Kristina Magdalena Henn
Lea Schmidbauer
Rückkehr nach Kaltenbach
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cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
1. Auflage 2014
© 2014 cbj, München
Alle Rechte vorbehalten
© Alias Entertainment GmbH/SamFilm GmbH,
Lizenz durch Alias Entertainment GmbH
Artwork mit freundlicher Genehmigung von SamFilm GmbH
und Alias Entertainment GmbH
Fotos Umschlag: Tom Trambow
Umschlaggestaltung: basic-book-design, Karl Müller-Bussdorf
SaS · Herstellung: mh
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-13763-2
V003
www.cbj-verlag.de
1. Kapitel
Schwarze Nacht umgab sie. Totenstille. Kein Windhauch war zu spüren.
Plötzlich packte sie etwas, hielt ihr Bein fest und eiserne Dornen bohrten sich tief in ihre Haut. Verzweifelt versuchte sie, sich zu befreien, doch mit jeder Bewegung verfing sie sich nur noch mehr. Unerbittlich schlang sich der Draht um ihre Beine.
Schemenhaft nahm sie ihre Umgebung war – eine Lichtung, riesige Bäume, die den Wald bewachten und ihn noch unheimlicher erscheinen ließen. Ein Uhu schrie sein Alarmsignal in die Dunkelheit,
Da hörte sie die Schritte im Unterholz.
Sie bäumte sich auf und schlug wild um sich, in einem verzweifelten Versuch, sich zu befreien. Sie musste hier weg. Schnell. Ihr Herz wollte ihr aus der Brust springen.
Doch die Schritte kamen unerbittlich näher. Jemand fasste ihre Schulter …
»Neiiiiiinnnnn!« Mit einem gellenden Schrei schreckte Mika aus dem Schlaf. Sie riss die Augen auf – und sah eine dunkle Gestalt, die sich über sie beugte.
O nein! War das etwa einer dieser Träume, in denen man träumte aufzuwachen, nur um dann in einen noch schrecklicheren Traum zu geraten?
Doch die Gestalt zuckte erschrocken zurück und schrie mindestens ebenso laut auf. Irgendwie kam sie Mika jetzt seltsam bekannt vor. »F…anny?«, krächzte sie heiser. Und endlich erkannte sie ihre Freundin, die mit einer seltsamen Baskenmütze und einem riesigen Rucksack auf dem Rücken auf das Fußende von Mikas Bett sank.
»Mann! Hast du mich erschreckt!«, schimpfte Fanny und machte einige tiefe Atemzüge, um ihren Puls unter Kontrolle zu bringen.
Mika setzte sich schlaftrunken auf. »’tschuldige. Aber ich hatte schon wieder diesen Traum …« Ihre Augen blickten sorgenvoll.
»Den, wo der Lessing dich ans Lehrerpult fesselt und du den Satz des Pythagoras pantomimisch darstellen sollst?«, fragte Fanny mitfühlend, aber als Mika nur abwesend den Kopf schüttelte, plapperte sie munter weiter: »So was musst du jetzt auch nicht mehr träumen, denn ab heute sind hochoffiziell Sommerferien! Und wir fahren nach …«, Fanny trommelte einen kleinen Wirbel auf die Bettkante, »… MAGNIFIQUE PARIS!«
Mika schwang die Beine über die Bettkante und verkniff sich einen Seufzer. Paris. Zwei endlose Wochen lang hinter Fanny durch staubige Großstadtstraßen her schlurfen. Aber so war der Deal, den die Freundinnen gemacht hatten: zwei Wochen Paris und dann – Mikas Herz machte einen kleinen Satz bei dem Gedanken – zurück nach Kaltenbach! Zu Ostwind.
Eine gefühlte Ewigkeit war vergangen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Zwar telefonierte sie fast täglich mit Sam, der ihr geduldig berichtete, wie gut es dem schwarzen Hengst ging, aber seit ein paar Nächten hatte sie auch diesen Traum. Immer wieder. Irgendwas war los, doch Mika konnte dieses Gefühl einfach nicht in Worte fassen, und selbst wenn: Wer sollte das verstehen, wenn nicht einmal sie selbst es verstand?
Ein dunkler Ort, zu dem es sie hinzog, während gleichzeitig alles in ihr nach Flucht schrie. Das machte keinen Sinn. Und doch war sie sich sicher, dass es mit Ostwind zu tun haben musste. Irgendwie …
»Arrrrgh!« Ein empörter Aufschrei brachte Mika unsanft zurück in die Gegenwart, wo Fanny durch das unordentliche Zimmer stapfte und gerade den leeren Rucksack entdeckt hatte. »Du hast noch nicht mal gepackt! Ich hab schon das Taxi bestellt, das kommt in ’ner Viertelstunde. Unser Zug geht um halb elf!« Fanny begann wahllos Kleidungsstücke, die auf dem Boden verstreut lagen, in den Rucksack zu stopfen. »Meine Tante holt uns am Bahnhof ab, dann fahren wir von dort direkt ins Quartier Latin, da mach ich das erste Interview …«
Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, es ihr zu sagen, dachte Mika, aber stattdessen kam wieder nur ein lahmes, lang gezogenes »Ookaay …« aus ihrem Mund. Verdammt! Wieso war es so schwer, Fanny das beizubringen?
Mika wollte nicht nach Paris. Sie konnte da nicht hin, auch wenn sie es ihren Eltern und Fanny in einem schwachen Moment versprochen hatte.
Ihre Mutter war von der Idee hellauf begeistert gewesen. »Du musst doch in den Ferien auch mal was anderes sehen als immer nur … Schubkarren und … Mistgabeln. Kultur! Käse! Frankreich!«
Sie war aus dem Schwärmen gar nicht mehr herausgekommen, und sogar Mikas Vater hatte irgendwas von einem »wirklich sehenswerten Teilchenbeschleuniger im Institut für angewandte Kernphysik« gemurmelt. Und – da waren sie sich alle einig – was waren schon zwei Wochen?
Also hatte Mika zugestimmt. Nicht weil sie an Teilchenbeschleunigern oder Käse interessiert gewesen wäre, sondern um Fanny einen Gefallen zu tun. Dieser bescheuerte »Jugend schreibt«-Wettbewerb um die beste Schüler-Reportage war Fannys großer Traum, und wenn Mika etwas verstehen konnte, dann, wie es sich anfühlte, einen Traum zu haben.
Doch nun half alles nichts, sie musste es Fanny sagen, denn sie hatte nicht mehr lange bis – und da klingelte es auch schon an der Tür. Mist!
Fanny zurrte gerade den Rucksack zu und riss triumphierend die Arme in die Luft, als wäre sie Siegerin im Rucksack-Schnell-Packen-Wettbewerb. »Fertig! Perfektes Timing, würde ich sagen. Das ist das Taxi!«, und bevor Mika etwas sagen konnte, war sie schon zur Tür gerannt.
Das freudige Paris-Lächeln fiel Fanny aus dem Gesicht, als sie den Besucher erkannte. Ein braunhaariger Junge mit Karohemd und einem schiefen Grinsen im Gesicht. »Was zur … Sam?« Fanny kannte ihn nur flüchtig, vor allem aus Erzählungen, und er war ihr suspekt. Andererseits war ihr jeder suspekt, der einfach so ohne Vorwarnung in Mikas Leben geschneit kam.
Sam war Stallbursche auf Kaltenbach, dem Gestüt von Mikas Großmutter. Er bestand allerdings darauf, dass es »Pferdewirt in Ausbildung« hieß. Und jetzt stand er da, vor Mikas Tür, und klapperte stolz mit einem Schlüsselbund vor Fannys Augen.
»Hey! Ich habe gehört, jemand hier hätte ein Taxi bestellt?«
»Hä?«, war alles, was Fanny dazu zu sagen hatte. Und dann noch: »Woher weißt du das?«
Sam ließ den Schlüsselbund sinken und sah sie verwirrt an. »Echt jetzt? Das war eigentlich nur so ein Spruch. Weil ich gestern …« Stolz zog er seinen Führerschein aus der Tasche, den er endlich bestanden hatte, nachdem er zu seiner Schmach zweimal durchgefallen war.
Fanny beeindruckte das wenig, denn sie hatte bereits eine üble Vorahnung. Misstrauisch kniff sie die Augen zusammen. »Okay, was willst du hier?«, fragte sie.
Doch noch bevor Sam antworten konnte, tauchte Mika hinter ihr auf. »Sam! Ist was mit Ostwind?«, fragte sie atemlos.
»Nein, keine Sorge.« Er winkte ab. »Ich wollte euch abholen. Mit dem Auto!«, sagte er strahlend und wedelte wieder mit den Autoschlüsseln vor Fannys Gesicht.
Diesmal schnappte sie danach und brachte die klimpernden Schlüssel in ihrer Faust zum Schweigen. »Wie – uns abholen? Ich versteh grad nur Bahnhof – und apropos Bahnhof: Da müssen wir jetzt auch hin!« Sie sah Mika nachdrücklich an.
Mika wich Fannys bohrendem Blick aus und ihre Augen flackerten nervös zu Sam. »Also … äh … äh … ich … wir … also«, druckste sie herum.
»Jaaa?« Fanny verschränkte die Arme vor der Brust.
»Du weißt, du bist meine beste Freundin«, begann Mika nervös. »Und Freundinnen haben ja an sich immer Verständnis füreinander, zum Beispiel, wenn man Pläne aus wichtigen Gründen ändern muss. Und als ganz konkretes Beispiel: Wenn wir zuerst nach Kaltenbach und dann nach Paris fahren würden?« Sie wartete die Antwort gar nicht erst ab, damit Fanny sie nicht unterbrechen konnte, und fuhr fort: »Mein Gefühl sagt mir einfach, dass mit Ostwind was nicht stimmt, und ich weiß, es ist nur ein Gefühl und möglicherweise Quatsch, aber … aber …« Mika ging die Luft aus. »Bitte …!«, konnte sie gerade noch hervorpressen. Dann schluckte sie und schwieg.
Fanny sah Mika an und kniff wieder die Augen zusammen. Sie sah nun wirklich aus wie ein Krokodil, kurz bevor es zuschnappte und seine wehrlose Beute verschlang. Doch das hatte einen Grund: Noch zu gut konnte Fanny sich an letztes Jahr erinnern, als Mika das monatelang geplante Feriencamp sausen lassen musste und nach Kaltenbach geschickt wurde. Und an das, was dann passiert war.
Fanny atmete tief durch. Ruhig bleiben, ganz ruhig. Sich aufregen brachte jetzt nichts, denn sie wusste drei Dinge mit ziemlicher Sicherheit: Gegen das Pferd hatte sie keine Chance. Gegen Mikas »Gefühl« erst recht nicht. Und ein zweites Mal würde sie ihre beste Freundin ganz sicher nicht alleine in Urlaub fahren lassen – Paris hin oder her.
Und überhaupt viertens würde sie vor diesem – sie sah Sam an, der versuchte, möglichst unbeteiligt auszusehen –, diesem Pferdepfleger ganz sicher keine Szene machen. Also blieb nur, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und dem flehenden Ausdruck in Mikas Augen nachzugeben. »Meinetwegen. Aber nur, wenn du mir hoch und heilig versprichst, dass wir danach wirklich zwei Wochen zusammen nach Paris fahren. Ohne Pferd! Und ohne Ausreden!«
Mika fiel ihr so stürmisch um den Hals, dass Fanny das Gleichgewicht verlor und rücklings auf ihrem Rucksack landete wie ein Käfer mit Schlagseite. »Versprochen! Und ich schwöre dir, auf Kaltenbach gibt es jede Menge Material für einen tollen Artikel.«
Fanny rappelte sich möglichst würdevoll hoch. »Ich schätze, eine gute Reporterin findet immer ein spannendes Thema. Paris kann jeder. Sehen wir Kaltenbach als Herausforderung!«
Mika hätte Fanny gleich wieder umarmen können und auch Sam grinste zufrieden. »Dann kann’s ja losgehen!«
Vorher gab es allerdings noch ein paar Sachen zu erledigen. Sam machte es sich auf dem Bett gemütlich, während Fanny im Flur mit ihrer Tante in Paris telefonierte und Mika ihren Rucksack packte – diesmal mit sinnvolleren Dingen als die, die Fanny wahllos aus der Unordnung gefischt hatte. Glücklicherweise waren Mikas Eltern schon gestern zu ihrer sterbenslangweiligen Studienreise nach Griechenland (»Die Wiege der Mathematik!«) aufgebrochen und konnten daher nicht sehen, wie ihre Tochter ihr notdürftig aufgeräumtes Zimmer innerhalb eines Tages in etwas verwandelt hatte, das Mikas Vater »den anschaulichsten Beweis der Chaostheorie« nannte.
Belustigt beobachtete Sam, wie Mika stirnrunzelnd eine Daunenjacke und einen Handfeger aus dem Rucksack zog.
»Ist ja gerade noch mal gut gegangen. Ich dachte kurz, sie reißt uns die Rübe runter«, sagte Sam.
»Fühl dich nicht zu sicher«, alberte Mika, die sich auf einmal seltsam leicht fühlte. Sie würde nach Kaltenbach fahren! Dann würde sie sehen, dass es Ostwind bestens ging, und dann würden auch diese merkwürdigen Träume endlich aufhören. »Und du bist wirklich sicher, dass …«
Sam verdrehte die Augen und vollendete Mikas Satz: »Es Ostwind gut geht? Ja, Mika. Ich habe ihn heute Morgen noch auf seiner Koppel besucht, da ist er gerade mit Archibald um die Wette gelaufen.« Sam runzelte nachdenklich die Stirn. »Zumindest denke ich, dass Archibald das dachte. Und Frau Holle …«
Mika stutzte. »Wer?«
»Na, die Kuh, der Archibald mit Fell und Huf verfallen ist. Tinka hat alles versucht, aber richtig glücklich war er erst, als sie Frau Holle letzte Woche mit auf die Koppel gestellt haben. Seitdem leben sie da zu dritt, und mein Großvater sagt, er habe selten so viel tierische Harmonie gesehen.«
Bei dieser Vorstellung erschien auf Mikas Gesicht zum ersten Mal an diesem Tag ein breites Lächeln und sie verbannte den dunklen Traum aus ihren Gedanken.
Mika schnürte ihren Rucksack zu, stopfte den Rest der herumliegenden Gegenstände kurzerhand in den Schrank und drückte die Tür mit ihrem ganzen Gewicht zu. »Fertig. Kann losgehen!«
In diesem Moment kam auch Fanny zurück ins Zimmer, die immer noch ein bisschen grimmig aussah. »So, jetzt habe ich den Zug umgebucht und meiner Tante hoffentlich erklärt, dass wir zwei Wochen später kommen. Könnte aber auch sein, dass ich ihr ein Rezept für Erdbeerquark durchgegeben hab. Französisch ist nicht mein bestes Fach.«
Mika und Fanny flogen durch die Kurven wie zwei Kugeln bei der Ziehung der Lottozahlen, während sie verzweifelt – und vergeblich – versuchten, sich an der abgewetzten Sitzbank des alten Geländewagens festzukrallen. Das war keine Autofahrt, das war Achterbahn pur.
Hinter dem Steuer grinste Sam stolz. »Und, irgendwelche Musikwünsche?«
Das Auto machte einen knirschenden Satz nach vorne, Fanny und Mika wurden unsanft in ihre Gurte geschleudert. »Ups, falscher Gang, Mädels, sorry!«
Mika zwang sich zu einem Lächeln, während Fanny japste: »Lebend ankommen wäre momentan mein einziger Wunsch!«
Beleidigt drehte sich Sam zu ihr um. »Hey! Ich habe einen druckfrischen Führerschein in der Tasche und …«
»Achtung!«, schrien Fanny und Mika im Chor, und Sam konnte gerade noch das Steuer herumreißen.
Der große Jeep mit dem Logo des Gestüts Kaltenbach auf der Seitentür schlingerte um Haaresbreite an einer Straßenkehrmaschine vorbei, die über die Fahrbahn zuckelte.
Die Mädchen schnappten nach Luft, aber Sam schien das nicht sonderlich zu beeindrucken. Er plauderte munter weiter, als befänden sie sich auf einer ländlichen Spazierfahrt und nicht auf einer vierspurigen Schnellstraße durch die Frankfurter Innenstadt. »Nur dass ihr vorbereitet seid, Kaltenbach ist nicht ganz auf der Höhe momentan. Jeden Monat werden es weniger Pensionspferde und auch die Reitschülerinnen bleiben weg. Seit einiger Zeit geht es langsam, aber stetig den Bach runter.«
Eine Sorgenfalte erschien auf Sams Stirn.
Mika wollte gerade etwas erwidern, als der Wagen nicht gerade sanft um eine Kurve bog und sie sich hart den Kopf an der Fensterscheibe stieß. »Was … Autsch!«
Fanny warf ihr einen Blick zu, der eindeutig sagte: »Wir werden sterben!«, während Sam schon wieder unbekümmert auf das Gaspedal trat.
»Seit Michelle weg ist, haben wir keine vielversprechende Turnierkandidatin mehr«, fuhr er fort. »Das ist nicht gut fürs Image. Außerdem wird die Konkurrenz immer größer.«
Fanny, die sich wenigstens ein bisschen von ihrer Todesangst ablenken wollte, fragte nach: »Michelle, das ist die fiese Kuh, die Ostwind dieses Zeug auf die Füße geschmiert hat, damit er bei dem Turnier durchdreht, richtig?«
Mika nickte ernst. »Und Sam damit um ein Haar umgebracht hätte … und Ostwind auch.«
Eine Weile saßen sie schweigend im Auto und dachten an diesen Teil des letzten Sommers, bis Sam seine gute Laune wiederfand: »Sei’s drum: Jetzt sind erst mal Sommerferien, und Frau Kaltenbach freut sich sicherlich wie ein Schnitzel, dich … also euch früher als erwartet wiederzusehen. Und Ostwind erst!«
Mika lächelte und vergaß bei dieser Aussicht sogar für einen Moment, dass sie noch lange nicht angekommen waren. Bis es neben ihnen hupte und sich Fannys Finger schmerzhaft in ihren Oberschenkel bohrten.
2. Kapitel
Kies spritzte auf, als sie ein paar Stunden später mit quietschenden Reifen auf den Hof des Gestüts einbogen. Noch bevor der Geländewagen ganz zum Stehen gekommen war, riss Fanny die Tür auf und sprang aus dem Auto. Sie atmete tief durch und sah aus, als würde sie am liebsten den Boden küssen. »Nie wieder! Und wenn wir zu Fuß nach Paris gehen müssen!«
Mika blieb noch eine Weile im Auto sitzen. Sie schaute sich um und wartete dabei auf das wohlige Gefühl, das sich immer in ihr ausbreitete, sobald sie hier ankam oder auch nur an das Gestüt dachte.
Doch irgendetwas hatte sich verändert. Wie Sam gesagt hatte. Aber was?
Kaltenbach war immer noch Kaltenbach: das altehrwürdige Gutshaus, der schöne Fachwerkstall, der Hof mit seinen blühenden Rosensträuchern – die Erinnerung daran ließ Mika unwillkürlich grinsen, denn in einem dieser stacheligen Büsche war sie schon einmal recht unsanft gelandet, als sie aus ihrem Zimmer im ersten Stock geklettert war.
Ihr Blick wanderte weiter, hinüber zu den alten Kastanien, die den großzügigen Reitplatz überschatteten, auf die bunt gestreiften Hindernisse, die dort aufgebaut waren – alles wie immer.
Plötzlich wusste sie es: Wo waren die Pferde und wo waren die vielen Pferdemädchen?
Normalerweise hingen sie in Trauben am Gatter, sahen Maria Kaltenbachs Unterricht auf dem Platz zu und warteten, bis sie an der Reihe waren. Doch heute schien alles merkwürdig ruhig und verlassen.
»Mika! Endlich!« Ein Ruf durchbrach die Stille und ein kleiner Kugelblitz kam aus dem Stall auf sie zu geschossen.
Mika sprang aus dem Auto. »Tinkabell!«, rief sie und fing das kleine Mädchen lachend auf.
Tinka war die freche Tochter des Tierarztes Dr. Anders. Auch wenn sie einige Jahre jünger war als Mika, hatte sie vor einem Jahr geholfen, Michelles Intrige aufzuklären und damit einen festen Platz in Mikas Herz erobert. Genauso wie Archibald, Tinkas eigensinniges Schecken-Pony, das nun seit ziemlich genau einem Jahr mit Ostwind zusammenwohnte.
»Ich wollte gerade zu Archi. Ich hab eine neue Fellkur entwickelt, die ich ausprobieren wollte, schau!« Tinka hielt Mika stolz einen Eimer mit einem grünbraunen Gebräu unter die Nase. »Teebaumöl, Malzbier und Brennnesselsaft!«
Mika fiel bei dem Geruch fast in Ohnmacht, lächelte aber tapfer. »Toll!«, sagte sie schwach und versuchte, nicht durch die Nase zu atmen.
»Ich muss jetzt los, sonst fängt das an zu stinken«, fuhr Tinka fröhlich fort. »Wir sehen uns später!« Und schon lief sie die Einfahrt hinunter.
Sam, der in der Zwischenzeit beide Rucksäcke aus dem Kofferraum gehievt und sich umgehängt hatte, stellte sich neben Mika.
Fanny sah sich einigermaßen unbeeindruckt um. »Und was macht man hier jetzt so? Sieht ja nicht grad aus, als wär hier die Hölle los.«
Sam grinste. »Och, der Schein trügt. Wie wär’s mit ein bisschen Wellness im Whirlpool?«
Und Mika fiel ernst ein: »Vielleicht vorher eine Runde auf der Indoor-Kartbahn?«
Fanny schaute die beiden mit großen Augen an: »Echt jetzt? Whirlpool mit Kartbahn?«
Sam und Mika lachten schallend los. So war es Mika letztes Jahr auch gegangen, als sie auf Kaltenbach angekommen war. Doch schon bald war es ihr herzlich egal gewesen, dass es hier weder das eine noch das andere gab. Sie hatte Ostwind kennengelernt, und durch ihre Verbindung einen Teil von sich, den sie vorher nicht gekannt hatte.
Fanny fand das allerdings weniger lustig. »Haha. Und wo ist dann meine Story, hm? Live aus dem Misthaufen? Oder schreibe ich über die Unerträgliche Langeweile des Landlebens?«
Sam warf sich in Pose wie ein Männermodel. »Wie wäre es denn mit einem Artikel über den attraktiven Stallmeister?«
Fanny verdrehte genervt die Augen. »Du reichst höchstens für ’nen Scherzartikel!«
Bevor Sam etwas erwidern konnte, wurden die drei von Stimmen abgelenkt. Sie drehten die Köpfe und sahen, wie Mikas Großmutter mit zwei geschniegelten Anzugträgern und einer adretten Asiatin auf die Stallungen zuging.
Maria Kaltenbach wirkte noch ernster als sonst, trug ein jagdgrünes Twinset und hatte ihre grauen Haare zu einem strengen Knoten zusammengebunden. Sie stütze sich beim Gehen auf einen Stock, dessen Klicken mit ihrer Stimme zu ihnen hinüberwehte: »Und jetzt kommen wir zu den geräumigen Boxen, für die Sie verschiedene Arten von Einstreu auswählen können …«
Maria war so vertieft, dass sie weder Mika noch Fanny wahrnahm.
»Und wer von denen ist jetzt deine berühmte Großmutter?«, flüsterte Fanny.
Sam grinste. »Na, rate mal. Die Asiatin oder der Typ mit dem Schnurrbart?«
Mika hatte die beiden gar nicht gehört, sondern schaute abwesend ihrer Großmutter nach. Sie hatte kein gutes Gefühl und wandte sich an Sam: »Die sehen aber nicht aus, als wollten sie hier Reiterferien machen?«
Sam zuckte mit den Schultern. »Vielleicht Pferdebesitzer, die hier trainieren lassen wollen?«
Mika war nicht überzeugt. Sie hatte das angeekelte Gesicht des Mannes gesehen, als er mit seinen glänzenden Lederschuhen ein paar Pferdeäpfeln ausgewichen war. Wie ein Pferdebesitzer hatte der nun wirklich nicht gewirkt.
Fanny verschränkte ungeduldig die Arme vor der Brust. »Können wir dann mal einchecken?«
Sam zwinkerte ihr zu: »Gerne, gerne. Wenn die Damen mir bitte folgen wollen?«
Mit ihren Rucksäcken bepackt wie ein Lastenesel ging er in Richtung Gutshaus. Fanny folgte ihm, doch Mika blieb stehen. »Geht schon mal vor, okay?«
Fanny schaute sie fragend an, doch Sam grinste verständnisvoll. »Keine Sorge, ich zeige der Frau Reporterin das Zimmer und dann geb ich ihr die große Führung. Gehen Sie nur unbesorgt zu Ihrem Pferd, Mylady.«
Fanny schnitt hinter Sams Rücken eine Grimasse in Mikas Richtung und sagte dann mit zuckersüßer Stimme: »O ja, bitte! Ich kann es kaum erwarten.«
Nun musste auch Mika lachen. Sam und Fanny – das konnte ja heiter werden!
»Bis zum Abendessen!«, rief sie den beiden zu und machte sich endlich auf den Weg.
Mika rannte über den schmalen Feldweg bis zu den blühenden Wiesen und Sonnenblumenfeldern, so schnell, dass die umhertanzenden Schmetterlinge kurz ins Schleudern gerieten, als sie an ihnen vorüberjagte. An der kleinen Kreuzung bog sie scharf ab und huschte geduckt unter Herrn Kaans Wohnwagenfenster vorbei.
Sie würde ihren Meister später besuchen … erst einmal musste sie zu Ostwind. Zu ihrem Pferd. Ihr Herz schlug schneller. Was, wenn er nicht da war? Sie kämpfte die Erinnerung an den Albtraum nieder, die ausgerechnet jetzt wieder in ihr hochstieg. Gleich würde sie es wissen. Sie sauste um die Ecke und … Mikas Herz machte einen Satz.
Auf der saftigen Weide hinter Herrn Kaans Wohnwagen graste der schwarze Hengst im Schatten seines Lieblingsbaums, einer gewaltigen Eiche. Er schüttelte ein paar lästige Fliegen ab, wollte gerade wieder den Kopf zurück ins Gras tauchen, als er aufmerksam die Ohren spitzte. Mit wachen Augen sah er sich um, bis er Mika entdeckt hatte. Er stieß ein lautes Wiehern aus und galoppierte los.
Frau Holle unterbrach erschrocken ihr gemütliches Wiederkäuen, als er mit erhobenem Schweif an ihr vorbeidonnerte. Ostwind war schon fast am Zaun angekommen, als Mika sich mühelos über das Gatter schwang.
Der Hengst begrüßte Mika freudig, die ihm um den Hals fiel, ihr Gesicht in seiner Mähne vergrub, den warmen Pferdegeruch einatmete und ihn nicht mehr loslassen wollte.
Am liebsten würde Mika ihr Leben lang hierbleiben, auf Kaltenbach, bei Ostwind. Doch das erlaubten ihre Eltern natürlich nicht. Schule, Zukunft, vernünftig sein. Die immer gleichen Worte ihrer Mutter klangen ihr in den Ohren.
»Ich hab dich so vermisst!« Ostwind antwortete mit einem sanften Schnauben. Mika kraulte den Rappen hinter den Ohren, lehnte ihre Stirn an seine. Das war ihr Pferd. Sie waren füreinander bestimmt. Das klang selbst in Mikas Ohren irgendwie komisch, aber das Gefühl war ganz klar, ganz einfach. Und gleichzeitig unendlich schwierig zu erklären.
Mika konnte es selbst kaum verstehen. Bis vor einem Jahr waren Pferde etwas gewesen, das sie nur aus dem Fernsehen kannte. Ihre Mutter war auf dem Gestüt großgeworden, doch Elisabeth hatte das Leben hier immer gehasst. Ihr Traum war es gewesen, eine große Physikerin zu werden – Mika schüttelte es bei der bloßen Vorstellung. Und so hatte sie ihre Tochter von dem Ort ferngehalten, an dem sie selbst so unglücklich gewesen war.
Doch als Mika Ostwind vor einem Jahr begegnet war, war es so, als wäre sie endlich angekommen. Sie hatte es gefühlt und auf ihr Gefühl konnte sie sich immer verlassen. Zumindest bisher. Denn auch jetzt, wo hier bei Ostwind doch alles gut schien, spürte Mika immer noch diese Unruhe.
Sie strich Ostwind über das glänzende Fell. »Du bist okay, oder? Ich hab mir solche Sor…«, weiter kam sie nicht, denn ihre Finger hatten plötzlich eine Unebenheit ertastet und Ostwind zuckte zurück. Mika sah entgeistert ihre Finger an. Das war doch … getrocknetes Blut?! Schnell beugte sie sich näher und tastete die Stelle behutsam ab.
Ostwind ließ sie gewähren, obwohl es ihm sichtlich unangenehm war. Mika war die Einzige, die er so nah an sich heranließ. Und nun sah sie es auch: an Ostwinds Brust und Beinen bis hinunter zu den Fesseln waren etliche Striemen und Kratzer. Die meisten waren oberflächlich und bereits fast verheilt, aber einige mussten tiefer ins Fleisch geschnitten und geblutet haben, so wie der Kratzer, den Mika gerade berührt hatte.
»Woher hast du das?«, fragte sie besorgt. Ostwind stand ganz still da und sah sie an. »Was hast du gemacht, hm?«
Offenbar hatte sie mit diesem komischen Gefühl doch recht gehabt. Erst der Traum und nun das. Wenn sie nur wüsste, was …
»Weißt du, Archibald ist halt ein Alphatier«, ertönte plötzlich eine helle Stimme.
Mika drehte sich um. Hinter ihr stand Tinka und strahlte wie eine Lichterkette. Sie hielt Archibald am Halfter, der darüber gar nicht glücklich schien und sich widerborstig gegen seine Reiterin stemmte. »Ich hab die auch schon gesehen.« Tinka deutete auf Ostwinds Beine. »Die hat er schon seit ein paar Tagen. Ich denke, das sind Spuren ihrer Rangkämpfe«, fügte sie nicht ohne eine Spur Stolz hinzu.
Zweifelnd betrachtete Mika den kleinen, freundlichen Ponywallach.
»Glaubst du wirklich, dass das Archibald war?«, fragte sie vorsichtig. »Selbst wenn er sich für den Herdenchef hier halten sollte« – was Mika dem selbstbewussten Schecken durchaus zutraute –, »hätte er dann nicht auch irgendwelche Wunden?«
»Hm … stimmt auch wieder. Hat er aber nicht.« Tinka kniff nachdenklich die Augen zusammen. Mit geschultem Blick musterte sie Ostwind. »Vielleicht wurde er von Dasselfliegen befallen. Die legen ihre Eier ins Fell, und die Pferde beißen und scheuern sich dann selber wund, das könnte schon so aussehen …«, doch Tinka brachte ihren Satz nicht mehr zu Ende, denn Archibald hatte in der Zwischenzeit den Knoten seines Führstricks aufgeknabbert und galoppierte zurück zu Frau Holle.
»Archiiieee!« Tinka drehte auf dem Absatz um. »Oder es ist die Liebe«, rief sie im Laufen, »dann drehen echt alle durch.«
Lächelnd sah Mika ihr nach. Dann wandte sie sich wieder Ostwind zu, der friedlich grasend neben ihr stand. »Hey«, sagte sie sanft, »ich krieg schon raus, was los ist. Und ich weiß auch schon, wen ich fragen kann.«
»Ich habe keine Ahnung.« Herr Kaan schüttelte langsam den Kopf und sah Mika nachdenklich an, die neben ihm auf der hölzernen Treppe saß, die zu seinem Zuhause hinaufführte.
Der alte Mann hatte, zumindest in Mikas Augen, die coolste Wohnung der Welt. Er wohnte in einem alten Bauwagen direkt neben Ostwinds Koppel und hatte hier eigenhändig alles umgebaut. Herr Kaan war Sams Großvater und hatte früher auf Kaltenbach als Trainer gearbeitet, bis Mikas Großmutter ihn nach einem Streit gefeuert hatte.
Seitdem lebte er hier, mitten in der Natur, schnitzte Holzpferde und genoss jede Minute. Bei ihm hatte Mika im letzten Jahr alles gelernt, was sie über Pferde wusste. Er hatte ihr das Reiten beigebracht, auf seine Art, ganz ohne Zwang.
»Stimmt was nicht?«, fragte Herr Kaan, als habe er ihre Gedanken erraten, und reichte ihr eine Tasse von dem scheußlichen Tee, den er so gerne trank.
»Hmmm.« Herr Kaan war ein Meister der langen Pausen und hielt wahrscheinlich den Weltrekord im Schweigen-am-Stück.
Mika stutzte. »Ostwinds … Ohren?«
Mika nickte heftig. »Ja! Genauso fühlt es sich an!«, pflichtete sie Herrn Kaan bei. »Er ist unruhig. Irgendwie … besorgt. Er hat irgendwas! Aber was? Und wieso weiß ich nicht, was er hat?« Unglücklich ließ Mika den Kopf hängen.
Mika versuchte, Herrn Kaans Rat zu begreifen.
Geduld war nicht gerade Mikas Stärke, aber sie würde ihm vertrauen. Wie immer.