Buch
Im Oktober 1940 kommt der junge David Sparsholt nach Oxford. Der gutaussehende Athlet und Ruderer ist sich anfangs nicht der einnehmenden Wirkung bewusst, die er auf andere hat - besonders auf den einsamen und romantisch veranlagten Evert Dax, Sohn eines gefeierten Romanciers, der selbst literarische Ambitionen verfolgt. Während der Blitzkrieg London erschüttert, wird Oxford zu einem seltsamen Rückzugsort, an dem die Verdunkelung geheime Liebesbeziehungen verbirgt. Ein folgenschweres Semester lang formt sich zwischen David und Evert eine ungewöhnliche Freundschaft, die ihr Leben für die folgenden Jahrzehnte prägen wird. Ein großer atmosphärischer Roman über einen Kreis von Freunden, die über drei Generationen hinweg durch Kunst, Literatur und Liebe verbunden sind.
»Das Werk eines Meisters. Sein vielleicht schönster Roman bisher.« The Observer
Autor
Alan Hollinghurst wurde 1954 in Stroud geboren. Er studierte in Oxford und arbeitete anschließend als Literaturkritiker für das Times Literary Supplement. Hollinghurst hat zahlreiche Preise erhalten, darunter den Sommerset Maugham Award und 2004 den Booker Prize für seinen Roman Die Schönheitslinie. Alan Hollinghurst lebt in London.
ALAN HOLLINGHURST
Die
Sparsholt-
Affäre
Aus dem Englischen
von Thomas Stegers
BLESSING
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Originaltitel: The Sparsholt Affair
Originalverlag: Picador, London
Copyright © 2017 by Alan Hollinghurst
Copyright © 2019 by Karl Blessing Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring Grafikdesign GbR
Copyrightvermerk: Vlad Mazai
Umschlagfoto: Jeff Cottenden
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-22693-0
V002
www.blessing-verlag.de
Die Arbeit des Übersetzers wurde gefördert
vom Deutschen Übersetzerfonds e.V. mit Mitteln der Kulturstiftungen
des Bundes und der Länder sowie des Auswärtigen Amtes.
1. TEIL
EIN NEUER MANN
1
Der Abend, an dem wir den Namen Sparsholt zum ersten Mal hörten, scheint mir der beste Einstieg in diese Erinnerungen. Wir waren in meinen Räumen und sprachen über den Club. Peter Coyle, der Maler, war da, Charlie Farmonger und Evert Dax. Eine Art Abstimmung hatte stattgefunden, aus der ich als Schriftführer hervorgegangen war. Ich war ein Jahr älter, und da ich vom Militärdienst befreit war, tat ich nichts anderes als lesen. »Oh, Freddie liest zwei Bücher am Tag«, sagte Evert, was vielleicht sogar zutraf; ich widersprach, bei den Büchern auf Italienisch oder Russisch sei mein Lesetempo langsamer. Das war meine Rolle, und ich spielte sie mit der Überheblichkeit eines Schauspielschülers. Der Zweck des Clubs bestand allein darin, berühmte Schriftsteller dazu zu bewegen, vor uns zu sprechen und uns etwas aus ihren jüngsten Werken vorzutragen. Wir boten ihnen eine ordentliche Mahlzeit, damals ein riskantes Versprechen, und nach dem Essen ein Publikum eifriger junger Leser in einem vertäfelten Raum – dessen konnten wir sicher sein. Als die Bombardierungen anfingen, wollten viele Menschen wissen, was die Schriftsteller dazu meinten.
Charlie schlug jetzt Orwell vor; und zwei, drei Namen von Autoren, die wir vergangenes Jahr nicht hatten gewinnen können, machten erneut die Runde. Ob Stephen Spender wohl kommen würde, oder Rebecca West? Nancy Kent hatten wir bereits gebucht, zu uns über Spanien zu sprechen. Evert, auf seine unpraktische Art, erwähnte Auden, der sich in New York aufhielt und wohl kaum zurückkehren würde, solange der Krieg andauerte. (»Auf Nimmerwiedersehen«, wie Charlie bemerkte.) Es war Peter, der schließlich sagte – obwohl er wusste, wie sehr Evert hoffte, er würde es nicht tun: »Wir könnten Dax bitten, Victor einzuladen.« Alle Welt kannte Everts Vater unter dem Namen A.V. Dax, doch wir nahmen diese indirekte Nähe für uns in Anspruch.
Evert war bereits zum Fenster entwischt und schaute auf den Kolleghof hinaus. Es herrschte immer eine leichte Spannung zwischen ihm und Peter, der seine Freunde gern provozierte, gar in Verlegenheit brachte. »Ach, ich weiß nicht«, sagte Evert über die Schulter. »Im Moment ist alles etwas schwierig.«
»Das gilt hier für jeden«, sagte Charlie.
Evert stimmte höflich zu, obwohl seine Eltern in London geblieben waren, wo ein paar Nächte zuvor eine Bombe die Kirche am Ende ihrer Straße zum Einsturz gebracht hatte. »Ich fürchte nur, dass niemand kommen wird«, sagte er etwas ungehalten.
»Oh, keine Sorge, es wird schon jemand kommen«, sagte Charlie mit einem seltsamen Lächeln.
Evert sah sich um, appellierte an mich – »Oder was hältst du davon, dem Neuen, meine ich?«
Das Geschenk des Hermes, das mit der Schriftseite nach unten auf der Armlehne meines Sessels lag, hatte ich etwa zur Hälfte durch, und wenn ich auch nicht unbedingt feststeckte, wechselte ich doch bereits immer wieder zu etwas anderem. Es brachte meinen alltäglichen Rhythmus durcheinander, geradezu so, als müsste ich ein Buch in einer fremden Sprache bewältigen. Trotz des minderwertigen dünnen Papiers der damaligen Zeit war es ein dicker Band. »Wie du weißt, bin ich ein großer Bewunderer deines Vaters«, sagte ich.
Kurz darauf Peter, etwas herzlicher: »Ja, ich auch.« Er war ein echter Fan von A.V. Dax’ langen, symbolhaften Romanen, schätzte ihre starke Bildsprache, ihre eigentümliche Atmosphäre und Färbung und ihre komplexe Psychologie. »Ich komme nur langsam voran«, gestand er, »aber natürlich ist das neue Buch großartig.«
Charlie lachte hohl. »Sind gute Witze drin?«
»Eine völlig abwegige Frage«, sagte ich, »was die Romane von Dax betrifft.«
»Hast du ihn nicht gelesen?«, wollte Peter wissen und trat ans Fenster, um zu sehen, warum Evert hinausschaute.
Der arme Evert war nie über die ersten Seiten der Romane seines Vaters hinausgekommen. »Ich kann einfach nicht«, sagte er, »ich weiß nicht, warum …«, und wandte sich, als er Peter neben sich bemerkte, mit einem eigentümlichen Ausdruck im Gesicht wieder dem Raum zu.
Nach einem Moment sagte Peter: »Du liebe Güte! Hast du das gesehen, Dax?«
»Oh. Was?«, antwortete Evert, und ich vermochte die neue Verunsicherung von der vorherigen erst allmählich zu unterscheiden.
»Ist dir der Mann schon mal aufgefallen, Freddie?«
»Wer?« Ich eilte zu ihm. »Ach, du meinst wahrscheinlich den Exhibitionisten«, sagte ich.
»Nein. Jetzt ist er weg«, sagte Peter, der noch immer aus dem Fenster starrte. Ich stand Schulter an Schulter neben ihm und sah ebenfalls hinaus. In dem kurzen Moment zwischen Sonnenuntergang und Verdunklung konnte man in die Zimmer der anderen schauen. Einladend leuchteten jetzt hier und da Fenster auf, in denen sich tagsüber der Himmel gespiegelt hatte, und zeigten menschliche Gestalten bei der Arbeit oder wie sie hinter dem hellen Raster der Rahmen umhergingen. In der unmittelbar gegenüberliegenden Fensterreihe sah man den alten Sangster, einen blinden französischen Don, beim Tutorium mit einem jungen Mann, der so gleichgültig zuhörte, dass man meinen konnte, er schliefe gleich ein. Ein Stockwerk darüber, unter dem dunklen Horizont des Gesimses und dem breiten Giebeldreieck, brannte Licht in einem einzelnen Fenster, eine Schreibtischlampe warf einen strahlenden Bogen an Wand und Decke.
»Den habe ich kürzlich entdeckt«, sagte ich. »Er muss einer von den Neuen sein.« Peter wartete mit gespielter Geduld, und Evert, immer noch stirnrunzelnd, kam zurück und sah ebenfalls hinaus. Mittlerweile hatte ein Schatten angefangen, in rhythmischen Abständen an der fernen Zimmerdecke aufzuragen und wieder zu schrumpfen.
»Oh, ja, das ist er«, sagte Evert, als der Verursacher des Schattens in Sicht kam, eine Gestalt in einem glänzenden Trikot, die Hanteln hob und senkte. Der junge Mann tat dies konzentriert, scheinbar mühelos – doch natürlich war das schwer zu sagen auf die Entfernung, in der er sich zeigte, in einem Rechteck aus Licht, so kräftig und entrückt, als wäre er selbst aus Licht geformt. Peter legte eine Hand auf meinen Arm.
»Mein Lieber«, sagte er, »ich glaube, ich habe mein neues Modell gefunden.« Worauf Evert nach Luft schnappte und ihn sekundenlang wütend ansah.
»Dann halt dich ran«, sagte ich, denn heutzutage verschwanden neue Männer so schnell und unbemerkt, wie sie gekommen waren.
»Selbst du würdest diesen herrlichen Kopf bewundern, Freddie«, sagte Peter. »Wie ein römischer Gladiator. Und erst diese breiten Schultern! Siehst du, wie sich die blauen Adern auf seinen Oberarmen abzeichnen?«
»Nicht ohne mein Teleskop«, sagte ich.
Ich ging mit dem Kessel zum Wasserhahn auf dem Flur, als Jill Darrow gerade die Treppe hochkam. Sie hatte sich verspätet zu dem Treffen und hätte sich vielleicht auch gern an der Abstimmung beteiligt. Ich freute mich, dass sie da war, doch die Stimmung, die etwas Anrüchiges bekommen hatte, änderte sich, als sie den Raum betrat. Jill fehlte die Erfahrung von zehn Jahren Internat, die Sittenlosigkeit inbegriffen; ich möchte bezweifeln, dass sie jemals einen nackten Mann gesehen hatte. »Ah, Darrow«, sagte Charlie, erhob sich halb, sackte aber gleich wieder in seinen Stuhl, mit einer Ungezwungenheit, die schmeichelhaft sein mochte, oder auch nicht. »Wir wollen, dass Dax seinen Vater fragt«, sagte er, als sie den Mantel ablegte und in die Runde schaute. Ich machte mich ans Teekochen.
»Oh, verstehe«, sagte Jill. In Everts Anwesenheit hatten wir Hemmungen, uns freimütig über A.V. Dax zu äußern.
Evert, am Fenster, schien ihr Kommen gar nicht bemerkt zu haben. Er und Peter starrten noch immer hinauf zu dem Zimmer gegenüber. Ihre Rücken waren vielsagend; Peter, kleiner, dichtes, widerspenstiges Haar, in einem geflickten Tweedjackett, dem stets der chemisch anmutende Geruch seines Ateliers entströmte; Evert, gepflegt und zögerlich, ein streng erzogener Junge in einem ungewöhnlich guten Anzug, der das Vergnügen betrachtete wie etwas am anderen Ufer eines Flusses. »Was gibt es denn da eigentlich zu sehen?«, fragte Jill.
»Das ist nichts für dich«, wandte sich ihr Peter grinsend zu. Worauf sie umgehend selbst ans Fenster trat, dicht gefolgt von mir. Der Gladiator war immer noch zu sehen, nun allerdings mit dem Rücken zu uns, und er vollführte etwas mit einem Seil. Fast erleichtert stellte ich fest, dass die Scouts anfingen, ihre Runden zu machen. In einem Fenster nach dem anderen erschien nun eine kleine Gestalt in einem schwarzen Umhang, langte nach oben, um die Läden zu schließen, und entfernte alle Anzeichen von Leben. Sein Weg führte den Scout auch in Sangsters Räume, wo er, halb verdeckt von der länglichen Sichtblende, die er bis ins Schlafzimmer trug, nach ein paar Minuten wieder daraus hervortauchte, sich an den beiden Bewohnern vorbeischob, auf die Fensterbank kniete und für ein paar Sekunden neugierig nach draußen schaute, bevor er die hohen Läden schloss. Zur Abendessenszeit lag das große Gebäude aus Stein lichterlos wie eine Ruine da.
»Ah, Phil«, begrüßte Charlie meinen Scout, der hinter uns hereingekommen war, um auch bei mir zu verdunkeln.
Ich sagte streng: »Wissen Sie, wer dieser Knabe da drüben ist, Phil?«
Phil hatte in der Schlacht von Loos gekämpft und nach diesem früheren Krieg fünfzehn Jahre bei der Polizei von Oxford gedient. Er war leutselig und dem College treu ergeben, schien jedoch gelegentlich zu bereuen, dass er gegen Ende seines Lebens in einer Schürze herumlief, Staub wischte und Geschirr spülte für junge Männer, die zu disziplinieren er machtlos war. »Was sagten Sie, Sir?« Er lehnte die Blende an die Wand und kam eilfertig herbei, als hätte ich einen Übeltäter ausgemacht. Jetzt fiel mir auf, dass zwischen uns und den anderen Fenstern unsere sehr blassen Spiegelbilder hingen. Ich zeigte nach oben.
»Dieser … lächerliche Knabe«, sagte ich.
»Ach der, Sir«, sagte Phil ein wenig enttäuscht, doch dann sogleich höflich bemüht, sich unser Interesse an der leuchtenden Gestalt zu eigen zu machen. »Zufällig weiß ich, dass es da ein bisschen Ärger gegeben hat.«
»Was denn für Ärger?«, sagte Peter.
»Der Lärm, Sir. Dr. Sangster hat sich darüber beschwert.«
»Oh«, sagte Evert. »Lärm?«
»Anscheinend rhythmisches Quietschen, Sir«, sagte Phil mit finsterem Blick.
»Du meine Güte«, sagte Evert.
»Obwohl, genau genommen ist er keiner von uns«, sagte Phil.
»Ah«, sagte ich.
»Nein, er ist einer von den Brasenose-Leuten«, sagte Phil. In unserem riesigen, düsteren College, seine Treppenhäuser seit Kriegsbeginn halb verwaist, waren hier und da Mitglieder der requirierten Colleges eingeschleust worden, desorientierte Erstsemester, die sich ebenfalls wie Evakuierte vorkamen. Brasenose hatte irgendein Ministerium für sich beschlagnahmt, das nun, nach Auskunft meines Tutors, nichts Rechtes damit anzufangen wusste. »Würden Sie mich bitte entschuldigen, Mr Green?«
»Selbstverständlich, Phil.«
»Sie kennen nicht zufällig seinen Namen, oder?«, sagte Jill.
»Er heißt Sparsholt, Miss.« Hüstelnd klappte Phil die Läden zu und schob den Eisenriegel in die Sicherungsschiene.
»Spar … sholt«, wiederholte Peter. »Ein ungewöhnlicher Name.« Er grinste Evert anzüglich an. »Klingt wie ein Teil einer Maschine, oder einer Waffe.«
Phil stutzte. »Da könnten Sie glatt recht haben, Sir«, sagte er und ging vor ins Schlafzimmer. Ich stellte meine schönsten Meissener Tassen auf den Tisch, weil ich hoffte, sie würden Jill gefallen, und in der neuartigen Intimität des vertäfelten und nun auch verdunkelten Zimmers ließen wir uns zum Tee nieder.
Jill blieb noch, als mein Gast beim Essen im Speisesaal, danach ging ich mit ihr hinunter zum Tor. »Ich bringe dich noch nach Hause«, sagte ich. Sie studierte am St Hilda’s College, ein Fußweg von einer Viertelstunde, der bei der allgemeinen Verdunklung schon eine kleine Herausforderung darstellte.
»Das ist absolut nicht nötig«, sagte sie.
»Nein, nein, nimm meinen Arm«, forderte ich sie auf, und sie hakte sich unter, was mich einigermaßen rührte. Wir zogen los. Ich hielt die Taschenlampe mit der aufgeklebten Schlitzblende zwischen uns, sodass wir sie, da sich Jill mit ihrem Ellbogen eng an meine Seite schmiegte, scheinbar gemeinsam lenkten und ausrichteten. Dennoch spürte ich eine gewisse Reserviertheit an ihr. Nach einer Minute löste sie sich und zog Handschuhe an, und so setzten wir unseren Weg fort, vorbei an den hohen Zaungittern des Merton College und der wuchtigen, in der Nacht nur mehr zu erahnenden Masse der Kirche und des Turms über uns. Jill blickte nach oben. Die Finsternis schien etwas zwischen uns heraufzubeschwören, und obwohl ich glaube, dass Jill froh über meine Gesellschaft war, schien es merkwürdigerweise so, als wäre sie zu etwas überredet worden. Wie ich wusste, war es manchmal ohne Taschenlampe, die böse Überraschungen auslösen konnte, einfacher, hatten sich die Augen erst einmal der Dunkelheit angepasst. Seltsam, aber man schritt mit mehr Selbstvertrauen aus. Dennoch sprachen wir im Flüsterton, als würden wir belauscht. Nicht selten stieß man in solchen Nächten urplötzlich mit anderen vorbeigehenden oder wartenden Menschen zusammen.
Der Weg bildete jetzt eine schmale dunkle Schlucht, deren giebelartige, von Kaminen durchsetzte Kanten vor dem Kohlschwarz des Himmels nur schwach erkennbar waren. In Friedenszeiten reflektierten Wolken die Farben der Lichter auf der Erde oder zerstreuten sie, während in der Verdunklungszeit eine undurchdringliche Finsternis herrschte. Ich dachte, ich würde diese Straße, die ich schon Hunderte Male entlanggegangen war, in- und auswendig kennen, doch die Erinnerung stimmte mit den schemenhaften Türdurchgängen, Fenstern und Geländern, die wir passierten, nicht ganz überein. Ich erkundigte mich nach ihrer Arbeit, und gleich war sie nicht mehr so befangen. Sie studierte Geschichte, doch ihr Interesse galt der Archäologie und den erstaunlichen Dingen, die der Blitzkrieg ans Tageslicht förderte. Sie erklärte, dass die Bomben, die unsere Kirchen in der City zerstörten, manchmal die Bodenschichten darunter durchpflügten, Tudor, Mittelalter, Römer, und sie in einem Umfang freilegten, wie es gemeinschaftliche menschliche Anstrengung niemals geschafft hätte. Der menschliche Aspekt der Vernichtung, der Verlust von Leben, von Heimat, berührte sie weit weniger. Aufgeregt sprach sie über Münzen, Särge, Ziegel, Tonscherben. Ich entgegnete, wie enttäuschend es für sie sein müsse, dass Oxford kaum Schaden genommen habe, und beobachtete, wenn man in der Dunkelheit von Beobachten sprechen kann, wie sie meinen kleinen Scherz als solchen erkannte und ihn als schlecht abtat. Von Anfang an hatte sie zu denen gehört, die durch das Studentenleben gehen, die Zukunft fest im Blick: Es war ein Wettlauf mit der Zeit, kein genussvolles Hinauszögern. Jetzt hatten sich die Aussichten auf die Zukunft für uns alle verändert, die Stadt war durchdrungen von einer Stimmung des Umbruchs, beinahe klar zum Gefecht, das sie nicht erleben sollte. Teilten die Freunde meine Ansicht, wir könnten den Krieg verlieren, und zwar schon sehr bald? Defätistisches Gerede war selten und zensierte sich selbst, sobald es aufkam. Jill hatte sich entschieden, für die Army, doch ihr Augenmerk lag auf dem, was sie Großes erreichen würde, wenn der Krieg gewonnen war.
Am Tor von St Hilda’s blieb ich stehen und leuchtete unseren Abschied aus. »Na dann, gute Nacht«, sagte ich mit einem ironischen Tremolo.
Jill schien über meine Schulter zu blicken. »Ich frage mich, ob Peter den Mann wohl malen wird.«
Ich drehte mich um. »Welchen Mann?«
»Den neuen Mann«, sagte sie. »Sparsholt.«
»Ach, den.« Ich lachte. »Im Allgemeinen kriegt Peter, was er will.«
»Jedenfalls ein gutes Motiv, würde ich meinen«, sagte Jill, und wir gaben uns die Hand. Ich hatte mir mehr versprochen, und als ich alleine über die Brücke und wieder durch die Merton Lane ging, quälte mich meine Schüchternheit, und ich nahm mir vor, beim nächsten Mal einen Vorstoß zu wagen. Ich drehte ihren Kopf zu mir und sah die Schönheit in seiner Symmetrie. Sie hatte graue Augen, das ausgeprägte Kinn einer Wagner-Sopranistin, kleine weiße Zähne. Und sie strahlte einen beinahe betörenden Duft aus. Vorerst musste mir das genügen.
2
Evert schrieb seinem Vater und kam wenige Tage später vorbei, um zu verkünden, unsere Einladung sei angenommen worden: Victor Dax freue sich außerordentlich, vor dem Club zu sprechen. Der Brief des bedeutenden Mannes war kurz, die Schrift praktisch unentzifferbar, der Kopf ein unergründliches Wappen mit dem Motto »Montez Toujours«. »Wir tragen ihn für die fünfte Woche ein, ja?« Ich zeigte ein zuversichtliches Lächeln, trotz meiner Bedenken, ob überhaupt Publikum kommen würde.
Evert war noch in Uniform, nachdem er die vergangene Stunde unter dem Kommando des alten Edmund Blunden die Steinterrasse des Tom Quads auf- und abmarschiert war. Als Edmund Blunden damals angefangen hatte, uns zu drillen und die wenig motivierten Freiwilligen im Kartenlesen zu unterrichten, erschien er uns uralt; in Wahrheit war er noch in den Vierzigern, eine kleine, vogelhafte Gestalt mit undurchsichtigen Wissensreserven. Beinahe beneidete ich meine Kameraden um ihre Streifzüge nach Cumnor Hill oder Newnham Courtenay, übertragen, so stellte ich mir vor, auf eine Spektralkarte des früheren Kriegs, dessen Zeuge er gewesen war und über den er geschrieben hatte. Evert war all das verhasst, und in Uniform sah er jämmerlich aus; bei den paar Malen, die ich ihn beim Exerzieren beobachtet hatte, umgab ihn eine Aura von gekränkter Würde, die an Befehlsverweigerung grenzte.
Er setzte sich und nahm, mit einem nur schwach erkennbaren Bewusstsein dafür, dass er sich zu einem Stammgast in meinen Räumen entwickelte, ein Buch zur Hand. In seinem ersten Studienjahr hatten wir uns ein bisschen kennengelernt, und jetzt, da alle seine Freunde von damals einberufen worden waren, fühlte er sich einsam. Zweifellos fürchtete er sich vor dem unmittelbar bevorstehenden Moment, da es auch ihn treffen würde. Er hatte etwas Ruheloses an sich; sein blasses Gesicht, die dunklen Augen unter dem wippenden Stirnhaar deuteten auf Gefühle hin, die er selten zum Ausdruck brachte. Für mich war er von ganz eigenem Interesse, vom Glamour und der Bürde seines kurzen, berühmten Namens ganz zu schweigen. Dass er A.V. Dax’ Sohn war, hatte für mich immer einen Teil seiner Attraktivität ausgemacht; dass ich diese Tatsache halb vergaß, war ein Zeichen für unsere Freundschaft. Für ihn war die Sache verwickelter und auswegloser. Seufzend legte er das Buch beiseite und zeigte mir wieder einen Brief von seiner Mutter – woraus ich schloss, dass seine Eltern, auch wenn sie ihr Haus in Chelsea noch gemeinsam bewohnten, zwei voneinander getrennte Leben führten; ihn danach zu fragen vermochte ich gleichwohl nicht. Es war unklar, ob Evert die Situation überhaupt selbst ganz durchschaute. In dem Brief beschrieb die Mutter die Schrecken des Krieges in munter nörgelndem Ton. Sein Vater habe gelacht, als sie sich bei einem Bombenangriff auf den Boden geworfen und so einen guten Mantel ruiniert habe. Er selbst weigere sich, die Schutzräume mit dem gemeinen Volk zu betreten.
Evert stand auf und sagte: »Ach, übrigens, hast du ihn noch mal wiedergesehen … wie hieß er doch gleich?«
»Wen meinst du?«
»Sparsholt, oder? Den neuen Mann.« Er sah hinaus, doch es war erst drei Uhr, und die lange Fensterreihe im obersten Stockwerk gegenüber verriet nichts. Wir wussten beide nicht mehr genau, welches Fenster es gewesen war, außerdem blieben dieses Jahr viele Räume unbewohnt und verschlossen.
»Ich glaube, ich habe ihn im Speisesaal gesehen«, äußerte ich vorsichtig.
»Ja«, sagte Evert. »Er sitzt am Tisch der Ruderer. Sie haben alle Achter zusammengelegt. Grund genug, um mit Rudern anzufangen – ich meine nicht wegen Sparsholt, sondern wegen der größeren Essensrationen, die sie bekommen.« Er wurde rot, doch uns beiden war klar, worum es ging; ich bemerkte, wie er sich entschied, mehr preiszugeben. Es stellte sich heraus, dass es nicht das erste Mal gewesen war, als er an dem Tag zu Semesterbeginn von meinem Zimmer aus einen Blick auf Sparsholt geworfen hatte. Schon vorher hatte er ihn gesehen, als er in Ruderkleidung vom Fluss heraufgelaufen kam; er hatte ihn im Speisesaal gesehen; und eines späten Abends hatte er ihn – nicht gesehen und war mit ihm in der Dunkelheit an der Ecke Kilcannon zusammengestoßen. Doch der Blick auf den halb nackten Sparsholt in seinem erleuchtenden Viereck von meinem Fenster aus hatte einen Wendepunkt dargestellt; von nun an verdichtete sich das durch die vorherigen zufälligen Begegnungen geweckte Interesse zu einer Obsession. Ich hatte Mühe, das zu verstehen. Es war, als zwinge er sich selbst in die Unterwerfung, die mit jeder Minute, die verstrich, eine erlesene Unausweichlichkeit annahm. Er wusste nichts über den jungen Mann, doch in jenem Moment auf meinem Zimmer hatte er sich ihm ergeben. Oder, wie er sich ausdrückte, sich in ihn verliebt.
»Und? Hast du mit ihm gesprochen?«, fragte ich.
Evert war geradezu schockiert. »Nur, als er mit mir zusammenstieß, aber seitdem nicht … nein.«
Peter Coyle war, wie vermutet, dreister und hatte Sparsholt auf dem offiziellen Korrespondenzpapier der Slade School sofort einen Brief geschrieben, ob er ihn porträtieren dürfe. Eine Antwort war ausgeblieben, doch als ich zwei Tage später abends im Speisesaal am Tisch gegenüber den Ruderern Platz nahm, witterte ich etwas unterschwellig Gehemmtes in Sparsholts Verhalten, einen ersten bangen Verdacht in seinem ernsten jungen Gesicht und seiner strammen Unnahbarkeit, er könne unter Beobachtung stehen oder an diesem für ihn noch neuen Ort bereits zum Gegenstand von Gerüchten geworden sein. Dass er mich oder Everts gierige, beinahe entsetzte Blicke in seine Richtung bemerkte, möchte ich allerdings bezweifeln. Er schien uns als eine undifferenzierte, noch immer fremde Masse zu betrachten. Nach dem Essen verließ er schleunigst die Tischgesellschaft, und ich dachte daran, wie einfach es wäre, ihm hinterherzurufen, als wir, jeder mit seiner eigenen Taschenlampe, die abgedunkelten College Quads überquerten.
Auch so war es ein Leichtes, mehr über ihn herauszufinden. Aus dem Aushang des Boat Club in der Lodge erfuhr ich am nächsten Tag seine Initialen, D.D., und aus der Liste der Tutorien sein Studienfach, Ingenieurswesen. Diese erste magere Ausbeute war entmutigend: Wissenschaftler und Ruderer folgten ihrer eigenen strengen Routine, losgelöst von uns Normalsterblichen. Doch die Tatsache, dass Peter und Evert augenblicklich fasziniert von Sparsholt gewesen waren, verlieh ihm einen leichten, wenn auch fragwürdigen Glamour. Für mich lag in dem Familiennamen etwas Unnachgiebiges, klang er doch laut Peter wie die Bezeichnung für ein Maschinenteil oder einer kleinen harten Materialprobe, einem Mineralerz etwa; zunächst jedoch beschränkte sich meine Neugier auf die Initialen D.D.
Durch Zufall kam ich meinen beiden Freunden zuvor. Jeden Morgen um sieben Uhr betrat Phil meine Räume, um die Fensterläden zu öffnen und das Wohnzimmer aufzuräumen, während ich in aller Regel im Bett liegen blieb und zu dem Hin und Her des Teppichkehrers mit seinen quietschenden Laufrollen nebenan weiter schläfrig vor mich hin döste. Er zündete das Kaminfeuer an und stellte Geschirr und Gläser zum Abwaschen nach draußen. Damit fertig, klopfte er an die Schlafzimmertür und stieß sie mit einem kriminologischen Gespür für Überraschungseffekte in einer schwungvollen Bewegung auf, ohne eine Antwort abzuwarten. Ich wiederum erhob mich vom Bett und betrat in meinem Morgenmantel ein in der Pause perfekt wiederhergestelltes Bühnenbild – »Daselbst. Der nächste Morgen.«
Während ich darauf wartete, dass das Wasser im Kessel kochte, blickte ich dankbar hinunter in den Kolleghof. Ein starkes Gefühl der Erleichterung herrschte damals, selbst in Oxford, hatte man die Nacht unversehrt überstanden. Die matten Lichter, die sich wieder in den Fenstern zeigten, wenn die Scouts ihre Runden drehten, waren aufmunternde Überlebenszeichen. Ich beobachtete die Gestalten, die allmählich auftauchten und sich in Überziehern und Pantoffeln zu entlegenen Waschräumen aufmachten. Sicher, es waren weniger als sonst, und die meisten kannte ich nur vom Sehen, doch wir alle waren auf eine Weise miteinander verbunden, wie ich es in meinem ersten Jahr, vor dem Krieg, nicht erlebt hatte. Gerade wollte ich mich abwenden, als mir auffiel, dass die Person, die als Erste ihre Fußabdrücke auf dem nassen Rasen des Kolleghofs hinterließ, Sparsholt war, der im Schlafanzug, blauen Morgenmantel, braunen Straßenschuhen und mit einem Handtuch um den Hals forsch ausschritt. Ihn umgab eine soldatische Gleichgültigkeit gegenüber dem frischen Morgen, und rasch verschwand er außer Sicht.
Normalerweise rasierte ich mich nach dem Frühstück, wenn sich niemand mehr im Waschraum aufhielt, doch heute Morgen konnte ich nicht anders, als Sparsholt zu folgen. Ich zog mir meinen Mantel an, setzte den kürzlich erworbenen Homburger auf, lief die Treppe hinunter und dachte daran, was ich Evert später bei Porridge und Tee würde berichten können. Was mich reizte, war diese Konkurrenzkomödie, nicht etwa ein echtes Interesse an dem Mann, den anzusprechen ich beschlossen hatte.
Im Allgemeinen mied ich den großen Waschraum im Keller des benachbarten College Quad mit seiner langen Reihe von Waschbecken und dem Labyrinth aus Kabinen, die man nicht absperren konnte. Ich erinnerte mich an das unangenehme Gefühl, nackt und allein zu sein in einer von Dampfschwaden erfüllten Badezelle, um mich herum noch andere, die ebenfalls still in der Wanne lagen. Manchmal rief jemand: »Sonst noch wer da?«, und ein Dialog kam in Gang, wie am Telefon, etwas verkrampft wegen der Anwesenheit der vielen anderen, die nun vollends verstummten. In meinem ersten Jahr hatte mein Halbbruder Gerald mir gesagt, dies sei der beste Ort im ganzen College, um gepflegt abzutauchen, worunter er vermutlich noch etwas anderes verstand. Zu bestimmten Zeiten besetzten den Raum das schlamm- und blutbespritzte Rugbyteam oder die erschöpften Ruderer, die sich hier zwischen dichten Dampfschwaden in zärtlicher Selbstinspektion rekelten und erholten, eine große nackte Versammlung und Vermischung. Sie stellten keine Bedrohung dar, ich verkehrte dort unbemerkt, fühlte mich aber fehl am Platz.
Als ich hereinkam, hatte Sparsholt gerade angefangen, sich zu rasieren, und warf mir im Spiegel für eine Sekunde einen neugierigen Blick zu. Ich gestehe, mich erfasste in seiner Gegenwart blitzartig eine Erregung. Er trug nur eine Schlafanzughose und Straßenschuhe, die Schnürsenkel offen. Jetzt konnte ich seinen muskulösen Oberkörper, den er mit lässigem Stolz zur Schau stellte, aus der Nähe betrachten. Ich hängte Überzieher und Hut an einen Haken und ging zum übernächsten Waschbecken. »Guten Morgen«, sagte ich. Den Rasierer absetzend, drehte er den Kopf zur Seite. »Morgen!«, erwiderte er, vergnügter, als ich es erwartet hätte. Ich merkte, dass er sich darüber freute, angesprochen zu werden. Aus einer Kabine in der Nähe hörte man Planschen, einmal, zweimal, sonst herrschte in dem höhlenartigen Raum eine trostlose Atmosphäre. Er strich einen Streifen Rasierschaum von der Wange, dann noch einen, und während ich heißes Wasser einlaufen ließ, beobachtete ich diskret, wie sich sein Gesicht herausschälte.
»Ich habe dich hier noch nie gesehen«, sagte er, wieder eher einladend als misstrauisch, und lächelte für einen Moment zu mir herüber. Seine guten kräftigen Zähne schimmerten gelb in dem Rechteck aus weißem Schaum um den Mund herum.
»Oh, ich bin Freddie Green«, sagte ich. Er legte den Rasierhobel am Rand des Waschbeckens ab und streckte mir die Hand entgegen.
»David Sparsholt.«
»Sparsholt?«, sagte ich, den David verschluckend, für mich das schlichteste und harmloseste aller Ds. Ich sah, dass David Sparsholt sehr jung war unter dem bleichen Panzer seiner Muskeln. Auf seinem Handgelenk wanden sich nasse Härchen, doch Brust und Bauch waren ziemlich glatt. »Das ist ein ungewöhnlicher Name.«
Er kniff die Augen zusammen, als witterte er Kritik. »Wir kommen aus Warwickshire«, sagte er, und ich hörte eine leichte regionale Färbung heraus, die zu verorten ich niemals vermocht hätte. Ich bedrängte ihn nicht weiter, und kurz darauf spritzte er sich kaltes Wasser ins Gesicht und trocknete sich grob ab. Als ich mit meiner Rasur anfing, spähte ich freundlich hinüber. Ruckartig drehte er den Kopf nach links, nach rechts, inspizierte mit sachlicher Eitelkeit, wie ich sie von ihm erwartet hatte, sein Kinn im Spiegel: Anscheinend war er zufrieden mit dem Ergebnis. Ob er gut aussah? Das konnte ich schlecht beurteilen. Für mich sieht ein Mann dann gut aus, wenn er gut angezogen ist, und da Sparsholt kaum etwas anhatte, war ich einigermaßen ratlos. Breites Gesicht mit einer leicht geschwungenen Nase und blaugrauen, tief liegenden Augen unter starken Brauen, schwarze Haare, an den Seiten kurz, oben lockig. Es war der Körperbau, der mehr beeindruckte, und ich konnte verstehen, warum Peter ihn als Modell gewinnen wollte; was Evert mit ihm vorhatte, wollte ich mir nicht vorstellen. »Bei welcher Einheit hast du dich registrieren lassen?«
Ich klärte ihn über meinen gesundheitlichen Zustand und meine dauerhafte Freistellung vom Militärdienst auf und nahm dabei eine Verwirrung in seinen Augen wahr.
»Das nenne ich Pech«, sagte er, doch hinter seiner Anteilnahme raunte ein Misstrauen. Er musterte mich scharf in meinem Unterhemd und empfand dann wohl so etwas wie Mitleid. Wie andere körperlich starke Männer, die ich kannte, schien auch er zu schwanken zwischen dem schwach ausgeprägten Instinkt, mich zu bedrohen, und dem, mir gut zuzureden, ja sogar, mich zu beschützen. »Was hast du vor?«
»Ich studiere im dritten Jahr Geschichte und will meinen Abschluss machen. Danach sehen wir weiter. Wo leistest du deinen Dienst ab?«
Er hatte das Handtuch wieder um den Hals geschlungen, stemmte die Fäuste in die Seiten, machte die Beine breit. Der offene Schlitz seiner Schlafanzughose erlaubte einen flüchtigen Blick auf sein Geschlechtsteil. »Royal Air Force«, sagte er. »Ich lerne fliegen.« Sein dünnes Lächeln war geradezu kokett.
»Wunderbar«, sagte ich und ergänzte, da noch weitere Bestätigung angebracht schien: »Wie ich sehe, trainierst du viel.« Ich wollte ihm nicht verraten, dass ich ihn dabei beobachtet hatte, fand mich so schon ziemlich aufdringlich, aber er lächelte zustimmend.
»Man muss sich schließlich bereithalten«, erwiderte er. Die furchtbare Ungewissheit über die Zukunft, die unser aller Leben in jenen Jahren in weiten Teilen durchdrang, verfehlte bei ihm jede Wirkung. Er freute sich darauf. »Im Januar werde ich achtzehn. Dann melde ich mich.« Er erläuterte mir seinen Plan, wie es nur ein von Angst Getriebener machen würde, doch in seinem Fall erkannte ich dahinter die zielstrebige Wachsamkeit des geborenen Soldaten. Ich sagte, ich sei erstaunt, dass er nur für dieses eine Semester extra nach Oxford gekommen sei. Er antwortete, er sei angenommen worden und werde nach dem Krieg weiterstudieren, auch das hatte er schon geplant. Er werde seinen Abschluss machen, wieder nach Hause gehen und ein Unternehmen gründen, für Ingenieurtechnik. »Ingenieure sind immer gefragt.«
Die Tür der besetzten Kabine flog auf, und Das, der einzige indischstämmige Student am College, stakste heraus, ein Handtuch um die Hüften, die Brille in der Hand, die er eilig mit einem liegen gelassenen Strumpf putzte. Einigermaßen verdutzt sah er zu Sparsholt, der ihm offenbar schon vorher begegnet war und jetzt die Gelegenheit ergriff, seinen Morgenmantel anzuziehen und zu gehen. »Ich hoffe, wir laufen uns mal wieder über den Weg«, sagte ich, als ich die Tür zuschlagen hörte. Das, der seine Brille mittlerweile aufgesetzt hatte, sah mich beinahe vorwurfsvoll an.
»Ist der junge Gentleman dein Freund, Green?«, fragte er.
»Hm?«, sagte ich, überprüfte diesen neuen Gedanken und auch meine Gefühle dazu.
»Er ist wie ein griechischer Gott!«
»Ach, findest du?«
»Aber arrogant, sogar sehr.«
Ich spülte meinen Rasierhobel unter dem Wasserhahn ab. »Ich könnte mir vorstellen, dass die griechischen Götter das auch waren«, entgegnete ich und fing an zu begreifen, dass Sparsholts Wirkung größer war, als ich gedacht hatte.
3
Einige Tage später ließ sich Evert erneut in Uniform bei mir blicken, doch nach meinem Eindruck änderte sich gerade seine Einstellung. Wie üblich, wenn er in das stillose Khaki gezwängt war, ließ er sich hängen, streckte sich dann, richtete sich zwischendurch wieder auf, stellte sich vor den Kamin und spreizte die Schultern, als lohnte es sich trotz allem, die Rolle des Soldaten zu spielen. »Wie geht es Jill?«, fragte er.
»Jill geht es gut«, sagte ich.
»Du triffst dich wohl oft mit ihr.«
Tatsächlich hatte ich Jill seit unserem nächtlichen Gang über die Brücke zum St Hilda’s College nicht mehr gesehen und auf meine Nachricht an sie über die College-Post die kryptische Antwort »Heinrich III!« erhalten. Vermutlich eine Schreibkrise bei einem Essay. »Ich glaube, wir haben uns ganz gern«, sagte ich. Evert fing an umherzugehen. Mein Tagebuch lag aufgeschlagen auf dem Schreibtisch, und für einen Moment zog es seine Aufmerksamkeit auf sich, dann sprach er weiter.
»Übrigens habe ich mir deinen Ratschlag bezüglich des Waschraums zu Herzen genommen.«
»Es war nicht als Ratschlag gemeint«, sagte ich.
Er setzte sich auf das Sofa. »Ich dachte schon, ich hätte ihn verpasst, obwohl ich gleich beim ersten Tageslicht hinübergelaufen bin. Ist dir aufgefallen, wie gut ich rasiert bin?«
»Mir ist eine kleine Schnittwunde unterm Kinn aufgefallen.«
»Das war der Moment, als er schließlich auftauchte. Er muss stundenlang in der Badewanne gelegen haben. Er trug nur ein Handtuch um die Hüften.« Evert lächelte sich gequält durch seine Schamesröte. Er hatte Sparsholt angesprochen, woraus sich anscheinend eine kurze Unterhaltung entwickelte. Er sagte, es sei ganz gut gelaufen, und ihn umgab eine gewisse Feierlichkeit, während er die Begegnung ausmalte, bevor er erneut aufstand und in den Hof hinunterschaute.
»Ich weiß nicht«, sagte ich, »hoffentlich schöpft Sparsholt keinen Verdacht wegen dieser Zusammentreffen im Waschraum.«
»Soll das heißen, du hast ein Recht, ihn dort zu treffen, und alle anderen nicht?« Eigentlich war das meine Ansicht in vielerlei Hinsicht. »Du interessierst dich doch sowieso nicht für ihn!«, sagte Evert, und dann, plötzlich misstrauisch: »Oder doch?«
»Ich interessiere mich für ihn ausschließlich als Gegenstand eures Interesses. Deines und Peters«, hängte ich an und beobachtete, wie sich sein Blick verfinsterte. »Ich verfolge die ganze Sparsholt-Affäre rein wissenschaftlich.«
»Eine Affäre würde ich das wohl kaum nennen«, sagte Evert. »Aber wieso, was hat Coyle denn vor?«
»Weiß nicht. Ich würde sagen: Keine Nachrichten von ihm sind gute Nachrichten für dich. Wir kriegen es schon früh genug zu hören, falls sich was tut.«
Der arme Evert wirkte ganz geknickt bei dem Gedanken daran, dass sein Rivale viele Stunden allein mit Sparsholt verbrachte, mit der Erlaubnis, ihn anzuschauen, mal so, mal so zu postieren, sich genüsslich seiner Nacktheit zu widmen – deren Anblick ihm selbst nur für eine flüchtige Sekunde vergönnt gewesen war – und ihm die ganze Zeit auf die geistesabwesende Art des Künstlers seine Vergangenheit, seine Gedanken und seine Gefühle zu entlocken. Allerdings fragte ich mich, ob Peters Exzentrik ihn nicht verschrecken würde. In gewisser Hinsicht sollte Sparsholts Unschuld auf die Probe gestellt werden. Freute er sich, als Erstsemester nach dem Wechsel von einem anderen College, noch immer über jede freundliche Aufmerksamkeit? War er sich überhaupt darüber im Klaren, dass ihn sein stundenlanges Training mit Gewichten und Keulen für einen bestimmten Personenkreis zum Objekt der Begierde machte? Die Frage berührte die männliche Eitelkeit, schon sie zu formulieren fiel schwer, geschweige denn, sie dem Mann ganz direkt zu stellen.
»Darf ich dir ein Glas Portwein anbieten?«, fragte ich.
Zufällig hatte ich gerade selbst eine Affäre ganz anderer Art begonnen, über die zu sprechen ich allerdings noch nicht bereit war, noch nicht einmal mit jemand, der mir großes Vertrauen entgegenbrachte. Die Flasche Portwein stand damit im Zusammenhang.
»Wo hast du die her?«, wollte Evert wissen, als er sah, wie exquisit und alt der Wein war.
»Die hat mir meine Tante geschenkt«, sagte ich.
»Ich wusste gar nicht, dass du eine Tante hast«, sagte Evert.
»So ziemlich jeder hat eine«, sagte ich, »wenn man genauer nachforscht.« Mit dem Taschenmesser kratzte ich das geschwärzte Etikett ab. »Sie ist gerade nach Woodstock gezogen. Ich habe sie gestern mit dem Bus besucht.« Evert schien nicht ganz zu begreifen.
»Ich habe eine angeheiratete Tante«, sagte er. »Die sitzt jetzt in Den Haag fest, die Arme.« Seine Familie war ihm ständiger Quell der Sorge, etwas, was mir erspart blieb. Mein Vater, zweimal verheiratet, starb, als ich zehn Jahre alt war, und meine verwitwete Mutter lebte im tiefsten Devonshire. Woodstock, fand ich, war ein sicherer Ort für eine Tante. Ich entkorkte die Flasche und goss ihm ein Glas ein.
»Auf den Sieg, Evert.«
»Oh, ja …«, sagte er, doch es gab noch etwas, womit herauszurücken er sich scheute. Erst nach einer Weile brachte es der Auftrieb des Portweins an die Oberfläche und warf ein düsteres Licht auf seine gesamte Situation. »Die Sache ist die: Es gibt eine Frau«, sagte er, ohne mich anzusehen, vielleicht weil er dachte, ich würde lachen oder sagen (was ich nur im Stillen tat): »Natürlich gibt es die.«
»Hast du sie gesehen?«
»Nein. Gott sei Dank. Aber sie hat die Unterhaltung dominiert.«
»Dann habt ihr also sehr lange miteinander gesprochen.«
»So schnell wollte ich ihn nicht gehen lassen.«
»Wer ist sie? Hast du was erfahren?«
»Das Schlimme ist: Sie kommt nach Oxford. Ich meine, um hier zu wohnen.«
»Ich nehme an, sie will in Davids Nähe sein«, erklärte ich.
Evert funkelte mich an. »Allerdings. Sogar sehr nahe. Näher geht es nicht. Sie sind verlobt. Sie wollen heiraten.«
»Das kommt mir etwas überstürzt vor«, sagte ich, taktvoller diesmal. »Er ist sehr jung. Außerdem: Dürfen Studenten überhaupt heiraten? Davon habe ich noch nie gehört.«
»Natürlich habe ich ihn gefragt, ›Warum die Eile?‹, und er meinte, ›Na ja, heutzutage weiß man nie, was morgen passiert, oder? Ich könnte tot sein, bevor ich zum Heiraten komme.‹ Ich habe ihm geantwortet, dass man nach dieser Logik ja noch viele andere Dinge sofort tun müsste.«
»Und was hat er darauf geantwortet?«
Evert lächelte angewidert. »Er hat gesagt, am allermeisten wünsche er sich einen Sohn.«
Endlich hatte ich Victor Dax’ Roman ganz gelesen und fragte mich, welche Passagen er wohl für den Club aussuchen würde. Das Buch hatte mich beeindruckt, auch wenn die Lektüre nicht die reinste Freude gewesen war; in meiner Hochachtung steckte eine gute Portion Hochachtung vor mir selbst, weil ich bis zum Ende durchgehalten und verstanden hatte, worum es ging. Es war von einer unerschütterlichen Ernsthaftigkeit, und ich las gern Prosa mit etwas Humor, wenigstens einer Prise. Dax’ Verständnis von Witz am nächsten kamen noch die Zitate von Erasmus und sein gelegentlicher Spott über die Arbeiterklasse. Dennoch hatte ich natürlich die hymnische Besprechung in der letzten Ausgabe der Horizon und die lange Rezension im Mittelteil der Times Literary Supplement gelesen, die das Buch wohlwollend mit der Trilogie Der Zauberstab des Lichts verglich, die ich noch in der Oberschule als höchsten Ausdruck von Moderne und Raffinesse verschlungen hatte. Wenn nicht Dax von sich selbst, dann war vielleicht ich von ihm abgerückt.
Ich nahm mir vor, mich mit Peter Coyle über den Roman auszutauschen, und ging am nächsten Tag rüber ins Ashmolean. Wenn ich erwartet hätte, Sparsholt nackt ausgestreckt auf einem Podium vor ihm liegen zu sehen, wäre ich enttäuscht gewesen. Peter kam gerade aus der Zeichenklasse von Professor Schwabe und war ungewöhnlich aufgewühlt. Er sehnte sich nach London, die Evakuierung der gesamten Slade School nach Oxford war für ihn persönlich eine große Enttäuschung. Auch verstand er sich nicht mit Schwabe, der immer wieder versuchte, die ausgeprägte Neigung zum Fantastischen in Peters Arbeit zu unterdrücken. Der Konflikt war unausweichlich: Der Professor war ein altmodischer penibler Handwerker, Fachmann für topografisches Zeichnen und Drucktechniken, während Peter Romantiker war, extravagant, manchmal verrückt, ein Draufgänger, der gerne die nächstbeste Lösung wählte.
Er trug sich in dem Meldebuch an der Tür aus, und wir traten auf die Straße. Ich war neugierig, was Sparsholt betraf, hütete mich aber davor, das Thema anzuschneiden. Coyles düstere Stimmungen waren kurzlebig, aber intensiv. Außerdem wusste ich genug, um die Situation auch aus Everts Perspektive betrachten zu können, und ohnehin maß Peter ihr möglicherweise keine große Bedeutung bei. Auf der Beaumont Street rumpelte ein nicht enden wollender Militärkonvoi vorbei, die Acht-Sekunden-Abstände zwischen den Lastwagen gaben den unterschwelligen Rhythmus jener Jahre vor. Peter sprintete über die Straße, während ich mit meiner Neigung zu stolpern oder Dinge fallen zu lassen, wenn physische Schnelligkeit gefordert war, geschlagene zwei Minuten wartete, bis die Schlange und der anschließende Stau von Fahrrädern vorbei waren. Ich fand Peter im Randolph, er bestellte gerade Tee.
Er fing an, über ein Theaterstück zu sprechen, für das er das Bühnenbild entwerfen sollte, und nach einer Minute war der Verdruss über die Schule vergessen. Es hieß Der Triumph der Zeit, eine Allegorie, wie sie mir widerstrebte, ihm aber die einmalige Gelegenheit bot, gewaltige Kulissen zu bauen. Allerdings bezweifelte ich, dass das Oxford Playhouse groß genug für seine Visionen war. Wie nebenbei brachte ich nach einer Weile meinen Vorschlag unter: »Du könntest Sparsholt als einen deiner Teufelchen engagieren. Rot angemalt würde er sich gut machen«, worauf Peter entgegnete, er habe einen kurzen Brief von ihm erhalten, und er holte ihn aus seiner Tasche.
»Lieber Mr Coyle«, hatte Sparsholt geschrieben. »Ihr Brief hat mich sehr überrascht, und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie Sie von mir erfahren haben! Ich finde es höchst interessant, sich porträtieren zu lassen, bin jedoch im Moment sehr beschäftigt. Vielleicht sollten Sie sich lieber andere Modelle für Ihre Arbeit suchen. Ich könnte donnerstagabends, falls das nicht zu spät für Sie ist. Ich hoffe, von Ihnen zu hören, D.D. Sparsholt.« Das Schreiben war ein Diagramm widerstreitender Gefühle; verfasst in der steifen Handschrift eines Schuljungen, schwang es sich hier und da zu der blumigen Ausdrucksweise eines Erwachsenen auf.
»Er ist also zu beschäftigt«, sagte Peter, und erstaunt bemerkte ich, dass ich entsetzt darüber war, er könnte die ganze Sache abblasen.
»Er ist eben ausgelastet«, sagte ich und klärte ihn über Sparsholts diverse Verpflichtungen auf: Rudern, Leibesübungen und natürlich die zahllosen Laborstunden als Ingenieurstudent.
Peter zuckte die Achseln und musterte die wenigen Gäste, die unter den düsteren neogotischen Gewölben des Salons ihren Tee einnahmen. Ich füllte brühend heißes Wasser aus dem Kocher in die Kanne und rührte um. »Ich habe einen jungen Gärtner vom Corpus College gezeichnet«, sagte er mit deutlicher, aber geheimnisvoller Betonung auf dem Wort gezeichnet.
»Nackt?«, fragte ich.
»Ich finde es einfacher«, sagte Peter lächelnd, als rechnete er mit meiner Bewunderung oder hätte einfach nur Freude daran, mich ein bisschen zu schockieren. Für ihn war es von Vorteil, frei von den Fallstricken des College-Lebens zu sein. Auf seiner Bude am Ende der Walton Street hätte er nicht die Gelegenheit, David Sparsholt im Waschraum anzutreffen. Es gab keine endlose Warterei, kein Ausspionieren, und auch nicht die aufregenden schicksalhaften Zufallsbegegnungen im Hof.
»Und dann muss er sich noch um seine Verlobte kümmern«, sagte ich.
Peter schnaubte leise, als wäre das ein Witz.
»Meinst du Sparsholt?«
»Ja«, sagte ich heftig nickend. »Hat er mir selbst erzählt.«
Für einen Moment kam er ins Grübeln. »Eigentlich süß«, sagte er. »Aber es wird nicht von Dauer sein.«
»Sie wollen schon bald heiraten«, sagte ich.
Er warf noch mal einen kurzen Blick auf den Brief und steckte ihn dann in sein Tweedjackett, dessen Taschen so ausgebeult waren, als enthielten sie noch mehr Briefe. »Ich habe die starke Vermutung, dass sie sein wahres Wesen nicht erkannt hat.«
»Da könntest du recht haben«, sagte ich.
»Wie heißt sie eigentlich?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete ich, »aber ich habe ihm gesagt, dass ich sie gerne kennenlernen würde.«
»Ach, wirklich?«, kam es von Peter, eher geistesabwesend als vorwurfsvoll. Die Tatsache, dass ich gelogen hatte, faszinierte mich und hätte mich doch eigentlich alarmieren sollen. Ich hatte unfreiwillig ein verschwommenes Bild von der Verlobten entworfen, wie man es von jedem tut, den man nicht persönlich kennt und über den gesprochen wird. Peter besaß den Stolz und den Charme eines Schwerenöters und also auch die Fähigkeit eines Schwerenöters, jeden mit Verachtung zu strafen, der sich ihm widersetzte. Jetzt war ich mir unsicher, ob ich sein Interesse an David gestärkt oder ihm gedankenlos zugeredet hatte, den Jungen abzuschreiben.