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IMPRESSUM
ISBN: 978-3755706731
STEFAN ZWEIG: SCHACHNOVELLE
Print-Originalausgabe, 2022, 2018, 2013 © by AuraBooks
Covermotiv © asrawolf @ fotolia.com, Bild-Nr. 29876391
Stefan Zweigs ExLibris: Gestaltet von Ephraim Moses Lilien
Lektorat und Umschlaggestaltung: textkompetenz.net
Gesetzt aus der Garamond
Herausgeber: AuraBooks | eclassica@aurabooks.de
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, 22848 Norderstedt
Dieses Buch gibt es auch als eBook, z. B. im amazon kindle Bookstore

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Inhalt

Vorwort des Herausgebers

AUF EINEM PASSAGIERDAMPFER, auf der Passage von New York nach Buenos Aires, kommt es zu einer außergewöhnlichen Konfrontation: Der amtierende Schachweltmeister Mirko Czentovic, ein derber, unsensibler Mensch, dessen Inselbegabung für Schach alleine und verloren in charakterlicher Ödnis liegt, tritt auf Veranlassung weiterer Passagiere gegen den geheimnisvollen, sensiblen Österreicher Dr. B. an. – Und dieser besiegt mit spielerischer Leichtigkeit und Eleganz den Großmeister. Doch woher hat B. seine Schachkunst? Es ist ein dunkles Geheimnis, das sich im weiteren Verlauf des Spiels bitter Bahn bricht.

Der Ich-Erzähler, ein österreichischer Emigrant, schildert das Aufeinandertreffen der beiden so unterschiedlichen Naturen: Hier Großmeister Czentovic, als Kind »maulfaul und dumpf«, heute ein arroganter, abweisender und primär an Geld interessierter Mensch. Auf der anderen Seite der kultivierte ›Dr. B.‹, der zunächst nur helfend in die hoffnungslose Schachpartie eines Mr. McConnor gegen Czentovic eingreift, und, als sein überragendes Talent sichtbar wird, sich von den Anwesenden gedrängt sieht, tags darauf alleine gegen den Weltmeister zu spielen.

Erst langsam lüftet sich B.’s Geheimnis: Im Schachspiel ist er Autodidakt, auch hatte er noch niemals Schachfiguren in der Hand, nie ein Schachbrett vor sich liegen. Nein, all seine Partien spielte er bisher im Geiste. – Anderntags, an Deck, gelingt es dem Erzähler, mehr über B.’s Schachgenie zu erfahren: ein bitteres Geheimnis tut sich auf ...

So treten also die beiden Spieler auf der Schiffspassage gegeneinander an, und die Zuseher ahnen nichts davon, in welcher Gefahr Dr. B. schwebt, in den manischen Zustand, den das Schachspiel in ihm auslösen kann, zurückzufallen ...

Stefan Zweig selbst war, wie Zeitgenossen berichten, ein eher durchschnittlicher Schachspieler, und zog, zur Schilderung einiger technischer Schachdetails, eine damals gängige Schachfibel zu Rate. Doch um Schach geht es auch nur oberflächlich in der Schachnovelle. Das Spiel ist das Medium, das Transportmittel für die tiefere Symbolik des Buches: Hier der ungeschlachte, tumbe und stur wie ein Panzer agierende Czentovic, auf der anderen Seite der sensible, gebildete Dr. B. – die Protagonisten sind Stellvertreter für die damals rivalisierenden Strömungen der Zeit, in denen das Tumbe, der Nationalsozialismus, die Oberhand gewann.

STEFAN ZWEIG wurde am 28. November 1881 in Wien geboren, wo er auch seine Kindheit und Jugendjahre verbrachte. Er studierte Philosophie, Romanistik und Geschichte, reiste viel, unter anderem 1910 nach Indien und 1912 nach Amerika. Schon als sehr junger Mann machte er sich einen Ruf als Übersetzer unter anderem von Verlaine und Baudelaire und arbeitete verschiedenen Zeitschriften als Autor zu. Während der 1920er und 30er Jahre wurde er zu einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren.

1934 emigrierte Stefan Zweig nach England und 1940 nach Brasilien. Bedrückt durch die politischen Entwicklungen in Deutschland und Europa nahm er sich, zusammen mit seiner zweiten Frau Charlotte Altmann, in der Nacht auf den 23. Februar 1942 durch eine Schlafmittelüberdosis das Leben. Er hatte sich zeitlebens als kosmopolitischer Intellektueller, als Europäer und Pazifist verstanden. »Seine Werke verbinden hohe moralische und ethische Ansprüche mit dem Bemühen um den Erhalt der alten geistigen Werte«, schreibt der Brockhaus Literatur.

Die Schachnovelle wurde 1942 veröffentlicht, kurz vor Stefan Zweigs Tod im brasilianischen Petrópolis.

© Redaktion AuraBooks, 2022/2013

SCHACHNOVELLE

AUF DEM GROßEN Passagierdampfer, der um Mitternacht von New York nach Buenos Aires abgehen sollte, herrschte die übliche Geschäftigkeit und Bewegung der letzten Stunde. Gäste vom Land drängten durcheinander, um ihren Freunden das Geleit zu geben, Telegraphenboys mit schiefen Mützen schossen Namen ausrufend durch die Gesellschaftsräume, Koffer und Blumen wurden geschleppt, Kinder liefen neugierig treppauf und treppab, während das Orchester unerschütterlich zur Deck-Show spielte. Ich stand im Gespräch mit einem Bekannten etwas abseits von diesem Getümmel auf dem Promenadendeck, als neben uns zwei- oder drei Mal Blitzlicht scharf aufsprühte – anscheinend war irgendein Prominenter knapp vor der Abfahrt noch rasch von Reportern interviewt und photographiert worden. Mein Freund blickte hin und lächelte. »Sie haben da einen raren Vogel an Bord, den Czentovic.« Und da ich offenbar ein ziemlich verständnisloses Gesicht zu dieser Mitteilung machte, fügte er erklärend bei: »Mirko Czentovic, der Weltschachmeister. Er hat ganz Amerika von Ost nach West mit Turnierspielen abgeklappert und fährt jetzt zu neuen Triumphen nach Argentinien.«

In der Tat erinnerte ich mich nun dieses jungen Weltmeisters und sogar einiger Einzelheiten im Zusammenhang mit seiner raketenhaften Karriere; mein Freund, ein aufmerksamerer Zeitungsleser als ich, konnte sie mit einer ganzen Reihe von Anekdoten ergänzen. Czentovic hatte sich vor etwa einem Jahr mit einem Schlage neben die bewährtesten Altmeister der Schachkunst, wie Aljechin, Capablanca, Tartakower, Lasker, Bogoljubow, gestellt. Seit dem Auftreten des siebenjährigen Wunderkindes Rzecewski bei dem Schachturnier 1922 in New York hatte noch nie der Einbruch eines völlig Unbekannten in die ruhmreiche Gilde derart allgemeines Aufsehen erregt. Denn Czentovics intellektuelle Eigenschaften schienen ihm keineswegs solch eine blendende Karriere von vornherein zu weissagen. Bald sickerte das Geheimnis durch, dass dieser Schachmeister in seinem Privatleben außerstande war, in irgendeiner Sprache einen Satz ohne orthographischen Fehler zu schreiben, und wie einer seiner verärgerten Kollegen ingrimmig spottete, »seine Unbildung war auf allen Gebieten gleich universell«.

Sohn eines blutarmen südslawischen Donauschiffers, dessen winzige Barke eines Nachts von einem Getreidedampfer überrannt wurde, war der damals Zwölfjährige nach dem Tode seines Vaters vom Pfarrer des abgelegenen Ortes aus Mitleid aufgenommen worden, und der gute Pater bemühte sich redlich, durch häusliche Nachhilfe wettzumachen, was das maulfaule, dumpfe, breitstirnige Kind in der Dorfschule nicht zu erlernen vermochte.

Aber die Anstrengungen blieben vergeblich. Mirko starrte die ihm schon hundert Mal erklärten Schriftzeichen immer wieder fremd an; auch für die simpelsten Unterrichtsgegenstände fehlte seinem schwerfällig arbeitenden Gehirn jede festhaltende Kraft. Wenn er rechnen sollte, musste er noch mit vierzehn Jahren die Finger zu Hilfe nehmen, und ein Buch oder eine Zeitung zu lesen, bedeutete für den schon halbwüchsigen Jungen noch besondere Anstrengung. Dabei konnte man Mirko keineswegs unwillig oder widerspenstig nennen. Er tat gehorsam, was man ihm gebot, holte Wasser, spaltete Holz, arbeitete mit auf dem Felde, räumte die Küche auf und erledigte verlässlich, wenn auch mit verärgernder Langsamkeit, jeden geforderten Dienst. Was den guten Pfarrer aber an dem querköpfigen Knaben am meisten verdross, war seine totale Teilnahmslosigkeit. Er tat nichts ohne besondere Aufforderung, stellte nie eine Frage, spielte nicht mit anderen Burschen und suchte von selbst keine Beschäftigung, sofern man sie nicht ausdrücklich anordnete; sobald Mirko die Verrichtungen des Haushalts erledigt hatte, saß er stur im Zimmer herum mit jenem leeren Blick, wie ihn Schafe auf der Weide haben, ohne an den Geschehnissen rings um ihn den geringsten Anteil zu nehmen. Während der Pfarrer abends, die lange Bauernpfeife schmauchend, mit dem Gendarmeriewachtmeister seine üblichen drei Schachpartien spielte, hockte der blondsträhnige Bursche stumm daneben und starrte unter seinen schweren Lidern anscheinend schläfrig und gleichgültig auf das karierte Brett.

Eines Winterabends klingelten, während die beiden Partner in ihre tägliche Partie vertieft waren, von der Dorfstraße her die Glöckchen eines Schlittens rasch und immer rascher heran. Ein Bauer, die Mütze mit Schnee überstäubt, stapfte hastig herein, seine alte Mutter läge im Sterben, und der Pfarrer möge eilen, ihr noch rechtzeitig die letzte Ölung zu erteilen. Ohne zu zögern folgte ihm der Priester. Der Gendarmeriewachtmeister, der sein Glas Bier noch nicht ausgetrunken hatte, zündete sich zum Abschied eine neue Pfeife an und bereitete sich eben vor, die schweren Schaftstiefel anzuziehen, als ihm auffiel, wie unentwegt der Blick Mirkos auf dem Schachbrett mit der angefangenen Partie haftete.

»Na, willst du sie zu Ende spielen?« spaßte er, vollkommen überzeugt, dass der schläfrige Junge nicht einen einzigen Stein auf dem Brett richtig zu rücken verstünde. Der Knabe starrte scheu auf, nickte dann und setzte sich auf den Platz des Pfarrers. Nach vierzehn Zügen war der Gendarmeriewachtmeister geschlagen und musste zudem eingestehen, dass keineswegs ein versehentlicher nachlässiger Zug seine Niederlage verschuldet habe. Die zweite Partie fiel nicht anders aus.

»Bileams Esel!« rief erstaunt bei seiner Rückkehr der Pfarrer aus, dem weniger bibelfesten Gendarmeriewachtmeister erklärend, schon vor zweitausend Jahren hätte sich ein ähnliches Wunder ereignet, dass ein stummes Wesen plötzlich die Sprache der Weisheit gefunden habe. Trotz der vorgerückten Stunde konnte der Pfarrer sich nicht enthalten, seinen halb analphabetischen Famulus zu einem Zweikampf herauszufordern. Mirko schlug auch ihn mit Leichtigkeit. Er spielte zäh, langsam, unerschütterlich, ohne ein einziges Mal die gesenkte breite Stirn vom Brette aufzuheben. Aber er spielte mit unwiderlegbarer Sicherheit; weder der Gendarmeriewachtmeister noch der Pfarrer waren in den nächsten Tagen imstande, eine Partie gegen ihn zu gewinnen. Der Pfarrer, besser als irgend jemand befähigt, die sonstige Rückständigkeit seines Zöglings zu beurteilen, wurde nun ernstlich neugierig, wie weit diese einseitige sonderbare Begabung einer strengeren Prüfung standhalten würde.

Nachdem er Mirko bei dem Dorfbarbier die struppigen strohblonden Haare hatte schneiden lassen, um ihn einigermaßen präsentabel zu machen, nahm er ihn in seinem Schlitten mit in die kleine Nachbarstadt, wo er im Café des Hauptplatzes eine Ecke mit enragierten Schachspielern wusste, denen er selbst erfahrungsgemäß nicht gewachsen war. Es erregte bei der ansässigen Runde nicht geringes Staunen, als der Pfarrer den fünfzehnjährigen strohblonden und rotbackigen Burschen in seinem nach innen getragenen Schafspelz und schweren, hohen Schaftstiefeln in das Kaffeehaus schob, wo der Junge befremdet mit scheu niedergeschlagenen Augen in einer Ecke stehenblieb, bis man ihn zu einem der Schachtische hin rief.

In der ersten Partie wurde Mirko geschlagen, da er die sogenannte Sizilianische Eröffnung bei dem guten Pfarrer nie gesehen hatte. In der zweiten Partie kam er schon gegen den besten Spieler auf Remis. Von der dritten und vierten an schlug er sie alle, einen nach dem andern. Nun ereignen sich in einer kleinen südslawischen Provinzstadt höchst selten aufregende Dinge; so wurde das erste Auftreten dieses bäuerlichen Champions für die versammelten Honoratioren