Tamons Geschichte

Über Seishū Hase

Foto: © Bungeishunju Ltd.

Seishū Hase wurde 1965 in Hokkaido geboren. Er ist ein Bestsellerautor, der in Japan zahlreiche Bücher veröffentlicht hat, von denen einige verfilmt wurden. Für Tamons Geschichte wurde er mit einem der wichtigsten Literaturpreise seines Landes ausgezeichnet.

 

Die Übersetzerin

Luise Steggewentz, geboren 1988, studierte in München Japanologie und Literarisches Übersetzen. Sie übertrug u.a. Durian Sukegawa, Emi Yagi und verschiedene Kinder- und Jugendbücher ins Deutsche. Luise Steggewentz lebt in Tokio.

Am Rande des Parkplatzes saß ein Hund. Er trug ein Halsband, war aber nicht angeleint. Vielleicht wartete er darauf, dass sein Herrchen oder Frauchen vom Einkaufen zurückkam. Der Hund hatte ein kluges Gesicht, machte jedoch einen ausgezehrten Eindruck.

Ob er einem der Menschen gehört, die bei dem Tsunami ihr Haus verloren haben, fragte sich Kazumasa Nakagaki, während er einparkte.

Ein halbes Jahr war seit dem großen Erdbeben und der Tsunamikatastrophe im Norden Japans vergangen. Viele Menschen lebten noch immer in Notunterkünften. Manche schliefen mit ihren Hunden oder Katzen in Autos, da in den Unterkünften ein Haustierverbot galt, wie Kazumasa gehört hatte.

Er stieg aus und betrat den Convenience Store, wo er sich ein süßes Brötchen und eine Schachtel Zigaretten kaufte. Im Automaten neben der Kasse ließ er sich einen Kaffee aufbrühen, dann zündete er sich bei den Aschenbechern vor dem Laden eine Zigarette an. Er riss die Plastikverpackung des Brötchens auf und biss zwischen den Zügen davon ab.

Der Hund war noch immer da. Reglos blickte er Kazumasa an.

»Moment mal …«

Nachdenklich zog Kazumasa die Augenbrauen zusammen. Im

»Ist dein Herrchen auf der Toilette?«, rief er dem Hund zu. Der reagierte sofort und kam langsam näher.

Er ähnelte einem Schäferhund, war aber etwas kleiner, hatte längere Ohren und eine längere Nase. Wahrscheinlich ein Schäferhundmischling, dachte Kazumasa.

Der Hund blieb direkt vor ihm stehen, streckte seine Schnauze in die Luft und schnupperte. Der Zigarettenqualm war es mit Sicherheit nicht, der ihn so interessierte.

»Meinst du das hier?«

Kazumasa streckte dem Hund das Brötchen entgegen. Sofort tropfte ihm Speichel aus dem Maul.

»Bist hungrig, was?«

Kazumasa riss ein Stück Brötchen ab und hielt es dem Hund vor die Schnauze. Eifrig schnupperte dieser daran, bevor er vorsichtig zu fressen begann.

»Du scheinst richtig ausgehungert zu sein. Warte mal.«

Kazumasa drückte seine Zigarette aus, stellte den Kaffeebecher auf dem Aschenbecher ab und betrat erneut den Laden, wobei er sich den Rest des Brötchens in den Mund stopfte.

Er kaufte eine Packung Hähnchenstreifen. Der Hund folgte ihm durch die Schaufensterscheibe hindurch mit seinem Blick.

»Wissen Sie, wo sein Besitzer ist?«, fragte Kazumasa den Verkäufer.

Dieser warf einen kurzen gelangweilten Blick nach draußen. »Keine Ahnung«, meinte er. »Der ist schon seit heute Morgen hier. Ich rufe später beim Gesundheitsamt an.«

»Verstehe.«

Mit den Hundesnacks in der Hand ging Kazumasa zurück zu den Aschenbechern. Der Hund wedelte mit dem Schwanz.

»Hier, friss!«

Kazumasa gab ihm noch einen und noch einen und noch einen. In weniger als fünf Minuten war die Packung leer.

»Du hattest mächtig Kohldampf, was?«

Kazumasa streichelte den Hund am Kopf. Er zeigte weder Freude noch Angst, sondern beobachtete Kazumasa bloß stumm.

»Lass mal sehen.«

Kazumasa griff nach dem Halsband des Hundes. Es war aus Leder, und ein Schild war daran befestigt.

»Tamon«, las er. »Du heißt Tamon? Seltsamer Name.«

Eigentlich hatte er gehofft, die Adresse oder Telefonnummer des Besitzers herauszufinden, aber außer dem Namen des Hundes stand dort nichts.

Kazumasa zündete sich eine zweite Zigarette an und nippte an seinem Kaffee. Tamon wich ihm nicht von der Seite. Er saß ganz ruhig neben ihm, ohne um mehr Essen zu betteln oder weitere Streicheleinheiten einzufordern.

Vielleicht war das seine Art, sich für das Futter zu bedanken.

»Ich muss langsam mal weiter«, sagte Kazumasa, als er zu Ende geraucht hatte.

Dieser Abstecher zum Convenience Store hatte nur eine kurze Pause sein sollen, um seinen Hunger zu stillen. Kazumasas Arbeitstag als Lieferfahrer war noch nicht zu Ende. Vor dem Erdbeben hatte er bei einem Fischverarbeitungsbetrieb gearbeitet, doch das Unternehmen war durch die Katastrophe bankrottgegangen. Danach hatte er eine Zeit lang von seinen mageren Ersparnissen leben müssen, bis er endlich diese neue Anstellung gefunden hatte. Er durfte sie auf keinen Fall wieder verlieren.

Kazumasa stieg zurück in seinen Wagen und stellte den

Noch immer saß Tamon bei den Aschenbechern und beobachtete ihn.

Kazumasa gingen die Worte des Verkäufers durch den Kopf. »Ich rufe später beim Gesundheitsamt an«, hatte er gesagt.

Was würde mit dem Hund passieren, wenn das Amt ihn mitnähme? Wenn sich niemand seiner annehmen würde, würde man ihn bestimmt einschläfern lassen.

Kurz entschlossen lehnte sich Kazumasa vor und öffnete die Tür auf der Beifahrerseite.

»Spring rein!«, rief er Tamon zu. Der Hund stürmte zum Auto und sprang hinein.

»Aber bloß nicht in meinen Wagen pinkeln«, warnte ihn Kazumasa.

Tamon nahm seelenruhig den Platz auf dem Beifahrersitz ein, als gehörte er schon immer hierher.

***

»Was ist das für ein Köter?«

Numaguchi warf einen kritischen Blick auf Kazumasas Wagen, während er seine Scheine zählte. Tamon, der noch immer auf dem Beifahrersitz saß, beobachtete die beiden Männer durch die Fensterscheibe. Sie standen am Rande eines Lagerhausviertels in der Nähe des Sendaier Flughafens.

»Mein neues Haustier«, gab Kazumasa zurück.

»Du hast genug Kohle, um einen Köter durchzufüttern?«

Numaguchi stopfte die Scheine in den Umschlag zurück und steckte sich eine Zigarette in den Mund. Wie selbstverständlich holte Kazumasa ein Feuerzeug hervor und zündete sie ihm an.

Die beiden kannten sich noch aus Schulzeiten. Numaguchi

Aktuell war er in den Handel mit Diebesgut verwickelt.

Als Kazumasas Ersparnisse nach seinem Arbeitsplatzverlust restlos erschöpft gewesen waren, hatte er sich aus Verzweiflung an Numaguchi gewandt und von ihm seine jetzige Stelle als Lieferfahrer erhalten.

»Ich muss auf den Hund aufpassen, geht nicht anders«, sagte Kazumasa vage.

Wenn er zugeben würde, dass er Tamon während seiner Arbeitszeit aufgelesen hatte, würde Numaguchis Faust in seinem Gesicht landen, da war er sich sicher.

»Ein Verwandter von dir kann ihn nicht mehr halten, was?«, meinte Numaguchi. »Na, wundern tut es mich nicht. Die Katastrophe ist ja noch nicht einmal ein halbes Jahr her.«

Numaguchi blies Rauch in die Luft und ließ dabei seinen Blick schweifen.

Im Osten des Lagerhausviertels war der Pazifische Ozean zu sehen. Vor der Katastrophe hatten sich in dieser Gegend Gebäude jedweder Größe dicht aneinandergereiht, doch der Tsunami hatte sie weggespült oder stark beschädigt.

»Im letzten halben Jahr wurde hier einiges wiederaufgebaut, aber so wie früher ist es noch lange nicht«, bemerkte Numaguchi.

Die Straße, die aufgebrochen und mit Schutt überhäuft gewesen war, war wieder instand gesetzt worden, doch die Reparaturen an den Gebäuden gingen nur schleppend voran. Numaguchi hatte die Lagerhalle einer Spedition angemietet,

»Bring dem Köter wenigstens bei zu bellen, wenn Bullen im Anmarsch sind«, sagte Numaguchi.

»Ob das geht?«

»Klar. Diese Viecher sind ziemlich schlau.«

»Na gut, ich versuche es.«

»Und noch was«, sagte Numaguchi, »ich habe eine Bitte.«

»Eine Bitte?«

»Beziehungsweise einen Vorschlag. Ich hätte einen Job für dich, der mehr Kohle bringt als diese Lieferfahrten. Du hast früher auf einer großen Rennstrecke bei Gokart-Rennen mitgemacht, oder?«, fragte Numaguchi.

»Das ist aber schon eine Ewigkeit her.«

Als Jugendlicher hatte Kazumasa davon geträumt, Formel-1-Pilot zu werden, doch der Traum war zerplatzt, als ihm im dritten Jahr der Mittelschule klargeworden war, dass er zu wenig Talent besaß. Seitdem hatte er nicht mehr in einem Kart gesessen.

»Es heißt doch, was man als Jugendlicher lernt, bleibt hängen«, entgegnete Numaguchi. »Jedenfalls hat Suzuki letztens Bauklötze gestaunt. Du hast ihn gefahren, stimmt’s?«

»Ja, warum?«, fragte Kazumasa.

Suzuki war so etwas wie Numaguchis Lehrling und Laufbursche. Vor zwei Wochen hatte Kazumasa ihn vom Lagerhausviertel in die Innenstadt von Sendai gefahren.

»Er meinte, du hättest total geschmeidig beschleunigt und abgebremst und jede Kurve mit solcher Präzision genommen, dass ihm die olle Karre wie ein Rolls-Royce vorgekommen sei.«

Kazumasa wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er kratzte sich verlegen am Kopf.

»Ob es an deiner Erfahrung auf der Rennstrecke liegt, weiß

»Kann schon sein, dass ich besser als der Durchschnitt fahre«, sagte Kazumasa.

»Ganz genau! Und diese Fahrkünste sollst du in meine Dienste stellen.«

»Worum geht es denn genau?«

Numaguchi schnippte seinen Zigarettenstummel weg.

»Ich wurde gebeten, einer ausländischen Gang bei ein paar Diebeszügen zur Hand zu gehen«, meinte Numaguchi.

»Diebeszüge?«

»Nicht so laut, du Idiot!«

Ein Klaps auf den Hinterkopf ließ Kazumasa verstummen.

»Wenn sie mit ihrer Arbeit fertig sind, sollst du sie zu ihrem Nachtlager zurückbringen.«

Kazumasa fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Diebesgut auszuliefern und Geld zu überbringen, war eine Sache, mit den Dieben direkt nach der Tat im selben Auto zu sitzen, eine ganz andere. Bei den Lieferfahrten konnte er im Notfall behaupten, er habe nicht gewusst, was er da transportierte. Doch bei dieser Art von Arbeit würde die Polizei ihn zweifellos als Mittäter einstufen.

»Ich sage dir, es wird Münzen regnen.«

Mit Daumen und Zeigefinger formte Numaguchi einen Kreis, doch Kazumasa sah darin keine Münze, sondern die Gesichter seiner Mutter und seiner Schwester.

»Kann ich mir das noch mal überlegen?«, fragte er.

»Okay, aber beeil dich. Ich will noch diese Woche eine Antwort.«

»Alles klar.«

Kazumasa ließ den Blick zu seinem Auto schweifen. Noch immer saß Tamon reglos wie eine Statue auf dem Beifahrersitz und blickte ihn an.

Kazumasa öffnete die Packung Hundefutter, die er auf dem Nachhauseweg im Baumarkt gekauft hatte, gab den Inhalt in eine leere Schüssel und stellte sie Tamon vor die Füße. Der Hund fing sofort an, sich geräuschvoll darüber herzumachen.

»Du musst wirklich ausgehungert sein, so mager, wie du bist.«

Kazumasa nahm im Schneidersitz auf dem Boden seines mit Tatamimatten ausgelegten Zimmers Platz, zündete sich eine Zigarette an und beobachtete Tamon beim Fressen. Nach dem Treffen mit Numaguchi hatte er den Hund an jeder roten Ampel gekrault. Dabei war ihm erst richtig aufgefallen, wie dünn er war. Tamons Rippen traten unter dem Fell hervor, und an einigen Stellen hatte Kazumasa Schorf ertastet.

»Wo kommst du nur her?«

Tamon hatte seine Mahlzeit beendet, schleckte sich über den Mund und legte sich auf die Tatamimatten.

»Komm her.«

Auf Kazumasas Zeichen hin kam Tamon auf ihn zu. Er ließ sich an Kopf und Hals kraulen und verengte dabei genüsslich die Augen.

Kazumasa hatte noch nie einen Hund gehalten und sich bis jetzt auch keinen gewünscht, aber nun fand er immer mehr Gefallen daran.

»Was gibt’s?«, fragte Kazumasa.

»Nichts Besonderes. Ich wollte nur fragen, wie es dir geht.«

An Mayumis Stimmlage erkannte Kazumasa sofort, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Bestimmt war seine Schwester wieder restlos erschöpft von der Pflege ihrer beider Mutter und hatte angerufen, um ihrem Ärger Luft zu machen. Beim Klang von Kazumasas Stimme hatte sie es sich wohl spontan anders überlegt.

»Ist was mit Mama?«, fragte Kazumasa.

»Nein, nur das Übliche …«

Mayumis Antwort klang wie ein kraftloser Seufzer.

Im vergangenen Frühling waren bei der Mutter erste Anzeichen frühzeitiger Demenz festgestellt worden. Anfangs waren die Symptome schwach gewesen, doch ihr Zustand hatte sich rapide verschlechtert, als sie nach dem Erdbeben für eine Weile in einer Notunterkunft hatte wohnen müssen. Ihr bekanntes Umfeld zu verlassen und plötzlich mit lauter fremden Menschen unter einem Dach leben zu müssen, hatte sie stark belastet.

Zwei Monate nach der Katastrophe hatte Mayumi daher ihre Anstellung in der Innenstadt Sendais aufgegeben, hatte das Elternhaus wieder bewohnbar gemacht und war mit ihrer Mutter dorthin zurückgezogen. Seitdem wirkte sie jedes Mal, wenn Kazumasa sie traf, ausgezehrter.

Mayumi war gerade mal dreißig, aber in manchen Momenten sah ihr Gesicht wie das einer alten Frau aus.

»Tut mir leid, dass das alles an dir hängenbleibt, Mayumi. Wenigstens finanziell würde ich dich gern unterstützen.«

»Du kannst doch auch nichts für diese Situation.«

»Aber …«, setzte Kazumasa an, doch er führte den Satz nicht zu Ende.

»Einen Hund?«

»Er wurde wahrscheinlich beim Erdbeben von seinem Besitzer getrennt. Er ist schlau und ruhig, also habe ich entschieden, ihn zu behalten. Bei meinem nächsten Besuch bringe ich ihn mit. Hunde werden in der Therapie und Altenpflege eingesetzt, habe ich mal gehört. Sogar auf Menschen mit Alzheimer sollen sie eine beruhigende Wirkung haben.«

»Das habe ich auch gehört«, meinte Mayumi. »Mama würde sich bestimmt freuen. Sie wollte immer einen Hund haben.«

»Wirklich? Mama wollte einen Hund?«, fragte Kazumasa.

»Als Kind hatten sie einen in ihrer Familie, aber unser Vater war strikt gegen Haustiere.«

»Das wusste ich gar nicht.«

»Du warst damals auch noch nicht geboren. Mutter hat mir später erzählt, dass sie sehr traurig war, als unser Vater ihr den Wunsch abgeschlagen hat. Aber kurz darauf hat sie erfahren, dass sie mit dir schwanger ist, und die Freude darüber hat sie die Sache mit dem Hund vergessen lassen.«

»Das ist mir alles neu«, meinte Kazumasa.

»Wie heißt denn dein Hund?«, fragte Mayumi.

»Tamon.«

Seit sie über Hunde sprachen, klang Mayumi viel fröhlicher, was wiederum Kazumasa freute.

»Tamon? Was ist das denn für ein Name?«

»Er stand auf seinem Halsband. ›Tamon‹ wie die buddhistische Gottheit ›Tamonten‹. Die Schriftzeichen sind dieselben.«

»Wie auch immer. Komm auf jeden Fall bald mit ihm vorbei. Vielleicht zaubert er Mama ein Lächeln auf die Lippen. Ich habe sie schon seit Monaten nicht mehr lächeln gesehen.«

»Ich bringe ihn ganz bald mit«, versprach Kazumasa.

Danach verabschiedete sie sich.

Tamon hatte während des Gesprächs seinen Kopf auf Kazumasas Schoß gelegt und war eingeschlafen. Sein friedliches Gesicht und seine gleichmäßige Atmung schienen Kazumasa zu zeigen, dass er ihm vertraute.

Behutsam, um Tamon nicht zu wecken, legte Kazumasa eine Hand auf den Rücken des Hundes. Er spürte seine Wärme.

In Kazumasas Brust breitete sich ein wohliges Gefühl aus.

Am Tag nach dem Telefonat mit Mayumi versuchte Kazumasa, im Internet Informationen zu Tamon zu finden.

Tamon, Hund, Männchen, Schäferhund, Mischling, Hund vermisst, Erdbebenkatastrophe – er gab alle Schlagwörter ein, die ihm in den Sinn kamen, landete aber keinen Treffer.

Kazumasa deutete das als Zeichen, dass niemand nach Tamon suchte. Entweder konnte sich sein ehemaliger Besitzer seit der Katastrophe nicht mehr um den Hund kümmern, oder er war gestorben.

Kazumasa hatte das Gefühl, seine Pflicht getan zu haben, nun konnte er Tamon ohne schlechtes Gewissen behalten. Er beschloss, noch am selben Tag seine Mutter und Schwester zu besuchen.

Die beiden lebten in dem Einfamilienhaus, in dem Kazumasa aufgewachsen war. Es stand in einer Wohngegend südlich des Flusses Natori.

Kurz nach Mayumis Geburt hatte ihr Vater das Haus gekauft. Die letzten Raten des Kredits hatte die Familie nach dem Tod des Vaters von dem Ertrag seiner Lebensversicherung abbezahlt.

Eigentlich hatten Kazumasa und Mayumi das Haus verkaufen wollen, sobald der Gesundheitszustand ihrer Mutter es

Vor dem kleinen Grundstück gab es neben ein paar unscheinbaren Blumenbeeten einen Parkplatz für ein Auto. Kazumasa stellte seinen Wagen hinter den von Mayumi. Das Heck ragte auf die Straße hinaus, aber darüber hatte sich noch nie ein Anwohner beschwert.

»Komm, Tamon! Und benimm dich.«

Kazumasa legte Tamon ein neues Halsband und eine neue Leine an, die er zusammen mit dem Hundefutter gekauft hatte, und stieg aus.

»Mayumi, ich habe Tamon mitgebracht!«, rief er ins Haus. Es dauerte einen Moment, bis er eine Antwort bekam.

»Kazumasa?«, hörte er Mayumis Stimme. »Du hast den Hund dabei?«

Bevor er in den Flur trat, putzte er Tamons Füße mit einem feuchten Handtuch ab, das er dafür mitgebracht hatte.

Mayumi kam aus dem Badezimmer.

»Machst du gerade die Wäsche?«, fragte Kazumasa.

Sofort verfinsterte sich die Miene seiner Schwester. »Mama ist mal wieder ein Malheur passiert.«

Mayumis Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte ihre Mutter nicht bloß uriniert.

»Oh, das tut mir leid«, entgegnete Kazumasa.

Er fühlte sich schuldig, Mayumi mit all den Schwierigkeiten alleinzulassen.

»Ans Saubermachen in solchen Fällen habe ich mich schon gewöhnt, aber sie wird immer so ungehalten, wenn ihr das passiert. Bestimmt schämt sie sich, aber … Oh! Hallo, Tamon!«

Mayumi ging in die Hocke und streckte ihre Hand aus. Tamon schnüffelte interessiert daran, dann schleckte er sie ab.

»Er hat ein kluges Gesicht«, meinte Mayumi und kraulte Tamon hinter den Ohren.

»Er ist ganz ruhig und friedlich, wie du gesagt hast. Bestimmt mag Mama ihn auch. Komm, bringen wir ihn gleich zu ihr.«

Kazumasa und Tamon folgten Mayumi den Flur entlang bis zur letzten Tür, hinter der sich das Zimmer ihrer Mutter befand. Es war das sonnigste im ganzen Haus und war mit Tatamimatten ausgelegt.

»Mama, Kazumasa ist hier. Wir kommen rein, ja?«

Sie bekamen keine Antwort, aber Mayumi öffnete die Tür. Der Geruch von Desinfektionsmitteln schlug Kazumasa entgegen. Er nahm die Leine in seine andere Hand und betrat mit Tamon das Zimmer.

»Wie geht es dir, Mama?«, fragte Kazumasa.

Seine Mutter lag seitlich auf ihrem Futon und hatte den Hals in die Höhe gereckt, um die Blumenbeete hinter dem Fenster betrachten zu können.

»Mama?«

Als Kazumasa sie zum zweiten Mal ansprach, drehte sie sich zu ihm um.

»Verzeihung, aber wer sind Sie?«

Kazumasa biss sich auf die Unterlippe. Er war erschüttert. Dass sich ihr geistiger Zustand nach und nach verschlechterte, wusste er, aber bislang hatte sie ihn immer erkannt.

»Was redest du denn da, Mama? Das ist Kazumasa, dein Sohn«, sagte Mayumi mit gespielter Fröhlichkeit. Ihr verkrampftes Lächeln verriet, dass auch sie mitgenommen war.

»Ach, Kazumasa, du bist aber groß geworden«, sagte seine Mutter jetzt.

Während Kazumasa noch nach Worten suchte, machte Tamon bereits einige Schritte auf sie zu und schnupperte an ihrem Gesicht.

»Kaito!«, rief sie freudig. »Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt, Kaito?« Sie klang wie ein kleines Mädchen.

»Kaito?«, fragte Kazumasa.

»Noch nie gehört«, gab Mayumi zurück. »Vielleicht hieß so der Hund, den sie als Kind gehalten hat.«

»Kaito, Kaito!«

Kazumasas Mutter hörte gar nicht auf, Tamon zu streicheln. Nicht nur ihre Stimme, ihr ganzes Verhalten wirkte jetzt wie das eines kleinen Mädchens.

»Seit wann ist es so schlimm mit ihr?«, fragte Kazumasa mit einem Seitenblick auf seine Mutter.

»Seit zwei, drei Wochen vielleicht«, erwiderte Mayumi. »Mich erkennt sie manchmal auch nicht.«

»Warum hast du mir das nicht erzählt?«

»Ich wollte dir keine Sorgen bereiten. Natürlich war mir klar, dass ich es dir irgendwann sagen müsste.«

Mayumi senkte betrübt den Blick.

»Hört mal«, rief ihre Mutter und richtete sich auf. »Wir müssen mit Kaito Gassi gehen!«

»Gute Idee. Gehen wir eine Runde spazieren«, antwortete Kazumasa sofort.

***

Kazumasa beobachtete angespannt, wie seine Mutter mit Tamons Leine in der Hand fröhlich vor ihm und seiner Schwester herlief. Mayumi schien sich ebenfalls Sorgen zu machen, sie sah angestrengt aus.

Ihre Mutter merkte nichts davon und war bester Laune. Sie

»Mama ist wie ein kleines Kind«, sagte Mayumi.

»Ja, wirklich.«

Kazumasa nickte. Seine Mutter schien sich regelrecht zurückentwickelt zu haben. Wenn wir nicht aufpassen, tut sie etwas Verrücktes, dachte Kazumasa sorgenvoll.

Nur Tamon ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Obwohl er sich in einer für ihn ganz neuen Umgebung befand, wirkte er gelassen. Im Notfall würde er Kazumasas Mutter beschützen, das strahlte er aus.

»Was trödelst du so, Kazumasa? Beeilung!«

Seine Mutter hatte sich umgedreht und winkte ihm zu. Jetzt erinnerte sie sich wieder an seinen Namen.

»Du läufst zu schnell, Mama!«

Kazumasa beschleunigte seine Schritte und schloss zu seiner Mutter und Tamon auf.

»Kaito ist ein braves Kind. Er zieht gaaar nicht an der Leine und läuft immer neben mir her.« Selbst die Sprache seiner Mutter war kindlich geworden.

»Ja, Kaito ist schlau«, meinte Kazumasa und kraulte Tamon dankbar am Kopf.

»Schon als Welpe war er ein ganz braves Hündchen.«

Mayumi hatte wohl recht. Ihre Mutter verwechselte Tamon mit dem Hund aus ihrer Kindheit. Sie wirkte jetzt zwar viel jünger und wacher, aber natürlich hatte die Demenz sie noch immer fest im Griff.

Der Fluss Natori kam in Sicht. Reisfelder säumten das Ufer.

An einer Stelle ohne Ampel oder Zebrastreifen wollte Kazumasas Mutter, ohne nach links oder rechts zu sehen, einen Fuß auf die Straße setzen. Kazumasa war kurz davor, laut

Tamon war stehen geblieben, und da sich seine Leine spannte, hielt auch Kazumasas Mutter an.

»Was ist denn, Kaito?«, fragte sie verwundert.

Eine Sekunde später donnerte ein großer Lastwagen direkt an ihnen vorbei.

»Du kannst doch nicht einfach auf die Straße laufen, das ist gefährlich, Mama!«, rief Mayumi, die, blass im Gesicht, herbeigeeilt war.

»Ist es gar nicht. Kaito passt doch auf mich auf«, antwortete ihre Mutter und lachte arglos.

Die Geschwister sahen sich an. Ein kühler Windzug, der den Anfang des Herbstes erahnen ließ, fegte an ihnen vorbei.

***

»Heute hast du uns gerettet, Tamon«, sagte Kazumasa, während er Tamon, der wieder auf dem Beifahrersitz saß, streichelte. »Du hast meine Mutter aufgehalten, als sie auf die Straße rennen wollte. Mayumi meinte, du seiest ein Schutzgott.«

Während er sich streicheln ließ, blickte Tamon die ganze Zeit durch die Windschutzscheibe.

Nach einem knapp einstündigen Spaziergang war die Familie nach Hause zurückgekehrt. Kazumasas Mutter war so erschöpft gewesen, dass sie sich gleich schlafen gelegt hatte. Mayumi zufolge war es ihr erster Spaziergang seit langem gewesen. Sie verließ kaum noch das Haus.

Nachdem Kazumasa einen letzten Blick auf seine schlafende Mutter geworfen hatte, hatte er sich mit Tamon verabschiedet.

Die Ampel wurde grün. Kazumasa legte beide Hände auf das Lenkrad und trat aufs Gaspedal.

»Ich hätte wirklich gern eine neue Karre«, murmelte Kazumasa. Tamon sah ihn an.

»Und ich will Mayumi Geld geben.«

Tamon blickte wieder nach vorn.

»Ich brauche Kohle.«

Tamon gähnte.

Kazumasa parkte in der Nähe seiner Wohnung am Straßenrand. Er stand wie immer im Halteverbot, hatte hier aber noch nie einen Strafzettel bekommen. Seit der Katastrophe war die Polizei derart beschäftigt, dass sie sich um solche Lappalien nicht mehr zu kümmern schien. Doch irgendwann würde alles wieder zur Normalität zurückkehren, und dann müsste Kazumasa einen Parkplatz mieten.

Ein Parkplatz kostete Geld. Alles kostete Geld.

Zurück in seiner Wohnung stellte Kazumasa einen Napf mit Hundefutter auf den Boden. Er selbst aß Instantnudeln.

»Du kriegst besseres Essen als dein Herrchen, weißt du das eigentlich?«, fragte Kazumasa, während er zusah, wie Tamon gierig sein Futter verschlang.

Es ärgerte ihn, dass ihm solche Sätze über die Lippen kamen. Frustriert steckte er sich eine Zigarette in den Mund.

Sein Handy klingelte. Es war Mayumi.

»Was ist los?«, fragte Kazumasa.

»Mama ist aufgewacht und fragt die ganze Zeit nach Kaito.«

»Es freut mich ja, dass der Hund sie so glücklich macht, aber ich mache mir auch ein bisschen Sorgen. Sie verhält sich immer noch wie ein trotziges Kind. Und als ich ihr erklärt habe, dass du es warst, der Kaito mitgebracht hat, hatte sie es schon wieder vergessen.«

»Du meinst, sie hat mich vergessen?«

Anstelle von einer Antwort hörte Kazumasa nur einen lang gezogenen Seufzer.

»Meinst du, wir sollten doch ein Pflegeheim für sie suchen?«, fragte er.

»Und woher nehmen wir bitte schön das Geld dafür?«

Nachdem sie das Haus abbezahlt hatten, war von der Lebensversicherung ihres Vaters nur noch ein verschwindend kleiner Betrag übrig geblieben. Von diesem Geld und von ihren geringen Ersparnissen lebten Mayumi und ihre Mutter nun. Eine Verwandte mütterlicherseits besaß einen Bauernhof und schickte den beiden regelmäßig Reis und Gemüse, sodass sie gerade so über die Runden kamen.

»Es tut mir leid, Mayumi«, sagte Kazumasa.

»Hör auf, dich zu entschuldigen! Wir sind doch eine Familie.«

Nachdem er aufgelegt hatte, drückte Kazumasa seine Zigarette im Aschenbecher aus.

»Tamon, ich will’s versuchen«, sagte er zu dem Hund, der sich nach dem Essen an seine Seite gelegt hatte. »Ich will den Job machen, den mir Numaguchi angeboten hat. Die Arbeit ist gefährlicher als die, die ich jetzt mache, aber sie bringt auch viel mehr Geld. Und ich habe das Gefühl, dass du mich beschützen wirst, so wie du meine Mutter heute beschützt hast.«

Tamon hatte die Augen geschlossen, aber seine Ohren zuckten, während Kazumasa sprach.

Tamon öffnete die Augen und sah Kazumasa an.

Einverstanden, schien sein Blick zu sagen.

Drei Männer verließen das Wohngebäude. Sie waren gebräunt und alle eher klein.

Einer näherte sich Kazumasas Auto und klopfte an die Scheibe auf der Fahrerseite. Kazumasa ließ das Fenster herunter.

»Sind Sie Herr Kimura?«, fragte der Mann.

Das war der Deckname, den sich Kazumasa zugelegt hatte.

»Ja, der bin ich.«

»Ich heiße Miguel«, sagte der Mann in fließendem Japanisch. »Und die beiden hier sind José und Ricky.«

Kazumasa nickte. Mit Sicherheit waren auch das nur Decknamen.

»Steigen Sie ein«, sagte Kazumasa.

Miguel winkte seine Kollegen heran. José setzte sich auf den Beifahrersitz, Miguel und Ricky auf die Rücksitze.

In einer Sprache, die Kazumasa nicht verstand, sagte Miguel etwas zu den beiden anderen. Anscheinend hatte er Tamon bemerkt, der im Kofferraum in einem Käfig saß, den Kazumasa besorgt hatte.

»Was macht dieser Hund hier?«, fragte Miguel.

»Das ist mein Mamorigami«, meinte Kazumasa.

Miguel zog fragend die Augenbrauen hoch.

»My guardian angel«, erklärte Kazumasa.

»Keine Sorge, er bellt nicht und macht auch sonst keinen Lärm«, versicherte Kazumasa.

»Einen Schutzgott können wir alle gut gebrauchen«, sagte Miguel. »Wie haben Sie das noch mal auf Japanisch genannt?«

»Mamorigami«, wiederholte Kazumasa.

Miguel sprach das Wort zwei-, dreimal leise nach.

»Gut, fahren Sie los«, sagte er dann.

Kazumasa löste die Handbremse.

Für diesen Job hatte Numaguchi ihm einen Subaru Legacy bereitgestellt, der in gutem Zustand war. Das Auto fuhr mit Halbautomatik, besaß also einen Schalthebel und eine automatische Kupplung.

»Soll ich Sie direkt nach Kokubunchō bringen?«, fragte Kazumasa. Kokubunchō war das größte Vergnügungsviertel Sendais.

Miguel nickte.

Es war halb drei Uhr nachts, und die Straßen waren menschenleer. Kazumasa machte sich auf den Weg ins Zentrum, wobei er die Videokameras zur automatischen Nummernschilderkennung mied. Als er anfing, für Numaguchi zu arbeiten, hatte er sich die Orte der Überwachungskameras genau eingeprägt.

»Sie sind ein guter Fahrer«, bemerkte Miguel, obwohl Kazumasa nur ganz langsam durch die Stadt fuhr.

Im Vergnügungsviertel leuchteten auch zu dieser Uhrzeit noch die Neonschilder, und es waren viele Menschen unterwegs. Kazumasa bog in eine ruhigere Seitenstraße mit Bürogebäuden ein und hielt an.

»Seien Sie in dreißig Minuten wieder genau hier«, sagte Miguel und stieg zusammen mit seinen Kumpanen aus.

Tamon saß noch immer in seinem Käfig.

Als die drei außer Sicht waren, ließ Kazumasa den Wagen

Ziellos fuhr er durch die Gegend. Jedes Mal wenn er auf der Gegenfahrbahn die Scheinwerfer eines Autos sah, fing sein Herz an, wild zu pochen. Um sich zu beruhigen, blickte er immer wieder in den Rückspiegel zu Tamon. Dabei fiel ihm auf, dass der Hund seinen Kopf jedes Mal in eine andere Richtung gedreht hatte. Mal sah er aus dem rechten, mal aus dem linken Fenster, dann wiederum aus der Front- oder Heckscheibe.

Nach einer Weile verstand Kazumasa, was Tamon da tat. Er hatte den Blick immer nach Süden gerichtet.

»Suchst du etwas im Süden?«

Tamon reagierte nicht. Er schaute weiter stumm nach Süden.

Es war Zeit zurückzufahren.

Kazumasa parkte genau dort, wo die drei Männer ausgestiegen waren. Um jederzeit losfahren zu können, ließ er bei laufendem Motor den Fuß auf der Bremse. Seine Hände auf dem Lenkrad waren schweißnass. Er wischte sie sich an seiner Jeans ab, begann aber sofort wieder zu schwitzen.

»Siehst du etwas Verdächtiges, Tamon?«, fragte Kazumasa und drehte sich zu dem Hund um.

Tamon sah ihn ohne eine Spur von Angst an.

Alles okay, beruhig dich, schien er ihm sagen zu wollen.

Hinter einer Reihe von Bürogebäuden tauchten die drei Männer auf und kamen auf Kazumasa zu. Ihre Reisetasche, die vor dreißig Minuten noch leer gewesen war, wölbte sich jetzt nach außen.

Kazumasa hatte von Numaguchi erfahren, dass die Gang einen Juwelierladen ausrauben wollte.

Die drei wirkten so entspannt, als hätten sie nur einen kleinen Absacker in einer Bar getrunken.

»Fahren Sie los.«

Miguel setzte sich auf den Beifahrersitz, José und Ricky stiegen hinten ein. Die Türen wurden geschlossen.

Kazumasa beschleunigte.

»Nicht so schnell. Langsam, ganz langsam. Beruhigen Sie sich, okay?«

Miguel berührte leicht Kazumasas linke Hand, die das Lenkrad fest umklammert hielt.

»Ja, Verzeihung.«

Kazumasa drückte das Gaspedal etwas weniger durch. Aufzufallen wäre fatal. Er musste langsam und sicher fahren, damit die Polizei nicht auf sie aufmerksam wurde.

»Dein Schutzgott ist super«, sagte Miguel mit einem Blick nach hinten.

Schon wieder schaute Tamon in den Süden.

Kazumasa fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Beruhig dich, sagte er sich, während er den Wagen durch die Stadt lenkte und den Überwachungskameras auswich. Die Männer unterhielten sich in ihrer eigenen Sprache, lachten und rauchten. Dafür, dass sie gerade einen Juwelierladen ausgeraubt hatten, wirkten sie viel zu gelassen.

Auf Umwegen kehrte Kazumasa zu dem Wohngebäude zurück, vor dem er die Männer am Anfang der Tour aufgelesen hatte, und parkte in etwa einhundert Metern Entfernung davon.

»Danke, Herr Kimura. Bis zum nächsten Mal.«

Miguel stieg mit einem Lächeln aus, und die beiden anderen folgten ihm. Tamon beobachtete sie aufmerksam. Die drei Männer entfernten sich, ohne sich noch einmal umzudrehen.

»Ich bin fertig.«

»Sehr gut. Dann fahr nach Hause und ruh dich aus.«

»Ja, das mache ich.«

»Und schau mal in deinen Briefkasten.«

»In meinen Briefkasten? Wieso?«, fragte Kazumasa, doch noch während er sprach, legte Numaguchi auf. Verärgert schnalzte Kazumasa mit der Zunge und ließ den Wagen wieder an.

»Tut mir leid, dass ich dich in dieses dreckige Geschäft hineingezogen habe, Tamon. Zu Hause kannst du erst mal ausschlafen.«

Tamon hatte seinen Blick wieder nach Süden gerichtet.

Kazusamsa kehrte zu seiner Wohnung zurück. Bevor er eintrat, öffnete er den Briefkasten. Ein brauner Umschlag lag darin.

Mit ihm in der Hand betrat er hastig die Wohnung. Zuerst schob er den Riegel vor die Tür, dann säuberte er Tamons Füße. Während er das tat, beruhigte sich seine Atmung.

Kazumasa stellte für Tamon einen Napf mit Wasser auf den Boden und nahm auf den Tatamimatten Platz. Er zündete sich eine Zigarette an. Erst als er zu Ende geraucht hatte, widmete er sich dem Umschlag.

Es lagen zwanzig Zehntausend-Yen-Scheine darin.

In einer Nacht hatte er so viel verdient wie in einem Monat mit seinen Lieferfahrten. Wenn er diese Art von Arbeit einmal pro Woche machen würde, hieße das …

»Ich entlaste meine Schwester«, flüsterte Kazumasa und steckte sich eine neue Zigarette an.

Tamon legte sich neben ihn auf den Boden. Der Hund schloss die Augen und atmete sofort tief.

»Du bist auch erschöpft, was?«, sagte Kazumasa in sanftem Ton, bevor er die Scheine noch einmal zählte.

Auf allen Sendern lief dieselbe Nachricht: »Heute vor Tagesanbruch wurde in einen Juwelierladen in Kokubunchō eingebrochen. Die drei Täter, die noch auf freiem Fuß sind, stahlen Schmuck und Luxusuhren im Wert von etwa einhundert Millionen Yen.«

Es folgten Aufnahmen von den Überwachungskameras aus dem Laden. Sie zeigten den Einbruch von Miguel und seinen Freunden von Anfang bis Ende.

Die drei trugen Sturmhauben. Sie zertrümmerten mit Brechstangen das Schaufenster, drangen in das Geschäft ein, zerstörten seelenruhig die Vitrinen und füllten ihre Tasche mit Schmuck und Uhren. Nur etwa fünf Minuten, und sie hatten den Laden wieder verlassen.

Aufgrund des professionellen Vorgehens gehe die Polizei von organisierter Kriminalität aus, sagte die Nachrichtensprecherin.

»Ich glaub’s nicht …«

Während er auf den Bildschirm starrte, begann Kazumasa am ganzen Körper zu zittern. Beim Fahren hatte er sich noch einreden können, der Einbruch habe nichts mit ihm zu tun, aber jetzt, nachdem sich alles vor seinen Augen abgespielt hatte, fühlte er sich eindeutig wie ein Mittäter.

»Trotzdem, Geld ist Geld«, sagte Kazumasa laut zu sich selbst.

Um zu überleben, brauchte man Geld. Kazumasa dachte an seine Mutter mit voranschreitender Demenz und seine Schwester, die sich für ihre Pflege aufopferte. Die beiden brauchten auch Geld. Er hätte jeden Job angenommen, bei dem er etwas verdienen konnte, seit der Katastrophe fand er aber keine Arbeit mehr.

Er musste nach jedem Strohhalm greifen. Und der Strohhalm, den er zu fassen bekommen hatte, war dieser Job mit Miguel gewesen. Es handelte sich um ein Verbrechen, aber was blieb ihm denn anderes übrig? Hätte er es nicht getan, hätten seine Mutter und Mayumi bald nicht mehr genug zum Leben.

»Komm, wir gehen spazieren«, sagte Kazumasa zu Tamon, der ausgestreckt auf dem Boden lag.