Impressum:
Im Bann der Seide | Erotischer Roman
von Katy Kerry
Katy Kerry ist das Pseudonym einer erfolgreichen Erotikautorin. Seit gut zwei Jahren begeistern ihre erotischen SM- und Fetisch-Romane, aus dem Leben ihrer dominanten Ader gegriffen, unzählige Leser. Geschickt webt sie eigene Erfahrungen und Fantasien in spannende und sinnliche Geschichten voller prickelnder Erotik und Leidenschaft ein. Katy ist verheiratet, hat zwei Kinder im Teenageralter und steht obendrein als Sozialarbeiterin voll im Beruf. Als ganz private Domina sammelt sie immer wieder interessante Erfahrungen, die sie dann in ihre Romane einfließen lässt. Sie liebt es, ihre Fantasie zu beflügeln, und ist ständig auf der Suche nach etwas Neuem.In Katys Büchern stecken packende, geheimnisvolle und niveauvolle erotische Geschichten, manchmal sogar ein Thriller. Einmal eingetaucht, kann man sie kaum mehr aus der Hand legen.
Lektorat: Marie Gerlich
Originalausgabe
© 2021 by blue panther books, Hamburg
All rights reserved
Cover: © Razoomanet @ shutterstock.com © prochasson frederic @ shutterstock.com
Umschlaggestaltung: MT Design
ISBN 9783966417587
www.blue-panther-books.de
Prolog– Verbotenes Verlangen
Nach Herzenslust leckt er drauflos, genießt ihren Geschmack, ihre Geilheit und auch die Art und Weise, wie sie ihr Becken leicht über ihm kreist, um sicherzustellen, dass er auch ja keine Stelle auslässt. Er kann sie stöhnen hören, was ihn extrem scharf auf sie macht. Der Länge nach lässt er seine Zunge durch ihre Spalte gleiten, saugt genüsslich an den geschwollenen Schamlippen, die von einem zarten Rosa ins Purpurrote übergehen. Immer dann, wenn er ihre Klitoris erwischt, bekommt er ein Zucken und ein lang anhaltendes Seufzen zur Antwort. Das zeigt ihm lediglich, dass er sie so stundenlang verwöhnen könnte.
Merkwürdigerweise versucht sie sich trotzdem aus seinen Armen zu lösen, die fest und leidenschaftlich ihre Hüften halten. Julien kommt so richtig in Fahrt, als er merkt, dass sie sich ihm entziehen möchte. Es heizt ihn an und er versucht, sie so gut wie möglich mit seinem Mund zu verwöhnen. Dabei genießt er jede Sekunde, die sich seine Nase in ihrer Scham vergräbt. Er spürt sie intensiver denn je. Immer dann, wenn sie etwas abrückt, schiebt er sie sanft wieder zurück, versenkt seine Zunge noch mehr in ihr. Ihre Hand wandert auf seinen Kopf. Er hebt den Blick und sieht sie an, während er seine Zunge in ihre Schamlippen taucht. Sie möchte ihm etwas sagen, doch sie ist so erregt, dass sie keinen Ton herausbringt. Er ignoriert ihr scheinbares Betteln, mit seinen Liebkosungen aufzuhören. Vielmehr schließt er die Augen, macht weiter, was sie erneut aufstöhnen lässt. Jeden Tropfen ihrer Nässe, den er ergattern kann, saugt er gierig auf. Ihr Unterleib zuckt etwas zusammen. Er kann sich schon ausmalen, welches Bedürfnis sie wohl hat, doch ohne darauf Rücksicht zu nehmen, lässt er seine Zunge wieder tief in sie hineingleiten. Ihren Natursekt frisch von der Quelle abzubekommen, wäre jetzt das Größte für ihn. Er will weder auf ihre Hitze noch auf ihren Geschmack verzichten.
Seine Bewegungen werden intensiver, schneller und Isabelle versucht, nach hinten zu rutschen, was er durch seinen festen Griff um ihre Lenden verhindert. Eindringlich sieht sie ihn an, dabei öffnet sie den Mund und ein zaghaftes Stöhnen entweicht. »Julien, bitte, ich kann nicht mehr. Ich muss kurz unterbrechen«, flüstert sie. Doch er weiß, dass die Gelegenheit, an ihren so begehrlichen Saft zu kommen, zum Greifen nahe ist, und er macht weiter, lässt sie nicht mehr los. Wer weiß, ob er sie so schnell wieder genießen kann.
Er küsst ihren Schoß, weiter und weiter, dabei geht seine Zunge auf Wanderschaft, bis er seinen Mund komplett über ihre Vulva stülpt.
Der Moment, auf den er gewartet hat, ist da. Ein erneutes Zucken lässt ihren Unterleib erzittern, begleitet von einem leichten Zischen und er spürt ihren heißen Strahl, der sich in seinen Mund entlädt. Wow! Er genießt ihren Geschmack, bekommt leichtes Herzklopfen, ist aufgeregt, als hätte er mit ihr sein erstes Mal, was im eigentlichen Sinne ja auch stimmt. Ein wunderschönes und intensives Erlebnis, das sich ihm hier offenbart. Wieder leckt er über ihre genitalen Lippen – in der Hoffnung, noch ein paar Tropfen ihrer köstlichen Lust abzubekommen, was ihm tatsächlich gelingt. Was für ein Genuss. Ein letztes Mal erwischt er die richtige Stelle und wird mit einem noch intensiveren heißen Strahl belohnt.
Ihr Natursekt ist einfach köstlich. Heiß, leicht salzig – so wie ihre Füße, wenn er sie leckt. Etwas würzig, aber wunderbar. Viel besser, als er es sich je hätte träumen lassen. Er will definitiv mehr, leckt weiter, bis sich auch noch der letzte Rest ihres Liebessaftes, der einzig und allein für ihn bestimmt ist, in seinen Mund ergießt. Diesen nimmt er auf, als wäre es ein Schluck Champagner.
Julien bemerkt, dass es ihr ein wenig unangenehm ist. Mit seinem dankbaren Blick macht er ihr aber klar, dass es für ihn nichts Schöneres geben kann, und sie entspannt sich wieder.
»Was machst du mit mir?«, flüstert sie leise und Julien küsst ihre Scham zum letzten Mal, wobei sie vor seinem Gesicht herrlich im Sonnenlicht glitzert.
»Uns glücklich machen.«
Die Begierde des Schuhmachers
Wohin die Straße deiner Träume führt,
erfährst du, wenn du ihr folgst.
(Sevillana)
Julien und Maurice sind beste Freunde und im Berufsleben äußerst erfolgreich. Julien ist Anfang vierzig und ambitionierter Modedesigner einer alteingesessenen, aber sehr modernen Seidenmanufaktur in Lyon. Der glänzende, fließende Stoff mit charakteristischem Schimmer hat es ihm schon in seiner Kindheit angetan. Da er die Damenwelt nahezu vergöttert und er die anmutigen Schönheiten am liebsten in Reizwäsche aus reiner Seide sieht, hat er sich auf kostbare Dessous und Seidenstrümpfe spezialisiert. Letzteres sei auf der Haut eine wahre sinnliche Offenbarung, findet er.
Doch damit nicht genug. Er hat einen unvergleichbaren Hauch von Luxus entworfen, gefolgt von Sanftheit, Transparenz und unwiderstehlich streichelzartem Hautgefühl: Belle chérie, Strümpfe aus glamouröser reiner Seide. Ein unverzichtbares Accessoire in der Strumpflade jeder Frau, die etwas auf sich hält. Ja, ein Trageerlebnis der Sonderklasse sozusagen, ein Material, das trotz seiner Festigkeit frauliche Beine zart und leicht umspielt, sodass es kaum spürbar ist. Mitunter gerät er schon von ihrem Anblick in völlige Ekstase, da er einen – übrigens nicht selten vorkommenden – Seiden-Fetisch hat. Der Stoff, aus dem die Fetischträume sind, einer, der bei ihm eine gewaltige Erektion auslöst, wenn er die Frau seiner Träume von Kopf bis Fuß in solch himmlische Dessous einhüllen kann. Solch einer Sinfonie, bestehend aus langen, seidig bestrumpften Beinen und einem erotisch umschmeichelten femininen Körper kann er nicht widerstehen. So kann er Berufliches mit Privatem sehr gut verbinden – eine optimale Liaison von Erfolg und sexueller Lust.
Sein Äußeres ist auch nicht zu verachten. Immer elegant gekleidet, egal ob er zu einem Date unterwegs ist oder nur rasch in der Patisserie ein Baguette holt. Julien zählt zu den Stilikonen Frankreichs. Dazu gehört ein Maßanzug genauso wie ein weißes Hemd, dessen Königsdisziplin es sein sollte, einen perfekten Schnitt sowie eine außergewöhnliche Kragenform zu haben. Ein Mann von Welt sollte natürlich auch wissen, wie man seine Krawatte richtig bindet. Julien legt dabei sehr großen Wert auf den doppelten Windsor, ein meisterhaftes Kunstwerk. Überdies gepflegtes Lederschuhwerk, natürlich rahmengenäht, und die passende Uhr. Bestimmt ist er einer der begehrtesten Junggesellen Frankreichs, aber nicht nur deswegen, weil er umwerfend aussieht, sondern weil er obendrein auch noch reich ist. Sein verführerischer Blick, sein makelloses Aussehen verleihen ihm das gewisse Etwas. Er trägt dunkelbraunes gelocktes Haar, seine Schläfen sind leicht meliert – etwas, dass sein Aussehen noch zusätzlich aufwertet. Sein Dreitagesbart ist fast schon legendär, ziert sein Männergesicht in verschiedenen Farbnuancen. Wenn man es so sagen darf: Die Frauenwelt fliegt auf ihn. Sein charmantes Lächeln und seine gewitzten Augen sprechen schon, bevor er seinen Mund öffnet, um ein Wort zu sagen. Kurzum: Et voilá, ein Gentleman zum Verlieben, und Single noch dazu.
Jeder vernünftige Mensch würde sich nun fragen: warum? Ist er eventuell zu kompliziert oder stellt er zu hohe Ansprüche an seine Liebste? Nun ja. Die Antwort ist ganz simpel. Seine sexuelle Erregung hängt von seinem Fetisch ab. Ohne Seidenstrümpfe oder Dessous aus verruchtem Satin kommt er nicht in Stimmung. Natürlich spielen die Frau und ihr Körper auch eine sehr wichtige Rolle, aber sie muss schon bereit sein, sich dieser Kleiderordnung zu unterwerfen, denn er wird fast ausschließlich durch das Betrachten oder Berühren dieses erotischen Stoffes stimuliert. Dadurch gelangt er zu seinem Orgasmus. Etwas, das für eine Frau zur Belastung werden kann, auch wenn sie sich noch so gern in kostbare Seide hüllt. Sie kann sich von ihm zurückgesetzt fühlen, weil sie auf das – wenn auch sehr erotische – Material reduziert wird.
Julien jedenfalls hat bis jetzt noch nicht die richtige Frau gefunden und manchmal glaubt er, in diesem Leben auch keine mehr zu finden, die seinen Fetisch teilen möchte, weil sie erst geboren werden müsste. Natürlich kann er sich jede x-beliebige Tussi nehmen, sie in Seide hüllen und täglich davon naschen, seinen Orgasmus dabei haben, ja sogar mehrmals täglich, wenn er das will. Die Theorie hat nur einen Haken: Die Tussi ist nur auf sein Geld aus, eine niveauvolle Unterhaltung bleibt zumeist sehr dünn gesät und aufrichtige Liebe zu ihm entwickelt sie ohnehin nicht.
Genau das wünscht er sich aber: eine Frau, mit der er seinen Fetisch ohne Einschränkung genießen und ausleben kann, die ihn aber trotzdem seinetwegen liebt. Dafür würde er sie auf Händen tragen, ihr sein Herz schenken, ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen, und zwar ausnahmslos. Sein Freund Maurice hatte bisher genauso wenig Glück in der Liebe. Er steht auf eine andere Variante der Lust: Schuhe. Darum hat er seinen Fetisch zum Beruf gemacht. Wenn es darum geht, die perfekten High Heels zu entwerfen, dann ist er der richtige Mann dafür. Schon seit er denken kann, beschäftigt er sich mit weiblichen Schuhen. Zuerst waren es jene, die seiner Mutter gehörten – sie hatte Hunderte davon in ihrem Schuhschrank. Nie hat sie sich etwas dabei gedacht, wenn er sie mit in sein Zimmer nahm, um sie zu betrachten. Nun ja. Beim Betrachten allein blieb es dann nicht, denn als er vierzehn war, hat er sie regelmäßig dafür benutzt, sich selbst zum Höhepunkt zu bringen. Anfangs hatte er Bedenken, er würde auf seine Mutter stehen, was ihn sehr beunruhigt hat. Mit der Zeit wurde ihm aber bewusst, dass es allein das Schuhwerk war, das ihn in Ekstase versetzte. Eine Neigung, die in seinem Alter nicht immer von Vorteil war, denn welches Mädchen trug außer beim Schulball schon Heels mit hohen Absätzen?
Also nahm der reiche Sohn aus gutem Hause zum Unmut seiner Eltern als nicht einmal Sechzehnjähriger eine Stellung in einem der teuersten Schuhläden von Lyon an – dem seines Vaters. So konnte er seinen Schuhfetisch ungehindert ausleben, den Damenfüßen aus den Schuhen helfen, die häufig in viel zu spitzen, zu hohen und zu engen Schuhen zu ihm kamen und darüber jammerten, dass ihnen davon die Füße wehtaten. Dass ihm, während er die Damen von ihren Schuhen befreite und sie mit einem besseren Schuhwerk versorgte, ein Ständer in der Bundfaltenhose aus edlem Stoff wuchs, war dann eine andere Sache.
Bald schon hatte er seine Beherrschung voll im Griff und wenn die Dame dann nach ein paar neuen Schuhen fragte und er hierzu ins Lager gehen musste, drückte er ihr eine Zeitschrift in die Hand, ging ins Hinterzimmer, griff rasch nach ein paar neuen extravaganten Heels und holte sich mit den Schuhen, die gerade noch an den fraulichen Beinen gesteckt hatten, dann dort auch gleich einen runter. Was dabei rauskam, möchte ich jetzt nicht näher erwähnen. Nur so viel: Der Heel glänzte danach wieder spiegelglatt und narbenfrei.
Eines Tages kam in diesen sündteuren Schuhladen eine junge Frau, in die sich Maurice samt ihrer bezaubernden Heels sofort verliebte. Doch als sie erfuhr, worauf er beim Sex steht, stempelte sie ihn als pervers ab und suchte rasch das Weite. Das soll nicht heißen, dass Maurice es nie wieder versucht hat – ganz im Gegenteil, er turnt nur so durch die Betten, dass es einem schwindelig davon wird. Er verwöhnt die beschuhten und bestrumpften Damenfüße nach allen Regeln seiner Kunst und bekam auch schon oft eine Ohrfeige dafür, dass er sich mehr um die Füße als um ihren Liebesmund bemühte. Als Maurice den exquisiten Laden und somit die gesamte florierende Schuhkette seines Vaters übernahm, blieb manch eine Dame auch etwas länger, aber nur, um sich rundum finanziell aushalten zu lassen. Andere wiederum hielten ihn von vornherein für etwas bekloppt, aber dennoch für sehr sympathisch. Doch für eine feste Beziehung hat es nie gereicht.
Maurice verkauft nicht nur Damenschuhe, so wie es sein Vater tat, sondern entwirft auch die tollsten und kühnsten Heels, die sich eine Frau nur erträumen kann. In seinem Innenstadtgeschäft in Lyon werden die neuesten Erfindungen regelmäßig in Vernissagen und Ausstellungen präsentiert. So wie heute Abend auch. Das Motto: Die hohe Kunst der Schuhe, tragbar bis extravagant. Auf dieser Vernissage wird das kreative Ergebnis von Kunst, Handwerk und Design dargeboten. Ja, sogar handbemalte Satinschuhe mit dazu passender Clutch sind bei ihm keine Seltenheit. Wobei Maurice dann auf die glamourösen Stoffe von Julien zurückgreift, der übrigens heute auch anwesend ist. Seine bizarren Schuhe sind jedenfalls immer tragbar, wenn nicht auf dem Laufsteg des Lebens, dann zumindest im Bett der Angebeteten.
Jeder Modefotograf, der in der Pariser Modewelt etwas zu sagen hat, ist heute anwesend und mit Bestimmtheit spricht morgen ganz Lyon und Paris von diesen exquisiten Heels, die bald in Produktion gehen werden.
Die beiden Designer mischen sich unter die Gäste. Beide halten ein Glas Champagner in der Hand, werden überall mit gebührendem Respekt empfangen. Maurice, der Schuhkomponist, und Julien, der Schöpfer unverwechselbarer Reizwäsche. Zwei angesehene Männer in zwei aufstrebenden Unternehmen.
Ein Mann, der schon Juliens Großvater gekannt hat, verwickelt ihn in ein Gespräch. Sie unterhalten sich angeregt. Natürlich weiß er, dass in Juliens Manufaktur noch immer absolute Luxusprodukte aus Lyoner Seide hergestellt werden, die auf dem gesamten Globus an vermögende Kunden verkauft werden – egal aus welchem fernen Eck. Seit dem 16. Jahrhundert ist die Manufaktur im Besitz von Juliens Familie. Auch heute noch hält Julien die Fäden des Fortschritts und die der Seide in der Hand, beliefert ganz Europa mit den kostbaren Stoffen. Dafür, dass er diesen Zeitgeist aufrechterhält, erntet er Bewunderung von seinem Gesprächspartner. Ja, er erinnert sich sogar noch daran, dass die Arbeiter damals mit riesigen Stoffballen auf den Schultern durch die sogenannten Lyoner Traboules liefen – jene Durchgänge, mit denen sich die beschwerlichen Wege abkürzen ließen. Heute ist der Transport um einiges leichter, dennoch wird das wertvolle Material noch immer mit äußerster Sorgfalt behandelt, um es vor Wind und Wetter sowie dem Staub der gepflasterten Gassen zu schützen. Der betagte Herr führt aus, schon sein Urgroßvater sei sehr erfinderisch gewesen. Denn als der mechanische Webstuhl erfunden wurde, habe die Produktion einen enormen Aufschwung erlebt. Die Erinnerungen zaubern dem betagten alten Gentleman zahlreiche Lachfältchen ins Gesicht und er erzählt von den blutigen Aufständen der Seidenweber, den miserablen Arbeitsbedingungen und der schlechten Bezahlung. Julien hört ihm geduldig zu, erklärt aber, dass es diese Bedingungen heute unter ihm nicht mehr gebe, obwohl die Konkurrenz der chinesischen Seidenmafia, wie Julien sie immer bezeichnet, sehr groß sei. Dort herrschten nämlich noch immer Arbeitsbedingungen wie im 19. Jahrhundert. Julien macht ein verständnisvolles Gesicht, obwohl er sich am liebsten von seinem Gesprächspartner losreißen möchte.
Zum Glück gesellt sich Maurice dazu und wird prompt von dem Gentleman in Beschlag genommen. Julien atmet erleichtert auf, sein Blick macht die Runde. Er beobachtet die Damenwelt und deren Bekleidung, inspiziert genau, was sie tragen. Bei dem Gedanken, dass viele nur aus dem Grund gekommen sind, um ein Auge auf die beiden Singlemänner zu werfen, seufzt er. Als er jedoch mit seinem Glas Champagner so dasteht, wandert sein Blick zu einer elegant gekleideten Dame, die gerade erhobenen Hauptes durch die Tür schreitet. Er kennt sie nicht. Sie ist wohl Anfang dreißig, schlank und in ein exquisites rotes Satinkleid gehüllt, was ihm natürlich sofort ins Auge springt. Dazu trägt sie außergewöhnliche Heels der Konkurrenz und hat zweifelsohne einen anziehenden Augenaufschlag. Diese Dame betritt den Raum nicht, sie erscheint, wie Julien sofort auffällt, und auch Maurice bleibt der Auftritt der jungen Dame nicht verborgen, wobei sein Blick sofort auf die Schuhe fällt. Gar nicht mal so schlecht. Der Designer hat Geschmack, wie er zugeben muss. Nach genauerem Hinsehen findet er heraus, dass die Schuhe aus Birkenrinde gemacht zu sein scheinen, und er macht Julien darauf aufmerksam. Die Gier, sie näher zu inspizieren, wächst.
Während er noch immer die Schuhe der Dame betrachtet, verweilt Juliens Blick in ihrem neugierig wirkenden Gesicht. Ihre grünen Pupillen sind eine Augenweide, ihr rötlich schimmerndes Haar ein Blickfang, der rot geschminkte Mund ein Gedicht. Eine Abfolge von mehreren Versen eines Kussmarathons wäre ihm jetzt nur recht. Wer ist sie?, fragt er sich, während er sie beobachtet. Ihr Blick fegt über die Köpfe der Leute hinweg und macht bei jedem männlichen Wesen Halt, dessen ungeteilte Aufmerksamkeit sie erregt. Sie muss eine Prinzessin sein, schießt es Julien durch den Kopf. Sie fällt nicht auf, indem sie in lautstarkes Gelächter ausbricht oder auf ihren hohen Stöckeln mit Elefantengetrampel den Raum durchquert, sodass es einem in den Ohren dröhnt. Oh nein. Sie hat keine Eile und trotzdem löst sie in Julien ein mittleres Erdbeben aus. Was für eine Frau. Als sie ihn ansieht, stellt er sein Glas auf den hohen Tisch neben sich und zieht bewundernd die Mundwinkel nach oben. Er lässt sie nicht aus den Augen – etwas, das in jeder anderen Frau Nervosität hervorgerufen hätte. Bei ihr aber anscheinend nicht. Ganz im Gegenteil.
Er ist überrascht. Eine Frau mit so viel Gelassenheit ist ihm noch nie begegnet und er macht einen unbewussten Schritt auf sie zu. Ihr angedeutetes Lächeln vermittelt den Eindruck, dass sie seine Geste sofort wahrnimmt. Wie er feststellt, ist er aber nicht der einzige Betrachter. Da gibt es noch einige andere, die sie in ihrer ganzen Schönheit bewundern, ihr am liebsten entgegeneilen würden, um ihr ein Glas Champagner zu überreichen. Etwas, das ein junger Mann auch gerade tut. Juliens Hoffnung auf ein interessantes Gespräch mit der attraktiven Dame schwindet augenblicklich, denn sie wendet ihren Blick von ihm ab, lächelt dem jungen Herrn zu. Da erkennt er, dass der Jüngling der Barkellner ist und sie wie jeden Gast hier mit einem Aperitif empfängt. Eine Tatsache, die sein Gemüt wieder erhellt. Er atmet erleichtert auf, setzt seinen Weg fort, geht auf sie zu. Sein Interesse entgeht ihrer Aufmerksamkeit nicht.
»Bonjour, Madame. Ich hoffe, Sie vermissen nichts«, begrüßt er sie in einem galanten Tonfall – einem, der tief und beruhigend klingt.
»Bonjour, Monsieur, danke der Nachfrage«, erwidert sie und der Klang ihre Stimme ist wie Musik in seinen Ohren. Dennoch erkennt er, dass sie nicht von hier ist. Er inspiziert sie eingehend. Woher kommt sie? Und warum ist sie hier?, fragt er sich. Doch bevor er ihr diese Frage stellen kann, erzählt sie ihm, dass sie rein zufällig hereingestolpert sei. Eigentlich sei sie auf der Suche nach einem Lokal gewesen.
»In Lyon? Und ganz allein?«, reagiert er völlig überrascht.
»Nein«, antwortet sie lachend. Er fühlt sich ein wenig betreten und lächelt verschämt.
Seine Zurückhaltung bleibt nicht unbemerkt und es scheint ihr peinlich zu sein, dass sie in ein sogenanntes französisches Fettnäpfchen getreten ist.
Julien verdrängt den Gedanken und versucht, das Gespräch wiederaufzunehmen. »Darf ich mich vorstellen?«, fragt er gentlemanlike und sie gibt ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass sie interessiert sei. »Julien, Madame«, meint er und nimmt ihre Hand, deutet einen Handkuss an. Er merkt, dass sie von seiner Etikette ganz angetan ist. So etwas hat wahrscheinlich noch nie jemand bei ihr gemacht, denn sie starrt auf seine Hand, die noch immer die ihrige hält, wobei sich ihre Wangen zartrosa färben. Es hat den Anschein, als würde ihr die Hitze ins Gesicht steigen, wie er sich vor ihr fast schon devot verbeugt, als wäre sie die Prinzessin von Wales.
»Isabelle«, bringt sie nun notgedrungen hervor, dabei hebt und senkt sich ihr Brustkorb. Ihr Herz schlägt ihr bis zum Hals, er kann es bis zu sich herüber hören. Der Gedanke, er könnte um sie werben, bringt sie wohl ziemlich aus der Fassung.
Fast schon wie ein Jäger kommt er sich vor, obwohl er eigentlich den devoten Part mimen möchte. Aber so ist das eben. Männer müssen zumeist den ersten Schritt machen, ob nun devot oder dominant, das ist völlig egal. Einfacher wäre es, wenn er ihre erotischen Träume kennen würde. Das ist zwar nicht der Fall, doch sie arbeitet mit nonverbalen Signalen: Das rote Satinkleid an sich ist schon der Hammer – der tief sitzende Ausschnitt, der ihre Brüste wunderbar zur Geltung bringt, das herrliche Beinkleid, das sie trägt, zweifelsohne Seidenstrümpfe. Und erst die Strumpfhalter! Ein Traum, wie sie sich an ihren wohlgeformten Oberschenkeln entlangschlängeln und am Saum des Kleides hervorblitzen. Die Macht der Verführung. Schon allein der Anblick. Zum Niederknien. Dann ihr Blick, der sein Blut in Wallung bringt – ihr Lächeln, das er unwiderstehlich findet und das sie nicht nur schöner macht, sondern rundherum Feuerfunken sprühen lässt. Er ist mehr als nur interessiert an ihr und würde sie jetzt am liebsten irgendwohin entführen. Nur wie sollte er das bewerkstelligen, mitten auf der Vernissage, wo seine Anwesenheit unabkömmlich ist?
Isabelle ist ganz bei der Sache, was er daran merkt, dass sie ihn mehr als nur einen Wimpernschlag lang ansieht, ihm wirklich zuhört, ihn anlächelt. Als er seinen Arm auf den hohen Tisch ablegt, spiegeln ihre Bewegungen die seinen wider, indem sie dasselbe tut. Selbst ihre Fußspitzen zeigen in seine Richtung.
Auch er ist ihr zugewandt, ein Zeichen, dass er sich nicht nur mit ihrem Dekolleté unterhält. Auch wenn er einen diskreten Blick auf ihre Beine und das dazugehörige Beinkleid wirft, das er übrigens sehr interessant findet. Sie scheint zu bemerken, dass seine Augen an ihren schlanken Beinen nach unten wandern, denn sie zieht ihre Mundwinkel nach oben. Sie öffnet ihm quasi das Tor zu ihrem Herzen, weil er leise anklopft. So funktioniert Verführung. In ihrer Nähe fühlt er sich wohl und als sie ihren Kopf ein wenig neigt, wird ihr Lächeln zu einem unwiderstehlichen Instrument der Begierde. Sie findet ihn augenscheinlich attraktiv und das zeigt sie ihm auch.
Mit einem Wort: ein Flirt der Art, wie er ihn schon lange nicht mehr erlebt hat. Zwischen ihnen herrscht ein Prickeln, eine unheimliche Sympathie, wie sie nur sehr selten vorkommt. Zum Glück hat sie keinen blassen Schimmer, wer er ist. Endlich eine Frau, die keine Ahnung hat, dass ich wohlhabend bin. Aber natürlich ist sie auch völlig blauäugig, was seinen Fetisch und seine Sexualpräferenz angeht. Das wäre dann allerdings ein Grund, weswegen er sich wieder Sorgen machen müsste. Doch auch wenn Julien einen Fetisch hat und sich seiner Liebsten unterwerfen will, schließt dies nicht aus, dass er auch Blümchensex mag. Wenn nun jemand sagt, Blümchensex sei etwas für Spießer und Langweiler, dann ist er auf dem Holzweg, denn es ist eine besonders sanfte und romantische Art, Zärtlichkeiten mit seiner Liebsten auszutauschen, weil alles ein bisschen langsamer geht. Bei Julien wird im wahrsten Sinne des Wortes Liebe gemacht. Für die Kennenlernphase einfach wunderbar, weil es auch ein wenig Nervosität wegnimmt. Ein Liebespiel, in dem es darum geht, sich in die Augen zu sehen, sich anzufassen, sich fallen zu lassen. Ja, sich großflächig zu fühlen und zu ertasten. Bestimmt ein bedeutsamer Liebesbeweis, wobei es bei ihm an Kreativität nicht mangelt.
Julien ist ein genauso experimentierfreudiger Bettgenosse wie jeder andere Mann auch, nur keiner, der wie wild durch die Betten turnt. Er steht zwar auf wilden, hemmungslosen Sex, auf Verrenkungen jeglicher Art, ständigen Stellungswechsel oder crazy Rollenspiele, aber genauso auf Kuschelsex, bei dem romantische Gefühle im Vordergrund stehen. Auch wenn er die härtere Gangart beim Sex mag, ist er auf der devoten Seite zu finden. De facto steht das Verwöhnen seiner Herzensdame auf der Tagesordnung. Was ihn selbst angeht, kann es ruhig etwas härter zugehen. Dennoch ist er sehr zärtlich und liebevoll, aber auch wild und sinnlich. Es ist Geschmackssache oder eine Frage der Situation. Wenn Julien frisch verliebt ist, kann er seine Lippen nicht von seiner Geliebten lassen, ob es sich nun um die genitalen oder die anderen handelt. Er genießt es, an ihnen zu saugen, sie zu lecken, zu küssen. Jede Sekunde. Dabei blickt er seiner Dame gefühlvoll in die Augen, streichelt sie im Gesicht, verwöhnt sie. Oh jaaa! Darin ist er ein wahrer Meister: seiner Angebeteten jeden Wunsch von den Augen abzulesen, ihr im Liebesspiel zu dienen, sich von ihr benutzen zu lassen, ihr alles zu geben, was er nur kann. In gewisser Weise ein Traummann. Stellt sich nur die Frage, ob er der richtige für Isabelle ist. Julien verdrängt seine Zweifel und träumt weiter vor sich hin, bis er von Maurice aus seiner Fantasievorstellung herausgerissen wird.
»Guten Abend«, begrüßt dieser Isabelle, »ich hoffe, ich störe nicht.« Er sieht Julien kurz an, dessen Gesichtsausdruck Bände spricht. Natürlich stört er, denkt sich dieser, was sonst. Doch Maurice zeigt sich unbeeindruckt und mustert ihre hübschen Heels, spricht sie darauf an. »Ein überaus schönes Paar Schuhe tragen Sie da. Darf ich fragen, welcher Designer sie kreiert hat?« Er brennt auf ihre Antwort.
Isabelles Augen blitzen ihn an, dann sieht sie nach unten zu ihrem exquisiten Schuhwerk. »Ich habe sie in St. Petersburg von einem Schuster machen lassen. Sie sind aus Birkenrinde hergestellt. Innen aus feinstem Leder«, erklärt sie.
Julien kocht innerlich, weil er merkt, dass sein Freund sich um die junge Dame bemüht. Sie wiederum schenkt ihm ein bezauberndes Lächeln, was ihn eifersüchtig macht. Dann noch Maurice’ Ohhs und Ahhs bei allem, was sie von sich gibt. Zum Aus-der-Haut-fahren. Kann er sich nicht einmal mit seinem verdammten Fetisch zurückhalten, wenn er merkt, dass ich an dieser Frau interessiert bin? Das Alphamännchen in ihm wird wach. Konkurrenz tut sich auf. Maurice ist sein Nebenbuhler. Das darf auf keinen Fall sein. Er hat sich doch schon so nett mit ihr unterhalten. Er will ihre Aufmerksamkeit zurück, koste es, was es wolle. Das wäre ja noch schöner. Es ist ihm völlig schnuppe, ob Maurice nun mit seinem Schuhfetisch auf seine Kosten kommt oder nicht. Womöglich fällt er noch hier vor allen Leuten vor ihr auf die Knie, um ihre Schuhe zu küssen. Bei dem Gedanken rollt er mit den Augen. Jetzt macht Maurice auch noch einen seichten Witz. Unglaublich! Was denkt der Kerl sich eigentlich? Er findet es gar nicht witzig und schon gar nicht, dass er sich an eine Frau heranmacht, die eigentlich für ihn bestimmt ist.
Doch Maurice macht keine Anstalten, etwas an seinem Verhalten zu ändern. Ganz im Gegenteil. Er fragt sie tatsächlich, ob er sich ihre Schuhe genauer ansehen könne. Sie stimmt auch noch zu und setzt sich auf die Couch, die ganz in der Nähe steht. Maurice zieht ihr den Heel vom Bein.
Julien greift sich an die Stirn, Schweißperlen stehen darauf. Was fällt ihm eigentlich ein?, fragt er sich und ist völlig verwirrt, denn er stellt sich gerade vor, wie seinem Freund ihr Fußduft in die Nase steigt – etwas, das doch eigentlich nur ihm vorbehalten sein sollte. Maurice verwickelt sie in ein Gespräch. Sie lacht und Julien möchte am liebsten auf der Stelle durchdrehen. Doch was nützt ihm das? Er würde höchstwahrscheinlich eine lächerliche Figur abgeben und dann wäre jede Hoffnung, sie näher kennenzulernen, dahin. In seinem Beruf ist er unschlagbar, steht jeden Tag in der Manufaktur seinen Mann, ist der Vorsitzende der Aktiengesellschaft, von der er siebzig Prozent hält, führt Verhandlungen, setzt neue Entwürfe in die Tat um, unternimmt Geschäftsreisen bis in den Fernen Osten, um Geschäftsbeziehungen zu pflegen und die Konkurrenz auszuhorchen. Aber im Privatleben ist er jemand, der die Kontrolle völlig an seine Partnerin abgeben will, sich ihr unterwerfen möchte, ihr dienen will und sich ihren Wünschen fügt. Aber vielleicht will sie so einen Mann ja gar nicht.
Er gibt auf. Das Alphatier in ihm wird zum Betamännchen. Der starke und selbstsichere Mann mutiert zu einem schüchternen und unsicheren Mitläufer, vergibt sich dadurch möglicherweise eine große Chance. Maurice hält nun die Fäden in der Hand. Er überredet die Schöne, trotz des Regens mit ihm nach draußen in den Park zu gehen, wo er sie zu einem alten Steingemäuer führt.
Julien kann nicht anders und folgt ihnen unbemerkt. Auf dem Weg lachen die beiden, laufen um Wasserpfützen herum, wobei Isabelles Strümpfe ziemlich nass gespritzt werden. Schon der Anblick allein löst in ihm eine Detonation aus. Was würde er jetzt dafür geben, ihr jeden Wassertropfen einzeln abzulecken, um sie dann mit seiner Zunge trocken zu fächeln!
Als sie vom Regen geschützt unter einem Mauervorsprung landen, nimmt Maurice Isabelles Schuhe und natürlich auch sie genauer unter die Lupe. Langsam kommt er ihr näher, ist sich seiner Sache fast sicher. Isabelles Selbstbewusstsein scheint ihm zu imponieren. Anbrennen lässt die schöne Fremde wohl kaum etwas. Trotz ihrer zierlichen Gestalt – mit allerdings eindrucksvollen Kurven – fegt sie wie ein Hurrikan über die Männerwelt hinweg. Privat und ganz bestimmt auch beruflich. Wer Isabelle einmal erlebt und gesehen hat, weiß, warum. Sie ist der Inbegriff des Weiblichen. Kurzum ein Traum jedes Mannes, der etwas auf sich hält. Sie strahlt Selbstsicherheit aus, ist also bestimmt eine erfolgreiche und obendrein noch schöne Frau. Ihr rötliches Haar trägt sie schulterlang und gelockt. Die Katzenaugen sind ein Blickfang, der Augenaufschlag markant und unverkennbar, der verführerische Kussmund anbetungswürdig. Eine überaus stolze junge Dame, die genau weiß, was sie will.
Nur mit einem hat sie sicher nicht gerechnet: Dass sie die beiden gleich im Doppelpack an der Angel hätte. Maurice ist groß gewachsen, schlank, hat dunkles, leicht gewelltes Haar und ausdrucksstarke, blaue Augen. Und sein Lächeln! Fast unwiderstehlich, wie Julien jetzt leider feststellen muss. Wie das eines Mannes, dem man keinen Wunsch abschlagen kann. In seinem Wesen freundlich, zuvorkommend und galant, das muss Julien ihm lassen. Ein Mann mit Prinzipien, durchaus loyal, aber auch einer, dem das Ansehen in der Gesellschaft extrem wichtig ist. Im Moment scheint er Privates mit Geschäftlichem clever zu verbinden und in Julien steigt eine innere Unruhe auf, denn die Dame und ihre Schuhe haben es Maurice sichtlich angetan. Ein Umstand, den sie schon bemerkt hat. Isabelle scheint nicht sehr enttäuscht darüber zu sein, dass sie die Vernissage verlassen haben, um nach draußen zu gehen. Sie schien sich in dieser vornehmen französischen Gesellschaft nicht wirklich wohlzufühlen.
Die beiden Männer sind ihr wahrscheinlich sofort ins Auge gestochen. Julien war wohl der Erste, den sie im Blickfeld hatte. Er ist auch ganz anders als die übrige männliche Gesellschaft und wahrscheinlich hat sie das nötige Gespür dafür. Isabelle scheint kein Kind von Traurigkeit zu sein. Das kann er ihr ansehen. Er vermutet, dass sie einem sich ergebenden One-Night-Stand sicher nicht prüde gegenübersteht, sondern den Augenblick genießt.
Julien kann es einfach nicht lassen, er fühlt sich wahnsinnig zu ihr hingezogen. Er folgt den beiden bei ihrem Spaziergang durch den Park und beobachtet sie aus nächster Nähe. Hinter einem alten Mauerrest hält er sich versteckt. Der plötzlich einsetzende Regen macht die anmutige Schönheit zu seinem begehrlichen Zentrum. Der Felsvorsprung, unter dem sie steht, kann sie vor dem Wolkenbruch nicht schützen. Das Wasser läuft unabänderlich über ihr hübsches Gesicht – ein Umstand, der sein Innerstes zum Erbeben bringt. Die grünen Augen durchstoßen sein Herz, als wären sie ein Dolch, von dessen Klinge er sich einen durchaus süßen Schmerz zuziehen möchte. Der Augenaufschlag, den sie ihm ungeahnt zukommen lässt, versetzt seinen Körper in Wallung. Ihre roten Lippen würde er am liebsten augenblicklich küssen und er ist sicher, sich von ihrem sinnlichen Mund nicht wieder losreißen zu können. Die rotbraunen Locken trotzen dem Regen und lassen sich nicht bändigen. Genauso wenig, wie sich Isabelle von irgendjemandem bändigen lassen würde, denkt er, wie er sie dort so stehen sieht. Oh, wie gern wäre er nun an Maurice’ Stelle.
Von ihrer Ausstrahlung und ihrem begehrlichen Körper förmlich angezogen, schließt er die Augen, um diesem Zauber zu entfliehen. Er versucht sich zu beruhigen, seinen Atem wieder zu kontrollieren. Trotzdem entkommt er ihr nicht. In seinen Gedanken wühlt sie ihn weiterhin auf. So sehr, dass er innerlich zu vibrieren beginnt. Warum fühlt er sich von dieser Frau nur so sehr angezogen? Was hat sie an sich, dass er dermaßen außer Kontrolle gerät? Doch die Antwort liegt klar auf der Hand. Es ist in erster Linie ihr Outfit, dann ihr selbstbewusstes Auftreten, das ihn so anmacht. Er öffnet die Augen wieder, sein Blick wandert abermals zu ihr.
Und jetzt passiert etwas Unerwartetes: Sie entdeckt ihn. Sieht ihm ins Gesicht, weil er sich hinter dem Vorsprung, wo er sich gerade noch versteckt hat, um nicht entdeckt zu werden, hervorwagt. Ihr Blick ist feurig. Es lodert in ihr. Er spürt die Macht, die sie augenblicklich über ihn gewinnt. Die Neugierde, ihre Abenteuerlust. Ihre Selbstsicherheit, die sie ihm gegenüber ausstrahlt, als wäre es ein fester Bestandteil einer neuartigen Therapieform: Sieh mich, spür mich, heil mich. Sie würde seine schmutzigen Geheimnisse teilen. Ihre heimlichen Sehnsüchte wären dieselben. Ein provozierender Auftakt zu einer Sinfonie der Lust.
Für einen kurzen Augenblick vergisst er seine Bedenken, in einem Moment, in dem nichts mehr so ist wie vorher, in dem sie ihn förmlich ansaugt. Sein angespanntes Gesicht zeigt plötzlich weiche Züge. Oh, wie gern würde er nun vor ihr niederknien, ihr dienen, sich von seiner devotesten Seite zeigen. Diese wunderschöne Frau erwärmt sein Herz und ein Lächeln breitet sich über sein Gesicht aus. Eines, das man bei ihm in letzter Zeit nur sehr selten bis gar nicht entdecken konnte. Das rührt wohl daher, dass ihm das Glück in der Liebe bisher nicht wirklich beschert wurde.
Er kann seinen Blick nicht von ihr abwenden, bis sich Maurice, der sie bereits in den Armen hält, plötzlich umdreht. Julien verschwindet reflexartig hinter dem Mauerwerk. Er atmet schwer und erkennt, wie sehr sie ihn aufwühlt. Es muss eine Möglichkeit geben, sie erstens aus Maurice’ Fängen zu befreien und sie zweitens näher kennenzulernen.
Julien schmiedet einen Plan. Eigentlich eine verrückte Absicht, aber irgendwie genial, wie er findet. Zumindest eine Möglichkeit, um herauszufinden, ob sie noch Interesse an ihm hat. Er wird es nur einmal versuchen. Sollte sie ihm nicht zugeneigt sein, wird er sie freigeben. Er zählt nicht zu den Menschen, die andere mit allen Mitteln an sich binden wollen. Nein. So einer ist er nicht. Er wünscht sich einen Menschen an seiner Seite, der ihn um seinetwegen liebt.
Der Plan vervollständigt sich in seinen Gedanken. Er handelt. Unter einem Vorwand lässt er Maurice von einem der Eventmanager zurück zur Vernissage holen. Eigentlich ein wenig fies, aber wenn er es sich so recht überlegt, hat Maurice ihm Isabelle richtiggehend ausgespannt. Das kann es ja wohl auch nicht sein. Als dieser in den Ausstellungsraum zurückkehrt, belagern ihn sogleich die Pressefotografen, einige Reporter stellen Fragen.
Julien hat freie Bahn. Er ergreift seine Chance, liest Isabelle auf und lädt sie kurzerhand in das nächstgelegene Lokal ein.
Die beiden verlassen das Parkgelände fast schon fluchtartig. Julien will sichergehen, dass ihm sein Freund nicht noch einmal in die Quere kommt. Zusammen gehen sie in Richtung Bouchon Tupin, ein französisches Restaurant am Rande der Altstadt. Jetzt kann er aufatmen. Die Frau seiner Träume schlendert neben ihm her, sein Widersacher ist aus dem Weg geräumt. Vorerst zumindest. Sie durchstreifen enge, mit Kopfsteinpflaster befestigte Gassen. Vorbei an unzähligen Arkaden und Türmchen, an farbenfrohen Häusern und deren Hinterhöfen spazieren sie weiter. Sie unterhalten sich über Gott und die Welt. Beide genießen es. Julien fragt Isabelle, woher sie kommt, und sie erzählt ihm, dass sie heute erst in Lyon angekommen sei, weil sie ihre Freundin besuchen möchte. Sie komme aus London, wo alles lang nicht so entspannt sei wie hier in Lyon. Gleich als sie sich vom Hotel aus auf den Weg in die Altstadt gemacht habe, um ein Lokal zu suchen, hätte sie das Gefühl gehabt, es hier wirklich längere Zeit aushalten zu können.
Julien gefällt Isabelles ungezwungene Art und auch sie scheint dem eleganten Herrn nicht abgeneigt zu sein, fühlt sich in seiner Gesellschaft sichtlich wohl. Bestimmt ist es ihr nicht entgangen, dass Julien und auch seinem Freund Maurice auf der Vernissage großes Interesse entgegengebracht wurde, aber welche Rolle genau sie dort spielen, dürfte ihr zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar sein. Und das ist auch gut so, denkt er sich. Zumindest für die Kennenlernphase – bis er weiß, wer sie ist und ob sie sich mehr vorstellen könnte als nur einen One-Night-Stand mit ihm. Jedenfalls ist er jetzt schon begeistert von ihr, und wie!