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ISBN 978-3-641-24343-2
V003

1. Kapitel

Mikas lange rote Haarmähne wirbelte im Fahrtwind. Sie musste sich mit beiden Händen festhalten, denn der Pick-up, auf dessen Ladefläche sie kauerte, preschte zügig über eine Holperpiste mit Schlaglöchern groß wie Mondkrater. Die Sonne Andalusiens brannte heiß auf sie herab und die aufgepeitschten Sandkörnchen prickelten wie feine Nadelstiche auf ihrer Haut.

In Mikas Bauch kribbelte es vor lauter Vorfreude.

Endlich kam die Kreuzung in Sicht! Mika schlug mit der flachen Hand an die Heckscheibe des Pick-ups, der daraufhin ruckartig zum Stehen kam. Das Quietschen der Bremsen durchbrach die Stille der Steppe und eine riesige Staubwolke trieb in die Luft.

Mika packte ihre Tasche und sprang leichtfüßig von der rostigen Ladefläche.

Der nette alte Spanier, der bereit gewesen war, sie mitzunehmen, streckte den Kopf zum Fenster heraus und sah sie ungläubig an. »Aquí?«

Mika schenkte ihm ein dankbares Lächeln und nickte. »Sí. Gracias.«

Der Mann schüttelte ungläubig den Kopf. Tiefe Furchen legten sich in seine sonnengegerbte Stirn. »No! No!«, warnte er Mika und wies auf ein altes verwittertes Schild. »Peligroso! Mucho peligroso!«

Mika drehte sich kurz nach dem Schild um, auf dem ein springendes Pferd abgebildet war. Atención: Caballos Salvajes!, lautete die Warnung vor den frei laufenden Wildpferden.

Mika hatte mit der Reaktion des alten Mannes gerechnet und lächelte ihn unbekümmert an. Er konnte ja nicht wissen, was sie vorhatte.

»Ich weiß«, antwortete sie ihm und zeigte auf das Pferdebild, obwohl er kein Wort Deutsch sprach. »Wildpferde. Aber non peligroso. Nicht gefährlich.« Sie bewegte den erhobenen Zeigefinger wie einen Scheibenwischer hin und her. Vielleicht verstand er ja Zeichensprache.

Dann schulterte sie schwungvoll die Tasche und marschierte entschlossenen Schrittes davon, begleitet von aufgeregten Beschwörungen des Spaniers. »No, chica, no! Non son los caballos, son los incendios forestales! Fugeo, chica!«

Das zweite, etwas kleinere Schild, das unter dem Wildpferde-Hinweis angebracht war, und vor Steppenbrand warnte, schien Mika übersehen zu haben. Resigniert zuckte der Fahrer mit den Schultern und gab Gas. Diesem Mädchen war wohl nicht zu helfen, wenn es unbedingt in sein Unglück rennen wollte!

Zielstrebig eilte Mika durch die Steppe auf die Felsengruppe zu, die sich in der Ferne vom blauen Himmel abhob. Die Hitze ließ die Luft flimmern.

Mika wusste, dass Ostwind sich dort hinten mit seiner Herde in einer der Senken aufhalten musste. Sehnsuchtsvoll beschleunigte sie ihre Schritte. Das trockene Gras knisterte unter ihren Füßen. Gleich würde sie ihn wiedersehen. Ostwind!

Ihr Herz machte einen Sprung.

Leichtfüßig wie eine Gazelle eilte Mika den ausgetretenen Pfad hinauf, der sich zwischen den Felsen hindurchschlängelte. Unter den Ästen eines riesigen alten Baumes machte sie Rast, schloss die Augen und ließ den Moment auf sich wirken. Es war so schön, wieder hier zu sein.

Auf einmal bemerkte sie, wie der Wind deutlich auffrischte und sich der eben noch so grelle Sonnenschein in ein diffuses Licht verwandelte.

Dicht vor ihr wirbelte Sand mit kleinen Windhosen auf. Mikas Sinne waren alarmiert. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Der Wind trug kleine Fetzen wie filigrane Blätter auf unsichtbaren Wellen und wehte ihr etwas vor die Füße. Geschickt fischte Mika es aus dem Wirbel und erkannte entsetzt eine verkohlte Distel, die zwischen ihren Fingern zu Asche zerfiel.

Voller Sorge spähte sie hinaus in die Steppe, doch die Luft war plötzlich von Sand und Rauch erfüllt, kein Blick drang hindurch. Ein Buschbrand!

Dann zerriss ein verzweifeltes Wiehern die Luft.

Blind vor Sorge rannte Mika los. »Ostwind! Ostwind!«

Erst waren sie nur weit in der Ferne zu sehen, doch die Flammen rollten wie ein Tsunami weiter, fanden immer neue Nahrung in dem trockenen Gras und verschlangen es wie ein gieriges Monster. Dennoch drang Mika weiter vor, rutschte und stolperte den Hang hinab, dort unten, das wusste sie, waren die Pferde. Ostwind würde die Herde anführen und einen Fluchtweg aus den Flammen finden. Mika rannte, bis das Stechen in der Lunge kaum noch zu ertragen war, bis ihre Stimme vor lauter Qualm erstarb.

Sie spürte, wie der Boden unter ihr zu beben begann. Das waren die Hufe der Pferde. Und wieder das panische Wiehern!

»Ostwind«, hustete Mika, rieb sich die tränenden Augen, hob die Arme, um das Gesicht vor Glut und Asche zu schützen, die unbarmherzig auf sie hinabregneten.

Das Donnern der Hufe schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Und dann lösten sich ihre Silhouetten aus dem Rauch, der nun immer dichter wurde und Mika heftig im Hals kratzte: die Wildpferde!

Verzweifelt spähte sie in den Qualm auf der Suche nach Ostwind. Die Augen brannten so sehr. Mika konnte ihn nicht finden, hörte aber sein aufgeregtes Wiehern, sonst war da nur Rauch, Rauch, Rauch. »Ostwind! Wo bist du?«

Ohne nachzudenken, rannte Mika weiter, immer weiter auf die Flammen zu, die ihr bereits gierig um die Fesseln leckten.

Und dann war der schwarze Hengst plötzlich da. Löste sich wie ein Geist aus dem Qualm. Schnaubte laut.

Als er Mika entdeckte, blieb er stehen.

Für einen kurzen Moment sahen sie sich an. Sie hatten sich gefunden.

Mika weinte, vor lauter Qualm, der immer dichter und beißender wurde, vor Erleichterung, Ostwind endlich gefunden zu haben, aus Angst, dass sie beide in den Flammen umkommen würden.

Wir müssen hier weg! Wir müssen sofort hier weg, weg von den Flammen, schoss es Mika durch den Kopf. Der Pfad durch die Felsen war der einzige Fluchtweg aus dieser Hölle. Ostwind hatte die Herde bereits aus den Flammen geführt, doch in diesem Moment krachte ein riesiger, brennender Ast herab. Mika rettete sich mit einem Satz nach hinten und stürzte auf den heißen Steppensand. Voller Entsetzen wurde ihr klar, dass der Ast und die mannshohen Flammen Ostwind den Fluchtweg abgeschnitten hatten. »Ostwind, ich bin bei dir!«, rief sie mit letzter Kraft.

Dann lösten sich die Flammen auf in ein dunkles Nichts.

Ari presste die Fußsohlen auf den grauen Linoleumboden. Die Kälte half ihr, sich wieder im Raum zu orientieren. Ihr Herz schlug heftig.

Immer diese Träume! Immer diese verdammten Träume, dachte Ari. Es war so unheimlich schwierig, aus diesen Träumen zurückzufinden in die Realität.

Du musst direkt nach dem Aufwachen versuchen, dich an die Träume zu erinnern, dann sind sie noch präsent, hatte ihr mal eine von den Psychotanten gesagt, zu der sie eine Zeit lang gehen musste. Jeden einzelnen beschissenen Traum hatte sie damals aufschreiben müssen. Traumtagebuch.

Ari stutzte. Dieser Traum war anders gewesen. Nachdem sich ihr Herzschlag langsam beruhigte, schlich sich die Erinnerung zurück. Der Geruch. Ganz nah. Würziger Pferdegeruch! Sie hatte mit diesem Pferd gesprochen, einem großen, kräftigen Schwarzen. Falsch, sie hatte zu diesem Pferd gesprochen. Das Pferd war in Panik gewesen. Hab keine Angst! Ich bin da. Spring! Du musst springen. Jetzt!

Ich hab im Traum ein Pferd gerettet, dachte Ari. Sie schüttelte sich. So ein Quatsch. So ein Kitsch. Und überhaupt: Woher weiß ich denn, wie Pferde riechen? Sie wollte diese absurde Szene fortwischen. Ari und Pferde, das passte so gut zusammen wie Metal-Rocker und Blockflöten.

Und dennoch. Dieser Traum war anders gewesen. Er hinterließ ein Gefühl in Ari, das sie zunächst nicht zu deuten wusste.

Für einen Moment ließ Ari den Blick durch ihr trostloses Zimmer unter dem Dach wandern, das mehr eine Abstellkammer war, über die billigen Möbel, das Regal mit den Einmachgläsern und den abgewetzten Teppich. Die Dachluke ließ nur wenig von dem dämmrigen Morgenlicht herein.

In diesem Augenblick lärmte ein herzzerreißendes Jaulen durch das Treppenhaus. Ari riss die Augen auf und schnellte in die Höhe. Sofort war sie hellwach und eilte aus der Dachkammer. Hatte sie es sich doch gedacht: Unten auf dem Treppenabsatz hockte die fette Kuh Fernanda!

Ari hörte ein leises Zischen, dann ein schmerzerfülltes Jaulen.

»Oh, tut das weh? Aua, aua«, frotzelte das grobschlächtige Mädchen.

»Fernanda?«, rief Ari und spurtete die Treppe hinunter. »Was machst du da?«

Fernanda dreht sich um und Ari konnte den kleinen Hund erkennen, den diese unter ihrem Arm geklemmt hielt. »Schwirr ab, Kellerassel! Wir spielen nur ein bisschen«, blaffte Fernanda und drehte mit dem Daumen das Rädchen des Feuerzeugs, bereit, dem kleinen Hund ein weiteres Tasthaar abzuflammen. Der Kleine versuchte, sich zu wehren und winselte erstickt.

Ari spürte, wie das Blut durch ihre Adern schoss und sich automatisch die Fäuste ballten, bis sich die Fingernägel in die Handflächen gruben.

»Lass ihn los!«, knurrte sie und es gelang ihr, Fernanda den kleinen Terrier zu entwinden und auf den Boden zu setzen.

»Sonst?«, quäkte Fernanda herausfordernd. »Du gehörst doch eh nicht hierher. Das ist mein Haus, mein Hund. Du wohnst hier doch nur.«

»Hör auf!«, drohte Ari.

»Und wenn nicht? Was passiert denn dann? Hä?« Fernanda glotzte Ari herablassend an.

Doch ihr schäbiges Grinsen beeindruckte Ari nicht die Spur. Im Gegenteil. Die Tierquälerin wollte eine Antwort? Die konnte sie kriegen.

Das nächste Geräusch, das Ari mit Genugtuung vernahm, war das von Knochen, der auf Knochen prallte. Fernandas Schrei war wie Musik in ihren Ohren. Der kleine Hund flitzte davon.

Ari atmete auf. Ein Pferd und ein Hund, dachte sie. Beide gerettet.

Fanny war von Natur aus ein ungeduldiger Mensch. Bei ihr musste immer alles ruckzuck gehen. Pläne wurden geschmiedet und unmittelbar in die Tat umgesetzt. Darin war sie großartig. Aber das, was ihre beste Freundin von ihr verlangte, ging weit über ihre Grenzen hinaus. Aber was hatte sie für eine Wahl, als sich in Geduld zu üben? Mit den Händen knetete sie ihren schmerzenden Nacken und gähnte. Einmal mehr hatte sie die ganze Nacht an Mikas Bett gesessen. Zum wievielten Mal?

Das Piepsen des Herz-Kreislauf-Monitors hatte sie immer wieder eingelullt, aber im Grunde war sie immer wach gewesen, damit sie ja nicht verpasste, falls sich an Mikas Zustand etwas änderte. Aber nichts, absolut nichts tat sich. Mika lag da, die feuerroten Haare auf dem schneeweißen Krankenhauskissen ausgebreitet und schlief einen tiefen Schlaf. Einen sehr tiefen Schlaf. Seit dem Tag, an dem man sie aus der andalusischen Steppe gerettet hatte. Sie und ihr Pferd.

Beide waren sie nach Hause gebracht worden und Ostwind hatte sich sogar einer Operation unterziehen müssen.

Seufzend erhob sich Fanny aus dem Sessel und startete einen neuen Versuch. »Hey, Mika, nicht träumen, aufwachen, der neue Tag fängt an«, sagte sie mit sanfter Stimme.

Doch Mika stellte ihre Geduld weiter auf die Probe. Grrr, dachte Fanny. Irgendwann musste sie doch aufwachen, das hatten die Ärzte versichert.

Okay, dann eben auf die harte Tour. »Mika! Aufwachen!«, brüllte Fanny ihrer Freundin ins Ohr.

Das monotone Piepsen dieses nervtötenden Gerätes schien sie auszulachen. Sie wusste doch, dass dieser komatöse Zustand Mika schützte und ihr half, das traumatische Erlebnis zu verarbeiten. Dennoch, es dauerte so lange …

Plötzlich war da noch ein anderes leises Geräusch zu hören. Die Türklinke wurde heruntergedrückt und Mikas Mutter, Elisabeth Schwarz, kam mit einem »Hallo!« ins Krankenzimmer.

»Und?«, fragte sie erwartungsvoll.

Doch Fanny konnte nur resigniert mit den Schultern zucken. »Nichts. Um 3 Uhr 27 hat sie mal kurz mit der linken Augenbraue gezuckt. Das war’s.«

Fanny lehnte sich seufzend im Stuhl zurück.

Mikas Mutter war dankbar, dass Fanny sie und ihren Mann immer wieder am Krankenbett ablöste.

»Sie wird schon aufwachen«, sagte Elisabeth zuversichtlich. »Zumindest in dem Punkt sind sich die Ärzte sicher.«

Fanny hob die Hände und ließ sie wieder auf die Armlehne klatschen. »Ja, aber wann? Ich versteh das nicht. Die sagen doch, sie ist körperlich wieder ganz gesund. Worauf wartet sie denn?«

Elisabeth setzte sich Fanny gegenüber an das Bett ihrer Tochter und streichelte Mika liebevoll über die Wange. »Mein Dornröschen«, flüsterte sie.

Das war genug für Fanny. »Dornröschen hat hundert Jahre gepennt!«, rief sie entrüstet.

Jetzt musste Elisabeth schmunzeln. »Wirklich, Fanny. Aus medizinischer Sicht spricht nichts dagegen, dass sie bald aufwacht. Und das wird sie tun. Wenn sie soweit ist.«

Fanny nickte seufzend und warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr. »Ich muss dann jetzt los.«

»Wie läuft’s denn eigentlich mit dem Sozialpraktikum?«, fragte Elisabeth höflicherweise, dabei war ihr anzusehen, dass sie mit den Gedanken ganz woanders war. »Was machst du da noch mal? Arbeit mit auffälligen Kindern?«

Fanny grinste breit. »Ja, genau. Damit hab ich ja Erfahrung.«

Aber Mikas Mutter verstand nicht, worauf Fanny hinauswollte und blickte sie fragend an. »Ach ja? Inwiefern?«

»Öhm«, machte Fanny, nickte mit hochgezogener Augenbraue Richtung Mika und entlockte Elisabeth damit ein amüsiertes Lächeln.

Noch einmal beugte Fanny sich zu ihrer Freundin hinab. »Tschüss, Dornröschen!«, rief sie und klatschte dicht vor Mikas Nasenspitze in die Hände. Doch wer erschrak, war Elisabeth. Mika lag weiterhin reglos im Bett.

»Herrje, Fanny!«, stöhnte sie.

»Sorry, aber wer hat schon hundert Jahre Zeit?«, entschuldigte sich Fanny und zog eine Grimasse. Dann verabschiedete sie sich und verließ rasch das Zimmer.

»Tschüss, Fanny!«, rief Elisabeth ihr nach, bevor die Tür ins Schloss fiel.

Fanny eilte im Laufschritt hinaus, schwang sich aufs Rad und jagte in aberwitzigem Tempo und mit gewagtem Slalom durch die Straßen der erwachenden Stadt. Während Fanny die anderen Fußgänger zu rettenden Ausweichmanövern nötigte, ging auch auf Gut Kaltenbach die Sonne auf und trieb mit ihren goldgelben Strahlen den Nebel aus den Feldern und Wiesen.

Sam war mit dem Füttern der Pferde auf dem Hof bereits fertig und schob eine vollbeladene Schubkarre über den Schotterweg zur hinteren Weide. Karotten hatte er geladen, Pferdemüsli und Äpfel, all die Leckereien, für die die Pferde einen Purzelbaum schlagen würden, wenn sie es denn könnten.

Gekonnt wuchtete er die Karre durch das Gatter und blieb für einen Moment stehen. Voller Hoffnung ließ er den Blick über die weitläufige Weide schweifen, um dann enttäuscht festzustellen, dass diese ebenso verwaist war wie am Tag zuvor und am Tag davor.

Seufzend packte er die Schubkarre und setzte seinen Weg fort. Als er den hölzernen Unterstand erreicht hatte, rief er fröhlich und so unbekümmert wie möglich: »Wunderschönen guten Morgen! Hier ist Samuel von Fressen auf Rädern. Sie hatten einmal das Hungry-Horse-Maxi-Menü bestellt?«

Vorsichtig setzte Sam die Karre vor dem offenen Eingang des Unterstands ab und spähte neugierig hinein. Es dauerte einen Moment, bis sich die Augen an das dämmrige Licht im Innern gewöhnt hatten. »Wir hätten nämlich heute Karotten für Sie im Angebot, vielleicht wollen Sie ja …«, startete er einen erneuten Versuch, brach dann aber ab, als er feststellte, dass der Futtereimer von gestern noch genauso dastand, wie er ihn hingestellt hatte, randvoll mit Müsli und Äpfeln.

Ostwind schnaubte, als wollte er sich entschuldigen. Er hatte sich auch heute wieder in die hinterste Ecke zurückgezogen, dorthin, wo man den dunklen Hengst im Schatten kaum erkennen konnte. Doch Sam sah genug, um zu wissen, dass es dem Tier noch immer sehr schlecht ging. Ostwind war abgemagert, die Knochen stachen unter dem stumpf gewordenen Fell hervor und seine Augen hatten jeglichen Glanz verloren.

Was ist nur aus dir geworden, du prächtiger Hengst, dachte Sam traurig und streichelte Ostwind über den Hals. Wenn ich dir doch helfen könnte!

»Hey, Ostwind, warum hast du denn schon wieder nicht gefressen, hm? Warum gehst du nicht raus?«, versuchte Sam das Pferd zu locken. »Das Gras ist grün, die Sonne scheint …«

Doch Ostwinds Reaktion ließ keine Zweifel zu. Von alldem wollte er nichts wissen. Er wandte den Kopf ab.

Aber er ließ es zu, dass Sam die große Wunde untersuchte, die sich über Ostwinds Brust zog. Bei dem schummrigen Licht war das etwas schwierig, aber Sams Fingerkuppen spürten die Kruste auf der Haut. Die Wunde verheilte gut! Wenigstens etwas, dachte er. »Tut auch nicht mehr weh, oder?«

Obwohl der Hengst sich die ganze Zeit nicht von der Stelle gerührt hatte, nahm Sam jetzt einen Apfel aus dem Eimer und wog ihn lockend in der Hand. »Vielleicht würdest du für mich ja … einen Apfel vielleicht? Richtig lecker.«

In diesem Moment drang ein lautes Gedudel aus Sams Hosentasche. Hastig fischte er das Telefon heraus. Fannys Bild lachte ihm fröhlich vom Display entgegen. »Hey, Stallbursche!«, trällerte ihre Stimme aus dem Lautsprecher, als Sam das Gespräch mit einem Wisch annahm.

»Hey!« Sam trat in die Sonne hinaus. »Und? Wie geht es Mika? Irgendwelche Veränderungen?«, fragte er hoffnungsvoll. Möglicherweise machte ja wenigstens eines ihrer Sorgenkinder Fortschritte?

Aber Fanny musste ihn enttäuschen. »Nein. Nichts. Schläft. Träumt. Was weiß ich.« Aber vielleicht gab es ja bei Ostwind Neuigkeiten? »Und bei dir?«, fragte Fanny.

»Nichts«, antwortete Sam. »Und ich versteh es nicht. Er hat den Transport und die OP gut überstanden. Aber er kommt einfach nicht raus aus dem Unterstand. Er frisst nicht.«

Sam hob ein wenig die Stimme, denn am anderen Ende waren jede Menge Nebengeräusche zu hören. Wind. Aufgeregte Stimmen. Wo steckte Fanny bloß?

»Er muss rauskommen und fressen, Fanny! Ich hab wirklich alles versucht, bis auf Stepptanz.«

Wieder diese aufgeregten Stimmen. »Wer brüllt denn da so rum?«, wollte Sam jetzt wissen.

»Ach, das sind nur Passanten, die rumnölen. Bin vielleicht ein bisschen flott unterwegs, bin spät dran«, antwortete Fanny schuldbewusst. »Vergiss die. Sorry, Sam, ich muss aufhören. Der Drache wartet, blättert schon hyperaktiv in ihren Akten. Aber Stepptanz ist doch nen Versuch wert.«

Augenblicklich erstarb Fannys Stimme.

Sam starrte verwirrt auf sein Handy. Na, herzlichen Glückwunsch, das hatte ihn ja jetzt echt weitergebracht.

2. Kapitel

Nicht einmal mit einem fröhlich geschmetterten »Guten Morgen!« schaffte Fanny es, ihrer Vorgesetzten Britta einen Gruß, geschweige denn ein Lächeln zu entlocken. Die rümpfte nur die Nase über Fannys Outfit – wie meistens trug Fanny Hotpants und Strumpfhosen und hatte ihre aschblonden Locken mit einem Stirnband gebändigt – und fragte sie, ob sie direkt aus der Disko komme. Dann warf sie einen vorwurfsvollen Blick auf ihre Uhr, klappte die Akte mit Schwung zu und begann eine ihrer unerträglichen Tiraden, die sie stets ohne Punkt und Komma oder Luftholen vortrug.

»Was an diesem Morgen gut sein soll, musst du mir erst noch erklären! Ich habe nicht nur die unpünktlichste Praktikantin seit Beginn der Zeitrechnung, ich muss außerdem noch der reizenden Familie Schwenk erklären, warum wir ihnen statt eines süßen Pflegekinds die Tochter des Satans ins Haus geschickt haben!«

Britta drückte Fanny mit Schwung die Akte in den Arm und blätterte im Gehen in einer weiteren.

Fanny, die ja auch noch ihr Fahrrad schieben musste, verdrehte die Augen. Ihre Tasche rutschte ihr von der Schulter und die Akte war drauf und dran es ihr gleichzutun. Sie musste sich arg zusammenreißen, denn eins hatte sie gelernt: Wenn Britta so drauf war wie jetzt, und das war sie meistens, dann war mit ihr nicht gut Kirschen essen.

»Dieses Mädchen …«, begann Britta zu referieren.

»Arielle?«, erkundigte sich Fanny, die gerade so einen Blick auf die Akte werfen konnte.

»… ist jetzt in der siebten …« Britta leckte den Zeigefinger an – eine Unart, die Fanny so toll fand wie Nasepopeln – und fetzte die nächsten Seiten um. »Nein, achten Pflegefamilie! In drei Jahren!«

Britta führte den spitzen Zeigefinger an der Zeile entlang, während sie vorlas: »Blablabla … nicht in der Lage, Regeln zu akzeptieren und zu befolgen, blablabla … frech, impulsiv, starrsinnig, kann sich nicht anpassen. Die Kleine muss jetzt ziemlich sicher in eine geschlossene Anstalt – und versaut mir die Quote!«

Daraufhin marschierte sie in einem Stakkatoschritt, der die Schöße ihres modischen lachsfarbenen Mantels wehen ließ, auf den Eingang eines Einfamilienhauses zu. Fanny konnte kaum mithalten, ohne dass Ordner, Tasche und Schlüssel im Dreck landeten.

Eine elektronische Version des Geläuts von Big Ben erklang hinter der Haustür. Fanny wusste, Menschen, die sich solch einen Ton für die Haustürklingel aussuchten, waren spezielle Menschen. Sehr spezielle Menschen.

Fanny hatte nach Brittas Bericht mit allem Möglichen gerechnet, aber was sie dann erwartete, erschien ihr wie aus einer schlecht inszenierten Kriminalkomödie.

Kerzengerade saß sie kurz darauf neben Britta und dieser Frau Schwenk auf einem total unbequemen Sofa in einem Raum, dem man Frau Schwenks Vorliebe für schreiende Muster und üble Brauntöne ansah, nicht aber die Tatsache, dass hier Menschen lebten. Hätte Fanny die Farbe des Sofas beschreiben sollen, hätte sie gesagt: kotzfarben.

Auf dem Boden neben Fanny stand tatsächlich ein kniehoher Pudel aus weißem Porzellan, und als sie die Hand danach ausstrecken wollte, erntete sie böse Blicke der Hausherrin, einer ziemlich drallen und offensichtlich stockkonservativen Frau um die Vierzig.

Britta blätterte hektisch in den Akten.

Vor ihnen standen zwei Mädchen. Wie alt mochten die sein? Zwölf? Dreizehn? Okay, dachte Fanny, als sie eines der Mädchen verstohlen musterte. So eine macht Probleme, das glaube ich gerne. Im Gegensatz zu dem anderen recht zierlichen Kind war dieses Mädchen sehr grobschlächtig und hatte helle teigige Haut. Das Wort Monster kam Fanny sofort in den Sinn. Extrem aggressiv hatte Britta aus der Akte zitiert. Wenn die mal richtig zulangte … Die wievielte Familie hatte Britta gesagt? Die achte?

Fanny hätte den beiden Mädchen gern ins Gesicht gesehen, aber beide Kinder starrten auf den Fußboden, als müssten sie das Muster des Teppichbodens auswendig lernen.

Britta schlug die Beine übereinander und blickte die Mädchen aufmerksam an, ganz die engagierte Sozialarbeiterin. Dabei fummelte sie die ganze Zeit mit ihrer Lesebrille herum, die sie sich schließlich auf die Stirn schob. »Dann erzähl doch mal, was passiert ist, Fernanda. Du hast also gesagt, Ari hat dich angegriffen?«

Frau Schwenk bestätigte jedes der Worte mit einem heftigen Kopfnicken. Sie widerstand offensichtlich nur mühsam dem Bedürfnis, statt ihrer Tochter zu antworten.

Fanny bemerkte, wie sie selbst den Atem anhielt. Voller Spannung und Mitgefühl erwartete sie die Antwort des zierlichen Mädchens. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte sie in den Arm genommen. Was musste die Arme durchlitten haben?

Doch zu ihrer allergrößten Überraschung war es das dicke Mädchen, deren dralle Beine Fanny an Würstchen erinnerten, das den Kopf hob und den dreien auf dem Sofa ein Pflaster präsentierte, das quer über der Nase klebte.

Die hohe Stimme, die so gar nicht zu ihrer voluminösen Figur passte, kippte beinahe, als sie zu erzählen begann. »Sie hat Justin Bieber gequält! Ich hab gesagt, sie soll damit aufhören, und da … da hat sie mich angegriffen!«

War das jetzt eine atmosphärische Störung, die mein Hörvermögen in die Irre geführt hat, dachte Fanny. Das schmächtige Mädchen sollte die gemeingefährliche Ari sein?

Britta konnte ihre Ungeduld kaum noch verbergen. »Und Justin Bieber ist …?«

»Na, ein singendes Unterhosen-Model mit Frisurproblem«, funkte Fanny in ihrer vorlauten Art dazwischen und fing sich damit auch sofort einen vorwurfsvollen Blick ihrer Vorgesetzten ein.

»Justin Bieber ist unser armer Hund«, keifte jetzt Frau Schwenk. »Sie hat ihm die Schnurrhaare abgebrannt! Mit einem Feuerzeug. Das arme Tier ist seitdem völlig verstört.«

Britta schob sich mehrmals hektisch die Haare ihres dunklen Pagenkopfes hinter die Ohren.

»Verstehe, äh … kann man das Tier mal sehen?«

Fernandas Mutter hob die Stimme und rief: »Justin Bieeeber! Hieeer!«

Sehr interessant, dachte Fanny. Dieser Hund kann also schnurren, oder wie soll ich das verstehen? Heißt es beim Hund nicht Tast haare?

Gerade wollte sie Frau Schwenk schon verbessern, als ein kleines braun-schwarzes Hündchen zögernd ins Wohnzimmer getapst kam und Fernanda einen angsterfüllten Blick zuwarf. Sofort begann das Tierchen zu zittern und lief keinen Schritt weiter. Dann gab es sich einen Ruck und huschte zu Ari hinüber, wo es sich brav hinsetzte und schwanzwedelnd aufsah.

Schlechtes Karma bei Fernanda, dachte Fanny. Ganz schlechtes Karma.

»Sehen Sie, sehen Sie!« Frau Schwenk hüpfte aufgeregt auf dem Sofa auf und ab. »Er ist völlig traumatisiert!«