate, wo sie die Termine organisiert und über die verschiedenen Angelegenheiten, Entscheidungen und Konsequenzen Buch geführt hatte. Nein, zum ersten Mal in ihrem Leben war sie im Fitnessstudio gewesen. Hatte Gewichte gestemmt. War auf Laufbändern gejoggt. Hatte sich auf dem Stairmaster gequält. Klimmzüge, Liegestützen, Crunches, Rudermaschine.

Bis dato hatte sie nicht einmal gewusst, was eine Rudermaschine war.

Und alles als Vorbereitung auf morgen Nacht.

Vorausgesetzt, diese Gruppe von Männern im Audienzzimmer des Königs nahm ihr das nicht weg.

Morgen, um Mitternacht, sollte sie eine ihr unbekannte Anzahl anderer Vampire und Vampirinnen an einem geheimen Ort treffen, wo sie versuchen würden, sich für das Trainingsprogramm der Bruderschaft der Black Dagger zu qualifizieren.

Es war ein guter Plan. Etwas, das sie sich in den Kopf gesetzt hatte, eine Chance, unabhängig zu werden, es mal ordentlich krachen zu lassen und sich selbst zu beweisen, dass sie mehr war als ihr Stammbaum. Das Problem dabei war, dass sich Adelstöchter der Glymera, wenn sie noch dazu aus einer der Gründerfamilien stammten, nicht zu Kriegerinnen ausbilden ließen. Sie hantierten nicht mit Schusswaffen oder Messern. Sie lernten nicht, zu kämpfen oder sich zu verteidigen. Sie wussten nicht einmal, was ein Lesser war.

Sie hatten mit Soldaten absolut nichts zu tun.

Töchter wie Paradise wurden in der Kunst des Stickens, in klassischer Musik und Gesang ausgebildet. Man brachte ihnen gute Manieren bei und wie man einen riesigen Haushalt voller Doggen führt. Man erwartete von ihnen, dass sie mit dem komplizierten Kalender gesellschaftlicher Ereignisse und den Festivitätenzyklen vertraut waren, sich mit der damit verbundenen Kleiderordnung und Ähnlichem auseinandersetzten und den Unterschied zwischen Van Cleef & Arpels, Boucheron und Cartier kannten. Sie wurden sicher verwahrt, gehegt und behütet, wie man das mit kostbaren Dingen eben so tat.

Das einzig Gefährliche, das man ihnen gestattete, war sich fortzupflanzen. Und zwar mit einem Hellren, der von der Familie auserwählt wurde, um die Reinheit der Blutlinie zu sichern.

Es war ein Wunder, dass ihr Vater ihr das mit dem Trainingsprogramm nicht strikt verboten hatte.

Als sie ihm die Ausschreibung das erste Mal gezeigt hatte, war er natürlich dagegen gewesen – aber dann hatte er es sich anders überlegt und ihr erlaubt, sich zumindest dafür zu bewerben. Die Überfälle vor ein paar Jahren, bei denen so viele Vampire durch die Gesellschaft der Lesser getötet worden waren, hatten schließlich gezeigt, was für ein gefährlicher Ort Caldwell, New York, sein konnte. Außerdem hatte Paradise ihm versichert, dass sie nicht in den Krieg ziehen und kämpfen wollte. Sie wollte bloß lernen, sich selbst zu verteidigen.

Sobald sie es ihm als Investition in ihre persönliche Sicherheit verkauft hatte, hatte ihr Vater seine Meinung geändert.

In Wahrheit wollte sie einfach nur etwas haben, das ihr gehörte. Eine Identität, die einer anderen Quelle entstammte als das, was ihr Geburtsrecht ihr auferzwungen hatte.

Außerdem hatte Peyton behauptet, dass sie es nicht schaffen würde.

Weil sie eine Frau war.

Bullshit.

Paradise warf wieder einen Blick auf die geschlossenen Flügeltüren. »Kommt schon …«

Auf ihrer unruhigen Wanderung gelangte sie schließlich hinaus in die Empfangshalle, aber sie wollte den Männern bei ihrem Treffen nicht zu nahe kommen, als könne das Unglück bringen.

Himmel noch mal, was redeten denn die da drin so lange?

Normalerweise brach der König direkt nach der letzten Audienz der Nacht auf. Wenn er und die Bruderschaft irgendwelche privaten Angelegenheiten oder Dinge bezüglich des Krieges zu klären hatten, dann taten sie das in der Residenz der Hohen Familie, einem Ort, der so geheim war, dass nicht einmal ihr Vater je dorthin eingeladen gewesen war.

Also musste es hier tatsächlich um sie gehen.

Paradise kehrte an ihren Schreibtisch zurück und rechnete nach, wie viele Stunden sie wohl dort gesessen hatte. Sie hatte den Job zwar nur ein paar Monate gemacht, aber die Arbeit gefiel ihr – bis zu einem gewissen Punkt. In ihrer Abwesenheit, vorausgesetzt sie wurde tatsächlich in das Trainingsprogramm aufgenommen, würde eine Cousine sie vertreten. Die vergangenen sieben Nächte hatte Paradise damit verbracht, das Mädchen einzulernen und ihm die Abläufe zu erklären, um sicherzugehen, dass der Wechsel reibungslos verlief.

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, zog die mittlere Schublade auf und nahm ihre Bewerbung heraus, als könnte ihr diese irgendwie Sicherheit geben, dass es noch klappen würde.

Mit den Unterlagen in der Hand überlegte sie, wer morgen wohl sonst noch zur Einführungsveranstaltung kommen würde … und musste prompt an den Kerl denken, der hier im Audienzhaus aufgetaucht war und um eine ausgedruckte Version der Bewerbungsunterlagen gebeten hatte.

Groß, breite Schultern, tiefe Stimme. Eine Syracuse- Baseballkappe auf dem Kopf und mit Jeans, die von echter Arbeit abgewetzt zu sein schienen.

Die Gemeinde der Vampire war nicht gerade groß, aber ihn hatte sie zuvor noch nie gesehen. Vielleicht war er Zivilist? Auch das war eine weitere Änderung in den Statuten des Trainingsprogramms. Bisher durften sich nämlich lediglich männliche Vampire aus der Glymera der Bruderschaft anschließen.

Er hatte ihr zwar seinen Namen genannt, sich aber geweigert, ihr die Hand zu geben.

Craeg. Das war alles, was sie wusste.

Unhöflich war er aber nicht gewesen. Um genau zu sein, hatte er sie in ihrer Bewerbung bestärkt.

Er war außerdem auf eine Art … faszinierend gewesen, die Paradise geschockt hatte. Und zwar so faszinierend, dass sie wochenlang darauf gewartet hatte, ob er seine Unterlagen persönlich abgeben würde. Hatte er aber nicht. Vielleicht hatte er das Ding eingescannt und per Mail geschickt.

Oder er hatte beschlossen, sich gar nicht erst für das Programm zu bewerben.

Es schien verrückt, enttäuscht darüber zu sein, dass sie ihn vielleicht nie wiedersehen würde.

Als sich ihr Handy meldete, zuckte sie zusammen und zog es aus der Tasche. Peyton. Schon wieder.

Sie würde ihn bei der Einführungsveranstaltung morgen Nacht sehen – und das wäre noch früh genug. Nach diesem Streit wegen ihrer Bewerbung hatte sie sich von ihm zurückgezogen.

Andererseits, falls die Bruderschaft da drin mit ihrem Vater ein Machtwort sprach? Dann konnte sie sich ihren Ärger über den Kerl sparen. Aber es hieß doch ausdrücklich, dass Frauen sich ebenfalls bewerben durften!

Paradise war nur leider keine »normale« Frau.

Verdammt, sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, falls ihr Vater seine Erlaubnis zurückzog. Die Bruderschaft konnte ihr doch aber nicht im allerletzten Moment einen Platz verweigern.

Oder etwa doch?

Am anderen Ende der Stadt lehnte sich Marissa, Shellan von Butch O’Neal alias Dhestroyer, Mitglied der Bruderschaft der Black Dagger, in ihrem Bürostuhl im Refugium zurück. Als das Ding dabei ein Knarzen von sich gab, tippte sie ungeduldig mit dem Kugelschreiber auf die OfficeMax-Schreibtischunterlage und schob den Telefonhörer ans andere Ohr.

Den geschwätzigen Redestrom unterbrechend, sagte sie: »Ich weiß die Einladung durchaus zu schätzen, aber ich kann leider …«

Die Frau am anderen Ende ließ sich jedoch nicht aus dem Konzept bringen, sondern plapperte einfach unbeirrt weiter, wobei ihr vornehm näselnder Tonfall die gesamte Bandbreite der Datenübertragung einzunehmen schien – sodass es an ein Wunder grenzte, dass nicht der gesamte Stadtteil einem Stromausfall zum Opfer fiel. »… und da könnt Ihr sicher verstehen, weshalb wir Eure Hilfe benötigen. Es handelt sich um den ersten festlichen Ball, der seit den Überfällen veranstaltet wird. Als Shellan eines Mitglieds der Bruderschaft und Angehörige einer Gründerfamilie wärt Ihr die perfekte Vorsitzende für dieses Ereignis …«

Marissa versuchte ein zweites Mal, mit ihrem Nein dem Redefluss Einhalt zu gebieten: »Ich weiß nicht, ob Ihr Euch dessen bewusst seid, aber als Leiterin des Refugiums arbeite ich Vollzeit und …«

»… und Euer Bruder meinte, Ihr wärt eine gute Wahl.«

Marissa verstummte.

Ihr erster Gedanke war, dass es höchst unwahrscheinlich war, dass Havers, der Arzt der Vampirspezies und Marissas nächster Angehöriger, sie für irgendetwas anderes als einen frühen Tod vorschlug, zumal sie völlig mit ihm zerstritten war. Ihr zweiter Gedanke war eher eine Rechnung: Wie lange war es her, seit sie das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte? Zwei Jahre? Drei? Seit er sie damals aus dem Haus geworfen hatte, ungefähr fünf Minuten vor Tagesanbruch, weil er herausgefunden hatte, dass sie sich für einen Menschen interessierte.

Der sich dann als Wraths Cousin und die Verkörperung der Zerstörer-Legende entpuppt hatte.

Na, was sagst du jetzt, ging es ihr durch den Kopf.

»Deshalb müsst Ihr einfach den Vorsitz für das Event übernehmen«, schloss die Dame. Als wäre damit alles geklärt.

»Ich bitte vielmals um Verzeihung.« Marissa räusperte sich. »Aber mein Bruder hat keinerlei Befugnis, meinen Namen für irgendein Amt vorzuschlagen, da wir schon seit geraumer Zeit keinen Kontakt mehr haben.«

Als daraufhin eine geballte Ladung Schweigen aus dem Hörer drang, kam Marissa zu dem Schluss, dass sie die schmutzige Wäsche ihrer Familie bereits vor zehn Minuten hätte waschen sollen: Angehörige der Glymera hatten einen strengen Verhaltenskodex zu befolgen, und offen über das ungeheure Zerwürfnis in ihrer Familie zu sprechen, gehörte – obwohl ohnehin jeder davon wusste – zu den Dingen, die man einfach nicht tat.

Da war es schon wesentlich angebrachter, dass andere sich hinter vorgehaltener Hand das Maul darüber zerrissen.

Leider erholte sich die Dame am anderen Ende schnell und änderte ihre Taktik. »Wie dem auch sei, es ist von großer Wichtigkeit für alle Mitglieder unseres Volkes, die Feste wieder aufleben zu lassen …«

Ein Klopfen an der Bürotür zog Marissas Aufmerksamkeit auf sich. »Ja, bitte?«

Woraufhin die Anruferin erfreut zwitscherte: »Wunderbar! Ihr könnt zu mir nach Hause in mein Anwesen …«

»Nein, nein. Hier ist jemand, der zu mir will.« Dann sagte sie lauter: »Herein.«

Beim Anblick von Marys Gesichtsausdruck fluchte sie innerlich. Keine guten Nachrichten. Rhages Shellan war der Inbegriff von Professionalität, und wenn sie so eine Miene machte, dann gab es wirklich ein Problem.

War das etwa Blut auf ihrer Bluse?

Marissa wandte sich wieder dem Telefon zu und ließ nun sämtliche Zugeständnisse an die Höflichkeit fallen. »Meine Antwort lautet Nein. Mein Beruf nimmt meine gesamte Zeit in Anspruch. Außerdem solltet Ihr die Aufgabe am besten selbst übernehmen, wenn Ihr so begeistert davon seid. Auf Wiederhören.«

Sie legte auf und erhob sich. »Was ist passiert?«

»Wir haben einen Neuzugang, der sofort medizinische Hilfe braucht, aber ich erreiche weder Doc Jane noch Ehlena. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

Marissa lief um den Schreibtisch herum. »Wo ist sie?«

»Unten.«

Die beiden eilten im Laufschritt die Treppe hinunter, Marissa vorneweg. »Wie ist sie zu uns gekommen?«

»Keine Ahnung. Eine der Überwachungskameras hat sie draußen auf dem Rasen entdeckt, auf allen vieren.«

»Wie bitte?«

»Daraufhin hat mein Handy Alarm geschlagen, und ich bin sofort mit Rhym rausgerannt. Wir haben sie in den Salon getragen.«

Als Marissa unten um die Ecke bog, rutschte sie beinahe auf einem der Läufer aus.

Dann blieb sie wie angewurzelt stehen.

Beim Anblick der Frau auf dem Sofa schlug sie die Hand vor den Mund. »Um der Jungfrau willen …«, flüsterte sie.

Blut. Überall war Blut, in Rinnsalen auf dem Fußboden, es durchweichte weiße Handtücher auf Wunden und sammelte sich in einer Lache unter einem der Füße der jungen Frau.

Das Mädchen war dermaßen schlimm zugerichtet, dass man es unmöglich identifizieren konnte. Anhand des zugeschwollenen Gesichts hätte man nicht einmal sagen können, ob sie Mann oder Frau war, wären da nicht die langen Haare und ein zerrissener Rock gewesen. Ein Arm war eindeutig ausgekugelt und baumelte vom Schultergelenk herab. Am linken Fuß trug sie einen hochhackigen Schuh, ihre Strümpfe waren zerrissen.

Ihre Atmung war schlecht, sehr schlecht. Nur noch ein Rasseln in ihrer Brust, als würde sie an ihrem eigenen Blut ertrinken.

Rhym, die verantwortlich war für die Aufnahme der Patientinnen, blickte von ihrer hockenden Haltung vor der Couch auf. Mit Tränen in den Augen flüsterte sie: »Ich glaube nicht, dass sie es schafft. Wie soll sie überleben …?«

Marissa musste sich zusammenreißen. Sie hatte keine andere Wahl. »Doc Jane und Ehlena sind beide nicht erreichbar?«, krächzte sie.

»Ich habe es im Wohnhaus versucht«, antwortete Mary. »In der Klinik. Auf dem Handy. Alles zweimal.«

Für den Bruchteil einer Sekunde wurde Marissa von Angst gepackt, was das für ihr eigenes Leben bedeuten könnte. Steckte die Bruderschaft in medizinischen Schwierigkeiten? War mit Butch alles in Ordnung?

Doch das dauerte nur einen Augenblick. »Gib mir dein Telefon – und bring die anderen Patientinnen in den Wellsie-Trakt. Ich will, dass alle sich dort sammeln, falls ich ein männliches Wesen ins Haus lassen muss.«

Mary warf ihr das Telefon zu und nickte. »Bin schon unterwegs.«

Das Refugium war genau das, was sein Name versprach – ein sicherer Rückzugsort für weibliche Opfer häuslicher Gewalt, die dort Schutz suchen und sich zusammen mit ihrem Nachwuchs erholen konnten. Und nachdem Marissa unzählige sinnlose Jahrhunderte in der Glymera verbracht hatte, wo sie nichts war als die verschmähte Verlobte des Königs, hatte sie hier ihre Berufung gefunden, im Dienste jener, die im besten Fall verbal gedemütigt und im schlimmsten auf entsetzliche Art misshandelt worden waren.

Männer hatten hier keinen Zutritt.

Aber um das Leben dieser Frau zu retten, würde sie die Regel brechen.

Geh an dein Handy, Manny, dachte sie, als das erste Klingelzeichen zu hören war. Geh an dein verdammtes Handy