Abd al-Gawwad, der übermächtige Herrscher der Familie, ist gefürchtet und geliebt zugleich. Strotzend vor Vitalität und Lebenslust, ist er zu Hause doch der gnadenlose Patriarch, der Ehefrau, Töchter und Söhne an seinen Fäden führt. Die Familienmitglieder verstricken sich immer tiefer im Geflecht ihrer verunsicherten Beziehungen.
Zur Webseite mit allen Informationen zu diesem Buch.
Nagib Machfus (1911–2006) gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur.
Zur Webseite von Nagib Machfus.
Doris Kilias (1942–2008) arbeitete als Redakteurin beim arabischen Programm des Rundfunks Berlin (DDR). Nach der Promotion war sie als freie Übersetzerin tätig.
Zur Webseite von Doris Kilias.
Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)
Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.
Zwischen den Palästen
Roman
Aus dem Arabischen von Doris Kilias
Die Kairo-Trilogie I
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
HINWEIS: Ihr Lesegerät arbeitet einer veralteten Software (MOBI). Die Darstellung dieses E-Books ist vermutlich an gewissen Stellen unvollkommen. Der Text des Buches ist davon nicht betroffen.
Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 6 Dokumente
Die arabische Originalausgabe erschien 1956 unter dem Titel Baina l-Kasrain in Kairo.
Ich danke Herrn Ahmed Ezzeldin für die hilfreiche Erläuterung schwieriger Textstellen. Doris Kilias
Originaltitel: Baina l-Kasrain
© by Nagib Machfus 1956
© by Unionsverlag, Zürich 2020
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30588-5
Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte
Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)
Version vom 04.03.2020, 18:43h
Transpect-Version: ()
DRM Information: Der Unionsverlag liefert alle E-Books mit Wasserzeichen aus, also ohne harten Kopierschutz. Damit möchten wir Ihnen das Lesen erleichtern. Es kann sein, dass der Händler, von dem Sie dieses E-Book erworben haben, es nachträglich mit hartem Kopierschutz versehen hat.
Bitte beachten Sie die Urheberrechte. Dadurch ermöglichen Sie den Autoren, Bücher zu schreiben, und den Verlagen, Bücher zu verlegen.
http://www.unionsverlag.com
mail@unionsverlag.ch
E-Book Service: ebook@unionsverlag.ch
Falls Sie ein E-Book aus dem Unionsverlag gekauft haben und nicht mehr in der Lage sind, es zu lesen, ersetzen wir es Ihnen. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn Ihr E-Book-Shop schließt, wenn Sie von einem Anbieter zu einem anderen wechseln oder wenn Sie Ihr Lesegerät wechseln.
Viele unserer E-Books enthalten zusätzliche informative Dokumente: Interviews mit den Autorinnen und Autoren, Artikel und Materialien. Dieses Bonus-Material wird laufend ergänzt und erweitert.
Durch die datenbankgestütze Produktionweise werden unsere E-Books regelmäßig aktualisiert. Satzfehler (kommen leider vor) werden behoben, die Information zu Autor und Werk wird nachgeführt, Bonus-Dokumente werden erweitert, neue Lesegeräte werden unterstützt. Falls Ihr E-Book-Shop keine Möglichkeit anbietet, Ihr gekauftes E-Book zu aktualisieren, liefern wir es Ihnen direkt.
Wir versuchen, das Bestmögliche aus Ihrem Lesegerät oder Ihrer Lese-App herauszuholen. Darum stellen wir jedes E-Book in drei optimierten Ausgaben her:
E-Books aus dem Unionsverlag werden mit Sorgfalt gestaltet und lebenslang weiter gepflegt. Wir geben uns Mühe, klassisches herstellerisches Handwerk mit modernsten Mitteln der digitalen Produktion zu verbinden.
Machen Sie Vorschläge, was wir verbessern können. Bitte melden Sie uns Satzfehler, Unschönheiten, Ärgernisse. Gerne bedanken wir uns mit einer kostenlosen e-Story Ihrer Wahl.
Informationen dazu auf der E-Book-Startseite des Unionsverlags
Um Mitternacht wachte sie auf. Wie immer geschah das ohne jeden Wecker. Es war lediglich eine Eingebung, die ihr den beharrlichen Wunsch einflößte, genau zu dieser Zeit munter zu werden. Für einen kurzen Moment zögerte sie, war sie sich doch nicht schlüssig, ob sie wirklich die Augen aufschlagen sollte. Noch stürmten Traumbilder und das Gewisper von Gefühlen auf sie ein. Schließlich wurde sie immer unruhiger, und sie bekam Angst, der Schlaf könnte sie betrügen. Sie schüttelte leicht den Kopf, hob die Lider und blickte in die Finsternis des stockdunklen Zimmers. Es gab nicht das geringste Zeichen, aus dem sie hätte schließen können, wie spät es war. Die Straße, die unter ihrem Zimmer lag, kam bis zur Morgendämmerung nicht zur Ruhe. Die Wortfetzen, die zu Beginn der Nacht aus den Kaffeehäusern und Schenken an ihr Ohr drangen, waren auch noch um Mitternacht und kurz vor Sonnenaufgang zu vernehmen. Nichts deutete auf die Zeit hin, außer einem verborgenen, dem Zeiger einer achtsamen Uhr ähnlichen Gefühl und dem Schweigen, das auf dem Haus lag. Es verriet ihr, dass ihr Gebieter noch nicht an die Tür seines Hauses gepocht und mit der Spitze des Stocks noch nicht auf die Stufen der Treppe geschlagen hatte.
Um diese Zeit zu erwachen, war ihr in frühester Jugend zur Gewohnheit geworden, die sie auch in ihren alten Tagen noch bewahrte. Sie war damit vertraut gemacht worden, als sie die Sittsamkeit des ehelichen Lebens zu lernen hatte. Dazu gehörte, um Mitternacht aufzuwachen, zu warten, bis ihr Gebieter von seiner nächtlichen Feier heimkehrte, und ihm zu Diensten zu stehen, bis er endlich schlief. Ohne noch länger zu zögern, richtete sie sich im Bett auf, um der wohligen Verführung, weiterzuschlafen, zu widerstehen. Sie sprach die Worte »Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers«, schlüpfte unter der Bettdecke hervor und stellte die Füße auf den Boden. Sich an den Bettpfosten und Fensterläden entlangtastend, erreichte sie die Tür und öffnete sie. Schwacher Lichtschein drang von einer Lampe herein, die auf einer Konsole im Salon stand. Langsam ging sie auf sie zu, nahm sie in die Hand und kehrte ins Zimmer zurück. Die Öffnung der gläsernen Lampe spiegelte sich an der Decke als zittriger Kreis blassen Lichts wider, von einem Schattenrand umgeben. Sie stellte die Lampe auf den Tisch vor dem Sofa. Helligkeit breitete sich in dem großen viereckigen Raum mit den hohen Wänden und dem gleichmäßig verlaufenden Deckengebälk aus, wobei die kostbare Einrichtung mit dem Teppich aus Schiras, dem großen Bett mit den Messingsäulen, dem gewaltigen Schrank und dem breiten Sofa, bedeckt mit einem kleinen, vielfach gemusterten und farbenfrohen Teppich, im Verborgenen blieb. Die Frau ging zum Spiegel. Als sie ihr Bild betrachtete, bemerkte sie, dass das braune Kopftuch nach hinten verrutscht war und die kastanienbraunen Locken unordentlich auf der Stirn lagen. Sie griff nach dem Knoten, löste das Tuch, legte es sorgsam über das Haar und verknüpfte bedächtig und geschickt die beiden Enden. Dann strich sie sich über die Wangen, als wollte sie die letzten Schlafspuren verwischen. Sie war etwas über vierzig Jahre alt, mittelgroß und wirkte schmal, obwohl ihr ebenmäßiger, wohlproportionierter Körper gut gepolstert war. Das eher längliche, zart geschnittene Gesicht trug eine hohe Stirn. In den kleinen hübschen Augen lag ein träumerischer, honigfarben schimmernder Glanz. Die winzige feine Nase war bei den Flügeln ein wenig breiter. Unter den zart geschwungenen Lippen senkte sich ein spitzes Kinn, und auf der reinen, weizenfarbigen Haut prangte an ihrer rechten Wange ein tiefschwarzer Schönheitsfleck. Als wäre sie in Eile, legte sie sich, als sie auf den Holzerker zuging, den Schleier über Kopf und Gesicht, öffnete die Tür und trat hinein. Als sie in dem vom Zimmer getrennt gelegenen Käfig stand, wendete sie das Gesicht nach rechts und links, um durch die kleinen runden Löcher der geschlossenen Fensterläden einen Blick auf die Straße zu werfen.
Der Holzerker ging auf den Brunnen der Baina-l-Kasrain-Straße hinaus und überragte die Stelle, an der sich die Nahhasin-Straße, die in südlicher Richtung hinunterführte, mit der Baina-l-Kasrain-Straße kreuzte, die nach Norden hinaufstieg. Die Straße links war eng und vielfach gewunden. Dunkelheit hüllte sie ein, die nach oben hin noch dichter wurde, befanden sich doch dort die Fenster der im Schlaf liegenden Häuser. Unten war es ein wenig heller durch die Lichter der Handkarren, die Gaslampen von Kaffeehäusern und einigen Schenken, in denen die nächtlichen Unterhaltungen bis zum Sonnenaufgang andauerten. Die rechte Straße lag völlig im Dunkeln; dort gab es keine Wirtshäuser, sondern nur große Läden, deren Türen früh geschlossen wurden. Nichts lenkte den Blick auf sich, außer den Minaretten der Kalawun- und Barkuk-Moschee, die wie Trugbilder zaubernder Dämonen im Licht der strahlend hellen Sterne funkelten. Hatten sich ihre Augen an diesen Anblick auch seit einem Vierteljahrhundert gewöhnt, so waren sie doch dessen nie überdrüssig geworden. Vielleicht lag das daran, dass sie bei aller Eintönigkeit ihres Lebens nicht wusste, was Überdruss bedeutete. Im Gegenteil, gerade bei diesem Anblick hatte sie Vertrautheit und Freundlichkeit inmitten der Einsamkeit empfunden, die sie lange Zeit ihres Lebens hatte erdulden müssen. Das war, bevor die Kinder auf die Welt gekommen waren. Bis dahin hatte sie in dem großen Haus mit dem sandigen Hof, dem tiefen Brunnen, den zwei Geschossen und weiträumigen, hohen Zimmern den größten Teil des Tages und der Nacht allein zugebracht. Als sie heiratete, war sie ein junges Mädchen von weniger als vierzehn Jahren gewesen. Schon bald darauf, nachdem ihre Schwiegereltern gestorben waren, wurde sie die Herrin des Hauses. Eine alte Frau half ihr, die notwendigen Dinge zu erledigen, verließ sie aber bei Einbruch der Nacht, um im Backraum auf dem Hof zu schlafen. So blieb sie allein in der Welt der Nacht, die von Geistern und Gespenstern erfüllt war. Nickte sie für ein Stündchen ein, wachte sie die nächste Stunde, bis schließlich ihr Gebieter von einer seiner endlosen Nachtfeiern zurückkehrte.
Damit sich ihr Herz ein wenig beruhigte, hatte sie sich angewöhnt, gemeinsam mit der Dienerin, die eine Lampe vorantrug, durch alle Zimmer zu gehen, sich ängstlich in allen Winkeln umzusehen und dann die Räume, einen nach dem anderen, sorgfältig zu verschließen. Sie hatte immer mit dem ersten Geschoss begonnen, im oberen wurde der Vorgang auf die gleiche Weise wiederholt. Dabei sprach sie unentwegt Suren aus dem Koran, die ihr im Gedächtnis geblieben waren, um die Teufel zu vertreiben.
Hatte sie schließlich ihr Zimmer erreicht, schloss sie die Tür ab, schlüpfte ins Bett und hörte nicht auf, die Suren zu zitieren, bis sie eingeschlafen war. Wie sehr hatte sie doch damals, in den ersten Jahren, die Nacht gefürchtet. Über die Welt der Dämonen wusste sie viel mehr als über die Welt der Menschen, und so hatte sie denn auch nie das Gefühl verloren, in diesem großen Haus nicht allein zu leben. Auf längere Zeit konnten die Teufel den Weg zu diesen alten, großen, leeren Räumen nicht verfehlen. Vielleicht hatten sie sich dort sogar schon verkrochen, bevor sie in das Haus gebracht worden war, ja, bevor sie überhaupt das Licht der Welt erblickt hatte. Zu oft drang ihr deren Geflüster ans Ohr, zu oft streifte sie ihr sengender Atem. Nichts konnte helfen, außer die Fatiha und die Samadija zu sprechen oder in den Holzerker zu eilen und durch die Öffnungen den Blick über die Lichter der Karren und Kaffeehäuser schweifen zu lassen. Sie spitzte die Ohren, um ein Lachen oder Husten aufzuschnappen, das ihr den eigenen Atem wiedergab.
Dann waren nach und nach die Kinder geboren worden. Aber sie, die Neulinge auf dieser Welt, waren nichts weiter als zartes, frisches Fleisch, das weder die Furcht zerstreuen noch das Herz beruhigen konnte. Im Gegenteil, die Angst wuchs, bebte ihre Seele doch nun ihretwegen vor Kummer. Es nahm die Sorge zu, ihnen könnte Übles zustoßen. So barg sie die Kinder in ihren Armen, überschüttete sie mit dem warmen Atem liebevoller Zuneigung und umgab sie beim Schlafen und beim Wachsein mit dem schützenden Panzer von Suren und Amuletten, Beschwörungen und Zaubersprüchen. Aber wirkliche Ruhe fand sie erst dann, wenn der Gatte von seiner Nachtgesellschaft heimkehrte. Es geschah nicht selten, dass sie, wenn sie mit einem Kind gerade allein war, es liebkoste und in den Schlaf zu wiegen versuchte, das Kleine plötzlich an ihre Brust presste, angsterfüllt lauschte und dann laut, als wäre noch jemand im Raum, rief: »Geh weg von uns! Du hast hier nichts zu suchen! Wir sind fromme Muslims, die sich zu Gottes Einheit bekennen!« Voller Inbrunst sprach sie dann hastig die Samadija.
Je länger sie die Geister im Verlauf der Zeit ertragen musste, desto mehr ließ ihre Ängstlichkeit nach, und sie gewöhnte sich sogar etwas an deren Scherze, die ihr ja nie Schaden zugefügt hatten. Das ging so weit, dass sie beim Gefühl, von einem der Geister gestreift worden zu sein, in familiärem Umgangston erklärte: »He, kannst du nicht die Diener des Herrn respektieren? Gott steht zwischen dir und uns, also verschwinde mit Anstand!«
Wirklich beruhigt war sie aber erst, wenn ihr Gebieter nach Hause gekommen war. Allein seine Anwesenheit, ob er nun schlief oder wach war, machte sie sicher und ließ Frieden in ihre Seele einkehren. Da war es ihr gleichgültig, ob die Türen offen oder verschlossen waren, ob das Licht brannte oder nicht. Einmal, im ersten Jahr ihrer Ehe, war sie auf den Gedanken gekommen, in aller Höflichkeit einen gewissen Widerstand gegen sein ständiges nächtliches Feiern laut werden zu lassen. Aber das Einzige, was er daraufhin tat, war, sie bei den Ohren zu fassen und mit kräftiger Stimme zu erklären: »Ich bin der Mann und damit der unumschränkte Herrscher. Ich will nicht die geringste Bemerkung über mein Tun und Lassen hören. Das Einzige, was du zu tun hast, ist zu gehorchen. Also hüte dich davor, mich so weit zu bringen, dich erziehen zu müssen!«
Dieser Vorfall und noch einige weitere Zurechtweisungen hatten sie gelehrt, alles, selbst die Anwesenheit der Teufel, zu ertragen, wollte sie sich nicht seinem Zorn aussetzen. Sie hatte eben ohne Wenn und Aber zu gehorchen. Sie war sogar so eifrig darin, dass sie es nicht einmal mehr wagte, ihn in Gedanken wegen seines nächtlichen Ausbleibens zu schelten. Ihre ganze Seele war von der Achtung seiner würdevollen Männlichkeit erfüllt. Willkür und nächtliches Fernbleiben, selbst über Mitternacht hinaus, gehörten zu den notwendigen Eigenschaften eines solch einzigartigen Wesens. Im Lauf der Zeit kam es sogar so weit, dass sie auf alles, was er tat – gleichgültig, ob ihr das Freude oder Leid bereitete –, stolz war. Sie blieb bei allem, was geschah, die liebende, folgsame, unterwürfige Ehefrau. Keinen einzigen Tag hatte sie es je bereut, sich mit Demut und Sittsamkeit zufriedengegeben zu haben. Wann immer sie sich ihr Leben in Erinnerung rief, zeigten sich ihr nur schöne und glückliche Stunden. Zogen aber zuweilen, trostlosen Schreckensbildern gleich, Ängste und beklemmende Gefühle auf, so rang ihr das nichts als ein bedauerndes Lächeln ab. Hatte sie nicht mit diesem Ehemann, trotz all seiner Schwächen, ein Vierteljahrhundert gemeinsam verbracht und reiche Ernte aus diesem Zusammenleben getragen? Da waren die Kinder – ihre größte Freude. Da war das Haus – voller Hab und Gut und reich gesegnet. Ja, es war ein ausgewogenes, glückliches Leben. Und was die Gesellschaft der Dämonen betraf, so ging das ja immer wieder vorbei, und bisher hatte sie noch jede Nacht ohne Schaden überstanden. Keiner dieser Geister hatte je nach ihr oder einem der Kinder die Hand in böser Absicht ausgestreckt, vielmehr ähnelte ihr Treiben einem Scherzen und Necken. Also gab es auch keinen Grund, sich zu beklagen. Es konnte Gott nicht genug dafür gedankt werden, mit seinen Worten ihr Herz mit Zuversicht erfüllt und mit seiner Gnade ihr ein gutes Leben beschert zu haben.
Selbst die Stunde des nächtlichen Wartens liebte sie von ganzem Herzen, auch wenn dadurch der wohlige Schlaf unterbrochen wurde. Was sie an Handreichungen für den Gebieter noch tun konnte, war ein Dienst, mit dem der Tag sein würdiges Ende fand. Diese Stunde war zu einem nicht mehr wegzudenkenden Teil ihres Lebens geworden, bot sie doch nicht nur reichlich Gelegenheit, den Erinnerungen nachzuhängen, sondern war und blieb auch das lebendige Zeichen liebevoller Fürsorge und aufopfernder Hingabe. Nacht für Nacht wollte sie den Gebieter spüren lassen, mit welchem Glück sie dieser Dienst erfüllte.
So stand sie auch jetzt ruhig und entspannt im Holzerker und schaute durch die Öffnungen hindurch. Mal schweifte ihr Blick zum Baina-l-Kasrain-Brunnen und zur Churunfisch-Gasse hinüber, mal zum Portal des Sultanbads und zu den Minaretten. Dann wieder glitten ihre Augen über die Häuser, die sich auf beiden Seiten der Straße ungleichmäßig und unordentlich aneinanderdrängten, was einer Kolonne von Soldaten glich, die eine bequeme Haltung einnehmen und sich von der harten Disziplin erholen dürfen. Sie lächelte, denn sie liebte die Aussicht auf diese Straße sehr, die, auch wenn alle Gassen und Gässchen schon in tiefem Schlummer ruhten, bis zum Morgengrauen noch wach blieb. Wie viel Zerstreuung fand sie da, wenn sie nicht schlafen konnte, wie sehr fühlte sie sich durch das Treiben in ihrer Einsamkeit erheitert und in ihren Ängsten erleichtert, denn die Nacht bewirkte nichts anderes, als alles Leben mit einer Hülle tiefsten Schweigens zu bedecken, unter der die Stimmen tönten und sich deutlich machen konnten – ähnlich den Schatten auf einem Bild, die dem Porträt Tiefe geben und es klarer hervortreten lassen. Hallte ein Lachen über die Straße, so schien es, als tönte es aus ihrem Zimmer. Floss eine Unterhaltung in normaler Lautstärke, so konnte sie Wort für Wort unterscheiden. Dröhnte ein Husten, so drang noch selbst das letzte Keuchen, gleich einem ächzenden Stöhnen, zu ihr herauf. Und wenn ein Kellner, ähnlich laut wie der Ruf des Muezzins, forderte: »Her mit einer neuen Pfeifenfüllung!«, dann sagte sie sich voller Freude: »Bei Gott, was sind das doch für prächtige Menschen! Selbst zu dieser späten Stunde verlangen sie noch nach Tabak!« Aber dann, wenn sie sich daran erinnerte, dass ihr Mann noch immer nicht zu Hause war, fragte sie sich: »Wo weilt wohl mein Gebieter? Was wird er gerade tun? Möge er wohlauf sein, beim Kommen und beim Gehen.«
Einmal war ihr zugetragen worden, dass es bei einem so wohlhabenden, kräftigen und gut aussehenden Mann wie Herrn Achmed Abd al-Gawwad, der nachts ständig unterwegs war, nicht ausbleiben konnte, mit anderen Frauen zu tun zu haben. An jenem Tag hatte ihr die Eifersucht das Leben vergiftet, und tiefe Trauer hatte sie erfasst. Da sie nicht den Mut fand, mit ihm über das Gehörte zu sprechen, hatte sie sich ihrer Mutter anvertraut. Eine Weile versuchte diese, so gut sie nur irgend konnte, sie mit den sanftesten Worten zu trösten. Dann aber sagte sie: »Er hat dich geheiratet, nachdem er seine erste Frau verstoßen hat. Er hätte sie auch wieder aufnehmen oder neben dir noch eine zweite, dritte oder vierte Frau heiraten können. Sein Vater hat das getan. Also danke Gott, dass er nur dich als einzige Ehefrau behalten hat.«
Wenn dieser Rat der Mutter in jenem Moment, da die Traurigkeit sie gerade am stärksten peinigte, auch nicht viel half, so gestand sie sich im Lauf der Zeit doch ein, dass deren Worte richtig und begründet waren. Selbst wenn das, was ihr da zugetragen worden war, stimmte, dann gehörte eben solch ein Verhalten zu den Eigenschaften eines richtigen Mannes – genauso wie das nächtliche Feiern und das despotische Benehmen. Ein Übel allein war auf jeden Fall besser als mehrere. Sie täte nicht recht daran, einer argwöhnischen Einflüsterung zu erlauben, ihr das angenehme und glückliche Leben zu verderben. Es konnte ja ebenso gut alles nur böser Klatsch oder Lüge sein. So kam sie zu der Meinung, dass sie, die den Mühen des Lebens zu trotzen hatte, sich in die Eifersucht wie in ein rechtskräftiges Urteil, bei dem kein Einspruch erhoben werden konnte, zu schicken hatte. Wollte sie standhaft bleiben, bot sich als einziges Mittel an, sich Geduld zuzusprechen und die eigene Stärke zu beschwören. Das war der einzige Weg, um das, was sie verabscheute, zu bekämpfen. Schließlich wurden die Eifersucht und das Benehmen ihres Gebieters ebenso erträglich wie das Zusammenleben mit den Dämonen.
Noch immer schaute sie auf die Straße hinunter und lauschte den Geräuschen der Nacht, bis plötzlich Hufgeklapper an ihr Ohr drang und sie den Kopf in Richtung der Nahhasin-Straße wendete. Gemächlich näherte sich eine Kutsche, beleuchtet von zwei Lampen. Erleichtert atmete sie auf und flüsterte: »Endlich!« Der Wagen eines Freundes brachte den Gatten wie immer nach der nächtlichen Feier heim und zog dann mit den anderen Männern, die in der Churunfisch-Gasse wohnten, weiter. Als die Kutsche vor dem Haus hielt, hörte sie ihren Mann lachend sagen: »Lebt wohl, mit Gottes Schutz.«
Voller Liebe, aber auch voller Staunen, lauschte sie seiner Stimme. Würde sie ihn nicht jede Nacht zur gleichen Zeit so heiter erleben, dann könnte sie nicht glauben, dass das wirklich ihr Gebieter war. Nicht nur sie, auch die Kinder erlebten ihn durchweg gesetzt, ernst und streng. Woher nahm seine Stimme diesen fröhlichen, lachenden Klang? Was gab ihr diesen leichten, liebenswürdigen Schmelz? Als wollte der Freund, der die Kutsche lenkte, noch ein wenig mit ihm scherzen, sagte er: »Hast du gehört, was das Pferd gesagt hat, als du ausgestiegen bist? Es sei schlimm, einen wie dich jede Nacht nach Hause bringen zu müssen, wo du doch höchstens einen Esel verdient hast.«
Die anderen Männer, die noch im Wagen saßen, brachen in schallendes Gelächter aus. Ihr Ehemann wartete, bis wieder Schweigen einsetzte. Dann erwiderte er: »Hast du nicht gehört, was sich das Pferd darauf selbst antwortete? Bringst du ihn nicht, sagte es, dann besteigt der Bey noch unseren Freund.«
Wieder brüllten die Männer los. Dann aber entschied einer: »Lasst uns den Rest morgen Abend hören«, und der Wagen fuhr in Richtung der Baina-l-Kasrain-Straße weiter. Herr Abd al-Gawwad ging auf die Haustür zu. Die Frau eilte vom Holzerker ins Zimmer und nahm die Lampe. Sie durchquerte den Salon, lief den offenen Gang entlang und blieb auf dem obersten Treppenabsatz stehen. Sie konnte hören, wie das Außentor zuschlug und ihr Gatte es abschloss. Dann schob er den schweren Riegel vor. Sie wusste genau, was jetzt geschah: Beim Schreiten über den Hof nahm seine hochgewachsene Gestalt all die gewohnte Würde und Ernsthaftigkeit an. Mit dem Spaßen war es nun vorbei, und hätte sie nicht gelauscht, wäre ihr seine Heiterkeit als ganz und gar unmöglich erschienen. Nun aber, da der Stock schon auf der Treppe aufschlug, streckte sie den Arm aus, um ihm den Weg zu leuchten.
Als er auf dem Absatz angekommen war, eilte sie ihm mit erhobener Lampe voraus. Er folgte ihr, nachdem er ein »Guten Abend, Amina« gebrummelt hatte. Sie antwortete: »Guten Abend, Herr«, und ihre Stimme klang wohlerzogen und demütig.
Nach wenigen Minuten befanden sich beide allein im Zimmer. Amina ging zum Tisch, um die Lampe abzustellen. Der Hausherr hängte den Stock an den Querstab des Bettgestells, nahm den Tarbusch vom Kopf und legte ihn auf das Kissen, das mitten auf dem Diwan prangte. Die Frau trat zu ihm, um ihn zu entkleiden. Da stand er also – groß, mit breiten Schultern, einem gewaltigen Körper und Bauch, zusammengehalten durch die Gubba und den Kaftan, beides sehr elegant und von bester Qualität, Zeichen eines gehobenen, kostspieligen Geschmacks. Das schwarze Haar, das, durch einen Mittelscheitel geteilt, beide Kopfhälften bedeckte, war nicht ganz so ordentlich wie üblich gekämmt. Der große Diamantring und die goldene Uhr sprachen von Reichtum und Wohlstand. Das ovale Gesicht, mit glatter Haut und klaren Zügen, war ausdrucksvoll und zeugte, noch unterstützt durch die Schönheit der großen blauen Augen, von einer starken Persönlichkeit. Die kräftige Nase entsprach der Wohlgeformtheit des Gesichts. Über den vollen Lippen saß ein tiefschwarzer dichter Schnurrbart, dessen Enden mit nicht zu überbietender Sorgfalt gezwirbelt waren. Als die Frau sich ihm näherte, breitete er die Arme aus, damit sie die Gubba abnehmen konnte. Sie faltete sie sorgsam zusammen und legte sie auf den Diwan. Dann trat sie wieder zu ihm, löste den Gürtel des Kaftans, zog ihn herunter, faltete auch diesen achtsam zusammen, um ihn dann auf die Gubba zu legen. Der Herr griff indessen nach dem Gilbab, streifte ihn über, zog sich das weiße Käppchen auf den Kopf. Er gähnte, räkelte sich und setzte sich auf den Diwan. Die Beine von sich streckend, lehnte er den Kopf an die Wand. Die Frau, die indessen die Kleidung beiseitegelegt hatte, hockte sich zu seinen Füßen nieder und zog ihm Schuhe und Strümpfe aus. Als sein rechter Fuß entblößt war, zeigte sich an diesem gut gebauten Körper der einzige Makel: Sein kleiner Zeh hatte durch den ständigen Gebrauch einer Rasierklinge, eines Hühnerauges wegen, Schaden erlitten. Amina ging hinaus, blieb ein paar Minuten fort und kehrte dann mit einer Waschschüssel und einem Krug zurück. Sie stellte die Schüssel auf dem Boden ab, richtete sich auf und hielt den Krug bereit. Der Hausherr richtete sich auf, streckte ihr die Arme entgegen. Sie neigte den Krug, sodass er sich Gesicht und Kopf ausgiebig waschen konnte. Danach nahm er ein Handtuch von der Lehne des Diwans, trocknete sich Kopf, Gesicht und Hände ab, während die Frau die Schüssel ins Bad trug und das Wasser ausschüttete. Das war der letzte Dienst, der zu ihren täglichen Obliegenheiten im großen Haus gehörte und dem sie nun seit einem Vierteljahrhundert, ohne je die geringste Nachlässigkeit zu zeigen, unermüdlich nachkam. Im Gegenteil, sie empfand Freude und heitere Entspanntheit dabei. Sie nahm diesen letzten Dienst mit der gleichen Begeisterung wahr, mit der sie jegliche Tagesarbeit, beginnend kurz vor Sonnenaufgang und endend nach Sonnenuntergang, ausführte. Weil sie unermüdlich arbeitete, trug sie zu Recht den Spitznamen, den ihr die Nachbarinnen gegeben hatten: »die Biene«.
Sie kehrte ins Zimmer zurück, schloss die Tür und zog unter dem Bett ein Sitzkissen hervor, das sie vor den Diwan legte. Sie setzte sich mit verschränkten Beinen darauf nieder, räumte sie sich doch nicht, höflich, wie sie war, das Recht ein, neben ihrem Gatten zu sitzen. Die Zeit verstrich, es herrschte Schweigen. Erst wenn er sie aufforderte, etwas zu sagen, würde sie sprechen. Der Gatte lehnte sich zurück. Das lange Feiern schien ihn erschöpft zu haben, und seine Augenlider, die in dieser Nacht vom Trinken sogar etwas gerötet waren, schienen schwer zu werden. Sein Atem ging keuchend, verbreitete Weingeruch. Obwohl er sich jede Nacht bis zum Vollrausch dem Trinken hingab, achtete er immer streng darauf, erst dann nach Hause zu kehren, wenn die Wirkung des Weins nachgelassen und er die volle Herrschaft über sich selbst wiedererlangt hatte. Er war stets darauf bedacht, den Eindruck in seinem Haus zu verbreiten, auf den er Wert legte – Respekt gebietende Würde. Seine Ehefrau war die einzige Person, die ihm nach dem nächtlichen Feiern begegnen durfte. Aber auch sie bekam nie, außer dem leichten Geruch, etwas von den Folgen zu spüren. Nie war ihr an seinem Verhalten etwas Ungewöhnliches oder gar Zweifelhaftes aufgefallen, abgesehen von der Zeit, als er sich mit ihr gerade verheiratet hatte; doch das war ihr aus der Erinnerung geschwunden. Sie war, was vielleicht seltsam anmutet, geradezu versessen darauf, ihm zu dieser nächtlichen Stunde Gesellschaft zu leisten, denn da sprach er zu ihr und erörterte eingehend die ihn betreffenden Angelegenheiten, was in wachem Zustand sehr selten geschah. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, welch schrecklicher Angst sie an jenem Tag verfallen war, an dem sie gewahr wurde, dass er von seinem nächtlichen Feiern berauscht zurückkehrte. Der Genuss von Wein beschwor alles herauf, was für sie mit ungezügelter Hemmungslosigkeit, mit Wahnsinn und – das war das Abstoßendste – Zuwiderhandlung gegen die Religion verbunden war. Und so hatte sie denn auch immer Ekel und Angst befallen, was so weit ging, dass sie, wenn er zurückkehrte, unter unsäglichen Schmerzen litt. Aber im Verlauf der vielen Tage und Nächte stellte sie fest, dass er bei der Rückkehr von diesen Abendvergnügungen viel liebenswürdiger war als sonst, sein scharfes Auge wurde milder, und er war bereit, sich auf ein Gespräch einzulassen. Das ließ ihn vertrauter werden, sodass sie sich heimischer fühlen konnte – auch wenn sie nie vergaß, Gott flehentlich darum zu bitten, ihrem Gebieter den Ungehorsam zu verzeihen. Wie sehr wünschte sie sich, diese Sanftmut an ihm zu erleben, wenn er nüchtern und wach war. Wie sehr war sie über diesen Ungehorsam gegenüber der Religion erstaunt, der ihn geradezu liebenswürdig machte. Lange Zeit war sie hin- und hergerissen zwischen überkommenem religiösem Abscheu einerseits und der Freude über Ruhe und Frieden andererseits. Aber sie verstand es, solcherlei Überlegungen tief im Innern zu begraben, diese so gut zu verbergen, dass sie es sich selbst nicht einmal einzugestehen wagte.